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Was nicht gesagt werden kann

von

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Erster Antwortbrief

Hallo J.,
 

ich weiß, dein letzter Brief ist nun schon einen Monat her, aber ich war einfach nicht sicher, ob ich dir überhaupt schreiben soll. Und was. Ehrlich gesagt war ich total überrascht, dass du mir geschrieben hast. Das hatte ich wirklich nicht erwartet. Vermutlich hast du auch nicht mehr mit einer Antwort gerechnet, oder?
 

Mein Vater hat mir nichts von den Briefen erzählt und ich habe sie dann etwas später im Müll gefunden. Ich wusste anfangs nicht einmal, von wem sie kamen und habe nur gesehen, dass sie an mich adressiert waren und der Absender ein paar Straßen weiter wohnt. Naja… bis ich dann die Briefe gelesen habe.
 

Zuerst war ich nur wütend und wollte die Briefe wieder wegwerfen. Wie du siehst, habe ich es mir dann aber überlegt und mich dazu entschieden, dir zu schreiben.
 

Ein wenig geht es mir da wie dir. Meine Ärztin hat mir dazu geraten. Sie meint, es würde mir helfen, zu verstehen, was passiert ist und es zu akzeptieren. Außerdem meinte der Seelsorger im Krankenhaus schon, dass es ganz normal sei, dass ich sauer auf dich bin und auf alle und die Welt, aber dass es mir nicht gut tun würde, mein Leben lang nur wütend zu sein. In dem Punkt hat er letztlich wohl Recht, schätze ich. Ich will nicht mein ganzes Leben nur damit verbringen, jemanden zu hassen. Damit tue ich mir keinen Gefallen. Aber es ist schwer, das umzusetzen. Also so richtig.

Danach hat er eine Menge über Gott geredet, dabei bin ich gar nicht religiös, aber das hat ihn wohl nicht sonderlich interessiert. Es gab auch keinen anderen Seelsorger im Krankenhaus und auch sonst eigentlich niemanden, mit dem man reden könnte. Die Ärzte hatten alle keine Zeit, die Schwestern auch nicht. Nichtmal anständiges WLAN gab es. Wenn man alle paar Stunden für einige Sekunden ein Loch erwischt hat, durch das ein bisschen Verbindung durchkam, reichte es vielleicht für ne kleine Whatsapp-Nachricht. Und im Fernsehen läuft ja auch nur Mist.
 

Meine Zimmernachbarin war blöderweise auch noch aus der Generation, die beim abendlichen ZDF-Krimi strickt und ab 22 Uhr darauf besteht, dass alle Lichter und der Fernseher ausgestellt sind. Sie wurde irgendwie am Knie operiert und jammerte ununterbrochen herum. Sie wollte mehr Schmerzmittel, aufs Klo, jemand soll ihr dies oder jenes bringen und wann denn ihre Tochter sie endlich besuchen komme. Die armen Krankenschwestern taten mir richtig Leid. Was mit mir ist, habe ich ihr nicht gesagt. So ein “junges Ding” wie ich würde sicher bald wieder auf die Beine kommen, meinte sie immer. Im Alter würde ich dann merken, wie gut ich es hatte. Klar. Keine Ahnung, aber rumtönen. Die hat mich dauernd vollgeblubbert, selbst wenn ihr Kopfhörer aufhatte.
 

Natürlich kommt mein Vater jeden Tag, das machts erträglicher, aber ich glaube, er weiß eigentlich auch nicht, was er sagen soll. Er spricht immer nur davon, dass wir das schon hinbekommen und dass ich dann das letzte Schuljahr wiederholen kann, wenn ich soweit fit bin und die Reha natürlich erstmal wichtiger ist. Er redet auch viel mit Ärzten und weiß der Himmel mit wem sonst noch. Er bringt mir auch Bücher mit und hat mir sogar eine Switch gekauft. Schätze, das ist seine Art, mich ablenken zu wollen. Richtig helfen kann er mir ja auch nicht.
 

Zum Glück soll übermorgen die Reha beginnen. Im Krankenhaus kam jeden Tag jemand, um meine Beine zu bewegen. Das sei sehr wichtig, damit sie weiter durchblutet werden. Medikamente und Spritzen bekomme ich deswegen auch. Aber wenigstens tut das ja nicht mehr weh. Hah, das hast du nicht erwartet, mh? Schätze, mir hilft Galgenhumor bei dieser Sache. Außerdem hieß es ja eh schon immer, ich sei ein Stubenhocker. Jetzt hab ich dafür mal eine Ausrede.
 

Ich weiß gar nicht, wieso ich dir all das überhaupt geschrieben habe. Vielleicht, damit du weißt, wie es bei mir jetzt weitergeht und dass ich noch lebe und nicht aufgegeben habe.
 

Was passiert ist, ist scheiße. Und ich bin stinksauer. Auf dich und auf die Leute, die zugelassen haben, dass du überhaupt betrunken ins Auto steigst und auf die ganze verdammte Scheißwelt. Ich hasse es, dass ich nicht einmal mehr einfach aufstehen und aufstehen und auf Klo gehen kann oder einfach nur duschen. Und ich hasse es, dass ich für jeden kleinen Rotz direkt Hilfe brauche. Ich kann mich ja nichtmal mehr allein anziehen, auch wenn eine Schwester meinte, das habe ich ganz schnell raus. Es brauche nur Zeit. Zeit, Zeit, Zeit. Das sagen alle hier. Es braucht Zeit. Es braucht Zeit, bis ich mich zu bewegen weiß - haha, sehr lustig - und Zeit, bis ich weiß, wo meine Grenzen sind und sich die Menschen um mich herum an die Veränderung gewöhnt haben. Aber immerhin bin ich noch am Leben, nicht wahr?

Manchmal hätte ich mir fast gewünscht, es wäre nicht so. Aber das wäre grausam. Dann hätte mein Vater gar niemanden mehr. Außerdem will ich nicht sterben. Aber ich weiß auch nicht, ob ich so leben will. Es ist so anstrengend. Selbst diese ganzen kleinen Übungen, die ich im Krankenhaus machen musste, waren total heftig. Und das nur, weil mein Körper nicht mehr funktioniert.
 

Wärst du nicht betrunken gefahren, hättest du mich nicht angefahren und ich läge nicht hier. Stattdessen wäre ich jetzt vielleicht mit Katrin in der Innenstadt, um ein Eis zu essen, anstatt aus dem Fenster zu starren, weil ich nichtmal alleine aus dem Haus komme.

Ich könnte dir jetzt schreiben, dass ich dir vergebe, damit du dich besser fühlst, aber eigentlich will ich das nicht. Du hast Scheiße gebaut, so richtig große Scheiße und ich bade sie jetzt aus. Ich hasse dich nicht, aber ich bin wütend und das kann ich nicht einfach abstellen. Mein ganzes Leben hat sich verändert und ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll, denn jeder verdammte Tag ist seitdem ein Kampf.

Vielleicht kann ich dir irgendwann verzeihen. Ich hoffe das sogar, weil das bestimmt besser für uns beide ist. Aber im Moment kann ich das nicht. Ich bin zu wütend. Dennoch möchte ich, dass du weißt, dass ich froh bin, dass du mir geschrieben hast und ich das sehr mutig finde.

Dass es dir damit auch nicht gut geht, ist mir kein Trost, aber ich verstehe es. Wirklich. Aber dein Leben wird weitergehen, ganz normal und dann wirst du irgendwann vergessen, wie ich heiße und dich nicht mehr fragen, was aus mir geworden ist. Mein Leben jedoch… mein Leben ist für immer an den Rollstuhl gefesselt. Ich werd nie mehr laufen oder springen oder schwimmen oder tanzen.
 

Wenn du etwas für mich tun willst, dann sag mir nur eines: Warum?

Warum musstest du zu dieser Party? War es überhaupt eine? Warum warst du betrunken? Warum bist du noch Auto gefahren? Wieso hat dich keiner deiner Freunde aufgehalten? Wieso musstest du ausgerechnet mich übersehen?
 

V.



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