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Aschenregen

von

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Eine Nacht auf dem Meer

Linus Färber befestigte gerade die Takelage am Klüverbaum, als in der Stadt auf der gegenüberliegenden Uferseite die Rathaushalle explodierte. Während Linus das Seil aus den Händen rutschte und ihm synchron dazu der Mund offen stand, hätte die Detonationswelle den kleinen Fischkutter bereits zum Kentern bringen müssen, denn es war keine gewöhnliche Explosion. Form und Farbe waren selbst im Dunkeln der Nacht sehr gut sichtbar und wiesen darauf hin, dass sie wohl einen magischen Verstärker besessen hatte. Linus wusste nicht, wie sie funktionierten. Aber um der Macht deren Detonationswellen wusste er gut Bescheid.

Wie auch immer, die Welle erreichte sie nicht. Verpuffte kurz vor der Grenze zum anderen Kontinent. Der Fischkutter schwankte in der Stille der ruhigen See, so wie zuvor auch.

Ungläubig starrte Linus geradeaus, starrte die Stadt Sysdale an und wie ihr Zentrum brannte. Häuser waren eingestürzt, aus ihnen hervor ragten lodernde Flammen.

„Himmel, Arsch und Zwirn.“ Kaspar Schuchard war an Deck erschienen und Linus schaute zu ihm, wie er sich die Stirn rieb. Schweißperlen hatten sich auf dieser gebildet - Schuchard schwitze immer sehr schnell - und in ihnen spiegelte sich das Feuer von Sysdale.

Auch Linus' andere Kollegen hatten aufgeschaut, die beiden Frauen Falk und Frieda hatten ihre Aufgabe, die Netze zu verstauen, unterbrochen. Ein Moment der Stille zog ein, auf allen acht Metern vom Bug bis zum Heck.

„Was ist mit Bosch, wo steckt der Kapitän?“, fragte sich Linus, sagte aber nichts, starrte nur.

„Was war'n das?“ Schuchard schaute mit zusammen gezogenen Augenbrauen hin und her.

„Feuer, wie du siehst.“ Falk seufzte laut, dann ging sie ihrer Arbeit wieder nach.

„Aber nein, nein.“ Der junge Mann fuchtelte mit den Händen. „Nein, ich meine, was war'n das?“

Falk reagierte nicht weiter. Linus schwieg nach wie vor. Sein Blick hing am Feuer, das zum dunklen Nachthimmel hinauf loderte, sowie dem schwarzen Rauch. Die Detonationswelle hatte Schiffe in Hafennähe erwischt, sie umgeworfen. Er konnte die Schreie der Menschen hören. Es war kalt in jener Nacht vom fünfzehnten auf den sechzehnten Januar 6399. Nichts wirkte real.

„Wir sollten was machen, die sterben in der Kälte.“ Frieda schaute sich besorgt um. Wo steckte der Kapitän?

„Das ist Hostis, das geht uns nichts an.“ Falk sah doch noch einmal auf. „Außerdem dürfen wir da eh nicht hin – was war das grad eigentlich?“

„Feuer“, kam es von Schuchard.

„Mein ich nicht, Idiot.“ Sie nickte gen Sysdale. „Warum hat uns die Welle nicht erwischt, Linus, warst du das? Du kannst so 'nen Kram doch.“

Linus' Blick schweifte kurz zu ihr. Sie meinte die Barriere, die sie vor der Druckwelle bewahrt hatte, die magische Blockade eines Schutzzaubers. Er schüttelte den Kopf. Nein, das war er nicht gewesen. Stattdessen nickte er in jene Richtung, aus der er die Ursache vermutete.

Von Falk war er Worte wie diese gewohnt, sie mochte Hostis nicht und jegliche Versuche, ihr ihre Vorurteile auszureden, waren bisweilen gescheitert. Linus mischte sich da nicht ein, aber Schuchard hatte es einmal versucht. Er hatte Verwandtschaft auf dem Nordkontintent, wenn auch nicht in Sysdale. Es war ein langer Streit gewesen und am Ende hatte Kapitän Bosch dazwischen gehen müssen, der die beiden beinahe gefeuert hätte.

Doch selbst Falk konnte nicht leugnen, dass sie ihr Leben einem hostischen Grenzschiff zu verdanken hatte. Mit seinen drei Masten gehörte es zu den größeren Grenzern. Seit der hostischen Wirtschaftskrise fünfzehn Jahre vorher, war die Zahl der illegalen Einwanderer von Norden nach Westen besonders hier, zwischen Sysdale und Hohendamm, enorm angestiegen, die Anzahl der Grenzer seitdem verdreifacht worden. Dreimastige Grenzschiffe waren große Grenzschiffe, aber bei Weitem keine Seltenheit mehr. Der eiserne Rumpf spiegelte den brennenden Hafen. Wind war aufgezogen, auch wenn er nicht sehr stark war. Zwei der großen Segel waren eingeholt.

Auf jeden Fall war Linus sich nicht sicher, ob sie den Menschen im Wasser, auf der anderen Seite der Grenze, überhaupt helfen durften. Bojen markierten es im Wasser und er hatte die ganze Zeit über schon gefunden, dass sie sich zu nah an ebenjenen aufgehalten hatten.

Falk wirkte nicht begeistert davon, ganz und gar nicht. Sie verzog das Gesicht, sodass ihr Nasenrücken faltig wurde. „Schuchard, geh Bosch wecken, ich glaube, den brauchen wir jetzt.“

Linus begann unter kristallisierendem Atem, die Takelage wieder zu befestigen. Seine Finger zitterten. Es war nicht der Kälte zuzuschreiben.

Noch ein anderes Grenzschiff war in Sichtkontakt. Dieses war ein Stück weiter entfernt, hatte einen Mast weniger als das andere und vor allem bereits in Richtung des Hafens abgedreht. Das nähere jedoch hielt genau auf den kleinen Fischkutter zu.

Linus war in seinem Leben noch nie in direkten Kontakt mit dem hostischen Militär geraten, auch nicht mit deren Marine. Man könnte meinen, dies wäre nicht allzu verwunderlich, da Hostis nicht sein Heimatland war und er es auch noch nicht einmal betreten hatte. Statistisch gesehen war Hohendamm jedoch, als seine Heimatstadt und sein derzeitiger Wohnort, jene tribunische Stadt, die das höchste Aufgebot an Fremdmilitär hatte. Die Leute redeten viel, sie fluchten viel, auch auf das landesfremde Militär, auf Soldaten wie Offiziere. Hostis sollte sich fernhalten. Wenn sich der Nordkontinent mit den anderen nicht zur Union vereinen wollte, dann sollte er mit den anderen auch nichts zu tun haben. Wer verlangte, allein gelassen zu werden, der sollte auch die anderen allein lassen. Die Leute redeten viel, sie fluchten viel. In dieser Gegend war das nicht anders als im Rest der Welt.

Ein Licht wurde vom Achterdeck des Grenzschiffes gefeuert. Ein Signalzauber, niedrig, blau leuchtend. Ein weiteres. Linus konnte die Nachricht nicht lesen, auch wenn die Formen deutlich waren und garantiert nicht von einem Praktikanten wie ihm selbst gemacht wurden. Falk jedoch konnte sie sehr wohl entziffern und stürzte zum Steuer, um in Abwesenheit des Kapitäns zu entscheiden, was zu tun war.

„Das ich sowas mal erlebe“, ächzte sie, während sie eindrehte, um das Schiff über die Grenze zu lenken. Blau als Farbe war kein Befehl, es war aber auch kein Hilfe, keine Warnung. Eine Bitte. Linus konnte sich gut denken, worauf sie bezogen war.
 


 


 

„Himmel, Arsch und Zwirn“, hörte er gleich darauf ein zweites Mal, diesmal von Kapitän Bosch persönlich. Er erschien an Deck, nachdem er die Klappe zum Frachtraum aufgeworfen hatte. Dann rieb er sich die Augen und schaute angestrengt Sysdale an. „Und ich dachte, die hätten zur Feier der Konferenz ein Feuerwerk gezündet, was läuft eigentlich schief da drüben?“ Für einen Moment war er still, kratzte sich am Kopf. Sein Blick wich zum Grenzschiff der hostischen Marine und die Mimik fror ihm ein. „Sadnaval bewahre. Die Konferenzen!“

Linus hatte auch nicht daran gedacht. Er hatte es völlig verdrängt gehabt, obwohl die Nachrichten sich die letzten Tage um nicht viel Anderes gedreht hatten. Es hatte ihn nicht interessiert. Die Konferenzen fanden auf einem anderen Kontinent statt, der, obwohl von Hohendamm aus bei fast allen Wetterlagen sichtbar, in einer ganz anderen Welt lag. Einer fremden, kalten. Die nordische Welt aus Eis und Schnee.

Er interessierte sich nicht für Politik, weshalb er nicht genau wusste, was für einen Anlass die Konferenzen in Sysdale eigentlich gehabt hatten. Doch auch er hatte mitbekommen, dass der Zar und seine Frau persönlich anwesend waren, weshalb die letzten Wochen in der Gegend das Militäraufgebot auch entsprechend hoch gewesen war. Noch höher als ohnehin schon.

Von Frieda hörte Linus ein erschrockenes Einatmen und sah aus dem Augenwinkel, wie sie sich die Hände vor den Mund hielt. Schuchard verstand nichts, gar nichts, wie immer, doch er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Er scheiterte dabei.

Niemand auf der ganzen Welt, niemand in ganz Miseria, brauchte im Moment noch mehr Reibereien zwischen dem Norden und dem Westen, doch wem auch immer diese Explosion zuzuschreiben war, schien augenscheinlich anderer Meinung zu sein. Sicherlich hatte derjenige seine Gründe und obwohl Linus eigentlich jede Meinung respektierte und bei entsprechender Begründung für existenzberechtigt hielt, kam er an jenem Abend zu dem Entschluss, dass eine Bombe in einer Großstadt zu zünden eine beschissene Meinung war.

Es dauerte nicht mehr lange und sie lagen Flanke an Flanke mit dem Grenzschiff. Nach knapper Verständigung zwischen den Schiffen, stand ein Mann bei ihnen an Deck, bei dem es sich offenbar um den Kapitän der Grenzer handelte; an jener Stelle, an der Linus zuvor noch gearbeitet hatte.

„Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie meiner Aufforderung nachgekommen sind, Kapitän Bosch“, sprach der Mann, dessen hostischer Akzent weniger rau als erwartet war. Vom Alter her war er wider Erwarten vermutlich näher an Linus als an Bosch selbst. Jung, mit kurzem, dunkelblonden Haar und mit der Uniform eines hostischen Kampfmagiers.

„Es ist mir eine Ehre, Herr...“ Bosch kniff die Augen zusammen, um zu lesen, was auf der Uniform des Militärs stand, „Kapitänleutnant Frederik.“ Er lächelte kurz. Es war gelogen. Bosch mochte Hostis und sein Militär vermutlich noch weniger als Falk.

Einer der oberen Offiziere, am Land wäre er Hauptmann gewesen. Doch hier war er Kapitänleutnant und trug die Uniform der Marine, die man vom Land ganz leicht durch die umgekehrten Farben unterscheiden konnte. Hauptsächlich weiß, nur wenig des sonst so dominanten dunklen Graugrün an den Rändern. Lediglich die dicken, goldenen Knöpfe waren gleich, sowie das Kreuz auf den oberen Ärmeln, unterlegt mit der gespaltenen Tanne. Das Zeichen des hostischen Militärs. Sowie sein Schild mit seinem Vornamen auf der Brust, befestigt über dem gestickten Clansymbol der Täysikuu. Der Clan der Eisbändiger aus dem Süden des hostischen Hauptlandes, deren Provinz nordöstlich an die der Hauptstadt grenzte.

„Was ist geschehen?“, erkundigte sich Bosch indessen.

Kapitänleutnant Frederik verschränkte die Arme, sein Blick schweifte zur Stadt. „Wir wissen es nicht, unsere Verbindung wird blockiert.

„Und Sie beschäftigen sich mit uns?“

Der Mann lächelte kurz und verbittert. „Wir haben noch mehr Leute in der Stadt stationiert, die kümmern sich. Wir müssen den Menschen hier helfen und ich erteile Ihnen die Genehmigung, uns zu unterstützen.

Bosch legte den Kopf schief, Linus schaute weg. Er konnte sein Herz schlagen spüren und es war unangenehm. Das Wasser war eiskalt. Bosch sollte nicht vor einem so hochrangigen Mann heraushängen lassen, wie wenig er Hostis leiden konnte, das war der falsche Moment.

​​​​„Bei einem Ereignis wie diesem lockern Sie die Grenzvorschriften?“

Linus hätte gern sein Gesicht in den Händen vergraben. Er erhaschte einen kurzen Blick auf den düsteren seines Kapitäns.

„Das Wasser hat vier Grad.“ Herr Frederik schien unbeeindruckt. „Wenn Sie helfen wollen, sollten Sie vergessen, wo diese Menschen herkommen.“ Er trat wieder zur Reling. „Holen Sie sie aus dem Wasser und bringen Sie sie zu uns, wir schaffen sie zurück ans andere Ufer.“

Daraufhin kletterte er die Strickleiter wieder nach oben, die zu seinem Schiff führte und war so gleich darauf aus der Sichtweite verschwunden. Die Leiter wurde eingeholt.

Es war nicht das erste Mal, dass Linus einen Magier gesehen hatte. Er selbst gehörte ebenfalls einem Clan an, auch wenn seine magischen Fähigkeiten nur knapp ausreichend gewesen waren, um ihm den Clannamen „Färber“ zu verschaffen. Jedoch war es das erste Mal, dass er direkt mit einem Kampfmagier, einem Magier des Militärs zu tun hatte. Obwohl sie im Heimatland Tribunus keine offiziellen Militärränge haben durften, hatten sie doch einige Kampfmagier selbst, insgesamt mehr als Hostis. Linus hatte mit denen, den sogenannten Großmeistern, aber nur wenig zu tun. Wären seine Fähigkeiten stärker ausgebildet, dann vielleicht, da man ihn dann ins Militär geschickt hätte, doch dem war nicht so. So war er nur ein einfacher Fast-Siebzehnjähriger, der seit einem halben Jahr mit der Schule fertig und zu unfähig gewesen war, sich einen Platz an einer Hochschule oder eine Ausbildung zu beschaffen, sodass seine Mutter ihm aus Verzweiflung dieses Praktikum hier besorgt hatte. Er wollte ihr dankbar dafür sein, aber er konnte es nicht.

Gleich darauf wurde Steuerbord eingelenkt, um sich von dem Marineschiff zu lösen, dann backbord, um die Grenze zu überqueren. Linus' Blick hing an der leuchtend orangefarbenen Boje im Wasser. Er war noch nie in Hostis gewesen. Weder auf dem Hauptland noch auf den Iliarys, der großen Inselgruppe direkt vor seiner Haustür, auf der Sysdale lag. Es war anstrengend, ein Visum zu bekommen.

Bosch grummelte vor sich hin, nachdem er Frieda und Linus die Anweisung gegeben hatte, alle Lichter anzuzünden. Falk unterdessen hielt noch immer das Steuer und Schuchard regelte etwas an der Takelage.

„Aufgeblasene Mistmagier“, hörte er Bosch fluchen. Linus hörte Boschs Ausfälle nicht gern, aber besser hier als direkt vor dem Magier. „Vergessen, woher die Menschen kommen, ja, selbstverständlich, aus dem Grund sperrt ihr sie ja auch in eurem eigenen Land ein.“ Bosch entfernte sich von Linus, sodass er sein wütendes Grummeln nicht mehr verstehen konnte. „Wenn ihr mir hier Leute reinholt, dann schaut, dass das Boot nicht zu voll ist, ich habe keine Lust zu kentern oder Fracht über Bord schmeißen zu müssen.“ Mit den Worten verschwand er wieder unter Deck.
 


 


 

Eigentlich waren sie nur Nachtfischen und kurz davor gewesen, wieder zurück zum Hafen von Hohendamm zu fahren. Doch seit jenem Moment, an dem Linus am Klüverbaum alles hatte vorbereiten wollen, waren ein paar Stunden vergangen und erst jetzt machten sie sich auf den Heimweg.

Der Kapitänleutnant hatte sich dankbar gezeigt, wenn auch ungewollt nervös. Linus vermutete, dass die Verbindung zu den Einheiten in Sysdale immer noch nicht funktionierte, hatte es aber nicht angesprochen. Als minderjährigem Praktikanten stand ihm das nicht zu. Aber immerhin hatten sich die Feuer in der Stadt gelegt.

Die gesamte Mannschaft atmete tief durch.

„Vielleicht weiß die Zeitung morgen, was passiert ist“, sprach Frieda und sie war damit die erste, die wieder etwas sagte.

„Das ist Hostis, du weißt doch, dass die etwas radikaler sind.“ Falk zuckte mit den Schultern, lehnte sich ans Steuerrad.

„Aber was ist, wenn die jetzt Tribunus den Krieg erklären?“, sorgte sich die andere Frau.

„Wenn sie selbst 'ne Bombe legen, warum sollten die Tribunus den Krieg erklären?“ Sie wirkte unbesorgt. Linus verdrehte die Augen und ging weiter seiner Arbeit nach. Er ersehnte den Tag, an dem es auf diesem Schiff ein Gespräch mit Substanz geben würde.

„Das ist Hostis?“, lenkte Frieda wieder ein, woraufhin Falk nur sehr laut aufstöhnte, aber nichts weiter sagte. „Ich meine, die kennen da nur Winter und Schnee und außerdem fürchten die sich vor nichts.“

„Die sind keine Barbaren, das sind Menschen.“ Schuchard verschränkte die Arme vor der Brust.

Während Linus weiter das machte, was er eigentlich schon vorhin hätte tun sollen, versuchte er, seine Nervosität einfach herunter zu schlucken. Das Gespräch seiner Kollegen hörte sich ein bisschen wie eine Diskussion aus einem Ethikkurs der achten Klasse an. Bei dem Gedanken fühlte er sich schlecht. Er stellte sich nicht gern über andere, aber ein Praktikum auf einem Fischkutter war nie das gewesen, was er sich sehnlichst gewünscht hatte. Selten zuvor war er tagtäglich an einem Ort, an dem er so wenig intellektuellem Austausch ausgesetzt war wie hier.

Das, was ihn jedoch am meisten störte, war, dass das Thema in der Fassung Schuchard-Falk-Frieda klang, als würde eine Boulevard-Zeitschrift es behandeln. Er interessierte sich nicht für Politik, nein, aber das musste er auch gar nicht, um über die angespannte Lage zwischen dem Norden und dem Westen, zwischen Hostis und Tribunus, Bescheid zu wissen. Das Problem war nicht erst diese Woche aufgetaucht. Vor allem auf den Iliarys war es seit der Wirtschaftskrise vor fünfzehn Jahren unruhig und obwohl sich die hostische Wirtschaft stabilisiert hatte, war es auf den Inseln nur noch chaotischer geworden. Hostis und Tribunus würden sich wegen eines Attentats auf den Zaren wohl kaum den Krieg erklären. Viel höher stand die Chance, dass sich die iliarische Bevölkerung gegen die Clans des Festlands erhob.

„Ruhe, alle miteinander“, schallte irgendwann die Stimme des Kapitäns über das Deck und die rege Diskussion der anderen brach ab. Wie lange würde es noch dauern, bis sie in Hohendamm anlegten? Dreißig Minuten? Es konnte nicht schnell genug gehen, immerhin mussten sie die Waren noch in den Lagerhäusern unterbringen und Linus war fürchterlich müde. Es war bald früher Morgen. Die Nacht war anstrengend gewesen.

„Ich kann's erklären“, hörte er dann und zu seiner Verwunderung kannte er die Stimme nicht, weshalb er sich zu seinen Kollegen umdrehte und einen Schritt zur Seite machte, um etwas sehen zu können, da ihm sonst der Mast des Kutters die Sicht versperrt hätte.

Kapitän Bosch stand an der Luke zum Frachtraum. Da er ein großer Mann war, stellte es für ihn kein Problem dar, den fremden Jugendlichen am Genick gepackt zu halten, der deshalb die Schultern hochgezogen hatte, sich aber nicht wehrte. Der Junge war von der Kälte sehr blass, nass und durchgefroren, zitterte stark und seine Lippen waren blau angelaufen. Linus schätzte ihn als nicht viel älter als sich selbst, auch wenn er sich fragte, was er mitten in der Woche mitten in der Nacht auf einem der Schiffe gemacht hatte, die von Sysdale nach Hohendamm übersetzten. Und vor allem, wie er es geschafft hatte, sich vor ihnen zu verstecken.

„Ich höre, Junge“, sprach Bosch streng, Frieda hingegen schaute besorgt drein.

„Wir sollten ihm erst einmal eine Decke geben, er holt sich sonst den Tod“, protestierte sie, Falk seufzte daraufhin noch lauter als sonst und niemand ging weiter darauf ein.

„Ich...“, begann er und diesmal fiel Linus auf, wie heiser seine Stimme klang. „Ich wollt' nich' zurück nach Hostis, ich wollt' weg.“

„Hatte da jemand kein Visum?“

Er öffnete leicht den Mund, sein Blick zuckte nervös hin und her.

„Nein also.“ Bosch seufzte. „Ich würde dich ja echt gern augenblicklich wieder rüber schicken und zwar mit einem riesigen Arschtritt, aber ich an deiner Stelle hätte auch weg gewollt.“ Der Kapitän ließ ihn los. Offensichtlich war es zu plötzlich für ihn, doch obwohl er zuerst stolperte, schaffte er es, nicht hinzufallen.

„Was haben Sie denn gedacht?“, erkundigte er sich, stützte sich auf seinen Knien ab, während er zu dem Mann aufschaute.

„Wenn du versuchst, dich an unserem Fisch zu vergehen, schmeiße ich dich über Bord.“

Der Junge verzog das Gesicht. „Wer isst denn bitteschön rohen Fisch?“

„In Agmen essen sie rohen Fisch“, warf Frieda ein, aber außer, dass der fremde Junge knapp lächelte, reagierte keiner auf sie.

Bosch indessen verschränkte die Arme und betrachtete den Flüchtling vor sich mit schief gelegtem Kopf. „Du bist nicht aus Sysdale, das hört man dir an.“

„Cilghain“, antwortete der Junge.

„Hast du in Hohendamm Familie?“

Er schüttelte den Kopf. „Nay, aber...“

Bosch hob die Hand. „Sonst in Luchtal?“

„Nay, ich...“

„Irgendwo in Tribunus?“

„Nay, meine...“

„Dann wird das nichts, Junge, du hast keine tribunische Krankenversicherung, kein Geld, kein nichts, außer vielleicht 'ne schwere Lungenentzündung morgen früh und...“

„Jetzt lassen Sie mich doch ausreden!“, fauchte der Junge und es schien ihm Einiges an Kraft abzuverlangen, die Stimme so zu heben. Von Bosch kam ein Schnauben, doch er schwieg.

​​​​​„Ich will nach Rubrica. Meine Schwester hat gesagt, sie trifft sich da mit mir in... ein paar Tagen... oder so.“

„Oder so? Keine sehr genaue Angabe“, sagte Bosch, dessen kritischer Blick immer noch auf dem Jungen lag.

„Sehr genau am Arsch“, schnaufte er. „Was interessiert Sie das, Fakt ist, dass ich weg will.“

„Sehr viel, das ist mein Schiff, auf dem du dich illegal aufhältst“, knirschte der Kapitän. Der Junge jedoch wich seinem Blick aus und schaute zur Seite weg, in jene Richtung, in die das tribunische Festland lag. Erst jetzt schien er Linus im Halbschatten des Masts zu erkennen.

„Ich hatte noch 'ne zweite Jacke mit“, sagte Schuchard irgendwann. „Die können wir ihm geben.“

Der Gesichtsausdruck des Fremden erhellte sich etwas, doch Bosch unterbrach die Freude mit einem Knurren.

„Wir wollen hier mal nichts überstürzen. Der Junge ist immer noch aus Hostis – wie heißt du überhaupt?“

„Immer noch aus Hostis, dass ich nich' lache!“, sagte er mit plötzlich viel festerer Stimme. Wie zuvor auch erschöpfte es ihn wohl, lauter zu sprechen. Dennoch machte er es und Linus wusste nicht, ob er besonders mutig war, sich so dem sehr großen und sehr kräftig gebautem Kapiän Bosch entgegen zu setzen, oder aber besonders dumm. „Iliarys, es sind die Iliarys, Hostis schert sich eh 'nen Scheißdreck um uns! Wenn die ohnehin immer sagen, wir würden nich' zu denen gehören, soll'n die sich nich' wundern, wenn wir uns auch nich' als Hostis bezeichnen und Tribunus ist auch nich' besser, pah!“

„Nicht frech werden, Bursche, ich kann dich immer noch über Bord gehen lassen!“ Bosch fiel es leicht, den Jungen zu übertönen.

„Mein Name ist Horatio.“ Linus konnte durch das schlechte Licht und die Entfernung schlecht sagen, ob es Wahrheit oder Einbildung war, doch der Blick des Jungen war herausfordernd und fest. Es stand im Kontrast dazu, dass er immer noch zitterte und seine Lippen bebten.

„Fatum noch eins, Bosch, jetzt lassen Sie ihn doch wenigstens 'ne trockene Jacke anziehen, sonst hat er die schwere Lungenentzündung schon, wenn wir in Hohendamm ankommen!“, warf Falk schließlich ein.

„Wenn wir überhaupt direkt nach Hohendamm fahren, wenn wir umdrehen, dauert es nicht lange, bis...“

„Warum interessiert Sie das eigentlich, wie ich mich in Hohendamm anstelle“, beschwerte Horatio sich und wollte wohl noch mehr sagen, doch stattdessen folgte ein trockenes Husten.

„Hören Sie es sich doch an.“ Falk deutete auf ihn. „Ich mag Hostis auch nicht, aber er war in eiskaltem Wasser, wollen Sie auch noch für seinen Tod verantwortlich sein?“

Bosch grummelte irgendetwas. Auf einen Handwink von Falk verschwand Schuchard unter Deck.

„Hast du einen Ausweis dabei?“, fragte Bosch dann, die Stimme wieder etwas ruhiger, und verschränkte die Arme vor der Brust.

Horatio schwieg, dann fasste er sich langsam in die Hosentasche. „Ich hab... Geld...“

Bosch schnaubte. „Ich lasse mich nicht...“, setzte er an, brach aber mit großen Augen ab, als er den ganzen Haufen zerknüllter Geldscheine in den Händen des Jungen entdeckte. Vorsichtig nahm er einen Schein, hielt ihn hoch, schaute ihn an. Dann gab er ihn zurück. „Sogar tribunische Sere, Himmel, Arsch und Zwirn“, murmelte er. Linus konnte durch das wenige Licht nicht genau sagen, wie viele Scheine wie beschriftet waren. Doch die größte der drei tribunischen Währungseinheiten war ausgesprochen viel wert.

„Pack das wieder weg, pack das wieder weg“, sagte Bosch schnell mit hoch gehaltenen Händen.

Horatio hielt es noch einen Moment lang Bosch unter die Nase, ehe er es langsam wieder weg packte. Linus konnte seine Zähne klappern hören.

Schuchard kam unterdessen wieder nach oben, in der Hand eine Jacke. Das viele Geld hatte er demnach verpasst. „Hier, hier“, sagte er und war der einzige an Deck, der im Moment lächelte, als er Horatio die Jacke reichte.

Der bedankte sich knapp und nahm die Kleidung an. Sein Blick huschte nervös übers Deck, ehe er sie über zog. Bevor er mit dem Arm durch den Ärmel der Jacke fuhr, rutschte sein Hemdärmel ein Stück nach oben. Linus bemerkte es nur, weil er zufällig darauf schaute und offenbar bemerkte es sonst keiner seiner Kollegen, aber offenbar waren Horatios Arme tätowiert. Einmal davon abgesehen, dass tätowierte Minderjährige nicht so häufig anzutreffen waren, wusste Linus, dass zumindest Bosch die ganze Situation noch schneller durchschaut hätte, als Linus es in jenem Moment tat.

Horatio war ein Magier. Das war die einzige Erklärung, von sehr großzügigen Eltern einmal abgesehen. Die Crayfish, der große Clan der Metallbändiger aus Sysdale, waren bekannt für ihre kunstvollen Tattoos. Wenn Horatio so alt war wie Linus selbst, dann würde er kurz vor Beginn der Ausbildung im hostischen Militär stehen und offenbar wollte er das nicht.

„Das ist 'ne Menge Kohle“, sagte Bosch schließlich und unterbrach eine unangenehme Stille damit. „Aber das ist schneller alle, als du denkst. Bei uns drüben ist es ein bisschen teurer als bei euch.“ Er klang ruhiger als zuvor noch, als hätte ihm die Minute, die Horatio zum Anziehen gebraucht hatte, genügend Zeit gegeben, um kurz alles zu überdenken. „Und legal macht das das alles hier trotzdem nicht. Wir nehmen dich mit nach Hohendamm, da kannst du dich aufwärmen, aber morgen früh geht’s wieder rüber.“

„Bitte nich'!“, kam es sehr schnell von Horatio. „Ich kann nich' zurück! Ich hab kein' Dunst, was Morgen drüben läuft, ich kann nich' zurück.“

„Da hat er Recht, wir wissen nicht, was in Sysdale drüben läuft!“, warf Frieda ein. „Erst recht nicht dann morgen.“

„Was ist, wenn die sich dann morgen den Kopf einschlagen?“ Schuchard musterte Horatio. „Ich will da keinen Jugendlichen reinschicken.“

„Er ist aus Cilghain, hat er selbst gesagt“, murrte Falk. „Wie kommt es, Horatio, dass du mitten in der Nacht einer Explosion auf dem Schiff bist, einem hostischen Kampfmagier bei der Untersuchung unseres Frachtraums durch die Lappen gehst und jetzt hier bist, mit einem kleinen Vermögen in der Tasche?“

„Ich...“ Horatio starrte sie an wie ein verschrecktes Kaninchen. „Ich kann nich'...“

„Das sagtest du bereits.“ Boschs Stimme klang wieder härter. „Warum. Warum kannst du nicht?“

Horatios Mund stand einfach nur offen. Vielleicht wollte er etwas sagen, doch kein Wort kam heraus, kein einziges. Stattdessen stand Falk wieder am Steuer und schaute zum Kapitän, schien auf dessen Befehl zu warten, irgendetwas zu machen. Irgendwo schrie eine einsame Möwe.

„Ich kann ihn mitnehmen.“

​​​Einen weiteren Moment lang war es leise auf dem Schiff. Linus wusste, dass ihn alle anschauten.

„Ich kann ihn mitnehmen, meiner Mutter fällt sicherlich etwas ein.“ Sein Herz schlug ihm bis zur Brust. Er bemerkte Horatios Blick und die großen Augen, mit denen dieser ihn anschaute. Eine Mischung aus Verwirrung und Dankbarkeit.

„Oha, er kann sprechen“, war Falks Murmeln das erste, was sonst jemand sagte. Ein Glück ging niemand darauf ein. Das unangenehme Kribbeln in Linus' Bauch war schlimm genug.

„Deine Mutter ist eine gute Frau“, sagte Bosch seufzend. „Aber ihre hohe Position in der Hafenverwaltung wird sie nicht vor Stress mit dem hostischen Militär bewahren, wenn die das herausfinden.“

„Oder mit dem tribunischen“, merkte Falk an. „Keiner mag illegale Einwanderer. Nirgendwo.“

„Nein, also...“ Linus schüttelte verlegen den Kopf und wusste selbst nicht ganz, was er sagen sollte.

„Dann lass es sein. Wir sorgen dafür, dass er morgen zurück nach Hostis kommt“, sagte wieder Bosch.

„Du bist ein Färber, richtig?“ Horatios Blick lastete immer noch auf ihm. Linus schaute augenblicklich weg, nickte allerdings. Es gab nicht viele Clans in Miseria, die man allein am Aussehen erkennen konnte, jedoch gehörte sein eigener, sowie nahe Verwandte, dazu, hatten sie unter anderem die Fähigkeit, Haar- und Augenfarben nach Belieben zu wählen. Die Voraussetzung dafür und somit den Clannamen „Färber“, war eine Ausprägung des Fähigkeitengrades, der hoch genug sein musste. Bei Linus reichte er gerade so für den Namen. Er konnte ein bisschen an der Helligkeit seiner Haare schrauben, weshalb er sie so dunkel wie möglich hielt. Dass sie dennoch sehr deutlich ein kräftiges Rot innehatten, wurde umso klarer, da Horatio ihn ohne Probleme in den miserablen Lichtverhältnissen an Deck seinem Clan hatte zuordnen können.

„Dein Clan kann ihm nicht helfen“, sagte Falk.

„Wissen Sie's?“ Horatio schaute nun sie an. Seine Atmung ging noch etwas schneller als zuvor. „Das können wir versuchen, sie... Also, die könn' mich ja immer noch rüber schicken, wenn's nich' klappt, aber bitte, bitte, ich kann nich' – ich will nich' zurück, bitte, ich...“

„Wir unterstützen keine minderjährigen Ausreißer!“, sagte Falk etwas lauter, hielt sich aber zurück, als Bosch ihr mit einer Hand anwies, Ruhe zu bewahren.

Linus wollte noch irgendetwas Nützliches sagen, aber er wusste nicht was. Wenn Horatio es vorzog, seine Clanherkunft den anderen zu verschweigen, dann wollte er ihm nicht in den Rücken fallen. Es gab Verträge zwischen den Clans, uralte Verträge. Vielleicht konnten die helfen, um Horatio etwas neuen Boden hier in Tribunus zu geben. Über Sysdale hing nach wie vor dicker Rauch, selbst bei der Entfernung und der Dunkelheit war es gut zu sehen. Linus hätte dorthin auch nicht zurück gewollt.

Bosch hatte erneut die Arme verschränkt und musterte Linus und Horatio abwechselnd, vor allem aber letzteren. „Von mir aus“, sagte er schließlich. Als Horatio sehr breit zu grinsen begann, hob er jedoch einen Finger. „Aber wenn das hostische Militär oder das tribunische oder sonst irgendein hohes Tier ein meine Tür klopft, dann gnade euch Sadnaval.“

„Wir werden das fürchterliche Missverständnis sofort klären, ja!“ Horatio umarmte Bosch. Der hatte nicht damit gerechnet und schaute dementsprechend drein.

Falk schnaubte verächtlich, sagte aber nichts weiter.

„Frieda, kümmere dich um ihn“, wies Bosch an, den Blick aber auf Hohendamm gerichtet. Die Stadt war nicht mehr weit. „Schuchard, in den Frachtraum. Linus, du kriegst deinen nächsten freien Tag gestrichen. Zurück an den Klüverbaum.“

Linus versuchte, nicht allzu offensichtlich das Gesicht zu verziehen, sagte jedoch nichts weiter und ging wieder seiner Arbeit nach. Im Hintergrund bekam er mit, wie Frieda Horatio versorgte, der offenbar kein Problem mit der Behandlung hatte. Doch gelegentlich sah er, wie er zu ihm herüber schaute, und wich dem Blick aus. Er wollte ihm keine Hoffnung machen. Es gab keine Garantie, dass die Clanverwaltung etwas machen konnte.
 


 


 

Die restliche Fahrt verlief still und auch beim Anlegen wurde weniger gesprochen als sonst, kaum mehr als das Nötigste. Horatio bot seine Hilfe an, doch Bosch wimmelte ihn grob ab, sodass der Junge nur daneben stand und nichts machte. Linus sah, dass er nach wie vor zitterte. Auch seine Gesichtsfarbe war noch nicht gesünder geworden. Und dennoch lächelte er vor sich hin. Warum lächelte er?

Es war halb fünf am Morgen, als sie endlich fertig waren. Bosch sagte nichts zu Linus, was ihm das Gefühl gab, dass der Kapitän sauer auf ihn war und es die nächsten Tage auch sein würde. Er wusste nicht, ob er das vorhin mit dem freien Tag ernst gemeint hatte, befürchtete dies allerdings. Aus dem Kopf wusste er gerade gar nicht, wann er das nächste Mal frei hatte, von heute abgesehen. Zu Hause würde er dann nachsehen.

Falk sagte ebenfalls nichts zu ihm, nur Frieda kam noch einmal und wünschte Horatio sehr viel Glück, Schuchard tat das gleiche. Außerdem merkte er an, Horatio könne seine Jacke vorerst behalten, Linus solle sie dann einfach demnächst wieder mitbringen. Nachdem das getan war gingen die beiden los, die ersten Minuten lang in unangenehmem Schweigen.

„Isses weit bis zu dir?“, fragte Horatio irgendwann. Er lächelte immer noch, auch wenn seine Augen nicht mitmachten.

Gerade, als Linus antworten wollte, sprach er schon weiter. „Also, nich', dass du denkst, ich würd' das nich' schaffen, ich bin nur doch etwas müde – ah, im Übrigen. Eh, ich bin dir so dankbar, dass du das getan hast, ich dacht' echt, der katapultiert mit mit 'nem Arschtritt zurück nach Eart.“

Linus nickte und wollte aufgrund der Formulierung lächeln, es wurde aber nur eine schiefe Grimasse daraus. Doch ja, das hätte er Bosch zugetraut, deshalb hatte er etwas gesagt. Horatio musste wohl mehrere Gründe haben, nicht in seine Heimatprovinz zurück zu wollen.

„Du... bist doch wirklich ein Crayfish, oder?“

„Huh? Woher weißt'n das?“ Horatio wirkte erstaunt und sah ihn an. Linus hörte seine Zähne klappern und band sich gleich darauf den Schal ab, um ihn dem Jungen zu reichen. „Eh, du bist irgendwas Übernatürliches, danke, danke, danke.“

„Kein... Thema“, sagte Linus langsam, der jetzt lieber wieder gerade aus schaute. Trotzdem spürte er, wie Horatios Blick weiterhin an ihm hing. „Dir sind vorhin kurz die Ärmel hochgerutscht.“

„Oh. Hm. Nah. Glück, dass der Kapitän das nich' gerallt hat – ist der immer so drauf?“

„Häufig, ja.“

„Pft, Seeleute, hach.“

Sie waren noch nicht weit gelaufen, aber Linus konnte Horatio anhören, wie sehr er außer Atem war. Es war nicht weit bis zu Linus nach Hause, aber er wollte Horatios Lungen nicht weiter strapazieren. An der nächstbesten Straßenbahnhaltestelle würde er nachschauen, ob sie zeitnah eine Tram nehmen konnten. Erneut war es kurz still.

„Nimmst du mich wirklich mit zur Clanverwaltung?“

„Hmmmm.“ Linus wusste es nicht. Wenn Horatio das nicht wollte, würde Linus ihn nicht drängen, nein. „Musst mit meiner Mutter reden. Die hat da mehr Ahnung als ich.“ Er wollte ihn nicht anlügen. Wenn seine Mutter darauf bestand, würde es darauf hinauslaufen. Aber erst einmal mussten sie den Rest der Nacht darüber schlafen. Linus war zu müde, um sich damit zu befassen.

„Ich kann mich auch jetzt gleich in 'nen Zug setzen und nach Rubrica abdüsen. Geld hab ich, haste ja gesehen.“ Aus dem Augenwinkel sah er Horatio mit den Schultern zucken.

„Hm, nein, also.“ Er räusperte sich, weil er spontan nicht wusste, wie er das formulieren sollte, was er ausdrücken wollte. Ihm wurde warm. „Bosch hatte Recht. Musst dich erstmal ausruhen, sonst wirst du wirklich, wirklich krank.“

Horatio gab ein Geräusch von sich, das sehr unzufrieden klang, sagte aber nichts weiter dazu. Stattdessen war es erneut still.

„Du“, begann Linus schließlich langsam, „bist hier, weil du nicht ins Militär willst, oder?“

Seine Zähne klapperten nicht mehr. Der Schal wärmte gut. „Eigentlich nich'“, antwortete er dann. „Hat... Obwohl, doch, doch, eigentlich schon, ja.“ Linus hörte sein Schnaufen. „Meine große Schwester hat'n paar Gruselgeschichten über die da erzählt, is' echt nich' soooo bequem dort? Ich meine, es is' das Militär. Haha. Wär' ja eigentlich ehrenvoll, da zu arbeiten? Aber es is' gefährlich und wir sind ja auch nich' aus Vorderagmen und setzen unsere Ehre über sonst alles.“

„Aber an sich... Also, du hättest schon zur Militärakademie gesollt?“, fragte er nach, auch wenn ihn das eigentlich nichts anging. Immerhin war es Horatios Angelegenheit, nicht seine.

„Aye, schon. Militärfamilie und so. Richtig anstrengend. Außer meine Schwester, die is' super.“ Er grinste kurz, aber es war ein leeres Grinsen. „Sie is' Major im Militär! Major! Mit fünfundzwanzig! Du müsstest sie echt mal kennenlernen, sie is' klasse. War mit in Sysdale wegen der Konferenz... und so.“ Mit den Worten war er auf einmal ruhig.

Linus ließ die Ruhe einen Moment lang wirken. „Wo ist sie jetzt?“, fragte er dann und bereute es sofort.

Es dauerte länger als zuvor, bis Horatio seine Antwort fand. „Uh. Also. Ich weiß... Sie, hngh.“ Er hustete und es hörte sich sehr ungesund hat. „Wir treffen uns in Rubrica, das hat sie gesagt. Ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie haben keine Verwandtschaft dort? Nich', dass ich wüsste. Vermutlich schon. Weiß ja auch nich' alles. Haha.“ Er lachte auf. „Sie hat gesagt, wir treffen uns in Rubrica. Das hat sie gesagt.“

Von da an schwiegen die beiden, bis sie an der Straßenbahnhaltestelle angekommen waren. Kurz, nachdem sie aus der Tram wieder draußen waren, kurz vor Linus' Wohnung, begann es zu schneien. Mittlerweile war es windiger als zuvor noch. Es trug wohl Asche und Ruß aus Sysdale über die Wasserstraße zwischen den beiden Städten. Denn anders konnte sich Linus nicht erklären, warum die zahlreichen Flocken heute so ungewohnt grau aussahen.

Der Junge aus dem Wasser

Als Linus aufstand, war es bereits Nachmittag. Bevor er ins Bett gegangen war, hatte er sich seinen Wecker gestellt, aber offensichtlich nicht den penetrantesten Modus gewählt. Er hatte den Alarm im Halbschlaf ausgeschaltet und einfach weitergeschlafen. Nach abruptem Aufwachen war er erfahrungsgemäß komatös genug, um sich nicht an die Gegebenheit erinnern zu können und sich stattdessen beim Erwachen zu wundern, warum sein Wecker denn nicht geklingelt hatte.

Er gähnte einmal, streckte sich, kuschelte noch einen Moment mit der Katze auf seinem Bauch, dann sammelte er seine Kleidung ein und ging erst einmal duschen. Gestern war er nach kurzem Gespräch mit seiner Mutter einfach nur ins Bett gekippt. Heute fühlte er sich eklig. Der ganze Schweiß musste weg, außerdem hatte er das unangenehme Gefühl, dass seine Haare nach Rauch rochen. Sysdale war zu weit weg gewesen. Vermutlich bildete er sich das nur ein.

Außerdem schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn er jetzt gleich duschen ging. Dann wäre er angezogen, wenn seine Mutter von der Arbeit kam. Pure Konfliktvermeidung, denn Alrun Färber konnte es überhaupt nicht ausstehen, wenn ihr Sohn den ganzen Tag lang in Nachtzeug in der Wohnung hing.

Und dann war da noch der Junge aus dem Wasser. Während des Duschens versuchte Linus jeden Gedanken an ihn zu verdrängen, auch wenn er scheiterte. Aber wenn nicht, während er geschlafen hatte, irgendetwas Unvorhergesehenes geschehen war, dann lag Horatio an jenem Morgen im Gästezimmer im Bett. Dort, wo er gestern auf der Stelle eingeschlafen war. Keiner hatte es ihm übel genommen.

Bei Linus hatte es etwas länger gedauert, ehe er ins Bett gekonnt hatte, denn seine Mutter hatte alles wissen wollen. Alrun war ein unglaublich fürsorglicher Mensch, doch manchmal wünschte sich Linus, dass sie es weniger wäre. Gestern war nicht das erste Mal gewesen, dass er es als störend empfunden hatte. Gestern, als er nichts weiter gewollt hatte, als einfach nur schlafen zu können, doch Alrun waren immer wieder neue Fragen eingefallen.

Im Bad putzte er auch gleich die Zähne, dann nahm er eine von zwei Tabletten. Die andere durfte er nicht so spät am Tag nehmen, die musste er am Morgen schlucken, wenn sein Schlafrhythmus wieder hergestellt war.

Anschließen verließ er das Bad und ging in die Küche, um die Katzen zu füttern. Aria und Grave waren seit fünf Jahren bei ihnen, unabhängig voneinander, da im gleichen Jahr ihre beiden alten Katzen gestorben waren. Aria war klein, hatte einen sehr runden Kopf und war eine schlaue Katze, die lieber beobachtete, als selbst irgendetwas zu machen. Grave hingegen war groß und verlor seine grauen, langen Haare überall. Und vor allem war er außerordentlich blöd.

Als die zwei sich dann ihrem Frühstück widmeten, entdeckte Linus auf dem Küchentisch einen Zettel, den seine Mutter geschrieben hatte, sowie Kuchen von vorgestern und die Zeitung von heute. Alrun hatte vergessen, den Kuchen über Nacht abzudecken, sodass er knochentrocken war. Linus wusste nicht, ob er genug Hunger und Faulheit zugleich hatte, den heute noch anzurühren. Und, ob er dreist genug war, Horatio etwas davon anzubieten.

Da seine Gedanken ohnehin wieder bei Horatio waren, ging er als nächstes ins Gästezimmer. Die Wohnung war nicht riesig, aber für zwei Personen doch recht groß. Theoretisch wohnten sie hier zu dritt, Linus' Vater gab es ja auch noch. Aber der lebte für seine Universität, so sehr, dass er häufig genug dort nächtigte. Doch selbst an der Uni hielt sich Dewin im Moment nicht auf. Er hatte einen Auftrag in einem ganz anderen Teil Miserias zu erledigen.

Linus öffnete die Tür zum Gästezimmer so leise wie es ging, dennoch konnte er nicht verhindern, dass die Angeln quietschten. Als Antwort darauf ertönte ein Husten.

„Schon gut, bin wach.“

Er trat ein, lehnte die Tür hinter sich an. Dann schaute er zu Horatio. Der Raum war nicht groß und beinahe mehr Abstellkammer als Gästezimmer. Wären sie alle heute Morgen nicht so müde gewesen, wie sie gewesen waren, hätte Alrun sich sicherlich hundertfach für den Zustand des Zimmers entschuldigt und noch mit Putzen begonnen. Sie hätte nicht Unrecht gehabt, andere Teile der Wohnung waren auch schon einmal sauberer gewesen. Aber wann hatten die zwei schon einmal Besuch? Lieber lagerten sie Bücher und Gerümpel, das sonst in der Wohnung keinen Platz mehr fand.

„Guten Morgen?“, grüßte Linus vorsichtig, missachtend, dass es bereits sechzehn Uhr war.

Horatio öffnete den Mund, doch da er gleichzeitig versuchte, sich aufzusetzen, artete sein Morgengruß in ein Stöhnen vor Schmerz aus. Daraufhin ließ er sich lieber wieder ins Bett fallen, hustete, und hob die Arme vor das Gesicht. „Moin.“

Linus musterte ihn und stand einen Moment lang einfach so da. Gastfreundlichkeit, puh. Soziale Interaktion, doppelt puh. Seine Mutter war in Dingen wie diesen besser. Doch die war leider nicht da.

„Dein Name war Linus, richtig?“, war Horatio dann der, der zuerst wieder sprach.

Er nickte, ehe ihm auffiel, dass Horatio das im Moment nicht sehen konnte. „Ja. Ja.“ Was sagte er jetzt am besten? „Kann ich dir irgendwas bringen? Tee?“

„Schmerztabletten?“ Horatio hörte sich ausgesprochen gequält an.

„Beides?“

Trotz der Arme in seinem Gesicht, konnte Linus ihn grinsen sehen. Es wirkte nicht ganz so kaputt wie am Morgen. Vielleicht lag es am Schlaf, vielleicht hatte er die schweren Gedanken im Moment nur verdrängt.

„Kannst du mal einen Moment nicht so perfekt sein?“, fragte Horatio wenig verständlich, dann lachte er heiser und ausgesprochen leise. Es ging in ein ungesundes Husten über.

Linus biss sich leicht auf die Unterlippe und ihm wurde warm. „Kennst mich doch gar nicht“, sagte er anschließend und es sollte irgendwie lustig klingen, aber er war zu unfähig dafür. Nein, Horatio sollte ihn nicht für etwas halten, was er nicht war. „Einen... Einen Augenblick.“ Er lächelte ein schiefes Lächeln, das sein Gast ohnehin nicht sehen konnte, und verschwand in die Küche. Warum war er perfekt durch allgemeine Gastfreundlichkeit? Er verstand das nicht wirklich. Ihm musste nicht gedankt werden, für Dinge, die selbstverständlich waren.

Das Teelager seiner Mutter konnte ihn ein Glück ablenken. Er trank in der Regel nur Schwarztee und hatte sich lange nicht mehr mit den merkwürdigen Teesorten seiner Mutter beschäftigt. Merkwürdige Mischungen mit ebenso merkwürdigen Namen, weshalb er lieber erst einmal den Wasserkocher anschmiss. Horatio bekam aus offensichtlichen Gründen keine Heiße Liebe von ihm und da er aus Hostis kam auch keine Hostische Waldgurke. Tore von Caelum war vom Titel vielleicht nicht so schlimm, aber er wusste nicht, was er sich unter „Apfelstrudel“ als Teesorte im Geschmack vorstellen sollte. Aliatusgesang klang sehr lyrisch, Scheißwettertee aus Kaw zumindest passend zu Kaw selbst, einer Stadt weit in Tribunus' Westen. Er entschied sich schließlich für irgendetwas Normales, etwas Gesundes, füllte ein bisschen Tee ins Sieb und goss anschließend das Wasser drauf. Anschließend brachte er ihn Horatio auf einem Tablett, zusammen mit einem Glas Wasser und Schmerztabletten aus dem Badschrank.

Horatio hatte sich eine Rückenstütze aus Kissen gebaut, damit er ohne Anstrengung im Bett sitzen konnte, und lächelte freundlich, als Linus eintrat. Seine Müdigkeit konnte er dabei jedoch nicht verstecken.

„Danke, echt“, sagte er, als Linus das Tablett abgestellt hatte.

„Kein Thema.“ Linus lächelte knapp und stand einen Moment lang da wie bestellt und nicht abgeholt. Was machte er jetzt? Er kannte Horatio nicht wirklich und dennoch waren sie hier zu zweit. Wenigstens wusste er um die eigene soziale Inkompetenz bescheid, das verhalf ihm ihn einer realistischen Selbsteinschätzung. Das Wissen darum half ihm aber nicht weiter. Es machte ihn nur noch unsicherer.

„Sag mal“, begann Horatio dann ein Glück und unterbrach die unangenehme Stille. Er schaute an Linus vorbei, in Richtung Fenster. Der Tisch vor diesem war unter den Stapeln an Büchern kaum noch auszumachen. „Hat das Zimmer 'ne Heizung?“

„Oh, ja, klar!“ Linus drehte sich zu ihr um. „Soll ich sie aufdrehen?“

„Wär' echt super, danke. Is' dein Kapitän eigentlich immer so?“

Linus hatte sich dazu entschlossen, sich noch einen Stuhl heran zu holen. Stehend fühlte er sich dümmer als sitzend. Aber erst einmal hatte er die Heizung aufgedreht. „In der Regel, ja.“

„Eh, da hoff' ich mal, dass der sich nich' der hostischen Marine gegenüber so hatte“, feixte Horatio daraufhin, ehe er sich die Schmerztablette gönnte. „Die meisten Magier mögen es nich' so wirklich, wenn sie von 'nem Zivilisten blöd angemacht werden, erst recht mal nich' die Magier aus'm Militär. Sind nämlich echt eingebildete Schnösel. Kapitäne leider nur auch, hah.“

„Hm?“ Linus sah auf, mied aber nach wie vor Augenkontakt. „Bist du nicht selbst Magier?“

Horatio schüttete sich Zucker in den Tee. „Ja, irgendwie, ich bin unter zwanzig und ohne Ausbildung, da nenn man uns nich' so, aber ich denk' mal, das wär für den Fischer eh zu viel gewesen, der wollt' doch sowieso nichts begreifen.“

Linus unterbrach ihn nicht, um anzumerken, dass Bosch noch der intelligenteste auf dem Schiff war und erstaunlich viel wusste.

„Aber nay. In Hostis beginnt das Schuljahr im März und ich werd' im Mai erst siebzehn, wäre dann erst so ab dann an der Militärakademie dort... Oder eben auch nich', so wie's gerade steht. Wenn das mit... der Clanverwaltung läuft. Oder so.“ Er schaute in seinen Tee und zog die Augenbrauen kurz zusammen, offenbar dachte er nach. Seine Gedanken gab er jedoch nicht preis. „Ich hätt' ja eh keinen Bock gehabt, dahin zu müssen. Also, zur Militärakademie. Avasikuu is' echt 'ne supertolle Stadt, aber es ist doch ein Stück weg von zu Hause. Nay. Die Hauptstadt ist schön, aber meine Heimatstadt Cilghain is' auch nich' langweilig. Auch wenn meine Schwester in Avasikuu ist... meistens. Sein sollte. Was auch immer.“

Er zuckte mit den Schultern, grinste bei der Erwähnung seiner Schwester kurz. Dann war es still, weil ihm nicht mehr einfiel, was er noch sagen sollte. Oder sein Körper war an seine Grenzen gekommen, seine Atmung ging schwer und er hustete gelegentlich. Linus würde ihn morgen definitiv zum Arzt schleifen, aber heute hatte schon alles geschlossen.

Jetzt jedoch wollte er die Stille nicht auf ihnen lasten lassen. „Was ist mit deiner Familie?“, fragte er. Es interessierte ihn, auch wenn er nicht wusste, wie Horatio auf diese Frage reagieren würde. Vielleicht half es ihm, darüber reden zu können.

„Ich... weiß es nich'. Nach wie vor“, antwortete er schließlich nach weiteren Augenblicken der Stille. Sein Grinsen verschwand und hinterließ Leere. „Ich... Hab' keine Ahnung. Ophelia – also, meine Schwester – is' kurz vor Beginn von dem ganzen Trara drüben zu mir gekommen und hat mich auf ein Schiff nach Hohendamm verfrachtet. Kannst dir ja denken, dass ich das komisch fand und viele Fragen gestellt hab und blah.“ Er seufzte. „Ich hab' kein Visum. Ich glaub' auch nich', dass sie eins hatte. Aber... sie hat mir das Geld gegeben.“

Horatio nickte zu einem alten Sessel, der lange nicht mehr in Benutzung war. Der Bezug hatte ein paar Mottenlöcher, doch dies war nicht der Grund, warum keiner darauf saß. Das lag an dem weiteren sehr großen Stapel Bücher und ein paar Fachzeitschriften, in der Ecke klemmte Linus' alter Cellobogen, dessen Bespannung ganz labberig durchhing und dann war da noch ein Karton, in dem die Katzen sich gelegentlich versteckten. Und auf dem ganzen Haufen lagen im Moment Horatios Klamotten. Sie hatten sie gestern zum Trocknen ins Bad gehängt, aber da sie trocken waren, hatte Alrun sie wohl vor dem Gehen wieder zu Horatio gelegt.

Linus fragte sich, ob Bosch Horatio weitergelassen hätte, hätte er kein Geld gehabt. Er hatte nichts von Horatio verlangt, das nicht. Aber ohne wären seine Chancen im neuen Land noch wesentlich geringer gewesen, das war auch Linus bewusst. Hatte Horatios Schwester geahnt, was an jenem Abend in Sysdale passieren würde?

„Warum das?“

Er sah Horatio mit den Schultern zucken. „Was weiß ich. Hat halt... mitgedacht... oder so.“ Horatio räusperte sich, es ging in ein Husten über. „Ich werd' trotzdem versuchen, zur Hauptstadt zu kommen. Rubrica ist ein guter Anhaltspunkt und ein ganzes Stück größer als Hohendamm.“

„Das stimmt wohl“, gab Linus ihm murmelnd Recht. „Wenn du Magier bist, dann... hast du sicherlich auch am Amt kein Problem.“ Viele Leute, die auswandern wollten, wurden zurück geschickt. Linus wusste nicht, wie das bei Angehörigen eines Clans war, aber er wusste sehr wohl, dass jedes Land nach besten Möglichkeiten versuchte, alle Magier zu ergattern, die es kriegen konnte. Sie müssten Horatio also mit offenen Armen empfangen.

Horatio verzog das Gesicht ganz leicht. „Die schicken mich bestimmt zur Akademie.“

„Hm, das kann sein“, sagte Linus. „Aber... hättest du das in Hostis nicht auch gemusst?“

„Jaaaa, schon.“ Horatio lachte leise, klang ein bisschen abwesend dabei. „Zu Hause lachen die nur über's tribunische Militär. Weißt du, wie sie die Großmeister nennen? Bademeister. Weil die aussehen und sich verhalten als hätten die Strandaufsicht und angeblich immer nur daneben stehen und zuschauen und nie was machen.“

„Ich weiß nicht“, gestand Linus. „Hab bisher noch keinen getroffen.“ Dabei lächelte er leicht. Hostis und Tribunus hatten sich nie sehr nahe gestanden und dass Leute aus dem hohen, kalten Norden jene im Süden für verweichlicht hielten, erschloss sich ihm.

„Na ja. Aber schlimmer kann's wohl nich' sein, oder? Werd' ich ja sehen. Vielleicht schicken die mich ja auch gar nich' hin. Also, wenn ich so die Wahl hab, dann mach ich das nich'. Sondern halt... irgendetwas anderes, fänd' ich angemessen.“

„Was denn so?“, erkundigte sich Linus, woraufhin Horatio mit den Schultern zuckte.

„Was auch immer. Keine Ahnung, ah. Na ja. Es is' ein bisschen komisch, weil Hostis is' ja sonst in allem strenger, aber dabei offenbar nicht?“

„Uh“, kam es sehr langsam von Linus. „Ich weiß nicht genau. Damit habe ich mich bisher noch nie beschäftigt.“

„Bist selbst keiner, was?“

„Hm?“

„Kein Magier?“ Erneutes Husten. Er trank einen Schluck Tee, der aber offenbar zu heiß war.

Linus schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nichtmal eine ordentliche Haarfarbe verpassen.“

„Ordentlich? Ich find die echt hübsch.“ Horatio grinste kurz. Linus wurde warm. „Aber nay, hast du schonmal dein Blut getestet?“

Linus verneinte stumm.

„Warum?“

„Was hätte ich davon?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich will nicht ins Militär.“

„Man kann mit Magie 'ne Menge mehr machen, als Leuten aufs Maul zu geben“, sagte Horatio.

„Schon, ja.“ Eigentlich wollte Linus nicht über sich reden. „Ich... will aber auch nichts mit Magie, ich meine... Nein.“ Sein Fähigkeitengrad war eh zu gering für irgendetwas, dann würde seine Magie auch nicht für Zauber reichen, die nicht an seine Clanfähigkeiten gebunden waren. Ganz einfach. Nicht, dass er deshalb bestimmt wusste, was er eigentlich beruflich machen wollte später. Aber immerhin wusste er doch recht sicher, was er nicht wollte.

Linus schaute auf die Uhr an der Wand. Er brauchte ein anderes Thema. „Meine Mutter kommt bestimmt so in einer Stunde nach Hause.“

Horatio nickte und schien den Köder zu schlucken. „Was macht sie eigentlich?“

„Hafenverwaltung“, antwortete er.

„Warst du deshalb auf dem Kutter?“

„Hmmm, Praktikum.“ Er nickte. „Noch bis März.“ Linus überlegte, was er sagen konnte, damit sie nicht mehr über ihn redeten.

„Hast du keine Ausbildung gefunden oder wurdest du abgelehnt oder was?“ Horatio wirkte aufmerksam und müde zugleich. Er sollte ihn nicht über so etwas ausfragen, das war unwichtig. Auch wenn es ihm vielleicht half, sein mögliches Schuldgefühl damit zu schmälern, dass er gerade im Grunde genommen kostenlos bei Alrun und Linus unterkam.

„Abgelehnt“, antwortete Linus. Eigentlich war es gelogen, aber er erinnerte sich nicht gern an letzten Sommer.

„Hm, in Ordnung.“ Horatio trank noch mehr Tee. „Und dein Vater? Was macht der so? Also, wenn der mit hier is', wenn nich' dann, uh... Ja. Was auch immer.“

„Doch, ist hier. Also, nicht im Moment, im Moment ist der in Rantastala und...“

„Rantastala? Das ist ja echt am Arsch der Welt, was verschlägt den denn dorthin?“

„Er ist Professor für Sprachen an der Universität hier in Hohendamm“, erzählte Linus. „War erst in Rubrica vor ein paar Wochen und dann haben sie ihn nach Hostis geschickt.“

„Macht er da... Hostisch als Sprache oder was?“ Er konnte nicht einschätzen, ob Horatios Interesse ehrlich war oder nur aus Pflichtgefühl bestand.

„Ja. Vor allem altes Nordosthostisch. Im Moment... Egal.“ Mit einem Handwink brach er ab.

„Was is'?“

„Ich, hm.“ Linus seufzte. „Willst du wirklich mehr hören?“

„Hey, hey.“ Horatio hob Abstand haltend seine freie Hand. „Warum sollt' ich dich was fragen, wenn ich's gar nich' wissen will, aye?“

„Hm. Keine Ahnung“, murmelte er, schaute ihn dabei aber nicht an. Dann räusperte er sich, weil er irgendetwas machen wollte. Weil er nicht über sich reden konnte und ihm nichts einfiel, was er Horatio im Gegenzug fragen konnte und sich deshalb schlecht fühlte. Warum war er eigentlich so unfähig in völlig normalen Dingen? Es herrschte einige Augenblicke Stille, in denen Horatio Linus vermutlich sehr genau musterte. Linus sah es nicht gut, er schaute weg. Es war die Art von Stille, die man physisch spüren konnte. „Ich... Tut mir Leid, ich bin nicht so spannend.“

„Sag das nich', das führt nur dazu, dass ich drüber nachdenke, das will ich doch gar nicht.“ Horatio winkte ab. „Also, was wolltest du noch sagen?“

„Ich... weiß nicht mehr.“ Linus schaute weg. Er wusste wirklich nicht mehr, was er in dem Moment noch hatte hinzu fügen sollen. Seine Gedanken waren abgelenkt gewesen.

Horatio seufzte schwer und Linus machte sich sehr auf einen Kommentar diesbezüglich gefasst, aber es kam nichts. Stattdessen trank der Junge noch ein paar Schlucke Tee. „Was auch immer. Rantastala is' echt am Arsch der Welt. So weit weg war ich noch gar nich'. Also, ich war generell noch nich' weit weg. Jetzt halt mal in Sysdale und ansonsten mal in Avasikuu? Yay. Aber das war's auch schon.“

„Avasikuu?“ Linus konnte wieder aufschauen. Er wusste nicht, ob Horatio jetzt mit Absicht einfach so weitersprach. Wenn ja, dann war er dankbar darüber. Das Thema war ihm gerade angenehmer, er dachte lieber an Avasikuu als anderes. Immerhin war Hostis' Hauptstadt jetzt seit Jahrhunderten in der ganzen Welt gelobt für seine Schönheit. Gesehen hatte er sie allerdings nicht, nur auf Bildern.

„Ja!“ Horatio nickte. „Hab meine Schwester besucht, ein paar Mal. Das letzte Mal letzten Sommer? Ja. Die Stadt ist super, man kann so viel machen, viel mehr als in Cilghain und das Wetter ist auch nich' so eklig da. Viel wärmer und weniger Regen. Also, in Ordnung, ein paar Ecken sind da sehr aufgeblasen, der Palast und das gesamte Regierungszentrum, aber wenn man das so anschaut, sieht man schon, warum die Yelkin so irre stolz auf ihre Heimat sind.“

Linus nickte langsam. Das konnte er sich vorstellen. Das Zarenreich der Yelkin war jetzt knapp siebenhundert Jahre alt und hatte nach wie vor einen Posten als Großmacht inne, trotz der vielen harten Winter. Siebenhundert Jahre waren genug Zeit, die eigene Hauptstadt aufzubauen, ihr zur Prunk und Größe zu verhelfen. Auch wenn sein Vater einmal gesagt hatte, Hostis wäre vor zwanzig Jahren noch schöner gewesen als jetzt. Linus konnte sich an die fünf Jahre Schnee und Eis nicht mehr erinnern. Es war überall, in ganz Miseria spürbar gewesen, auch hier, in Hohendamm. Aber Linus war damals noch zu klein gewesen.

„Warst du im Palast?“

Horatio schüttelte sofort den Kopf. Seinem darauf folgenden Gesichtsausdruck zu urteilen bereute er es aufgrund der Kopfschmerzen sogleich wieder. „Nay, nay, natürlich nich', die lassen da nich' jeden rein. Also schon, es gibt den Museumsteil und blah, aber das kostet Geld und eigentlich interessiere ich mich nich' so super für Geschichte und außerdem ist das alles unendlich voll mit Touristen. Und da ist das echt nur ein kleiner Teil vom Palast, kein' Schimmer, wer da eigentlich wohnen soll. Vermutlich ist das Ding echt nur zum Angeben da. Yelkin eben. Hat zumindest meine Schwester gemeint.“ Er gluckste.

„Wohnt sie in Avasikuu?“, fragte Linus weiter, bemerkte aber, wie Horatios Mimik daraufhin etwas zusammen brach. Er wünschte sich, er hätte den Mund gehalten.

„Aye“ seufzte er. „Also. Zumindest hat sie das lange. Dann hat sie sich Ende letztes Jahr von ihrem Freund getrennt und ist erst zurück nach Cilghain gekommen und dann nach Sysdale gegangen und... Ja. Was auch immer.“ Er zuckte mit den Schultern. „War auch schön, sie mal wieder dazuhaben.“

Er nickte erneut, wusste dann aber nicht, was er noch fragen sollte oder wollte. Theoretisch würde er noch etwas über Horatios Familie fragen, aber er wollte ihn nicht durch den Gedanken daran traurig machen. Auch ohne das war er schon mitgenommen genug. Dann jedoch, als Horatio gerade wieder Tee trank, fiel ihm noch etwas ein und er stand auf. Auf den Gedanken hätte er schon viel eher kommen können.

„Einen Moment“, sagte er zu Horatio, ehe er das Zimmer verließ, in die Küche ging und mit der Zeitung vom Tisch wiederkam. Wie hatte er die nur vergessen können?

„Uh“, hörte er Horatio aufgeregt neben sich. „Schreiben sie was? Sie schreiben doch was, nicht wahr? Das müssen sie, aye!“

Die Frage erübrigte sich, als Linus das Titelblatt anschaute, samt Bild darunter. Natürlich hatte es das Ereignis vorne drauf geschafft. Erst recht, als er las, was passiert war.

„Was steht da, was steht da?“, quengelte Horatio weiter, stellte den Tee weg und streckte die Hand nach der Zeitung aus. Linus lies sie sich abnehmen, damit er selbst beide Hände frei hatte, um das Gesicht kurz in ihnen zu vergraben.

Der Zar war tot.

Der Sprengsatz gestern in Sysdale hatte beim explodieren den Zaren von Hostis getötet. Ihn, ein paar Militärangehörige, ein paar Politiker, eine ganze Hand voll Angestellter. Magische Explosion, deshalb waren sämtliche Spuren der Täter verwischt worden. Ermittlungen liefen. Hostis' Flaggen hingen reichsweit auf halbmast.

In dem Zeitungsartikel standen nur Fakten über die Geschehen, keinerlei Kommentare. Nicht von Hostis selbst, auch nicht von Tribunus' Präsidenten. Die beiden Länder standen sich nicht nah, im Gegenteil. Tribunus formte mit den anderen beiden Kontinenten eine Union, während sich Hostis heraus hielt und sein eigenes Zeug machte, was von allen anderen kritisiert wurde. Aber die Winter waren gekommen, die Wirtschaft zusammen gebrochen, der alte Zar verstorben. Dann war Nikolaij VI gekommen, hatte Hostis aus den Ruinen wieder hochgeschaufelt und jetzt hatte auch sein Regime so jäh geendet wie das seines Vaters.

Nikolaijs Tochter war zu jung für den Posten als Regentin sein jüngerer Bruder würde seinen Platz besetzen. Doch Hostis schwieg und so machte es auch Tribunus.

Horatio war ausnahmsweise still, als er die Zeitung weglegte und nach seinem Tee griff. Er war zu schnell dabei, ihm spritzte Flüssigkeit über die Finger, doch er schien sich dafür nicht zu interessieren. „Meine Schwester muss da irgendwie rausgekommen sein, sie wird hier gar nich' erwähnt.“

Linus schaute ihn an. Er durfte ihn jetzt nicht bemitleidend anschauen, das würde ihm nicht helfen.

„Ich muss nach Rubrica“, kam es sehr gepresst von Horatio. „Ich muss da hin, ich kann nich' hier sitzen und... nichts machen und hier sitzen und Zeit und ich... Ich weiß nich'.“ Seine Stimme klang schrecklich dünn, zitternd. Mehr noch als in der Nacht. Dann schwang er seine Beine aus dem Bett, sprang auf, verlor jedoch gleich darauf das Gleichgewicht und fiel zurück. „Wenn Ophelia sagt, dass ich da Familie hab, dann stimmt das auch, sie hat immer Recht, dann kann ich sie dort wieder treffen! Sie lügt nich', sie... kann nich'...“

„Du kannst jetzt nicht...“, wollte Linus ihn beruhigen, doch er schien ihm gar nicht zuzuhören.

„Du kennst sie ja gar nich', wenn sie sagt, wir treffen uns in Rubrica, dann treffen wir uns auch in Rubrica! Wirklich, kannst du mir ruhig glauben.“

Linus hatte die Augenbrauen zusammengezogen und musterte Horatio, sagte aber nichts. Was konnte er in einer solchen Situation schon von sich geben, was auch geholfen hätte?

„Tut mir Leid, ich...“, setzte Horatio an, doch er zitterte zu sehr, um weiter zu reden. Daraufhin vergrub er das Gesicht in den Händen.

Unsicher kaute sich Linus auf seiner Zunge herum. Er konnte nicht einmal in Ansatz verstehen, wie Horatio sich fühlen musste, denn bisher hatte er niemanden Nahestehenden verloren. Es wäre anmaßend zu behaupten, dass er dies könnte. Er war nicht in Horatios Situation und selbst wenn, so war er doch ein ganz anderer Mensch. Jeder fühlte unterschiedlich. Hier ging es nicht um ihn. Hier ging es um Horatio und wie es ihm wieder besser gehen könnte, einen richtigen Weg, mit seinem Problem umzugehen. Nur hatte Linus keine Ahnung, wo er ansetzen sollte.

„Du wirst jetzt erstmal wieder gesund“, begann er dann langsam und vermutete, dass es wohl ein mitfühlendes Zeichen gewesen wäre, hätte er ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Aber er mochte keinen Körperkontakt, schon gar nicht mit fremden Menschen. „Und dann fährst du nach Rubrica. Ich hab doch gesagt, dass ich helfen werde. Und meine Mutter definitiv auch.“

„Du hast schon genug gemacht.“ Horatio schaute noch nicht auf. Seine Stimme war immer noch brüchig und heiser. „Ich steh schon so tief genug in deiner Schuld.“

„Ist doch egal“, nuschelte Linus. „Ich helfe dir doch nicht, damit ich von dir irgendetwas bekomme. Das wäre albern.“

„Das, was du machst, ist doch erst recht albern, du kennst mich doch gar nich'“, beharrte Horatio. Linus konnte sehen, wie er zwischen seinen Fingern hindurch lugte.

„Das ist doch aber meine Sorge, oder?“

Diesmal war es der Magier, der ein leises „Hm“ von sich gab. Er ließ den Kopf hängen. „Das ist alles so grässlich. Von vorn bis hinten.“ Er seufzte leise, hustete anschließend.

Auch Linus wusste nicht, was jetzt passieren würde. International, politisch, und um ehrlich zu sein wollte er sich auch keine Gedanken darüber machen.

„Du musst schnell gesund werden, um nach Rubrica zu kommen.“

Sein Gegenüber nickte langsam, dann lehnte er sich zurück ins Bett und kuschelte sich in die Decke ein. „Habt ihr was zu essen?“

„Oh.“ Das war peinlich. „Ja, ja, natürlich. Was willst du? Wir haben... Zeug.“

„Zeug, ja. Ich hätt' gern Zeug.“ Horatio gluckste.

„Ja ich... koche heute Abend etwas, bis dahin, ich weiß nicht. Es hat trockenen Kuchen und... Brot?“

Horatio lächelte in sich hinein. „Ich nehm' gern auch trockenen Kuchen.“

Abschied, Abschied

Eine Woche darauf stand Linus zusammen mit seiner Mutter und Horatio am Hauptbahnhof von Hohendamm. Alrun redete mit Horatio, drückte ihm noch einen Beutel extra in die Hand. Vermutlich war Essen darin und Horatio bedankte sich dafür. Es wäre alles doch gar nicht nötig gewesen und so weiter und so fort. Linus war sich sicher, dass er einfach nur unglaublich dankbar darüber war, denn dem Blick nach zu urteilen, den er in den Beutel warf, hatte er jetzt schon wieder Hunger.

​​Er war schnell gesund geworden. Das oder er hatte seine Erkältung gut vor Linus und Alrun verstecken können. Und dann war da auch noch das Ding mit der Clanverwaltung gewesen, die Horatio freiwillig ein Ticket nach Rubrica bezahlt hatte. „Als Start, Hilfe für Geflüchtete und so“, hatte er gemeint und dabei an die Decke geschaut. „Ich bin ja auch aus 'nem Clan. Da gibt es halt ja die Verträge und blah, ich hab das auch echt nich' alles verstanden. Beamte können echt kein klares Tribunisch reden und Hostisch noch weniger.“

Linus hatte das so hingenommen und nicht weiter nachgefragt. Es hätte ihn interessiert, aber er respektierte, dass Horatio nicht darüber reden wollte.

„Ich werd' euch auf jeden Fall schreiben!“, versprach Horatio laut genug, dass Linus sich auch angesprochen fühlte. „Vor allem Ihnen, Frau Alrun, ich kann's nur immer und immer wieder sagen – ich mein', Linus war der, der mich vor'm grummeligen Kapitän gerettet hat, aber letztendlich zahlen Sie ja die Miete, aye?“ Er grinste dabei und Alrun erwiderte es.

„Ich bin vielleicht eine Mutter, aber wohl kein Monster, Horatio, ich weiß nicht, ob es irgendwo Menschen gibt, die eiskalt genug gewesen wären, dich vor die Tür setzen. Und wenn ja, dann will ich die nicht kennenlernen.“ Sie klopfte Horatio auf die Schulter, der ein paar Zentimeter kleiner war als sie. Alrun war generell eine sehr große Frau, nur ein paar Zentimeter unter eins achtzig und damit auch nur wenig kleiner als Linus selbst.

„Außerdem“, fügte sie mit vorgehaltener Hand hinzu und kicherte sinister, „ist es bis jetzt auch noch nicht vorgekommen, dass Linus mitten in der Nacht jemanden mit nach Hause schleppt.“ Jetzt rubbelte sie Linus über den Oberarm, der darauf gar nicht anders reagieren konnte, als eine Grimasse zu ziehen.

Horatio lachte. Linus wusste nicht, ob er lachte, um ihr die Reaktion zu geben, die sie sehen wollte, oder weil er das tatsächlich lustig fand.

„Wird schon, Linus. Ich komme einfach öfter mal nach Hohendamm.“

„Ich bitte darum“, sagte Linus trocken. Horatio gluckste.

„So, Jungs. Horatio.“ Alrun nickte ihm zu. „Die einzige Schuld, die du hast, ist, dich hier zu melden, wenn du angekommen bist, verstanden?“

„Aye, Sir!“, meldete sich Horatio mit dazu passender, militärischer Geste.

„Die Adresse habe ich dir gegeben – Güte, habe ich das?“ Sie begann, ihre Tasche abzutasten.

„Haben Sie“, sagte Horatio lachend, ehe er wieder zu Linus schaute. „Und nochmal vielen Dank an dich, wirklich. Irgendwann sehen wir uns wieder und dann mach' ich es gut, ich versprech's dir.“

Linus nickte und schaffte es zu lächeln. „Sicher, ja.“ Er fand es gar nicht nötig, dass Horatio irgendetwas wieder gut machte. Aber wenn er das wollte, auch, um sein Gewissen zu bereinigen, dann war es vielleicht besser so.

Eigentlich hätte er noch mehr sagen können. Ihm Glück auf seinem weiteren Weg wünschen, Zuversicht, seine Schwester zu finden, dass es ein gutes Ende hatte, für ihn und für alle anderen. Aber Horatio wurde immer traurig, wenn es um Familie ging. Daran wollte er ihn nicht erinnern.

Der Hauptbahnhof von Hohendamm war überfüllt mit Menschen und der Zug, der nach Rubrica durchfuhr, laut Anzeige ausgebucht. Alrun hatte erwähnt, dass im Zentrum bereits seit einer Woche reger Betrieb herrschte. Es war so stürmisch drüben in Sysdale, die gesamte Provinz Eart war in Aufruhr und ihren Nachbarprovinzen Dwinnis und Midland ging es nicht anders.

​​​​​​Weder Hostis noch Tribunus schafften es, die Seewege vollends zu kontrollieren. Irgendwelche Lücken gab es immer, durch die sich Leute hindurch quetschen konnten, um den Unruhen in der Heimat zu entkommen. Und Hohendamm lag an einer Meerenge sehr nah an Sysdale. Der Weg war hier am kürzesten.

Die Fahrt nach Rubrica würde lang dauern. Hohendamm, Hauptstadt der Provinz Luchtal, war eine der achtundzwanzig tribunischen Provinzen und auch noch eine der größeren. Auf gerader Strecke waren es mehr als zweitausend Kilometer bis nach Rubrica, wo die tribunische Gesamtregierung saß, am äußeren Rand von Tribunus' Nordosten. Von dort aus war man schneller in Hostis' Hauptstadt als in Hohendamm.

Horatio würde mehr als vierundzwanzig Stunden im Zug verbringen, doch seine Laune schien davon nicht negativ beeinflusst zu werden. Ganz im Gegenteil, offenbar hatte er seinen Optimismus im Lauf der letzten Woche wiederfinden können.

„Gute Reise“, sagte Linus schließlich leiser, als er vorgehabt hatte. Der Schaffner pfiff gerade die Leute vom Gleis zurück, als der Zug einfuhr. „Viel Glück.“

„So viel ich kriegen kann!“ Horatio grinste breit. „Und ich werd' garantiert nichts vergessen, gar nichts, verlasst euch drauf!“ Er salutierte überschwänglich.

Die Zugtüren öffneten sich und Leute stiegen aus. Die drei gingen ein paar Schritte zur Seite, damit sie nicht im Weg standen. Alrun wirkte nervöser als Horatio.

Den Beginn seiner Reise hatte der Zug in Kaw gemacht, in jener Stadt, aus der immer nur Leute kamen und in die keiner wollte, denn niemand wollte nach Kaw. Angeblich war es die miserianische Stadt mit der höchsten Suizidrate und wenn man sich die Wetterberichte der Gegend so anschaute, war dieses Gerücht auch gut verständlich.

„Na dann“, sagte Horatio, als schließlich alle Leute durch waren und das Einsteigen begann. Er schulterte jene Tasche, die Alrun ihm gefüllt hatte, immerhin hatte er bei seiner Ankunft in Hohendamm gar nichts dabei gehabt.

„Sag Bescheid, wenn du angekommen bist.“ Alrun zog ihn in eine Umarmung. Horatio wirkte überrascht, aber nicht abgeneigt. Ein wenig verwirrt erwiderte er sie, löst sich anschließend und schaute zu Linus.

Linus jedoch bewegte sich nicht, weil er die Motivation nicht fand, die Hände aus den Taschen zu nehmen. „Komm gut nach Rubrica und so“, nuschelte er und lächelte schief. Eigentlich wollte er richtig lächeln und so, wie Alrun ihn anschaute, erwartete sie auch mehr, doch er tat es nicht.

„Werd' ich, werd' ich.“ Er seufzte leise und schaute zur Tür, wobei sein Lächeln kurz bröckelte. Doch gleich darauf schaffte er wieder, es aufrecht zu erhalten.

„Eine gute Reise, wenn du überfallen wirst, verhau denjenigen mit der Tasche!“, rief Alrun, als Horatio zum letzten Mal die Hand hob, um anschließend im Zug zu verschwinden. Linus sah ihn durch das Fenster noch einmal kurz. Er war dabei, sein Abteil zu suchen, war aber zu abgelenkt, um noch einmal nach draußen zu schauen.

„Vielleicht sehen wir ihn mal wieder“, sagte Alrun, die immer noch auf die Tür schaute.

„Hm“, kam es von Linus nur. Ja, ja, schon. Irgendwie. Im Grunde genommen kannten sie ihn gar nicht wirklich. Er hatte jetzt nur eine Woche lang bei ihnen gewohnt.

Linus drehte ab und lief auf die Unterführung zu, um endlich aus den Menschenmassen verschwinden zu können. Heute war es grässlich voll am Hauptbahnhof und jetzt, da Horatio nicht mehr da war und der Zug gleich abfuhr, merkte Linus, wie nervös ihn das eigentlich machte.

Er hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und durch die Kälte den Hals eingezogen, sodass sein Schal seinen Mund bedeckte. Sein zweiter, den anderen hatte er Horatio überlassen, damit der überhaupt etwas hatte.

Wind wehte durch die Unterführung und verursachte ein pfeifendes Geräusch. Deshalb und wegen der vielen Menschen, hatte Linus Probleme, seine Mutter zu verstehen, als diese zu ihm aufholte.

„Ich wünsche ihm wirklich, dass er den Weg zu seiner Familie findet“, sagte sie. „In solchen Zeiten ist es nicht gut, auf sich allein gestellt zu sein.“

Er sagte nichts, schaute nur auf dem Boden, zu den Zigarettenstummeln und alten Kaugummis dort.

„Es ist, als hätten sie für Hohendamm einen Räumungsbefehl erteilt“, redete Alrun weiter. „Alles, was genug Geld hat, flieht weiter ins Inland. Dabei hört sich das, was drüben gerade passiert, gar nicht so schlimm an? Anderseits, vermutlich kriegen wir auch gar nicht alles mit, wir sind ja auch nur auf die Medien angewiesen – wobei, ich meine, so wie unser Präsident drauf ist, nimmt der alles, was in Hostis passiert und lässt es von den Medien noch schlimmer darstellen, als es ist. Zumindest hat er das in der Vergangenheit schon oft genug gemacht.“

Dewin - Linus' Vater - war oft in Hostis gewesen und hatte selbst berichtet, was eigentlich los war. Gerade war er aber am falschen Ende von Miseria, um erzählen zu können.

An den Wänden der Unterführung klebten Plakate der Reform. Jener Partei, die Tribunus und auch die gesamte Union seit der Einigung leitete, auch wenn sie seit sehr langer Zeit nichts mehr reformiert hatten. Abgebildet waren Großmeister, tribunische Kampfmagier in ihren blau-weißen Uniformen, verängstigte Bürger schützend. Lasst die Kälte des Nordens nicht in eure Herzen.

„Linus?“

„Hm?“

Seine Mutter ließ sich einen Moment Zeit, ehe sie weiterredete. „Weißt du, so ganz theoretisch könnten wir grad auch gehen, dein Vater ist immerhin nicht da. Wir haben Verwandtschaft an der Grenze zu Anjerun. Weißt du noch, wie waren einmal dort, vor... fünfzehn Jahren?“

„Erwartest du, dass ich mich daran noch erinnere?“, erkundigte er sich trocken, woraufhin sie ihm mit dem Ellenbogen in die Seite knuffte.

„Ich wollte es nur gesagt haben“, meinte sie. „Dein Großonkel im Übrigen.“

„Hm.“ Er hatte keine Ahnung, von wem sie sprach. Familie war so ein Ding, dem er lieber aus dem Weg ging. Seine Eltern waren in Ordnung, Geschwister hatte er keine, aber bei Familienfeiern suche er bereits Wochen vorher für Ausreden, um nicht erscheinen zu müssen.

„Tu nicht so desinteressiert, Linus“, ermahnte sie ihn. „Du merkst doch selbst, was hier vor sich geht. Und wenn es nur das ist, dass du nicht noch einmal auf Arbeit durftest seit dem Attentat.“

„Hm“, wiederholte er. „Keine Ahnung. Stress an der Grenze gab es doch immer mal.“

„Stress an der Grenze, vielleicht. Aber das dort ist etwas anderes. Falls du dich nicht erinnerst, die haben letzte Woche den Zaren gesprengt.“

„Ja, haben sie halt einen neuen.“ Er zuckte mit den Schultern. Eigentlich war es ihm auch nicht egal, aber er wollte nicht mit seiner Mutter darüber reden. Vor allem nicht jetzt.

Alrun seufzte laut. „Ich dachte, du wärst langsam alt genug, um dich nicht mehr so gegen alles zu stemmen. Und vor allem, dir der Lage bewusst zu sein und dich nicht nur in deine eigene, kleine Welt zurück zu ziehen.“

Doch von ihm kam wieder nur ein „Hm“. Die Sache bereitete ihm auch schon ohne das Gerede seiner Mutter Kopfschmerzen. Zwei Tage nach dem Attentat hätte er wieder zur Arbeit erscheinen sollen, doch als er dort angekommen war, hatte ihn Bosch geradewegs wieder nach Hause geschickt. Es würde erst wieder losgehen, wenn sich die Lage beruhigt hatte. Seine Reederei hatte von der Hafenverwaltung nicht die Erlaubnis bekommen, ihre Schiffe auf See zu schicken, sie wären nicht gut genug ausgerüstet. Der hostischen Grenze solle man als Fischerboot derzeit nicht zu nahe kommen. Bosch würde sich dann melden, hatte er gesagt, und einen Brief schicken, wenn es weiter ging. Linus hatte nichts dagegen, zu Hause zu sein. Selbstverständlich, die Situation war nicht in Ordnung, aber er ging gern nicht arbeiten.

„Ich möchte nicht, dass du das auf die leichte Schulter nimmst.“

Linus starrte geradeaus. „Mach ich nicht.“ Doch, tat er. Gerade zumindest. War ihm auch egal.

Während seine Mutter sich weiter über ihn beschwerte, schaltete Linus einfach ab. Dafür fiel ihm bereits der dritte Großmeister auf, den er heute zu Gesicht bekam. In wichtigen Grenzstädten wie Hohendamm war eigentlich immer in Kampfmagier stationiert, zumindest hatte Alrun das mal erzählt. Aber das man den auch einmal sah, das war selten. Linus versuchte, das Clanabzeichen zu erkennen, doch der Großmeister stand zu weit entfernt, auf der anderen Seite des Bahnhofseingangs. Wie eine Statue, unbeweglich und wachend.

Schließlich seufzte Linus laut. Er wusste selbst, dass es übertrieben war. „Keine Angst, ich zieh bald aus.“

„Und von welchem Geld, wenn ich fragen darf?“, erkundigte Alrun sich scharf und stemmte die Hände in die Hüften. „Dein Vater und ich, wir unterstützen dich gern, Linus, wirklich. Aber ich kann dir nicht alles vorlegen, irgendwann musst du auch mal allein was hinbekommen.“

„Hm“, brummte er nur erneut. Er hatte keine Luft, mit ihr zu streiten. Nicht jetzt und nicht darüber. Warum konnte sie dieses Thema nicht zusammen mit allen anderen sein lassen und aufschieben, auf den einen passenden Moment, der nie kommen würde?

„Du sagst immer nur, was du nicht machen willst und was du nicht kannst.“ Die beiden stiegen in eine der Straßenbahnen vor dem Hauptbahnhof. Die Tram war voll und Linus wäre es lieb gewesen, würde ihn seine Mutter nicht vor so vielen Leuten zusammen falten, sodass er seinen Kopf weiter in seinen Schal zurück zog wie eine Schnecke. „Ich frage mich, ob du überhaupt zufrieden sein kannst, vielleicht habe ich in den letzten siebzehn Jahren zu viel für dich getan.“

Linus starrte die ganze Fahrt über die gleiche Werbung an der Straßenbahntür an, um Alrun nicht zuhören zu müssen und vor allem, um die Blicke der anderen Fahrtteilnehmer nicht zu spüren. Ihm wurde warm. Irgendwie dauerte die Fahrt länger als sonst immer.

„Du bist zu besorgt“, sagte er, als sie aus der Tram stiegen, und bereute es sogleich. Für gewöhnlich machte er alles schlimmer, sobald er den Mund öffnete – wenigstens war es nicht mehr weit bis nach Hause.

„Zur besorgt? Erklär mir bitte, wie man in einer solchen Situation zu besorgt sein kann, Linus.“ Ihm war ihre Lautstärke unglaublich peinlich. „Ach nein, was rede ich eigentlich. Du hörst mir weder zu noch redest du mir, Hostis fletscht die Zähne und du...“

„Der Norden wird im Norden bleiben“, seufzte er laut. „Als ob Hostis und Tribunus nicht in den letzten fünfzehn Jahren sich oft genug angefeindet hätten, oh Sadnaval.“ Doch selbst der allmächtige Schicksalsgeist konnte ihm in dieser Situation nicht weiterhelfen.

„Der Zar wurde ermordet.“ Ihre Stimme klang nich ein bisschen schärfer als zuvor.

„Von irgendwelchen Irren, Hostis hat interne Probleme deshalb, nicht externe.“ Obwohl es noch hundert Meter bis zur Haustür waren, kramte er schon einmal seinen Schlüssel hervor, um möglichst beschäftigt zu wirken, was seine Mutter jedoch nicht davon abhielt, weiter zu reden.

„Stell dich bitte nicht blöd und auch nicht blind!“

„Ich kann dich nicht hören, ich kann dich nicht hören, ich kann dich nicht hören“, dachte er sich immer und und immer wieder, einem Mantra gleich, und hoffte, dass dieses innere Summen die Stimme seiner Mutter verdrängte. Es funktionierte nur spärlich.

„Bitte, Mama. Jetzt nicht“, versuchte er, sie endlich zum Schweigen zu bringen.

„Nicht 'Mama, jetzt nicht', Linus, du bist fast siebzehn Jahre alt und solltest langsam erwachsen genug dafür sein, dich mit einer gewissen Reife mit solcherlei Dingen auseinander zu setzen!“

Er öffnete die Haustür, hielt sie ihr aber nicht auf, sodass sie Alrun fast vor der Nase zufiel.

„Linus!“, rief sie laut und empört, doch er reagierte nicht darauf. Er ging voran, um schnellstmöglich in die zweite Etage und die Wohnung zu kommen. „Bleib stehen!“ Doch sie musste erst noch die Post aus dem Briefkasten holen. Während sie unten also noch weiter zeterte, schloss er oben schon einmal auf, zog seine Jacke aus und schnappte sich eine der Katzen, die ankam um ihn zu begrüßen. Ihr weiches Fell hatte eine beruhigende Wirkung.

Und selbst wenn er mit seiner Mutter da sitzen und sich um die Sicherheit seines Landes bangen würde: Ändern konnten sie nichts, sollte etwas passieren. Was nicht der Fall sein würde. Der letzte Krieg war über hundert Jahre her und hatte Tribunus im Westen, Arma im Süden und Agmen im Osten zu einer Union geeinigt, an der Hostis nicht hatte teilhaben wollen. Und so war es seitdem und so würde es auch bleiben. Zumal Linus bezweifelte, dass es Alrun im tiefsten Inneren darum ging, dass ihr Sohn sich zu wenig mit der aktuellen Weltpolitik auseinander setzte. Sie war ohnehin seit einem knappen Jahr sehr schlecht auf ihn und seine Meinungen und Entscheidungen zu sprechen, seit er seine Bewerbungen verhauen hatte.

Grave auf seinem Arm miaute ihn an. Linus miaute zurück. Als dann Alrun hoch kam und die Tür fiel zu laut ins Schloss fiel, vergrub Linus sein Gesicht im Bauchfell seines Katers und pustete hinein. Er hörte das Tier schnurren.

„Was ist nur alles falsch mit dir?!“, ächzte Alrun. „Du bist keine dreizehn mehr, ich dachte du...!“

Sie verstummte abrupt, als sie einen der Briefe öffnete. Linus war das egal. Er setzte Grave auf dem Boden ab und ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Draußen war es viel zu kalt und seine Mutter hatte ihm Kopfschmerzen verpasst und ihn müde gemacht.

„Du musst dich bis nächste Woche Mittwoch bei der Clanverwaltung melden“, sagte Alrun und klang wesentlich ruhiger als zuvor noch.

„Was ist denn nun schon wieder?“, fragte er genervt, ohne sich dabei zu ihr umzudrehen. Vermutlich füllte er gerade viel zu viel Tee in das Sieb, aber es war ihm egal. Es würde ekelhaft bitter werden, sodass man das Koffein noch stärker als sonst heraus schmecken konnte. Aber zumindest würde das zu seiner derzeitigen Laune passen.

Seine Mutter antwortete nicht. In dem Fall war es ihm egal, dann war es nicht wichtig. Vielleicht hatte die Clanverwaltung ausnahmsweise nichts daran auszusetzen, dass ihre Familie mit dem Clan kaum etwas zu tun hatte. „Verfall der Kultur“ hatte einer von denen einmal gesagt, dabei hatte sein Vater, der nicht einmal Clanmitglied war, in den letzten fünf Jahren vermutlich mehr zum Erhalt der Kultur beigetragen als der gesamte Clan in den letzten zwanzig.

Das Wasser kochte und er goss es in die Kanne. Zucker und Milch gab er nicht hinzu. Er wollte bitteren Tee, da brauchte er letzteres nicht, und Zucker machte es klebrig. Neben ihm begann wieder, Grave sich mit ihm zu unterhalten. Linus machte kurz mit. Aria saß auf dem Fensterbrett und schaute ihnen dabei zu.

Alrun legte den Rest der Post auf dem Küchentisch ab. „Sie wollen Bluttests machen. Aufgefordert dazu sind alle Clanmitglieder zwischen sechzehn und fünfundzwanzig Jahren. Es ist...“

„Was ist?“ Seine Stimme klang ungewohnt schneidend und er fand selbst, dass es ihr gegenüber unfair war, doch im Moment wollte er einfach nur seine Ruhe haben.

„Eine Art... Einzugsbefehl.“

Nun drehte er sich doch zu ihr um und schaute sie fragend mit zusammen gezogenen Augenbrauen an.

„Also, wenn deine Bluttests positiv ausfallen...“ Ihre Stimme hörte sich fürchterlich leise an.

Linus seufzte und zuckte mit den Schultern. „Dann können wir ja beruhigt sein, weil wir beide wissen, wie meine Blutwerte aussehen.“ Daraufhin nahm er die Kanne, eine Tasse und ging in sein Zimmer. Grave folgte. Er könnte sich einmal wieder an sein Instrument setzen. Gestern war ein Paket von seinem Vater angekommen, der ihm neue Saiten geschenkt hatte. Allerdings war Linus zu faul gewesen, diese aufzuspannen.

„Linus, du solltest...“

„Es ist Samstagnachmittag. Ich geh am Montag gleich am Morgen hin, ja, ich weiß. Bis später.“

Anschließend schloss er die Tür und hoffte, für die nächsten paar Stunden nichts mehr von seiner Mutter zu hören.



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