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Totale Finsternis

von

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Wahrheit

Wenig später, nachdem er sich für die Expedition entsprechend gekleidet, alle Fenster geschlossen und Emilie einen Abschiedskuss geschenkt hatte, gesellte sich Gabriel zu den anderen. Die Sonne stand hoch am Himmel und die Bewohner des Dorfes gingen unter ihren Strahlen ihrer Arbeit nach.

Nichts erinnerte mehr an die angespannte Atmosphäre des Vorabends. Ein jeder war frohen Mutes, pfiff ein Lied vor sich her oder unterhielt sich mit seinen Nachbarn. Es war, als hätte man die Menschen über Nacht ausgetauscht. Selbst die alte Krähe wirkte beglückt.
 

„Was ist passiert?“, hauchte Gabriel ungläubig und besah sich der fröhlichen Schar.

Adrien zuckte lediglich mit den Schultern.

Schließlich war es Abronsius, der ihnen eine Antwort auf das seltsame Verhalten geben konnte: „Logik, Monsieur Agreste, Logik! Bei Nacht gleichen diese Dörfler aufgescheuchten Hühnern, doch bei Tag benehmen sie sich, als hätten sie keinerlei Sorgen. Was sagt uns das, hm?“ Er machte eine Pause und inspizierte die ratlosen Gesichter. „Na das ist doch ganz offensichtlich! Sie haben die Nacht und damit die Vampire überlebt! Ein jeder erfreut sich an seiner heilen Kehle! Jaja, ich sage euch: Sobald es dämmert werden sie wieder zittern vor Angst.“
 

Adrien schnaufte laut und verdrehte die Augen. Seine neu gefundene Verbündete ließ ein leises enttäuschtes Seufzen zu vernehmen.

Dass der ältere Agreste der hanebüchenen Erklärung Glauben schenkte, verstärkte die abweisende Haltung der beiden Teenager.
 

„Vielleicht genießen sie auch einfach nur das schöne Wetter“, wagte der Blonde zu widersprechen.

„Unsinn, Bursche! So erleichtert kann nur jemand sein, der mit dem Leben davon gekommen ist.“

„Aber-“

„Für meine Theorie sprechen außerdem ihre Hälse“, erläuterte der Professor und deutete auf ein vorübergehendes Paar, welches am gestrigen Abend ebenfalls im Gasthaus anzutreffen war.

Angestrengt begutachtete der Junge die beiden, doch er konnte nichts auffälliges entdecken. Sie trugen noch die gleichen Lumpen, hatten fettige Haare und dreckige, aber unversehrte Hälse.

„Was soll damit sein. Ich-“

„Sie sind weg“, unterbrach ihn sein Vater mit einem undeutbaren Grinsen im Gesicht, „Dass ich das nicht sofort gesehen habe!“

„Was meinst du, Père?“

Marinette kam zum gleichen Schluss, wie ihr Idol: „Die Knoblauchketten. Sie sind weg.“
 

Sie hatten recht. Dieses Accessoire schien ein jeder nur am Abend zu tragen, zu der Zeit, zu der laut Volksglaube Vampire und Geister ihr Unwesen treiben. Besorgt tauschten die beiden Teenager ein paar Blicke. Dass die Dorfbewohner vermutlich selbst an die Blutsauger glaubten, machte es nicht gerade leichter zu beweisen, dass sie nicht existierten. Aber was hatten sie auch erwartet? Sie befanden sich in einer kleinen Ortschaft mitten im Nirgendwo. Es würde Adrien wundern, wenn einer von ihnen schreiben geschweige denn lesen konnte. Ungebildete Menschen, wie die in Usturoi, suchen natürlich eine übersinnliche Erklärung für alles, was nicht von dieser Welt zu sein scheint.
 

Wer wusste schon, welches Ereignis zu diesem bizarren Mythos geführt hatte. Vielleicht war einmal ein Scheintoter fälschlicherweise begraben worden und erstieg wenig später seiner eigentlich letzten Ruhestätte. Vielleicht hatte es auch mit dem dunklen Reiter von letzter Nacht zu tun, den man irrtümlicherweise für einen Vampir gehalten hatte, weil er zu dieser unchristlichen Zeit zu reisen pflegte.
 

Was auch immer die Gerüchte entbrannt hatte. Adrien würde sie alle ausmerzen. Er würde beweisen, dass es keine Vampire gibt – Zum Wohle seines Vaters, zum Wohle des Professors und zum Wohle des gesamten Dorfes.
 

~~~~~
 

Es war der wohlbeleibte Wirt, den Abronsius auserkoren hatte, sie durch die verschneiten Wälder zu führen. Vermutlich hatte er ihn ein paar Münzen aus dem Geldbeutel des Designers in Aussicht gestellt.
 

Im Gegensatz zu den anderen war er sichtlich nervös. Er rieb sich oft die Hände und sah sich um, als hätte er Angst beobachtet zu werden. Mit Sicherheit fürchtete er sich vor seiner Mutter, die schon am Vorabend besonders erpicht darauf gewesen war, den Fremden nichts zu erzählen.

Gut, dass die Gier stets über die Angst siegt.
 

„Bringen wir es hinter uns“, jammerte er und deutete ihnen an, ihn zu begleiten.
 


 

Was nun folgte waren die für Adrien und Marinette längsten Stunden ihres jungen Lebens. Usturoi bestand lediglich aus fünfzig Häusern und einer kleinen Kirche mit angrenzendem Friedhof. Die umliegenden Wälder waren dicht bewachsen und verbargen etwaige Pfade, die im Gegensatz zu den als Straßen betitelten Wegen, nicht in andere Dörfer führten. Irgendwann kamen sie zu der Stelle, an der die beiden Jugendlichen beinahe den Tod gefunden hatten und an der sie dem mysteriösen Unbekannten begegnet waren. Unter den Sonnenstrahlen wirkte die kleine Lichtung zauberhaft einladend. Mit Sicherheit schlichen sich junge Paare oft hier her, um sich aneinander zu erfreuen, vor allem, wenn der Frühling den Frost verscheucht hatte und die Bäume zarte Triebe zierten.
 


 

„Professor“, meldete sich Marinette beim Anblick der Lichtung und der Hufspuren im Schnee zu Wort, „Gestern Abend, als wir einen kurzen Spaziergang-“

„Ihr habt das Wirtshaus verlassen? Bei NACHT?“, echauffierte sich der Angesprochene, wobei es wirkte, als würde ihn ein mittelschwerer Herzinfarkt ereilen, „Und dabei wisst ihr doch, dass ein Vampir hier sein Unwesen treibt!“

Der Dicke fuhr sichtlich zusammen und seine Augen inspizierten nervös das Unterholz.

Auch der ältere Agreste war außer sich, als er von dem kleinen Ausflug erfuhr. „Seid ihr noch bei Trost?! Was euch alles hätte passieren können! Ihr hättet euch verlaufen können! Euch hätten Wölfe überfallen können oder irgendwelche Gauner, die auf schnelles Geld aus sind!“

Adrien seufzte laut. Er würde wohl die nächsten Monate sein Zimmer nicht verlassen dürfen.

„Wir... Wir haben uns verlaufen...“, gestand er schließlich. Die Farbe wich aus dem Gesicht seines Vaters.

Die Schwarzhaarige fuhr unbeirrt fort: „Ein fremder Reiter hat uns gerettet. Er ritt auf einem schwarzem Hengst. Ein prächtiges Pferd! Und erst der Sattel. Dieser Mann war mit Sicherheit sehr vermögend..“

Ihr Führer zitterte, wie Espenlaub. Dicke Schweißtropfen rannen von seiner speckigen Stirn herunter.

„Das war sehr nobel von ihm, Kindchen. Nur warum erzählt ihr uns das?“, murmelte Abronsius.

„Er war reich, Professor... Und er sagte, er sei geschäftlich in Usturoi.“

„Ja!“, entkam es plötzlich dem Wirt. Er setzte ein falsches Lächeln auf und legt seinen Kopf leicht schief, „Ein... äh... Händler aus … Sighișoara. Ein zweimal im Jahr bereist er die umliegenden Dörfer und bietet ähm... Seife und verschiedenste Kleidung feil.“

Gabriel schnaufte verächtlich: „Wenn er ein wohlhabender Handelsmann gewesen sein sollte, warum sollte er ausgerechnet in Usturoi seine Ware vertreiben? Und dann auch noch Seife und Kleider, obwohl er das doch anscheinend eh nicht an den Mann bringen kann.“

„Das ist es ja“, unterbrach ihn Adrien, der langsam verstand, worauf seine Begleiterin hinaus wollte, „Die Menschen aus dem Dorf können sich das gar nicht leisten! Also, warum war er in Usturoi?“

„Natürlich! Logik! Logik! Das hätte selbst ich nicht besser schlussfolgern können. Er war bei keinem aus dem Dorf, sondern bei Jemanden mit den entsprechenden finanziellen Mitteln. Mit anderen Worten: Er war bei der Exzellenz dieser Grafschaft-“

„Nein!“, quiekte der Gastwirt mit aschfahlem Haupt, „Er... Er... war bei Mutter. Der Herr Graf wohnt nicht hier!“
 

Ein Grinsen, welches jeder der Anwesenden wohl als beinahe dämonisch beschrieben hätte, schlich sich auf die Züge von Gabriel Agreste, als er sich leicht vorbeugte, um den Wirt einzuschüchtern. „Es gibt also einen Grafen? Nicht nur das! Sie wissen anscheinend auch, wo ihre Exzellenz residiert. Teilen Sie doch Ihr wissen mit uns, Monsieur!“

Dieser schüttelte nur verängstigt den Kopf und versuchte seinen rasenden Atem zu beruhigen.

„Ich- Ich weiß es wirklich nicht! Seine E-Exzellenz ist... gern f-für sich. Niemand weiß, wo er-“

„Wollen Sie uns zum Narren halten?! Gestern sagten sie, man könne das Schloss von unserem Standpunkt nicht erblicken! Sie WISSEN wo sich sein Aufenthalt befindet“, fauchte der Designer.

„N-nein, das- Ich äh... Dieses Schloss ist-... ah! Verfallen, ja richtig! Es ist nur eine Ruine. Niemand könnte dort hausen.“

Der ältere Agreste trat noch einen Schritt näher. „Wie interessant. Ich hatte schon immer etwas für alte Architektur übrig. Führen Sie uns dort hin?“

„Oi! Nein ich- ich kann nicht... Es ist... zu gefährlich!“

„Wegen des Vampires!“, mischte sich Abronsius ein und schnitt dem beleibten Wirt den Fluchtweg ab.

„N-nein... Wegen der... der Steine. Die Ruine könnte jederzeit einstürzen. Es wäre unverantwortlich Sie dorthin zu führen.“

„Dieses Risiko gehe ich gern ein.“

Ein weitere Stimmer meldete sich zu Wort. Sie war alt und knarzig.

„Das wird leider nicht möglich sein, mein Herr. Seit einem Erdrutsch ist der Weg dorthin verschüttet. Viele haben schon ihr Leben gelassen, als sie versucht haben die Ruine zu finden.“
 

Die Krähe erschien hinter ein paar dicken Stämmen. Ihre Züge waren hart und Zorn funkelte aus ihren kleinen trüben Augen.

„Wir reden nicht gern darüber.“

„Siehst du, Vater“, flüsterte Adrien, „Dieses Schloss hat nichts mit Vampiren zu tun. Die Menschen sind einfach nur traumatisiert von einer schweren Naturkatastrophe. Wir sollten lieber diesen Fremden ausfindig machen. Vielleicht kann der uns zu dem hiesigen Grafen führen.“

„Dem hiesigen Grafen? Was wollt ausgerechnet ihr von seiner Exzellenz?“

Professor Abronsius wackelte aufgebracht mit seinem Schnauzer. „Ist das nicht offensichtlich? Wir wollen die Wahrheit über ihn ans Licht bringen! Er ist ein Vampir und-“

„Ein Vampir? Ha!“, die Alte lachte laut auf, „Ihr denkt wirklich seine Exzellenz sei ein Vampir? Wer glaubt denn bitte an solche Ammenmärchen? Graf von Farainima ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ein bisschen kaltherzig und brutal erscheint er zwar, aber ihn deswegen gleich als Vampir zu betiteln. Es gibt keine Untoten. Ich hätte euch Städter eigentlich für klüger gehalten.“
 

Gabriel ballte seine Hände zu Fäusten. Was fiel dieser Frau ein, ihn so schändlich bloßzustellen. Ihn- einen der reichsten und angesehensten Männer ganz Frankreichs. Ausgerechnet dieses ranzige Weib, nahm sich heraus, ihn zu belehren, wie ein kleines Kind.

Aber was- Was wenn sie recht hatte? Waren die vergangenen Wochen umsonst? Diese Reise? Die Strapazen?

Er schüttelte den Kopf. Nein. So einfach würde er nicht aufgeben. Es bestand immer noch eine Chance, dass der Graf sein wahres Wesen vor den Augen seiner Untertanen verbergen konnte. Oder die Alte log. Wer wusste das schon?

Er war so kurz vor seinem Ziel. Aus einem Impuls heraus griff er in seine Tasche und umschlang das weiße Taschentuch.

Sein Traum würde in Erfüllung gehen. Er konnte es spüren.
 

„Nun kommt zurück ins Gasthaus. Die Wolken bedecken schon den Himmel. Es wird bald schneien.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Yuna_musume_satan
2019-07-28T03:18:20+00:00 28.07.2019 05:18
Klasse Kapitel und super spannend freue mich schon aufs nächste


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