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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Eine ganze Weile war es still zwischen Craig und Vance. Ein bedrückendes Gefühl befiel den Waisenjungen und plötzlich klang selbst die Melodie des Lautenspielers alles andere als fröhlich. Hilflos musste er zusehen, wie sich Vance selbst quälte, und knetete dabei nervös seine Hände.

„Du hast jemanden umgebracht…“, hauchte er schließlich. Als wären seine Worte ein Pfeil, der sich tief in Vances Herz bohrte, zuckte der Dorashen zusammen. Craig konnte sehen, wie seine Lippen weiß wurden, als er sie krampfhaft aufeinanderpresste. Dann, ganz langsam und kaum merklich, nickte er.

Craig atmete tief durch. Vance ließ endlich den leeren Bierkrug los und starrte auf seine Hände, als würde dort noch immer das Blut des Mannes kleben, den er getötet hatte. Seine Schuld schien sich wie ein tonnenschweres Gewicht auf seine Schultern zu legen. Sichtlich leidend sackte in seinem Stuhl zusammen und die Farbe wich aus seinem Gesicht.

„Wer war er?“, fragte Craig vorsichtig. Er wusste, dass seine Neugier Vance schmerzlich an die schreckliche Tat erinnerte, die er begangen hatte, aber er spürte ein dringendes Verlangen nach Aufklärung. Er konnte nicht glauben, dass dieser zurückhaltende, fast schüchterne Mann ein kaltblütiger Mörder sein sollte. Ein unangenehmer Schmerz durchzuckte ihn, als er daran dachte, dass er auch Hiob für unschuldig gehalten hatte. Und trotzdem hatten die Soldaten ihn mitgenommen.

„Ein Winzer aus dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.“ Vances Stimme war kaum mehr als ein ersticktes Röcheln. Es klang, als würde er keine Luft mehr bekommen.

Craig fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Mund fühlte sich auf einmal unangenehm trocken an und er spürte ein leichtes Kratzen in seinem Hals. „Und…warum hast du es getan?“

Vances Körper erbebte in einem Zitteranfall so heftig, dass sogar der Tisch anfing zu wackeln. Er riss die Augen auf und sein Blick ging wieder ins Leere. „Er…er hat mich beschimpft…“, stammelte er. „Er hat mich geschlagen…und dann…dann wurde ich auf einmal so wütend. Ich weiß nicht, was auf einmal über mich kam. Aber als ich wieder klar denken konnte, war er tot...“ Seine Stimme war schwach und schließlich brach sie. Craig wollte nicht wissen, welche schrecklichen Bilder sich vor Vances innerem Augen abspielten.

„Du bereust es, hab ich recht?“

„Jeden Tag.“ Vances Antwort war nur ein Flüstern. „Ich hatte in meinem Leben nie mehr als meine Unschuld. Und ich habe sie mir selbst genommen.“ Er lehnte sich nach vorn auf den Tisch und verbarg das Gesicht in beiden Händen. Craig hatte Mitleid mit ihm. Er erinnerte sich, wie er mit Hiob am Hafen von Notting saß und dem Dorashen bei der Arbeit zugesehen hatte. Der Dunkelelf hatte damals gesagt, dass es Vance vermutlich nicht besser ging, als ihm oder Craig. Er hatte damit maßlos untertrieben. Den Waisenjungen hatte der Verlust seiner Eltern ohne Frage schwer getroffen, aber er hatte das große Glück gehabt, in Hiob einen Ziehvater zu finden. Verglichen mit seinem Schmerz musste Vances Schuldgefühl eine unvorstellbare Last sein, schwerer als jeder Baumstamm oder Steinblock. Und der Dorashen musste sie täglich mit sich herumschleppen.

Jetzt verstand Craig auch, warum Vance in der Gegenwart von Soldaten ständig so nervös und angespannt war. Als gesuchter Verbrecher konnte er jeden Augenblick erkannt und für seine Taten verhaftet werden. Er zog also nicht von Dorf zu Dorf, weil er fürchtete, von der Bevölkerung verstoßen zu werden, wenn seine wahre Identität bekannt wurde. Er hatte einfach Angst, dass irgendjemand sein Gesicht erkannte, wenn er sich zu lange an einem Ort aufhielt.

Und trotzdem konnte sich Craig des Eindrucks nicht erwehren, dass Vance kein schlechter Mensch war. Trotz seiner Angst vor den Kaiserlichen Truppen hatte er sich den Soldaten auf Notting ohne Weiteres gezeigt. Er war das Risiko eingegangen, verhaftet zu werden, nur um Craig, einen Jungen, den er nicht kannte, davor zu bewahren, sich unglücklich zu machen. Sein Eingreifen auf der Insel hatte verhindert, dass Knack in tausend Stücke geschlagen und Craig selbst für seinen Widerstand hinter Schloss und Riegel gesperrt wurde. So sehr der Waisenjunge sich auf Notting auch noch gegen seine Unterstützung gesträubt hatte, nun, da er nüchtern darüber nachdachte und das ganze Ausmaß von Vances Eingreifen verstand, musste er zugeben, dass er dem Dorashen zu Dank verpflichtet war. Craig wollte sich gern dafür revanchieren, aber wusste nicht wie. Er konnte nur versuchen, die Schuld, die sich Vance aufgeladen hatte, zu erleichtern.

„Du willst Buße tun“, stellte er fest und war selbst überrascht, wie entschlossen und ruhig seine Stimme angesichts dieses bedrückenden Themas klang. „Also gut. Warum fängst du dann nicht damit an, einen Teil deiner Schuld abzutragen, indem du der Bevölkerung hilfst? Und damit meine ich nicht, dass du weiterhin für ein paar lausige Münzen Netze flickst, damit du deine Sorgen in Bier und Selbstmitleid ertränken kannst. Ich spreche von einer Heldentat, die eines Dorashen würdig ist. Hilf diesen Leuten und mach dich auf die Suche nach den Vermissten!“

Kurz loderte etwas in Vances dunklen Augen auf und Craig glaubte schon, dass er sich endlich aus seiner schuldbeladenen Lethargie befreite, doch dann erlosch der Glanz wieder und ließ in seinem Gesicht nichts als zwei ausdruckslose, matte Kohleklumpen zurück.

Im Untergeschoss des Gasthauses wurde es plötzlich laut. Craig hörte das Klirren von Kettenhemden und das Stampfen schwerer Stiefel. Neugierig wandte er sich zur Treppe um und sah eine kleine Patrouille von Soldaten die Stufen heraufkommen. Angeführt wurden sie von einem braunhaarigen Mann in einer eisenbeschlagenen Uniform. Auf seinem bartlosen Gesicht lag ein entschlossener Ausdruck. Craigs Miene verfinsterte sich, als er entdeckte, dass die Soldaten von Aulus begleitet wurden. Der Novize der Goldenen Falken reckte wichtigtuerisch das Kinn vor. Er genoss es sichtlich, dass plötzlich alle Augenpaare auf ihn und die Soldaten gerichtet waren. Mit schmierigem Grinsen suhlte er sich in der Aufmerksamkeit der Gäste und blähte unter seinem violetten Seidenhemd stolz die schmale Brust.

„Feldwebel!“, rief Rhist überrascht und stand auf. Erst jetzt bemerkte Craig das Langschwert, dass der stämmige Truppenkommandant auf der ihm abgewandten Körperseite am Gürtel trug. „Was soll dieser Aufmarsch?“

Der Anführer der Patrouille blieb wie vom Donner gerührt stehen und salutierte pflichtbewusst, als er seinen Vorgesetzten bemerkte. Der Rest der Soldaten tat es ihm gleich. Nur Aulus lehnte sich an die Wand und betrachtete seine penibel gestutzten Fingernägel.

„Bitte lasst Euch nicht stören, Kommandant“, rief der Truppführer. „Wir sind hier, um eine Verhaftung durchzuführen.“

„Eine Verhaftung?“ Rhist schob grimmig die Augenbrauen zusammen.

„Da, das ist der Kerl!“, schrie Aulus und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Tisch, an dem Craig und Vance saßen. Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. „Dort drüben sitzt er!“

Craig duckte sich instinktiv. Er hatte sich Aulus gegenüber ziemlich frech verhalten. Der Novize der Goldenen Falken hatte zwar angekündigt, ein Auge zuzudrücken, doch Craig war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er es sich nicht doch anders überlegt hatte. Im Schutz der Soldaten fühlte sich Aulus jedenfalls wieder deutlich mutiger.

Doch sein Fingerzeig galt nicht Craig, sondern Vance. Auf Aulus‘ Zeichen hin ging der Truppführer mit entschlossenen Schritten auf den Tisch zu und baute sich mit ernstem Gesicht vor dem Dorashen auf. „Ich bin Feldwebel Praharin“, stellte er sich vor. „Und ich muss Euch bitten, mit mir zu kommen.“

Vance nickte bedrückt und warf Craig einen kurzen Blick zu. „Also hat mich mein Schicksal am Ende doch eingeholt“, murmelte er und stand auf.

Als Feldwebel Praharin das Hackebeil bemerkte, das an dem Seil an Vances Hüfte hing, griff er sofort nach seinem Schwert. Auch Rhist, der sich offenbar für seine Untergebenen verantwortlich fühlte, obwohl er augenscheinlich nicht im Dienst war, tastete nach seiner Klinge.

„Händigt mir die Waffe aus!“, forderte Praharin barsch. Vance erstarrte und blickte den Feldwebel ausdruckslos an. Dann zog er das Hackebeil langsam aus seinem behelfsmäßigen Gürtel. „Würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich meine Waffe stattdessen meinem Freund hier überlasse?“, fragte er ruhig. Sein Gesicht wirkte plötzlich nicht mehr angespannt, sondern sanft, und es kam Craig fast so vor, als wäre er erleichtert, dass seine ständige Flucht endlich ein Ende gefunden hatte.

Praharin blinzelte verwirrt und sah Rhist hilfesuchend an. Der Kommandant zuckte nur mit den Schultern. „Warum nicht?“, brummte er. „Ich denke, Ihr werdet selbst mit diesem Burschen fertig, Feldwebel.“ Er entspannte sich und setzte sich wieder neben Bragi an den Tisch.

Praharin deutete mit einem Kopfnicken auf Craig. „Gut, meinetwegen“, rief er etwas zögerlich. „Aber macht keine Dummheiten!“

Auch die anderen Soldaten hielten ihre Schwerter umklammert und waren bereit, im Notfall gewalttätig zu werden. Doch Vance hob beschwichtigend eine Hand und legte sein Hackebeil in aller Seelenruhe vor Craig auf den Tisch.

Der Waisenjunge starrte die Soldaten verbittert an. Er hatte gerade erst den tieferen Sinn hinter Vances Eigenarten zu entschlüsseln und war dabei, sich mit dem Dorashen anzufreunden, da wurde er ihm auch schon entrissen. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit nahmen ihm die Soldaten der Kaiserlichen Armee einen Weggefährten. Vances Verhaftung traf ihn dabei nicht annähernd so hart, wie Hiobs Inhaftierung, aber trotzdem fragte sich der Waisenjunge, ob auf ihm ein Fluch lag, der alle, die seinen Weg kreuzten, hinter Schloss und Riegel brachte. Er musste sich sehr zusammenreißen, um nicht zu protestieren. Diesmal würde niemand da sein, der ihn davon abhielt, etwas Unüberlegtes zu tun.

Verwirrt richtete Craig seinen Blick auf das Hackebeil, das vor ihm auf dem Tisch lag. Die Klinge glänzte leicht im Kerzenschein des Gasthauses und er konnte deutlich erkennen, dass ihre Scharten schon dutzende Male ausgewetzt worden waren. „Was soll ich denn damit?“, fragte er brummig.

„Dieses Hackebeil hat mir immer gute Dienste erwiesen“, sagte Vance und reckte Praharin beide Hände entgegen. Sofort traten zwei Soldaten vor und legten ihm schwere Metallfesseln an. „Ich finde die Vorstellung fürchterlich, dass es irgendwo in einem staubigen Lager der Armee verrostet. Kannst du es für mich verwahren? Vielleicht erweist es sich eines Tages noch als nützlich.“

„Wenn du meinst…“, murmelte Craig und griff nach dem Beil. Es wog deutlich schwerer in seiner Hand, als er vermutet hatte.

„Entschuldigt die Störung, Kommandant“, hörte er Praharins Stimme. „Ich wünsche noch einen angenehmen Tag.

Dann setzte sich der ganze Trupp zusammen mit dem Gefangenen unter dem Klirren von Kettenhemden in Bewegung. Craig blieb alleine an dem Tisch zurück und alles, was davon zeugte, dass er bis eben noch Gesellschaft gehabt hatte, waren ein leerer Bierkrug und das Hackebeil in seiner Hand.
 

Kurze Zeit später standen die Soldaten zusammen mit Vance im Amtszimmer von Meister Syndus. Gancielle, der zweite Kommandant der Truppen von Eydar, sicherte mit grimmiger Miene die Tür, während Syndus im Beisein seiner Assistentin Adria hinter seinem breiten Pult saß und die Versammlung mit gefalteten Händen nachdenklich beäugte. Praharin platzte fast vor Stolz darüber, dass er dem alten Befehlshaber einen gesuchten Verbrecher präsentieren konnte, und auch Aulus grinste selbstzufrieden.

„Das ist dieser Mörder, Meister!“, rief der Novize übereifrig. „Ich habe sofort gewusst, dass ich sein Gesicht irgendwoher kenne, als ich ihn im Hafen entdeckt habe! Und dann sind mir wieder die Steckbriefe aus Kaboroth eingefallen.“

Syndus hob beschwichtigend eine Hand. „Bitte mäßigt Euch, Aulus“, bat er um Ruhe. „Ich sehe selbst, dass Ihr mir die gesuchte Person bringt. Feldwebel, hattet Ihr Ärger bei der Festnahme?“

Praharin schüttelte energisch den Kopf. „Nein, er hat sich ohne Widerstand ergeben“, verkündete er.

„Gut gemacht“, lobte Syndus müde und Praharins Brust schwoll unter seiner Rüstung noch ein Stück an. „Ihr dürft Euch nun zurückziehen. Ab hier könnt Ihr alles Weitere uns überlassen.“

Praharin und sein ganzer Trupp salutierten synchron. Dann gab der Feldwebel seiner Patrouille mit einem Kopfnicken ein Zeichen und die Soldaten verließen Syndus‘ Amtszimmer unter dem dumpfen Stapfen ihrer schweren Stiefel.

„Was ist mit mir, Meister?“, fragte Aulus, als Praharins Trupp fort war. „Ich habe diesen Mann entdeckt! Habe ich mir dafür nicht eine Belohnung verdient?“

„Es ist den Mitgliedern unseres Ordens untersagt, ein Kopfgeld zu kassieren“, sprach Syndus. „Aber ich werde dafür sorgen, dass Euch eine angemessene Prämie ausgezahlt wird. Nun geht! Ihr habt gewiss noch eine Menge Arbeit zu erledigen.“

Das schien Aulus zu reichen. Er rieb sich gierig die Hände und grinste zufrieden. „Wie Ihr wünscht, Meister!“, näselte er unterwürfig. Dann drehte er sich um und schlenderte leise kichernd davon.

Gancielle schloss die Tür hinter ihm und schob einen breiten Riegel aus massivem Eisenholz vor. Syndus stützte sein Kinn auf die gefalteten Finger und musterte den Gefangenen genau. „So, dann wollen wir uns doch mal um Euch kümmern“, verkündete er seufzend. „Wie Euch sicher nicht entgangen ist, wirft Euch mein scharfsinniger Schüler Aulus vor, einen Mann getötet zu haben. Ist das korrekt oder widersprecht Ihr dieser Behauptung?“

„Das stimmt“, erwiderte Vance. Ein leichtes Zittern durchlief seinen kräftigen Körper und er senkte betreten den Kopf. „Vor fünf Jahren habe ich einen Mann umgebracht.“

„Vor fünf Jahren…“, murmelte Syndus. „Ihr müsst noch fast ein Kind gewesen sein…“ Er lehnte sich zurück und schnippte mit den Fingern. „Schreibt doch bitte mit, Adria.“

Sofort tauchte seine Assistentin eine Schreibfeder in ein Tintenfass. Aufmerksam hielt sie sich bereit und starrte Vance dabei durchdringend an.

Syndus wandte sich direkt an den Gefangenen. „Wie lautet Euer Name?“, wollte er wissen.

„Vance.“

Adrias Federkiel tanzte kratzend über das Papier. „Und der Eurer Familie?“, fragte Syndus.

„Falls ich einen habe, wurde er mir nie gesagt“, antwortete Vance tonlos. „Ich kenne ihn nicht.“

Syndus und Adria tauschte kurz ein paar Blicke aus. Dann schrieb die junge Frau erneut etwas auf.

„Schön. Woher stammt Ihr?“

„Wenn Ihr wissen wollt, wo ich geboren bin, kann ich Euch keine sichere Antwort geben. Aber ich glaube zumindest, dass ich ein Bürger Ganestans bin und aus Vingrat stamme. Jedenfalls habe ich meine Kindheit und Jugend in Narinfen verbracht.“

Syndus hob abwehrend die Hände. „Der Ort, an dem Ihr lange gelebt habt, sollte für unsere Zwecke völlig ausreichend sein. Narinfen in der Grafschaft Vingrat also.“

Wieder ließ Adria ihre Feder über das Papier wandern, diesmal länger als die beiden Male zuvor. Syndus strich sich durch den Bart und nutzte die Zeit, um sich zu überlegen, wie er seine nächste Frage formulieren sollte. Als der Federkiel seiner Assistentin verstummte, legte er die Hände vor seinem Kinn aneinander und sah Vance prüfend an. „Wer ist Euer Gott?"

Der junge Mann hob den Kopf und verengte die Augen zu Schlitzen. „Wie meint Ihr das?“, fragte er lauernd.

„Ihr seid doch ein Dorashen, oder etwa nicht?“ Adria sog scharf die Luft ein und Gancielles Miene wurde schlagartig zu einer Miene finsterer Entschlossenheit. Syndus dagegen blieb ruhig und zum ersten Mal seit langer Zeit huschte sogar der Anflug eines Lächelns über seine Lippen.

Vance schien aber überhaupt nicht glücklich über die Erkenntnis des Alten. Verbittert starrte er ihn an. „Allmählich glaube ich, dass mir jemand dieses Wort im Schlaf auf die Stirn tätowiert hat“, ärgerte er sich. „Fünf Jahre lang hat mich niemand als das erkannt, was ich bin und jetzt seid Ihr bereits der Zweite innerhalb von zwei Tagen.“

„Schon gut“, erwiderte Syndus und hob beschwichtigend die Hände. „Das ist meiner jahrelangen Erfahrung geschuldet. Aber Ihr müsst wirklich ein Talent dafür haben, Euch bedeckt zu halten, wenn Ihr fünf Jahre lang unerkannt bleiben konntet.“

Vance senkte wieder den Kopf und starrte auf einen unsichtbaren Punkt zwischen seinen Stiefeln. Syndus sah, wie sich Gancielles angespannte Körperhaltung lockerte. Neben ihm stieß Adria ein leises Seufzen aus.

„Der Meister hat Euch eine Frage gestellt“, erinnerte sie den Dorashen. „Welchem der Fünf verdankt Ihr Eure Kräfte? Am Jahrestag welchen Gottes kamt Ihr zur Welt?“

„Habt Ihr mir vorhin nicht zugehört?“, fragte Vance angesäuert. „Ich habe keine Ahnung, wann und wo ich geboren bin und ich habe keine Eltern, die mir gesagt haben, welchem Gott ich meine verfluchte Existenz zu verdanken habe. Es ist mir auch völlig egal. Ich will mit all diesen übernatürlichen Mächten nichts zu tun haben!“

Adria klappte den Mund auf und wollte etwas erwidern, doch Syndus hob eihaltgebietend die Hand. Seine Assistentin funkelte Vance empört an, doch sie fügte sich dem Willen ihres Meisters und verkniff sich eine bissige Antwort.

Syndus ließ den gedämpften Gefühlsausbruch des Dorashen auf sich wirken. Vance trat nach seinen Worten unruhig von einem Bein auf das andere. Er fühlte sich sichtlich unwohl, aber nicht, weil man ihm die Hände gefesselt hatte oder weil man drauf und dran war, ihn in einen Kerker sperren. Syndus schien es mehr, als schämte sich der junge Mann dafür, dass er seinen Emotionen für einen kurzen Augenblick gestattet hatte, die Kontrolle über seine Zunge zu übernehmen.

Der Alte nickte bedächtig und gab Adria einen Wink. Die junge Frau setzte ihr Kürzel unter den Zettel, auf dem sie Vances Daten notiert hatte, und reichte ihn an ihren Meister weiter. Auch Syndus unterzeichnete das Protokoll und rollte es sorgfältig zusammen. Er fixierte die Rolle, indem er sie mit einem roten Band umwickelte, und ließ aus einem silbernen Kerzenständer auf seinem Pult vorsichtig etwas Wachs auf das Ende des Bandes tropfen. Anschließend versiegelte er das Dokument, indem er seinen Ring in die flüssige Masse drückte. Er wartete kurz, bis das Wachs erkaltet war, und schob den Brief Adria zu.

„Wir entsenden später einen Botenfalken nach Kaboroth. Man wird dort entscheiden, wie mit Euch verfahren werden soll. Fürs erste seid Ihr ein Gast in unserem Kerker“, verkündete Syndus laut. Dann faltete er nachdenklich die Hände, bettete sein Kinn darauf und wandte sich an seine Assistentin und den Kommandanten. „Ich halte es für besser, wenn wir die Identität unseres Freundes hier vorerst geheim halten. Wir haben schon genug Ärger und es könnte unsere Truppen zusätzlich verunsichern, wenn bekannt würde, dass wir in unserem Kerker einen Dorashen beherbergen. Wobei unser Freund nicht gerade den Eindruck macht, als stelle er eine große Gefahr dar, nicht wahr?“

Vance starrte noch immer beharrlich auf den Boden. Wie er so mit hängenden Schultern und in seiner abgewetzten, löchrigen Kleidung dastand, glich er eher einem Häufchen Elend, als einem ehrfurchtgebietenden Krieger.

„Gancielle, Adria…“, fuhr Syndus unbeirrt fort. „Als Meister des Ordens der Ehernen Falken fordere ich Euch auf, dass auch Ihr Stillschweigen über die Identität dieses Mannes bewahrt! Wir werden lediglich Fähnrich Jel informieren, damit er weiß, mit wem er es zu tun hat. Verstanden?“

Seine Assistentin und der blonde Kommandant nickten entschlossen. Syndus seufzte zufrieden und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Sehr gut. Gancielle, dürfte ich Euch bitten, den Gefangenen in die Obhut unseres Kerkermeisters zu übergeben?“

Gancielle trat vor und griff nach den Fesseln an Vances Handgelenken. Mit dem anderen Arm salutierte er dienstbeflissen. „Sofort, Meister Syndus.“

Der Dorashen drehte sich wortlos um. Obwohl der Gefangene keinerlei Anstalten machte, sich zu wehren, griff Gancielle sicherheitshalber nach seinem Schwert. Der Kommandant zog mit einem Ruck den Riegel vor der Tür zurück und stieß Vance durch den Rahmen. Der Dorashen ließ sich widerstandslos abführen.

Syndus blickte den beiden nachdenklich hinterher. „Ein interessanter junger Mann“, stellte er fest und fuhr sich gedankenverloren durch den ergrauten Bart. „Er ist auf den falschen Pfad geraten und nun quälen ihn die Folgen seiner Tat am meisten. Er verflucht den Gott, der ihn gesegnet hat. So verhält sich kein gewöhnlicher Dorashen.“ Syndus wusste, dass es töricht war, die Dorashen als gewöhnlich zu bezeichnen, aber Vance wirkte selbst für einen Gottesstreiter besonders sonderbar und atypisch. „Die wenigen, die es noch gibt, leben voller Stolz für den Namen ihres Gottes.

„Wahrscheinlich ist er einfach nur verzweifelt, weil er unseren Soldaten ins Netz gegangen ist“, vermutete Adria kühl. „Und nun bereut er seine Taten, weil er sich vor seiner Strafe fürchtet und im Angesicht des Kerkers bemerkt, dass jede Flucht unmöglich ist.“

Syndus musste schmunzeln. „Ihr seid noch jung, Adria, aber Ihr habt Euch bereits eine Menge Wissen angeeignet. Seit Ihr in diese Stadt entsandt wurdet, habe ich Euch alles beigebracht, was möglich war. Aber es gibt noch eine Vielzahl an Dingen, die Euch nur die Erfahrung lehren kann. Wenn ein Dorashen fliehen will, dann tut er es einfach. Nicht einmal Gancielle könnte ihn aufhalten.“

„Und trotzdem wollt Ihr so jemanden in unserem Kerker unterbringen?“, fragte Adria besorgt. „Wenn er plötzlich seine Meinung ändert und ausbricht, könnten unsere Soldaten und die Bevölkerung in Gefahr geraten.“

„Die Reue dieses Mannes ist aufrichtig“, erwiderte Syndus ruhig. „Er will seine Strafe verbüßen. Und wer sind wir, ihm diesen Wunsch zu verwehren?“



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