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Frostbrand

von

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Der Schnee war in der Nacht gefallen, so dass die Bewohner von Glennwilde Castle an einem trüben Herbstabend zu Bett gegangen und an einem hellen Wintermorgen wieder erwacht waren. Angesichts der unberührten Weiße, die sich hinter den Fenstern erstreckte, hatte es die aufgeregt Pläne schmiedenden Kinder des Hauses heute nicht lange am Frühstückstisch gehalten.
 

Von kurzen Unterbrechungen abgesehen waren sie den ganzen Tag lang im Freien umhergerannt und hatten diese weiße formbare Welt erkundet, in welche ihre Heimat sich verwandelt hatte. Selbst während eines Austritts am Nachmittag konnte Laurence sie noch in der Ferne spielen sehen. Von den eifrigen Hin- und Herbewegungen ihrer Gestalten schloss er darauf, dass sie dazu übergegangen waren, auf den Vorplatz eine Reihe von Schneemännern zu errichten, nachdem er ihnen das Werfen von Schneebällen für den Rest des Tages untersagt hatte.
 

Da es wieder zu schneien begonnen hatte, verständigte er sich über einen Blick mit seinem Bruder darauf, kehrtzumachen und den Ausritt zu verkürzen. Im dichter werdenden Schneefall ritten sie die Allee entlang, welche zurück nach Glennwilde führte. Victors Schimmel Belenus drängelte wie üblich darauf, rasch zurück ins Warme zu kommen, so dass er Laurence‘ Fuchs oft um einige Längen voraus war – ein Umstand, den sein Besitzer mit stoischer Entschiedenheit immer wieder korrigierte.
 

Wenn Victor ihm zuweilen doch Voraus war, achtete Laurence nicht auf die Straße, sondern beobachtete ihn vor dem hellen Kontrast der Landschaft. Das schwarzes Mantelcape seines Bruders bauschte sich hinter ihm im Wind und wenn seine Augen nicht nach Laurence suchten, waren sie fest auf ihren Weg gerichtet. Victors Profil hatte Laurence selten so sehr an das ihres Vaters erinnert, wie an diesem schneidend kalten Wintertag. Schon seit er am Morgen den Schnee auf seinem Fenstersims gesehen hatte, waren immer neue Erinnerungen an frühere Winter über ihn gekommen, die ihn mit einem Gefühl von Wehmut und Nachdenklichkeit erfüllten.
 

Auch er war als Kind in ehrfürchtiger Langsamkeit durch den ersten Schnee gestapft, wie er es an diesem Tag bei Anne beobachtet hatten. Auch ihm waren wie Bray und Lizzie an solchen Tagen alle Tätigkeiten lästig gewesen, die nicht im Freien stattfanden. Auch er hatte sich wie Ben am Abend nur widerwillig von seinen Schneekreationen getrennt, weil er fürchten musste, sie würden am nächsten Tag von einer Schicht aus Neuschnee bedeckt sein. Doch es gab auch eine Erinnerungen, die nicht seine Kinder in ihm erwecken konnten, sondern einzig und allein sein Bruder.
 

Bereits früher hatte Laurence Ausritte durch schneebedeckte Landschaften geliebt, aber leider war er als Kind schon bei nur knöchelhoher Schneedecke zu Mutter und Cousine in die Kutsche verbannt gewesen, während sein Vater und Bruder hoch zu Pferd neben ihnen herritten. Wann immer dies geschah hatte er tief in seiner kindlichen Ehre gekränkt sein Gesicht an das Kutschenfenster gedrückt und ihnen unablässig dabei zugesehen.
 

Dieser Anblick musste Victors brüderlichem Herz so zugesetzt zu haben, dass er bei ihrem Vater bald ein gutes Wort für ihn einlegt hatte, so dass es Laurence mit zehn Jahren gestattet war, die Kutsche zu verlassen und mit auf das Pferd seines Bruders zu steigen. Im Nachhinein dachte er beschämt daran, wie störrisch und undankbar er auf diesen Kompromiss reagiert hatte, dem, wie er nun wusste, eine seiner schönsten Kindheitserinnerungen zu verdanken war.
 

Nun während er wieder hinter einem Grafen von Fawnwood durch den Schnee ritt, entsann er sich so deutlich an diese Ausflüge, als sei keine Stunde der mehr zwei Jahrzehnte vergangen, welche ihn inzwischen davon trennten. Als säße Victor bei ihm auf dem Pferd und nicht auf einem eigenen. Wie er ihn festgehalten und bei besonders widrigem Wetter seinen Mantel um ihn gehüllt hatte, stand Laurence klarer vor Augen als die Gesichter von manchen Lehrern, die ihn lange Jahre unterrichtet hatten.
 

Auch jetzt noch, wenn der Winter sich in die Länge zog, war ihm diese Erinnerung ein Trost und eine Qual zugleich. Ein Trost, weil sie es ihm beinah unmöglich machte, sich einsam in der Welt fühlen und eine Qual, weil er wusste, dass diese Zeit nicht wiederkehren würde – dass er Victor nur noch im Nachhinein die Wertschätzung und Dankbarkeit entgegenbringen konnte, welche ihm damals bereits zugestanden hätte.
 

Plötzlich bemerkte er aus den Augenwinkeln wie sein Bruder mit warnend gehobener Hand langsamer wurde und auch er zog rasch an den Zügeln seines Pferdes. Noch bevor sie ganz zum Stehen kamen, sah er eine Gestalt, die etliche Meter von ihnen entfernt auf der Allee stand. Von der Größe her musste es sich ein Kind handeln, ein Kind, das weder Mütze noch Schal trug und welches mit einer Haltung von sehnsüchtiger Verlorenheit zu Laurences flockenumstöbertem Anwesen hinaufblickte.
 

Alle diese Attribute (verloren, einsam und zu dünn angezogen) waren so unvereinbar mit Laurence' Vorstellungen davon, wie es seinen Kindern in der Welt zu ergehen hatte, dass er einen Lidschlag länger als Victor brauchte, um erschrocken zu erkennen, dass es sich dennoch um eines davon handelte – um eines seiner Kinder.
 

„Laurence“, rief Victor in einem Tonfall, bei dem Laurence nach all den Jahren noch den Impuls verspürte, sich ertappt ein wenig aufzurichten. Das Kind auf der Allee zeigte dagegen keine Regung. Es war sicherlich der Entfernung geschuldet und der Tatsache, dass Alvah seinen Taufnamen nur selten zu hören bekam – aber auch ohne sie greifen zu können, vermutete Laurence tiefer verborgene Gründe dafür, warum sein Sohn weiterhin wie gebannt in Richtung Glennwilde blickte.
 

Sie trieben ihre Pferde gleichzeitig an, aber der ungeduldige Benelus trabte erneut schneller, so dass Victor Alvah ein wenig früher erreichte. Erst als er abstieg und seinen Neffen bei seinem Rufnamen nannte, wurde dieser sich ihrer Gegenwart wirklich bewusst. Sichtbar zusammenzuckend wandte er sich um und sah mit geistesabwesendem Blick zu ihnen auf, ein Ausdruck, der beim Anblick von Victors tadelndem Gesicht nur eine Spur fragender wurde.
 

„Onkel Victor... Vater?“
 

Auch Laurence löste die Stiefel aus den Steigbügeln und schwang sich vom Taranis‘ Rücken, der Schnee weich und federnd unter seinen Sohlen. Aus der Nähe wirkte sein Sohn, als stünde er schon länger auf der Allee. Eine feine Schicht aus Flocken haftete auf seinem Haar und seinen Kleidern. Dieser Silberton in Verbindung mit dem gänzlich losgelöstem Ausdruck seiner Augen rief in Laurence unvermittelt das Bild der Cousine hervor, die vor dem Tod ihrer Eltern auf Glennwilde gelebt hatte.
 

In ihrer Kindheit war Rowena Haar auch so hell wie Neuschnee gewesen und dieser Umstand gepaart mit ihrer ungewöhnlichen Wesensart hatte in Laurence die heimliche Vermutung genährt, dass sie älter war als ihr Geburtsjahr Glauben machte. In der undurchdringlichen Traumverlorenheit welche sie als Kind umfangen hatte, war sie ihm um Jahre älter erschienen – älter und alterslos zugleich als sei ihre Seele weder an die Lebensjahre ihres Körpers noch an sonstige Konvention gebunden.
 

Damals war er fasziniert davon gewesen, wie anders sie war, wie wenig sie mit anderen Kindern gemein hatte. Doch diese Erinnerung vermischt mit dem nicht neuen Gedanken, dass auch sein Kind eine dieser alten Seelen war, rief andere Gefühle in Laurence hervor. Gefühle, die seine Schritte beschleunigten und ihm das Herz sekundenlang zusammenzogen. Sein Sohn hatte nicht so aussehen als sei er nicht von dieser Welt – als gehöre er nirgendwo dazu und somit nicht zu ihm.
 

„Alvah, was tust du bei diesem Wetter hier draußen? Wir hätten dich im Schnee beinah übersehen.“
 

In seiner Sorge klang seine Stimme eine Spur ungehalten und obwohl er diesen Ton im nächsten Moment bereute, beruhigte ihn dennoch seine Wirkung. Es war nur der Hauch eines Missklangs, eine Feinheit, welche die meisten Menschen überhört hätten. Aber Alvahs Blick ließ dieser Tonfall sofort wacher werden. Anders als seine Tante war er also trotz aller Gedankenverlorenheit noch empfänglich für den Sirenensang menschlicher Emotion. Laurence konnte regelrecht mitansehen, wie die nach außen gerichtete Sinne seines Sohnes einer nach dem anderen wieder erwachten.
 

Erst zog er fröstelnd die Hände in seine Mantelärmel und wich einen Schritt vor den in der Kälte tänzelnden Pferden zurück. Dann warf er einen blinzelnden Blick umher, wie um mit eigenen Augen festzustellen, wo seine Schritte ihn hingetragen hatten. Schließlich blickte er voller Schuldbewusstsein wieder zu ihm auf.
 

„Vater... bitte entschuldigt.“
 

Laurence schloss die Distanz zwischen ihnen und reichte Victor im Vorübergehen seine Zügel. Die Flocken auf Alvahs Haar schmolzen und verwehten unter der Berührung seiner Hand wie ein flüchtiger Zauber, aber die Finger seines Sohns fühlten sich selbst durch den Stoff seiner Handschuhe noch eisig an. Hastig griff er an seinen Hals und nestelte am Knoten des Schals, den er unter seinem Mantel trug.
 

„Wo sind dein Schal und deine Mütze?“
 

„Bei den Schneemännern. Bray und Lizzie haben gesagt, sie verleihen ihnen Charakter.“
 

„Und warum bist du nicht bei deinen Geschwistern und den Schneemännern?“
 

„Weil ich schon...“, protestierte Alvah, bevor er innehielt und mit einem reumütigen Lächeln das Halstuch annahm, welches Laurence ihm entgegenhielt. Statt es um seinen Hals zu binden, legte er es sich allerdings wie eine Dame um Kopf und Schultern, so dass er von dem dunkelblauen Tuch umhüllt wie eine kleine Marienstatue aussah.
 

„Weil du schon den ganzen Tag lang bei ihnen warst?“, fragte Laurence, der angesichts dieses unschuldigen Modefauxpas ein Lächeln unterdrückte.
 

„Ja, Sir. Wir haben den ganzen Tag lang Schneeengel gemalt, Eiszapfen gesammelt, Eskimo gespielt und Schneemänner gebaut.“
 

„Und danach, nehme ich an, wolltest du den Winter auf deine eigene Weise begrüßen?“
 

Es war ein freundlich und amüsiert gesprochener Satz und er blickte danach zu Victor, der näher trat, um ihm Taranis‘ Zügel zurückzugeben. So entging ihm beinah der Ausdruck von faszinierter Bewunderung, der sich auf dem Gesicht seines Sohns ausbreitete.
 

„Woher wisst Ihr das, Vater? Könnt Ihr Gedanken lesen?“
 

„Nein“, sagte Laurence, während er die Zügel nahm und Taranis seitwärts zog. „Ich kenne dich nur sehr gut.“
 

Als Alvah näher trat und Anstalten machte das Tuch unter seinem Kinn loszulassen, schüttelte Laurence den Kopf. Bei gemeinsamen Ausritten im Sommer war Alvah manchmal vor ihm aufgestiegen, doch heute wollte er kein unnötiges Risiko eingehen. Nicht bei diesem Wetter und nicht wenn sein Sohn so müde und durchfroren aussah.
 

In einer flüssigen Bewegung stieg er zurück auf Taranis’ Rücken und signalisierte ihm durch ein Straffen der Zügel, für den nächsten Moment ganz still zu stehen. Dann wechselte er die Zügel in die linke Hand und nickte Victor zu.
 

Dieser hatte Belenus‘ Zügel um einen Ast auf der anderen Seite der Allee geschlungen und kehrte nun wieder auf die andere Seite zurück. In der fortgeschrittenen Dämmerung schien es Laurence erneut, als sehe er seinen Vater in jungen Jahren vor sich. Und als der Graf von Fawnwood sich über Alvah beugte und ihn völlig mühelos zu Laurence hochhob, spielte auch auf seinem sonst so ernsten Gesicht das stille Lächeln geteilter Erinnerung. Erst schien es, als wolle Victor nicht mehr als dieses Lächeln preisgeben, als würde er es bei einem wissenden Blick belassen. Doch dann hielt er noch einmal inne und zog wie in einem Nachgedanken das Tuch auf Alvahs Schultern glatt.
 

„Halt dich gut fest“, sagte er leise. „Sag Bescheid, wenn dir kalt wird.“
 

„Ja, Onkel Victor“, hörte Laurence seinen Sohn erwidern, während er selbst etliche Herzschläge lang keine Worte fand. Für einen Moment schienen sie zu verfließen, Vergangenheit und Gegenwart. Im Schneetreiben des Winters waren sie unkenntlich voneinander.
 

Dann begann Taranis wieder zu tänzeln und er zog Alvah instinktiv an sich. Sein Alvah, der durch eine gänzlich unverdiente Wendung des Schicksals so viel dankbarer war als er.
 

„Vater?“, hörte er seine Stimme und noch blinzelnd erwiderte er den Blick, welchen Alvah über die Schulter hinweg zu ihm aufhoben hatte. „Ist Euch nicht wohl?“
 

Nach einem kurzen Schweigen beugte er sich vor und küsste mit einem Kopfschütteln den Scheitel seines Sohns.
 

„Mir ist wohl“, versicherte er leise, bevor er die Zügel hob. „Jetzt halt dich gut fest. Und sag Bescheid, wenn dir kalt wird.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  _Delacroix_
2018-12-24T15:31:05+00:00 24.12.2018 16:31
Ach, ist ja goldig. So eine niedliche Wintergeschichte.
Ich glaube, da kann ich mich nur anschließen und sagen: Ich hoffe, dass ihr noch lange Spaß am Projekt habt und wir noch viele so schöne Sachen zu lesen bekommen. ❤❤❤
Von:  Idris
2018-12-22T20:38:05+00:00 22.12.2018 21:38
Awwwwwwwwwwww!
Es ist wunderschön geworden, ich liebe es! *anschmieg*
Ich freu mich noch auf viel mehr von dir! <33
Von: Arcturus
2018-12-22T19:39:43+00:00 22.12.2018 20:39
Aww, das war niedlich.
 
Aber hey, sag mal, gehört diese Fic nicht auch zu diesem Irrgarten-Universum, zu dem Idris bereits geschrieben hat? Die Namen kommen mir so bekannt vor. ö_ö
Antwort von:  Alba
22.12.2018 21:36
Hey, ja, tut sie :) Es ist ein Gemeinschaftsprojekt.
Antwort von: Arcturus
22.12.2018 21:37
Ah, cool. Dann hab ich die Namen doch richtig wiedererkannt. :D
Ich hoffe, dass wir davon noch viele Geschichten zu sehen bekommen werden. :3


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