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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Die Route, die Geyra ihnen wies, war alles andere als ungefährlich. Immer schmaler wurde der Pfad, der rechterhand von der Passhöhe abzweigte und sich dem Gipfel eines benachbarten Berges näherte. An einigen Stellen wurde es so eng, dass sie nur noch seitwärts vorankamen. Craig wurde schwindelig, als seine Zehenspitzen ins Leere ragten, doch solange er die aufragende Felswand in seinem Rücken spürte, an der er sich im Zweifelsfall festhalten konnte, fühlte er sich noch einigermaßen sicher. Doch als sie den Scheitelpunkt überquerten, zog sich der Trampelpfad direkt über den Bergrücken. Im Gänsemarsch mussten sie den schmalen Grat überqueren und zu beiden Seiten des Weges klafften tiefe Schluchten.

Die Berge waren grau und trostlos, wie der Staub, der das Tal der Asche bedeckte. Weder Wiesen noch Wälder waren zu sehen und irgendwann fiel Craig auf, dass es in den Wolkenbergen nicht einmal Wasser zu geben schien. Kein Bach plätscherte zwischen den öden Felsen hervor, kein Fluss ergoss sich über die steilen Berghänge, kein See glitzerte in den Tälern tief unter ihnen im Sonnenlicht. Das ganze Gebiet erinnerte Craig mehr an eine Wüste, als an ein Gebirge. Außer den dornigen Schlingpflanzen, die sich hier und dort über das trockene Erdreich rankten, schien es hier kein Leben zu geben. Aber Lazana belehrte den Waisenjungen eines Besseren.

„Unter solch trostlosen Bedingungen überleben nur die zähesten Kreaturen“, sagte sie, als sich Craig darüber wunderte, dass ihnen keine wilden Tiere begegneten. „Und meist sind das auch die gemeinsten und gefährlichsten Bestien. Du solltest dich glücklich schätzen, dass wir bislang nicht behelligt wurden.“

Craig musste schlucken und dachte an die Harpyien, die Brynne für sie aus dem Weg geräumt hatte.

Für Knack waren die trockenen Bedingungen eine einzige Qual. Die Sonne vertrieb zwar die Kälte aus seinen Gliedern, aber er sehnte sich sichtlich nach einem Fluss oder einem See, in dem er nach Herzenslust auf Fischfang gehen konnte. Immer wieder winselte er kläglich und Craig bekam ein schlechtes Gewissen. Er hatte den Knucker völlig selbstverständlich mitgenommen, ohne daran zu denken, dass er ihn in ein Gebiet führte, in dem er sich ganz und gar nicht wohlfühlte. Aber jetzt war es viel zu spät, um kehrt zu machen.

Als sie den Berggrat endlich überquert hatten und nur noch auf einer Seite des Pfades ein tiefer Abhang gähnte, öffnete Craig seine Feldflasche und gab Knack etwas zu trinken. Der Knucker nahm das Geschenk freudig an. Er gluckste zufrieden und trank in gierigen Zügen, während ihm Craig beruhigend über den Kopf strich. „Du schlägst dich wacker“, lobte er seinen treuen Gefährten. „Lange musst du nicht mehr durchhalten. Bald haben wir es geschafft.“

Tatsächlich war der Wolkentempel merklich nähergekommen. Craig bemerkte, dass sie sich bereits auf dem Hang der Berges befanden, auf dem das Bauwerk errichtet worden war. Er konnte den Pfad sehen, den die Banditen gehen würden, sobald es dunkel war. Zwischen dem direkten Weg und der Route über den Bergrücken, die Geyra gewählt hatte, lag ein schmales Tal, dessen Boden unter dicken Nebelschwaden verborgen lag. Der wabernde Dunst tief unter ihnen wirkte wie ein köchelnder, milchiger Sud in einem übergroßen Kessel.

In der Gesellschaft der Soldaten aus Khaanor spürte Craig neue Zuversicht, obwohl sich ihre Situation kaum geändert hatte. Brynnes Banditen waren ihnen noch immer zwei zu eins überlegen, aber an der Seite Kaiserlicher Truppen zu marschieren, um eine drohende Gefahr einzudämmen, erfüllte Craig mit Stolz. Er hatte jetzt schon mehr erreicht, als Hiob und Preman ihm jemals zugetraut hatten.

Gancielles Verbissenheit, mit der er Craig und seine Gefährten durch das Tal der Asche gescheucht hatte, war zu großen Teilen verflogen, seit die Soldaten zu ihnen gestoßen waren. Er hatte Geyra inzwischen aufgeklärt und diese wirkte nun so grimmig, dass sie Craig durch ihre bloßen Blicke Angst einjagen konnte, aber er erkannte unter ihrer finsteren Miene Sorge und Anspannung. Es stand eine ganze Menge auf dem Spiel und die Folgen im Falle des Scheiterns waren unberechenbar. Vielleicht war nur der Wolkentempel verloren. Vielleicht ganz Adamas. Vielleicht sogar der gesamte Kontinent.

Im Schatten der Wolkenberge ordnete Geyra schließlich eine Pause an. „Ruht Euch aus“, befahl sie. „Wir werden den Tempel vermutlich erst kurz vor Mitternacht erreichen. Und vielleicht brauchen wir dort oben unsere Kräfte noch.“

„Ziemlich sicher“, fügte Gancielle grimmig hinzu und schielte den Berg hinauf. „Es wird auf jeden Fall zu einem Kampf kommen.“

Craig spürte, wie seine Finger zitterten. „Wart Ihr vor Eurer ersten Schlacht auch so aufgeregt, Kommandant?“, fragte er neugierig.

Gancielle schob missmutig die Brauen zusammen. „Ich bin noch nie in eine richtige Schlacht gezogen“, brummte er. „Und darüber bin ich sehr froh. Der Krieg ist nichts, was man herbeisehnen sollte.“ Craig schluckte schwer. Gancielles Worte erinnerten ihn sehr an das, was Hiob und Preman ihm gesagt hatten.

„Außerdem wird das dort oben keine Schlacht“, Gancielle hinzu. „Das wird ein Gemetzel. Entweder auf unserer Seite, oder auf deren, wenn Ascor anfängt, seine Blitze zu schleudern. Also halt dich zurück und spiel auf gar keinen Fall den Helden, hast du verstanden?“

„Schon gut…“, murmelte Craig leise und schlich davon. Neben Knack ließ er sich auf einem Felsen nieder und kraulte den Knucker unter dem Kinn. Die Soldaten mieden den Wasserdrachen, aber immerhin hatte Gancielle sie davon überzeugen können, dass von Knack keine Gefahr ausging.

Craigs Blick glitt immer wieder wie von alleine hinauf zu dem Bauwerk, das in schwindelerregender Höhe über ihnen thronte. Inzwischen erkannte er die ersten Details: Ein mächtiger Torbogen, dicke Säulen und ein mehrstöckiger Turm mit Fenstern und Balkonen. Noch konnte er nur erahnen, wie imposant der Tempel aussehen musste, wenn er direkt vor seinen Toren stand. Über dem majestätischen Gebäude ragte der Gipfel des Berges in den Himmel und verschwand in einer grauen, blitzesprühenden Wolke. Craig stutzte. Überall war der Himmel strahlend blau, nur hier und da hing ein dünner, kaum sichtbarer Nebelschleier in der Luft. Doch direkt über der Wolkenspitze schien ein Unwetter zu toben. Es war klein und weit weniger beängstigend, als der Sturm, in den er und Vance während der Überquerung des Binnenmeers geraten waren, aber trotzdem ging von der grauen, geballten Gewitterwolke eine gewisse Bedrohlichkeit aus. Der Berg schien sie festzuhalten, wie ein gezähmtes Tier.

Geyra gab schon nach kurzer Zeit das Zeichen zum Aufbruch und die ganze Truppe setzte sich wieder in Bewegung. Craig gesellte sich in seiner grenzenlosen Neugier zu Lazana, die an der Seite von Ratford den steilen Bergpfad erklomm und ihren Stab als Wanderstock benutzte.

„Darf ich dich was fragen?“, erkundigte er sich vorsichtig.

„Natürlich“, erwiderte Lazana und lächelte ihn so warmherzig an, dass Craig gar nicht glauben konnte, dass sie dazu in der Lage war, bitterkalte Eiszauber zu wirken. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss und rieb sich verlegen die Ohren.

„Was weißt du über den Wolkentempel?“, fragte er schüchtern.

Lazana warf den Kopf in den Nacken und blickte zur Bergspitze hinauf. Ihr langes Haar fiel ihr in seidigen Strähnen über die Schultern. „Nur das, was man sich vermutlich an allen Akademien der arkanen Künste in Gäa erzählt“, antwortete sie. „Er wurde bereits vor vielen Jahrhunderten errichtet und dient ehrgeizigen Adepten der Sturmmagie als Meditations- und Ausbildungsort. Aber der Tempel an sich ist nur ein Bauwerk wie viele andere. Sicher, es ist beeindruckend, dass ein solcher Koloss an einem abgelegenen Ort wie diesem errichtet wurde, aber letztlich ist er nur eine Ansammlung aufeinandergestapelter Steine. Viel interessanter ist der Berg, auf dem der Tempel erbaut wurde.“

„Die Wolkenspitze?“, fragte Craig zögerlich und blickte unwillkürlich zu dem düsteren Unwetter empor, das um den Gipfel wütete. Die Blitze zuckten in Sekundenabständen über den Himmel, doch sie schienen nirgendwo einzuschlagen und ihnen folgte auch kein Donnergrollen.

„Genau“, sagte Lazana ehrfürchtig. „Schon lange, bevor der Tempel errichtet wurde, pilgerten magieaffine Menschen und Elfen aus aller Herren Länder an diesen Ort. Man sagt, hier fühlten sie sich der Urkraft der Blitze, der die arkane Kunst der Sturmmagie entspringt, so nahe, dass sie ihre Macht in ihren Adern pulsieren spüren konnten. Die Wolkenspitze soll an ihrem Gipfel Gewitter einfangen. Unwetter sind normalerweise flüchtig und selten von langer Dauer, doch hier tobt immer ein Sturm, wenn man den Erzählungen Glauben schenken kann. Darum ist dieser Ort ideal, um die urtümliche Macht der Blitze zu begreifen. Und in jeder Schule der Magie ist das Begreifen der erste und essenzielle Schritt zum Erfolg.“

Craig hörte ihr mit leuchtenden Augen zu. Magie war für ihn ein völlig fremdes Feld. Überhaupt war Lazana die erste Person gewesen, die er hatte zaubern sehen. Es musste berauschend sein, sich die Kräfte der Elemente untertan machen zu können, und er fragte sich, ob in ihm auch magisches Potenzial schlummerte.

„Die Pilger von damals haben schließlich den Tempel erbaut“, fuhr Lazana fort. „So mussten sie keine tagelangen Wanderungen mehr in Kauf nehmen, um die Wolkenspitze zu erreichen, sondern schufen einen Rückzugsort direkt auf ihrem Gipfel. Und so wurde ihr Kult gegründet. Irgendwann gelangte einer ihrer Hochmagier in den Besitz des Fingers der Wolken. Wie genau das passiert ist, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Aber die Oberhäupter entschieden, dass dieser machtvolle Ring von jedem Hochmagier an seinen Nachfolger weitergegeben werden sollte.“

„Und in diesem Ring steckt also diese urtümliche Macht der Blitze?“, erkundigte sich Craig staunend.

„Das erzählt man sich jedenfalls“, sagte Lazana leise. „Aber ich bin der Meinung, dass ein derart machtvolles Artefakt nicht existieren sollte.“

„Brynne ist da mit Sicherheit anderer Meinung“, murmelte Craig bedrückt.

Die Soldaten stapften schweigend den Berg hinauf. Sie alle waren in Gedanken schon bei der kommenden Nacht, in der es zwangsläufig zu einer Entscheidung kommen würde. Gancielle hatte ihnen davon erzählt, dass Vance ein Dorashen war. Immer wieder sahen sich die Soldaten nach dem jungen Mann in der abgerissenen Kleidung um, aber obwohl er aussah wie ein Bettler, glänzte in ihren Augen all ihre Hoffnung, die sie Vance auf die kräftigen Schultern luden. Als wäre es ein echtes Gewicht, dass auf seine Schultern drückte, er den Rücken. Er allein sollte die drohende Tragödie abwenden und alles zum Besseren wenden, obwohl er sich so stur dagegen sträubte, ein Held zu sein. Craig sah ihm an, dass er unter der gewaltigen Erwartungshaltung der Soldaten zusammenzubrechen drohte. Und einmal mehr wünschte er sich, er hätte die gewaltigen Kräfte eines Dorashen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er der damit verbundenen Bürde gewachsen war.

Als schließlich die Sonne unterging, versanken die umliegenden Berge augenblicklich in Dunkelheit. Nur die zuckenden Blitze hoch über ihren Köpfen tauchten die Wolkenspitze in schauerlich flackerndes, bläuliches Licht.

„Jetzt sind sie unterwegs“, flüsterte Craig und blickte nach Süden. Dort, auf dem gegenüberliegenden Berghang, glaubte er einige Öllampen auflodern zu sehen.

In der Finsternis zog sich der Rest des Aufstiegs schier endlos in die Länge. Der Wolkentempel war kaum noch auszumachen, nur manchmal wurde seine mächtige Fassade von einem Blitz erleuchtet. Gleichzeitig wurde es wieder bitterkalt und mit jedem Schritt machte sich die Anstrengung des Tages deutlicher bemerkbar.

Craigs Glieder schrien nach einer weiteren Ruhepause und sein Körper verlangte nach Schlaf, aber Gancielle und Geyra trieben ihr Gefolge unerbittlich voran.

„Die beiden hätten auch gute Sklaventreiber abgeben“, röchelte er. In der Finsternis konnte er erahnen, dass Lazana schwach lächelte, doch auch die Magierin war zu erschöpft, um zu antworten.

Craig hatte bereits jegliches Zeitgefühl verloren und glaubte schon, er müsste bis ans Ende seines Lebens in bedrückender Dunkelheit einen steilen Berg erklimmen, als das Gelände schlagartig abflachte. Die Hochebene, die sie betraten, kam so plötzlich, dass Craig stolperte und um ein Haar das Gleichgewicht verlor. Stöhnend blieb er stehen und stützte sich auf seine Knie. Knack warf sich neben ihm platt auf den Bauch und hechelte erschöpft.

Als Craig den Kopf hob und ein Blitz über den Himmel zuckte, sah er direkt vor sich die Fassade des Wolkentempels. Die Hochebene war in Wirklichkeit der breite Vorplatz des Bauwerks. Es war sogar noch größer, als der Waisenjunge geglaubt hatte, und er musste den Kopf in den Nacken legen, um die Spitze sehen zu können. Hoch über ihm schimmerte sie im bläulichen Licht der Blitze. Mächtige Säulen mit gezackten Reliefs schmückten den gewaltigen Torbogen und auf den Türflügeln prangten schmiedeeiserne Blitze. Doch bei aller Imposanz erfüllte der Tempel nicht die Funktion einer Befestigungsanlage. Es gab weder Wehrgänge, noch Schießscharten, nur Fenster und Balkone, und so unüberwindbar das Hauptportal auch schien, so lächerlich wirkte der kleine Seiteneingang, der sich eng an die Bergflanke schmiegte. Er bestand aus einer einfach verriegelten Holztür, die selbst Craig hätte eintreten können.

Der Tempel war in seiner Gesamtheit äußerst beeindruckend, aber angesichts der fehlenden Verteidigungsanlagen riss Craig entsetzt die Augen auf. Aus weiter Ferne hatte das Bauwerk wie eine uneinnehmbare Festung gewirkt. Und nun, da er direkt vor seinen Toren stand, musste er feststellen, dass sogar eine Schafherde den Tempel hätte stürmen können.

„Das ist alles?“, japste er erschrocken. „Die überrennen die Mauern doch einfach!“

„Ich habe dir doch gesagt, dass der Tempel ein Ort der Meditation ist“, sagte Lazana leise. „Die Banditen dieses Landstrichs haben immer einen Bogen um die Magier gemacht. Sie haben sich nie einem Angriff ausgesetzt gesehen. Sie vertrauen voll und ganz auf ihre Zauber. Und bislang hatten sie damit auch keine Schwierigkeiten.“

„Bislang hat auch noch niemand mit einem Blitzstein an ihre Türen geklopft“, murmelte Craig niedergeschlagen. „Das gibt eine Katastrophe.“

„Und genau deshalb müssen wir Hochmagier Ascor warnen“, brummte Gancielle. „Er muss von Brynnes Plänen erfahren. Und wenn er uns Eintritt gewährt, können wir die ersten Angriffe der Banditen vielleicht abwehren und solange die Stellung halten, bis Meister Syndus mit der versprochenen Verstärkung eintrifft.“

„Seid vorsichtig“, warnte Lazana. „Hochmagier Ascor genießt nicht gerade den Ruf eines gastfreundlichen Dunkelelfen. Er gilt als eigenbrötlerisch und äußerst misstrauisch gegenüber Fremden. Vor allem, wenn sie zur Armee gehören.“

„Wir wollen ja nur sein Bestes“, erwiderte Gancielle. Zusammen mit Geyra trat er vor. Craig hielt den Atem an, als er mit der Faust kräftig gegen das mächtige Haupttor wummerte. Hinter den Fenstern und auf den Balkonen des Tempels rührte sich nichts. Gancielle trat ungeduldig einen Schritt zurück und spähte an der Fassade hinauf. Dann legte er seine Hände wie einen Trichter an den Mund.

„Verehrter Hochmagier!“, rief er laut. „Wir bitten um eine Audienz!“

Zunächst schien es, als würde sich erneut nichts tun, und Gancielle holte schon wieder Luft, als auf dem Balkon direkt über dem Haupttor drei Dunkelelfen erschienen. Zwei von ihnen hielten brennende Fackeln in den Händen und flankierten einen dritten, der eine grobmaschige, schlichte Robe trug und seine Arme vor der Brust verschränkte.

Craig hatte sich den Hochmagier ganz anders und vor allem viel hoheitsvoller vorgestellt. Er hatte damit gerechnet, dass Ascor einen langen, schlohweißen Bart trug, der ihm fast bis auf die Füße fiel. Doch der Dunkelelf, der dort oben stand, wirkte viel schlichter, als Craig erwartet hatte. Lediglich ein paar Stoppeln zierten sein Gesicht. Der Kopf war kahlrasiert und seine spitzen Ohren lagen eng am Schädel. Trotzdem strahlte der Hochmagier eine gewisse Würde aus. Craigs Blick blieb an dem Ring hängen, den er am Zeigefinger der rechten Hand trug. Er glänzte silbern im Licht der Fackeln und war mit einem dunklen Stein von violetter Farbe besetzt.

„Was wollt Ihr, Fremdlinge?“

Die Stimme des Hochmagiers raubte Craig den Atem. Sie grollte wie ein aufziehendes Gewitter und jede Silbe schien zu knistern, wie die Blitze am Gipfel der Wolkenspitze.

Auch Gancielle wirkte beeindruckt. Er legte eine Hand an die Brust und neigte den Kopf. „Seid gegrüßt, Ascor, Hochmagier des Wolkentempels“, rief er förmlich und wies auf seine Begleiterin. „Das ist Kommandantin Geyra und ich bin…Gan…Kommandant Gancielle.“

Eine strenge, senkrechte Falte teilte Ascors Stirn in der Mitte. „Mich interessieren Eure weltlichen Titel nicht, Lakaien des Kaisers“, grollte er. „Sagt, was Ihr wollt, bevor ich die Geduld verliere.“

Gancielle war anzusehen, dass er sich sehr zusammennehmen musste. Er schluckte mehrmals und schien einige patzige Antworten herunterzuwürgen. „Wir möchten Euch ergebenst um Einlass in Euren Tempel bitten“, erwiderte er und senkte sein Haupt noch ein Stück weiter.

„Ich gewähre Fremden schon lange keinen Zutritt mehr“, donnerte Ascor. „Warum sollte ich für die Marionetten des Kaisers eine Ausnahme machen?“

„Weil wir mit einer Warnung zu Euch kommen“, rief Gancielle. „Euch droht große Gefahr!“

„Gefahr?“, spottete Ascor. „Welche Gefahr sollte jemandem drohen, dem die Wolken gehorchen?“

„Ein Mann namens Brynne Blutbrand ist mit einem Gefolge von liederlichen Schurken auf dem Weg hierher“, antwortete Gancielle. Seine Stimme klang, als würde er mit zusammengebissenen Zähnen sprechen. „Wir vermuten, er hat die Absicht, den Finger der Wolken in seinen Besitz zu bringen.“

Für einen kurzen Augenblick schien es, als würde diese Nachricht den Hochmagier aus dem Konzept bringen. Die Falte auf seiner Stirn verschwand und seine Brust weitete sich unter einem tiefen Atemzug. Doch dann verfiel Ascor in schallendes Gelächter.

„Brynne Blutbrand!“, höhnte er. „Natürlich will mein ehrgeiziger, alter Schüler den Finger der Wolken an sich nehmen. Offenbar ist seine Torheit in all den Jahren noch größer geworden.“

„Dann war er tatsächlich Euer Schüler?“, rief Gancielle aufgeregt und hob den Kopf.

Ascor schürzte verächtlich die Lippen und blickte überheblich zu ihm hinab. „Natürlich war er das“, antwortete er gedehnt. „Er war der letzte Fremdling, den ich bei mir aufgenommen habe, und gleichzeitig der Grund, weswegen ich keine weiteren mehr in meinen Hallen dulde. Schon damals ist mir sein Interesse am Finger der Wolken aufgefallen. Armer Irrer. Er will mit dem Ring den Himmel verdunkeln, wo er geht und steht. Alles, um mit seiner Krankheit ein normales Leben führen zu können. Aber die Macht des Fingers ist nicht für ihn bestimmt! Als sein Interesse sich in Gier verwandelte, habe ich ihn mit Schimpf und Schande davongejagt. Wenn er nun versucht, den Ring mit Gewalt an sich zu bringen, werde ich ihm eine Lektion erteilen, von der er sich nicht mehr erholt. Und wenn Ihr mit Euren schmutzigen Füßen dann immer noch diesen geheiligten Berg entweiht, wird Euch dasselbe Schicksal ereilen!“

Schwungvoll drehte sich Ascor um und verschwand mit seinen Begleitern im Inneren des Tempels.

„Wartet!“, schrie Gancielle. „Brynne besitzt einen Blitzstein!“ Aber der Hochmagier hörte ihn nicht mehr. Rumpelnd fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

„Dieser verfluchte Idiot!“, zischte Gancielle wütend und hämmerte mit beiden Händen gegen das Tor. „Lasst uns rein! Lasst uns rein, verdammt nochmal!“

Geyra ergriff den tobenden Blondschopf beim Handgelenk und sah ihn kopfschüttelnd an. „Lasst gut sein“, murmelte sie grimmig. „Dieser überhebliche Bock wird uns nicht zuhören.“

Gancielle sackte in die Knie. „Aber Brynne wird ihn überrumpeln!“, klagte er verzweifelt.

„Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass er es nicht bis in den Tempel schafft“, erwiderte Geyra und trat an den Rand des Tempelvorplatzes. Mit finsterem Blick spähte sie den Berg hinunter. In der Dunkelheit bewegte sich eine Kette von Dutzenden Öllampen den Hang hinauf.

„Macht Euch bereit“, rief Geyra und zog ihren Kriegshammer. „Sie kommen.“



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