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Cursed

von

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Relakesch II – Was das Herz verbiegt

Nach und nach fiel mehr morgendliches Sonnenlicht in das Zimmer und ermahnten Reel, dass es höchste Zeit für ihn war zu gehen. Sanft weckte er Nathaniël, indem er ihm zärtlich die Haare aus dem Gesicht strich und ruhig auf ihn einredete.

„Ich muss jetzt wirklich los.“ Verschlafen richtete dieser sich auf und rieb sich die Augen. Liebevoll strich Reel ihm die Haare glatt und wartete bis er richtig wach war.

„Ich muss gehen.“ Langsam stieg er aus dem Bett und sammelte seinen Umhang auf.

„Bis heute Abend, Nathaniël.“ Reel betonte den Namen besonders und schenkte ihm ein verliebtes Lächeln, dann verschwand er aus dem Fenster.

Nathaniël blieb allein zurück und ließ den letzten Abend noch einmal Revue passieren. Er war über alle Maßen glücklich, dass Reel ihn nicht für seine Maskerade hasste. Es wäre unerträglich für ihn gewesen, Reel zu verlieren. Er war das einzig Positive in seinem sonst so eintönigen Leben.
 

Für Reel war diese Zeit ein wahrer Drahtseilakt. Es war schwer die Balance zwischen seiner Verantwortung den Dieben gegenüber und seiner Liebe zu Nathaniël zu finden. Eigentlich sollte Reel das Griefs-Anwesen beobachten und ausspionieren, stattdessen verbrachte er nun seine gesamte Zeit in Nathaniëls Zimmer.

Er verheimlichte seine Identität und den anfänglichen Grund seiner Besuche vor ihm. Aber andererseits hing das Überleben seiner Familie von seiner Arbeit hier ab, also fasste Reel schweren Herzens einen Entschluss – er würde versuchen von Nathaniël Informationen zu bekommen und sich endlich wieder mehr auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren, auch wenn es ihm schwerfiel und er Nathaniël keinesfalls ausnutzen wollte.

Allein der Gedanke daran tat ihm in der Seele weh, aber wie immer hatte Reel nicht unbedingt eine andere Wahl und die Umstände zwangen ihn zu baldigem Handeln. Reel wollte weder das Vertrauen seines Engels missbrauchen noch wollte er das Leben seiner Familie riskieren, aber er musste diese schmerzliche Entscheiden fällen – egal wie verbissen er sich auch dagegen sträubte.

Raven hatte ihm subtil zu verstehen gegeben, dass sie ahnte, dass etwas mit Reel nicht stimmte. Das wiederum bedeutete, dass auch Corvo davon wusste und dieser hatte einen wirklich kurzen Geduldsfaden. Wenn Reel nicht bald Ergebnisse lieferte, würde der impulsive Dieb selbst nachforschen und das könnte sowohl für ihn als auch für seinen unschuldigen Nathaniël böse enden.

Also legte Reel sich im Geiste gezwungener Weise einige Worte und Fragen zurecht, die er Nathaniël stellen wollte um unauffällig an Informationen zu kommen, doch als er endlich Luft holte und den Mund öffnete, wurde er von einem hektischen Klopfzeichen an der Zimmertür abgewürgt und Nathaniël wurde schlagartig blass.

Panisch scheuchte er Reel vom Bett und in Richtung Fenster.

„Schnell! Du musst gehen!“ Reel gehorchte, griff geistesgegenwärtig seinen Umhang und flüchtete durch das Fenster aufs Dach.

Nur einen Wimpernschlag später konnte Reel hören, wie unter ihm die Zimmertür schwungvoll aufgestoßen wurde und schwere Schritte den Raum betraten. Leise fiel die Tür wieder ins Schloss und niemand im Zimmer sagte ein Wort. Einen kurzen Moment lang konnte Reel nur einige undeutliche Geräusche hören, bis ein lautes Quietschen des Bettes verkündete, dass jemand unsanft auf dieses geworfen worden war.

Für die nächsten paar Minuten konnte Reel nur drei Dinge unter sich hören: Das rhythmische und immer schneller werdende Quietschen des Bettes, das schwere Atmen und Stöhnen eines Mannes in den späten Vierzigern und Nathaniëls unterdrücktes leises Wimmern.

Reel war völlig erstarrt. Er wollte sich verzweifelt die Ohren zuhalten, er wollte Nathaniël retten, er wollte weglaufen – aber er konnte nicht. Stattdessen saß er nur vollkommen machtlos und unfähig sich zu rühren auf dem Dach, während er hilflos dabei zuhören musste, wie nur wenige Schritte von ihm entfernt sein Liebster brutal vergewaltigt wurde.

Sein Kopf war völlig leer, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Körper kämpfte verbissen gegen den aufkommenden Würgereiz an, während der junge Dieb, der sich doch sonst immer nahm, was er wollte, sich nun seine eigene Machtlosigkeit und Schwäche eingestehen musste.

Eigentlich hätte Reel nicht überrascht sein dürfen. Es war offensichtlich, dass Lord Griefs Nathaniël nicht ohne Grund und schon gar nicht aus Liebe geheiratet hatte. Dennoch war Reel hierfür nicht bereit gewesen.
 

Nach einiger Zeit verließen die schweren Schritte endlich wieder das Zimmer und Nathaniëls gebrochenes Schluchzen war alles, was vom Zimmer aus noch zu hören war.

Vorsichtig schwang Reel sich durch das Fenster wieder in den Raum. Nathaniël lag zusammengekauert auf dem Bett und weinte leise. Als er Reel bemerkte verbarg er beschämt sein Gesicht im Kopfkissen. Er wollte so nicht von Reel gesehen werden.

Dieser kam dennoch zum Bett, setzte sich zu der zerbrechlichen Gestalt und begann ihm behutsam über den Kopf zu streichen. Es war für Reel nicht das erste Mal, dass er sich in solch einer Situation befand. Raven war etwas ganz ähnliches an dem Tag passiert, an dem sie auch ihren Finger verloren hatte.

Corvo hatte sichergestellt, dass Reel sich um sie kümmern konnte und war dann wortlos für einige Stunden verschwunden. Es war das erste und einzige mal gewesen, dass Reel ihn hatte weinen sehen.

Als Corvo zurückkehrte, war er blutverschmiert und verletzt gewesen, und Reel hatte sich bis heute nicht getraut ihn zu fragen, was genau an diesem Abend passiert war. Aber vielleicht war das auch besser so. Schließlich hatte es sich bei den Männern, die sich an seiner Schwester vergangen hatten, um Stadtwachen gehandelt. Sie hatten Raven beim Stehlen erwischt und die Gelegenheit genutzt bevor man sie zu ihrer Strafe geführt und den Finger abgeschnitten hatte.
 

Raven hatte all das glücklicherweise nur ein einziges mal erleiden müssen. Nathaniël hingegen ertrug das vermutlich seit er verheiratet worden war immer und immer wieder.

Beruhigend strich Reel seinem Liebsten über den Kopf, bis dieser wieder genügend Kraft aufbringen konnte um sich auf zu setzten.

„Darf ich?“ Reel breitete seine Arme ein wenig aus und Nathaniël lehnte sich zögerlich an seine Brust. Behutsam nahm Reel ihn in den Arm und strich ihm über den Rücken, während dieser sein Gesicht in dessen altem Leinenhemd vergrub und es mit seinen Tränen durchnässte.

Als Nathaniël wieder aufstehen konnte, führte Reel ihn sanft in den Nebenraum, in welchem Nathaniëls Diener bereits ein Bad vorbereitet hatte. Dem Diener, war diese Prozedur also auch mehr als vertraut, was Reels Vermutung erneut untermalte.

Er half Nathaniël in den Zuber und dieser hielt sich ununterbrochen verkrampft an Reels Kleidung fest. Die langen weißen Strähnen schwebten im Badewasser und Reel half ihm beim Waschen seiner Haare.

Das Wasser wurde bereits kalt als Nathaniël endlich den Zuber verließ. Behutsam wickelte Reel die zerbrechliche Gestalt in ein Tuch, trocknete ihn ab und brachte ihn zurück zum Bett. Dieses war von Nathaniëls Diener bereits frisch bezogen wurden und ein neues Nachthemd lag sauber gefaltet auf der Bettdecke.

Widerstandslos ließ sich Nathaniël von Reel wieder ankleiden, in die saubere Decke einwickeln und in den Arm nehmen.

Normalerweise vermied er aus Angst körperliche Nähe, aber Reel wollte er einfach nicht abweisen. Er hatte sich dazu entschieden, seinem Dieb zu vertrauen. Letztendlich war er Nathaniëls einziger Lichtblick im Leben und seine Nähe wirkte tatsächlich beruhigend auf ihn.

Die ganze Nacht blieb Reel wach und kümmerte sich um seinen platinblonden Engel.

Er hatte schon länger die Vermutung gehabt, dass Nathaniëls Zurückhaltung ihm gegenüber auf seine Geschichte mit Lord Griefs zurückzuführen war, aber nun hatte er Gewissheit und sein Hass auf den Lord wuchs immer weiter.
 

Die Sonne war schon seit einer Weile aufgegangen als Nathaniël endlich wieder aufwachte. Zärtlich streichelte Reel seinen Kopf und sprach betont ruhig.

„Angel, ich muss gehen. Dein Diener könnte jeden Moment zurückkommen und meine Schwester wundert sich bestimmt auch schon wo ich bleibe.“ Nathaniël sah ihn erschrocken an.

„Nein! Nein, bitte bleib. Lass mich nicht allein.“

„Ich komme ja wieder. Aber ich muss wirklich gehen. Ich würde ja auch lieber bei dir bleiben, aber es geht nicht.“

„Reel bitte.“ Nathaniëls Stimme klag flehend und in seinen blauen Augen bildeten sich Tränen. „Angel...“ Reel konnte ihn jetzt einfach nicht im Stich lassen. Behutsam nahm er ihn in den Arm und dieser schmiegte sich an ihn.

„Wie lange läuft das mit Griefs eigentlich schon so?“, gab Reel irgendwann seiner Neugier nach. Nathaniël zögerte einen Moment lang, dann seufzte er schwer und begann zu erzählen.

„Seit 6 Jahren. Mit 12 wurde ich an Lord Greifs verheiratet. Er hatte meinen Eltern Geld und politischen Einfluss angeboten, wenn sie mich als Mädchen verkleiden und unter falschem Namen an ihn verheiraten. Meine Eltern sind adlig aber mittellos und mein gesundheitlicher Zustand ist sehr instabil, was wiederum zu hohen Arztkosten führt.

Kurz gesagt: Meine Eltern haben ihre Chance genutzt und mich verkauft.“ Reel drückte Nathaniël entschuldigend an sich und wischte ihm die Tränen von den Wangen. Er hatte nun das Gefühl ebenfalls etwas von sich preisgeben zu müssen und er rang lange mit sich, ob und was er ihm erzählen sollte.

„Angel... Möchtest du wissen, warum ich eigentlich angefangen habe das Anwesen zu beobachten?“

Nathaniël nickte stumm und sah ihn durch seine platinblonden Haare hindurch an. Reel atmete tief durch, dann erklärte er ihm seine Situation. Er wollte Nathaniël nicht mehr anlügen und es fühlte sich so schrecklich an ihm nicht zeigen zu können, wer er wirklich war. Immerhin trafen sie sich jetzt schon seit circa einem Monat und Nathaniël wusste bis jetzt praktisch nichts über ihn.

Dieser lauschte Reel geduldig und wirkte nur wenig überrascht.
 

„Mir war schon klar, dass du nicht in erster Linie wegen mir hier bist.“

„Angel... Ich... Ja, ich bin nur zum Anwesen gekommen um hier einzubrechen, aber inzwischen komme ich für dich.“

„Ist schon okay. Ich bin es gewohnt benutzt zu werden.“ Nathaniël bemühte sich um einen emotionslosen Tonfall, aber Reel konnte deutlich hören, dass seine Worte ihn verletzt hatten.

„ANGEL NEIN! Ich... Verdammt so ist das nicht! Nathaniël, ich will bei dir sein.“ Einen Moment lang sahen sie einander schweigend an. „Vorausgesetzt, dass du einen miesen Dieb in deiner Nähe dulden würdest.“ Nathaniël wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Er hätte es besser wissen müssen, aber als Reel es so deutlich ausgesprochen hatte, übermannte ihn die Enttäuschung einfach. Eigentlich gab es auch gar keinen Grund für ihn sauer auf Reel zu sein. Immerhin hatte dieser bis dahin ja gar nicht gewusst, dass er überhaupt existierte.
 

Resigniert ließ er seinen Kopf auf Reels Schulter sinken und fasste einen Entschluss.

„Ich helfe dir. Für irgendwas muss meine Ehe mit Lord Griefs ja gut sein. Und so kann ich ihm endlich auch mal eins auswischen.“ Reel war verdutzt. Damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Zögernd legte er die Arme um Nathaniël und streichelte seinen Rücken.

„Hasst du mich jetzt dafür?“

„Nein. Ich hasse Lord Griefs, aber dich doch nicht.“ Sanft schmiegte er sich an Reel. „Versprichst du mir was? Bitte benutze mich nie wieder. Wenigstens bei dir möchte ich mich sicher fühlen. Ich will dir vertrauen können.“

„Angel, ich schwöre bei Valefar, dass ich dir nie wehtun, dich niemals anlügen und dich nie wieder benutzen werde.“ Erleichtert umschlang Nathaniël seinen Dieb mit den Armen und drückte ihn fest an sich. Er hatte sich dazu entschieden ihm zu vertrauen und wenn das ein Fehler war, dann würde er eben den Preis dafür zahlen.

„Ich liebe dich“, hauchte er die Worte leise an Reels Brust. Dieser war nur kurz überrascht, wurde leicht rot und drehte dann Nathaniëls Kopf zu ihm.

„Ich dich auch, Angel.“ Sanft lehnte er seine Stirn gegen Nathaniëls und strich ihm liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Darf ich?“, kam die geflüsterte Frage von Reel, während er sich ihm langsam immer weiter nährte. Nathaniël nickte leicht und ein schüchternes, noch etwas ängstliches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Zärtlich schenkte Reel ihm einen unschuldigen Kuss auf die Lippen, den Nathaniël zaghaft erwiderte.
 

Erst als die Sonne ihren Zenit schon lange überschritten hatte, kam Reel endlich wieder im Krähennest an.

„REEL! Bei Valefar, wo warst du? Du bist nicht zurückgekommen, also war ich beim Griefs-Anwesen und du warst nirgends zu finden. Ich dachte sie hätten dich erwischt.“ Raven fiel ihm um den Hals und brüllte ihm dabei ununterbrochen Flüche ins Ohr. Reel fühlte sich schrecklich, aber er hätte Nathaniël heute morgen einfach nicht allein lassen können.

„Tut mir leid. Mir ist was Unerwartetes dazwischen gekommen, aber mich hat niemand gesehen. Keine Sorge“, versuchte Reel erfolglos sie zu beruhigen.

„Was heißt hier 'Keine Sorge'? Du kannst doch nicht einfach so verschwinden! Du spinnst wohl!“ Noch immer drückte ihn die zierliche Diebin fest an sich.

Als sie ihn endlich wieder freigab, wischte sie sich schnell einige Tränen weg und betrachtete ihn prüfend. „Geht´s dir wirklich gut? Was ist passiert?“

„Ja, alles okay. Mir ist was dazwischen gekommen, was uns später beim Einbruch sehr hilfreich sein kann.“ Er konnte Raven nicht anlügen, aber die Wahrheit zu sagen kam auch nicht in Frage, also verbog er diese einfach ein wenig. Raven sah ihn skeptisch an, aber fragte erst mal nicht weiter nach.

„Es tut mir wirklich leid. So war das nicht geplant.“ Unschlüssig beäugte sie Reel, bevor sie resigniert seufzte und ihm einen geschwisterlichen Kuss auf die Stirn gab.

„Du machst mich wirklich fertig, Reel.“

„Ich weiß. Tut mir leid.“

„Wenn du so einen Mist nochmal ohne eine gute Ausrede abziehst, dann binde ich dich hier irgendwo fest. Und jetzt zisch ab. Du siehst aus, als würdest du gleich im Stehen einschlafen.“ Dankbar lächelte Reel Raven an und schob sich an ihr vorbei.

Auf der Treppe lief er in Corvo hinein, der ihn unvermittelt am Kragen packte und festhielt.

„Wehe du bringst so eine Scheiße nochmal! Wenn meine Schwester wegen dir nochmal weint, dann gnade dir Valefar.“ Reel kannte Corvo lang genug um zu wissen, dass es hier nicht nur um Raven ging. Corvo hatte sich ebenfalls Sorgen um ihn gemacht und nahm ihm das verdammt übel.

„Ich weiß. Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor.“ Resigniert ließ der muskulöse Dieb ihn wieder los und fuhr ihm durch die schwarzen Haare.

„Du musst besser auf dich aufpassen, Kleiner.“ Der Angesprochene sah schuldbewusst zu Boden und ließ seinen Kopf gegen Corvo sinken. Schützend schlang dieser seine Arme um ihn und drückte ihn kurz an sich. „Und jetzt geh endlich schlafen.“ Schnell ließ er ihn wieder los und scheuchte ihn die Treppe hoch. Auch ihm schenkte Reel ein dankbares Lächeln und verzog sich dann in seine Schlafecke, in der er sich zusammenrollte und sofort einschlief.
 

Die letzten Sonnenstrahlen kämpften noch gegen die einbrechende Nacht, als Reel bereits wieder aufwachte. Verschlafen rieb er sich die Augen und stieg die Treppe hinunter.

Im ehemaligen Schankraum herrschte reges Treiben. Die jüngeren Diebe machten sich bereit, um im Laufe des Abends die angetrunkenen Schenken-Gänger um ihr restliches Geld und Wertgegenstände zu erleichtern. Corvo schien die Zeit bis zu seinem heutigen 'Treffen' zu überbrücken und spielte mit seinem Messer, während er auf dem Tresen saß. Raven wiederum wuselte durch den Raum und stellte sicher, dass jeder seine heutige Aufgabe und sein Einsatzgebiet kannte.

Reel hüpfte auf den Tresen und setzte sich zu Corvo. Eigentlich sollte er jetzt los zu Nathaniël, aber er hatte seine Beziehungen zu den Zwillingen in letzter Zeit wirklich stark vernachlässigt und das tat weder ihm noch den Zwillingen gut.

Mit geübten Fingern zog auch Reel seinen kurzen Dolch hervor und versuchte Corvos Tricks zu imitieren. Dieser beobachtete das Ganze aus dem Augenwinkel und begann wortlos seine Spielereien etwas deutlicher und langsamer vorzuführen um es Reel ein wenig leichter zu machen diesen zu folgen.

„Seid ihr zwei bald mal fertig?“, lenkte Raven mit frecher Stimme irgendwann die Aufmerksamkeit der Jungs auf sich.

Reel sah sich um und stellte erschrocken fest, dass außer der jüngsten Diebe fast alle bereits aufgebrochen waren. Er hatte vollkommen die Zeit vergessen. Forsch begann Raven an den Haaren ihres Bruders zu zupfen.

„Deine Haare sind zu lang.“ Mit einem tiefen Seufzen rutschte Corvo vom Tresen und setzte sich auf einen der morschen Barhocker, so dass er jetzt tiefer als Reel saß. Lässig warf er seinen Dolch in die Luft, der dort eine 180-Grad-Drehung vollzog, bevor Corvo ihn an der Klinge wieder auffing, um ihn dann über seine Schulter hinweg mit dem Griff voran an Reel zu übergeben.

Natürlich hätte Reel ihm die Haare auch mit seinem eigenen Dolch schneiden können, aber Corvo wusste genau, wie neidisch Reel auf seine schwarze Klinge war und dass es ihn unglaublich freute, wenn er diese mal benutzten durfte.

Routiniert kürzte Reel die dunklen Strähnen, bis Corvo und auch seine Schwester damit zufrieden waren.

Diese nutzte die Gelegenheit und ließ sich ebenfalls von ihm die Haare – oder zumindest den Pony – schneiden. Reel war feinfühliger als Corvo und konnte mit dem Messer geschickter umgehen als Raven, daher war er meistens derjenige, der den Dieben die Haare schnitt und das machte ihm auch irgendwie Spaß. Reel selbst ließ seine Haare meistens wachsen und ließ sich nur manchmal die Spitzen kürzen, wenn sie ihm zu weit über die Brust reichten und ihn zu stören begannen.
 

Schließlich mussten sie dann doch alle drei langsam aufbrechen und ihre heutigen Aufgaben erfüllen. Raven musste diese Nacht noch einen Neuling einweisen. Corvo hatte an diesem Abend einen jungen Wachen als Ziel, dem er einen Schlüssel und einige Infos abjagen wollte. Und Reel war sich sicher, dass Nathaniël bereits auf ihn wartete.

Corvo musste in den gleichen Bezirk wie Reel und begleitete ihn bis zum Anwesen, wobei er Reel mal wieder hoffnungslos abhing. Die Dächer der Stadt waren zweifelsfrei Corvos Territorium und niemand konnte ihm da etwas vormachen.

Er erwartete Reel bereits, als dieser endlich schwer atmend an seinem ursprünglichen Versteck ankam. Dabei musste er feststellen, dass Nathaniël tatsächlich auf ihn wartete und sein Fenster einladend weit offen stand.

Auch Corvo war das natürlich nicht verborgen geblieben und besah sich diesen Umstand mit skeptischem Blick. Wie üblich enthielt er sich jedes Kommentars und sah Reel stattdessen nur vielsagend an. Mit einem resignierten Seufzer wuschelte er ihm durch die Haare und sagte zum Abschied nur „Mach nichts dummes.“ Dann verschwand er wieder über die Hausdächer.

Reel wartete bis Corvo außer Sichtweite war, dann kletterte er über den üblichen Weg zu Nathaniël.
 

Dieser schritt durch das Zimmer und summte dabei leise vor sich hin. Reel beobachtete ihn eine Weile belustigt bevor er ihn auf sich aufmerksam machte.

„Was treibst du denn da?“ Nathaniël fuhr peinlich berührt zu ihm herum.

„Reel! Erschreck' mich doch nicht so!“ Er betrat das Zimmer und schenkte Nathaniël mit dessen Einverständnis einen flüchtigen Kuss.

„Ich übe“, beantwortete er Reels Frage, der ihm nur einen irritierten Blick zuwarf. „In einer Woche findet ein Bankett statt, auf das ich Lord Griefs begleiten soll und da muss ich dann auch tanzen. Das hab ich lange nicht mehr gemacht, also übe ich nochmal um mich nicht zu blamieren.“

„Vorbildlich, Lady Nathaniël“, zog Reel ihn auf, woraufhin er nur einen scheltenden Blick erntete. „Nenn mich nicht 'Lady'. Du weißt ganz genau, dass ich das nicht leiden kann.“

„Schon gut. Tut mir leid. Ich wollte dich nur ein bisschen ärgern.“ Nathaniël sah ihn unglücklich an. Manchmal war er für Reels Geschmack doch etwas zu empfindlich, daher versuchte er ihr Gespräch schnell wieder in eine andere Richtung zu lenken.

„Was genau musst du denn tanzen? Was ich von deinem Üben so mitbekommen habe, sah ein wenig seltsam aus.“ Wieder ein anklagender Blick aus den hübschen blauen Augen.

„Ja. Weil es eigentlich ein Paartanz ist.“

„Na dann lass mich dir helfen. Zeig mir wie´s geht, dann können wir zusammen üben. Vorausgesetzt, du gestattest mir diesen Tanz.“ Reel verbeugte sich theatralisch und hielt Nathaniël seine Hand hin, wie er es auf den Tanzplätzen bei Stadtfesten oft gesehen hatte. Nathaniël musste unwillkürlich schmunzeln. „Du kannst tanzen?“

„Finde es doch einfach heraus“, antwortete Reel verschwörerisch und mit einem verschlagenen Grinsen, dem Nathaniël einfach nichts entgegen zu setzten hatte.

Unbeholfen führte er seinem Dieb die Tanzschritte vor und dieser verinnerlichte diese sofort.

Nach nur wenigen Minuten nahm er Nathaniël an die Hand und führte ihn mit eleganten Bewegungen durch den Tanz, während Nathaniël die Schritte im Takt laut mitzählte. Er war sichtlich überrascht von Reels bis dato ungekanntem Talent.

„Warum fällt dir das so leicht?“

„Keine Ahnung. Tanzen liegt mir einfach. Mit Musik ist es leichter, aber ich kann auch nur zu einer Melodie in meinem Kopf tanzen. Du musst dich nur drauf einlassen.“ Nathaniël versuchte Reels Rat zu beherzigen, aber er konnte sich einfach nicht auf eine Musik einlassen, die er überhaupt nicht hören konnte. Also änderte er seine Strategie und konzentrierte sich stattdessen nur auf Reel. Er sah ausschließlich in die wunderschönen hellgrauen Augen und ließ sich nicht vom Takt sondern von Reel führen. Und siehe da – auf einmal konnte er tanzen.

Eine ganze Weile bewegten sie sich so durch das Zimmer, bis Nathaniëls Gesundheitszustand sie zu einer Pause zwang.

„Alles okay, Angel?“ Besorgt betrachtete Reel seinen Liebsten, der sich mit schwer gehendem Atem aufs Bett gesetzt hatte.

„Ja. Schon okay. Mach dir keine Sorgen. Das hab ich manchmal. Darum darf ich mich nicht zu sehr anstrengen.“ Erschöpft lehnte er sich gegen Reels Brust und lauschte seinem ruhigen Herzschlag.
 

„Reel?“

„Hm?“

„Sag mal... ist das eigentlich dein richtiger Name? Also nicht das ich was gegen 'Reel' einzuwenden habe, aber der Name ist so kurz.“ Reel seufzt tief.

„'Reel' ist der Name, den die Zwillinge mir gegeben haben. Mein vollständiger Name lautet 'Relakesch', aber so nennt mich niemand. Ist auch viel zu lang für einen Dieb.“ Nathaniël überlegte kurz.

„Relakesch. Gefällt mir. Der Name klingt schön. Darf ich dich so nennen?“ Ein überraschtes Lachen entfuhr Reel.

„Wenn du unbedingt willst. Tu was du nicht lassen kannst.“ Eigentlich mochte Reel seinen vollen Namen nicht besonders. Er erinnerte ihn immer an die Zeit bevor er die Zwillinge traf, aber Nathaniël konnte er diese Bitte einfach nicht abschlagen. Vielleicht war es ja auch an der Zeit mit dem Namen 'Relakesch' endlich etwas anderes zu verbinden, als Gefangenschaft und Angst.



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