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Schwarz-Weiße Weihnacht

von

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22.Dezember

„Ich geh nochmal raus“, verkündete Schuldig und wartete keine Antwort ab. Er hätte vermutlich auch keine bekommen. Nagi saß schon seit Stunden vor seinem Computer, wo er angeblich arbeitete. Schuldig hingegen wusste, dass er heimlich mit irgendjemand chattete. Eigentlich hätte er das Crawford melden müssen, aber er genoss es lieber noch ein bisschen, wie Nagi jedes Mal zusammenzuckte, wenn Schuldig unter einem Vorwand sein Zimmer betrat. Wenn die Zeit reif war, würde er den Zwerg damit konfrontieren, aber heute war er in großzügiger Stimmung. Der Big Boss selbst hatte sich ebenfalls seit einer gefühlten Ewigkeit hinter seiner Arbeit verschanzt und Farfarello...ja, wo war eigentlich Farfarello?

 

Schuldig schnaubte. Also durfte er mal wieder los, um den irren Iren einzufangen. Crawford hätte wenigsten den Anstand haben können, ihn darum zu bitten. Aber er wollte sich nicht beschweren. Immerhin kam er so noch einmal aus der engen Wohnung heraus, die Crawford ihnen besorgt hatte.

 

Der Telepath trat vor die Tür und atmete tief ein. Die kalte Luft stach in seinen Lungen, aber vielleicht lag das auch an den beigemischten Aromen, die seine Geruchsnerven beleidigten. Müll, Unrat, Rauch und der Geruch schmieriger Garküchen, die sich in schmuddeligen Ecken drängten und die hungrigen Vorbeieilenden mit billigen Mahlzeit anlocken wollten. Dazwischen mischte sich je nachdem, wie nahe man ihnen kam, der Körpergeruch derjenigen, die hier auf den Straßen unterwegs waren. Das Viertel war weit entfernt von den Hochglanzprospekten, die man in den Reisebüros vorgesetzt bekam, aber Schuldig gefiel es. Es machte ihn wieder mehr zu dem, was er als sein eigentliches Selbst verstand. Außerdem würde es ihm hier mit Sicherheit nicht passieren, dass er auf einmal in einem Spielzeugladen stand, um ein Geschenk für eine Tochter zu besorgen, die er gar nicht hatte. Der Mann, von dem dieser Gedanke eigentlich gestammt hatte, hatte sich dann dafür entschieden, statt des geplanten blinkenden Plüscheinhorns eine Horrorclown-Maske zu erstehen. Schuldig hatte ihm viel Glück für die bevorstehende Scheidung gewünscht und den Laden mit einem zufriedenen Grinsen wieder verlassen.

 

Jetzt jedoch lenkte er seine Schritte tief hinein in das Viertel, indem die weniger Privilegierten hausten. Die Luft schmeckte nach abgestandenen Träumen, mühsam unterdrückter Gewalt und billigem Alkohol. Genau die richtige Mischung, die Schuldig zu genießen gedachte, wenn er erst Farfarello gefunden hatte. Das wiederum sollte nicht schwer werden. Er kannte seine Teamkollegen gut genug, um deren Gedanken selbst aus seiner großen Menschenmenge herauszufiltern. Suchend streckte er seine Gedanken aus und war überrascht, den Iren ganz in seiner Nähe wahrzunehmen. Er schien guter Stimmung zu sein.

 

'Hey, mein Freund, was treibt dich zu so später Stunde noch nach draußen?'

Komm her und sieh es dir an', war die ein wenig rätselhafte Antwort. Schuldig versuchte, noch mehr zu erfahren, aber Farfarello war bereits wieder so versunken in das, was er tat, dass sich kein klarer Gedanken erfassen ließ. Schuldig klappte den Kragen seines Mantels nach oben, steckte die Hände in die Taschen und ging mit langen Schritten in die Richtung, aus der er Farfarellos Gedanken wahrgenommen hatte.

 

Seine Beine trugen ihn in eine der vielen, engen Gassen, die von der nur leidlich beleuchteten Hauptstraße abzweigten. Unter einem Gewirr aus Treppen, Wäscheleinen und Stromkabeln hindurch drang Schuldig tief in das Labyrinth ein, das die hier Ansässigen ihr Zuhause nannten. Magere Katzen fauchten ihn von den Deckeln überquellender Mülltonnen aus an und irgendwo konnte er auch einige Ratte quieken hören. Nein, schön war das Viertel wirklich nicht. Aber wie eine billige Hure öffnete es seine Arme für alle, egal woher sie kamen und was sie hier wollten. Eine willige Schlampe, bereit sich für denjenigen auf den Rücken zu legen, der nur mit ein paar Scheinen vor ihrer Nase herumwedelte. Die Assoziation ließ Schuldig darüber nachdenken, sich später am Abend noch Gesellschaft zu besorgen. Vielleicht fand er eine, die einigermaßen ansehnlich war. Zunächst einmal galt es jedoch, Farfarello wieder nach Hause zu bringen.

 

Er bog um eine Ecke und wusste, dass er am richtige Ort war. Der kalte, klare Geist des einäugigen Verrückten bohrte sich wie ein Skalpell in Schuldigs Wahrnehmung und er musste unwillkürlich lächeln. Anscheinend war Farfarello nicht nur in guter Stimmung, sondern hatte zudem auch noch ein Opfer gefunden, das er quälen konnte. Der Hauch eines unterdrückten Schluchzens wehte durch die dunkle Gasse, in der Schuldig seinen Kollegen jetzt endlich entdeckte. Der ähnelte mehr denn je einem Geist mit der bleichen Haut und den hellen Haaren, die im Dunkeln zu leuchten schienen. Als er den Telepathen sah, verzog er die schmalen Lippen zu einem feinen Lächeln.

„Ich wusste, dass du kommen würdest.“

Schuldig erwiderte die Begrüßung mit einer leichten Verbeugung. „Du weißt, ich bin niemand, der enttäuscht. Also schieß los. Was hast du für mich?“

Farfarellos eines Auge leuchtete auf. „Eine Überraschung. Schließ deine Augen.“

Schuldig hob eine Augenbraue. „Im Ernst jetzt? Ich meine, für wie alt hältst du mich? Fünf?“

„Vertrau mir, du wirst es nicht bereuen.“

 

Farfarello zu vertrauen, war in etwa so ratsam, wie seinen Finger in einen elektrischen Bleistiftanspitzer zu stecken. Trotzdem tat Schuldig, wie ihm geheißen wurde. Er fühlte, wie der Ire näher kam und eine kühle Hand die seine nahm. Er wurde ein Stück weiter in die Gasse geführt und das Drängen eines verzweifelten Geistes wurde stärker. Den Geräuschen nach zu urteilen eine Frau. Was hatte Farfarello mit ihr angestellt? Schuldig fühlte eine unbestimmte Vorfreude in sich aufsteigen. Das hier war aufregender, als er angenommen hatte.

Farfarello gebot ihn stehen zubleiben und entfernte sich wieder. Schuldig hörte ihn irgendwo herumrumoren, dann fiel plötzlich Licht auf seine geschlossenen Lider.

 

„Augen auf!“, raunte Farfarello neben ihm und Schuldig zögerte nicht, dem Befehl nachzukommen.

Der Anblick, der sich ihm bot, war bizarr. Der irre Ire hatte überall zwischen den Häusern bunte Lichterketten gespannt. Farbige Glühbirnchen verschiedener Größe warfen ein Gewirr aus farbigem Licht und Schatten auf die Gestalt, die sich inmitten der Lichterketten befand, von den leuchtenden Schnüren gefesselt wie eine Fliege in einem riesigen Spinnennetz. Die üppige Blondine hatte Klebeband über ihrem Mund und sah ihn aus riesigen, mascaraverschmierten Augen an. Ihre Kleidung wies Spuren von Farfarellos Waffen auf und in ihrem Gesicht konnte Schuldig einen frischen Bluterguss erkennen. Anscheinend war die Gute nicht ganz freiwillig hier erschienen. Als sie Schuldig sah, versuchte sie um Hilfe zu rufen, doch das Klebeband hinderte sie zuverlässig daran. So verhallten ihre Schreie ungehört und nur Schuldig vernahm, wie ihre rasenden Gedanken verzweifelt nach einer Möglichkeit zur Flucht suchten und sich gleichzeitig die schlimmsten Dinge ausmalten, die die beiden Männer mit ihr anstellen würden. Unwillkürlich musste er lächeln. Er warf Farfarello einen anerkennenden Blick zu.

„Ein Kunstwerk, würde ich meinen. Wie lange hast du dafür gebraucht?“

Der Ire zuckte mit den Schultern: „Eine Weile. Die Lichterketten zu bekommen war am schwersten.“

Schuldig lachte auf und ging ein wenig näher an die Gefangene heran, die daraufhin versuchte, sich aus den Lichterketten zu befreien. Ein sinnloses Unterfangen. Farfarello war sorgfältig, wenn es darum ging, jemanden zu fesseln. Vielleicht aus persönlicher Erfahrung heraus.

„Na, meine Schöne“, gurrte Schuldig und beugte sich ein wenig zu der zitternden Frau herab. „Da hast du aber einen ganz schlechten Abend erwischt. Ich...“

 

Weiter kam er nicht, denn plötzlich hörte er ein Geräusch hinter sich, dass er nur zu gut kannte. Im nächsten Augenblick sackte die blonde Frau mit einem Loch in ihrer Stirn vor ihm zusammen, den starren Blick ihrer toten Augen immer noch auf Schuldig gerichtet. Er fuhr herum und sah gerade noch, wie Crawford seine Waffe zurück in das Schulterholster steckte. Er strich seinen dunklen Anzug glatt und warf einen missbilligenden Blick auf Farfarello.

„Ich dachte, ich hatte mich klar ausgedrückt. Ich wünsche keinerlei Aufsehen für die nächsten fünf Tage.“

Farfarello antwortete nicht, sondern begann lediglich, sich seine Fingernägel mit einem schmalen Dolch zu säubern. Wenn er so weiter machte, würde er heute Nacht wieder in der Zwangsjacke landen. Schuldig fühlte sich seltsamerweise verpflichtet, das zu verhindern.

„Ach komm schon, Crawford. Gönn ihm doch den Spaß. Oder meinst du, es wird sie jemand vermissen?“

Das Orakel antwortete nicht, sondern sah ihn nur gerade heraus an. Schuldig schnaufte.

„Also schön, es war eine dumme Idee. Aber musstest du sie deswegen gleich umbringen? Wir hätten erst noch ein bisschen Spaß mit ihr haben können.“

„Und den zwei Polizisten in die Arme laufen, die in zehn Minuten hier auftauchen werden. Glaub mir, die Nachbarschaft ist nicht die beste, aber auch hier schätzt man es nicht, Leichen auf seiner Türschwelle zu finden.“

 

Schuldig murmelte etwas, das im besten Fall eine unfreundliche Antwort war. Er warf die Hände in die Luft und sah Crawford fragend an.

„Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend? Ich meine, wenn du schon mal in Zivil auf die Straße gehst, sollten wir die Gelegenheit nutzen, und etwas trinken gehen. Wir waren ewig nicht mehr aus.“

Der Amerikaner schob die Brille auf dem Nasenrücken nach oben. „Also...“

„Das ist eine gute Idee“, schnitt ihm Farfarello das Wort ab. „Ich habe die Straße hinunter einen Pub entdeckt. Es gibt sogar einen Stechpalmenkranz an der Tür.“

Schuldig konnte förmlich hören, wie Crawford zu einer geharnischten Antwort ansetzte, die ihnen verbot, das Wort Weihnachten auch nur zu denken, aber dann schüttelte er lediglich den Kopf.

„Meinetwegen. Aber räumt hier vorher auf. Wir wollen ja niemanden auf dumme Gedanken bringen.“

 

Während Farfarello sich sofort an die Arbeit machte, warf Schuldig seinem Boss einen langen Blick zu. Dessen Gesichtsausdruck verriet zwar nichts, aber Schuldig war sich sicher, dass irgendwo da drinnen vielleicht doch ein winzig kleiner Funken Weihnachtsstimmung vorhanden war. Andernfalls wären sie jetzt schon wieder auf dem Rückweg in die enge Wohnung gewesen.

Der Ire hatte angefangen, vor sich hinzusingen und seine raue Stimme raspelte eine weihnachtliche Ballade in die dunkle Nacht hinaus. Nachdem er eine Weile dem Text gelauscht hatte, fiel Schuldig ein und übernahm die zweite Stimme. Er ignorierte Crawfords Kommentar über seine sängerischen Fähigkeiten und sang sogar noch ein wenig lauter, damit der Amerikaner auch verstand, dass die in dem Lied gerade vorkommenden Beleidigungen durchaus an ihn gerichtet waren. Er half Farfarello, die Leiche in einer Mülltonne verschwinden zu lassen und als sie fertig waren, legte er in einer vertrauten Geste den Arm um die Schultern seines irischen Kollegen. Gemeinsam gingen sie in Richtung Hauptstraße, während über ihnen der wieder einsetzende Schneefall den dunklen Nachthimmel mit kleinen, weißen Flöckchen verzierte.

 

 

Crawford folgte den beiden mit einigem Abstand und konnte sich ein schmales Lächeln nicht verkneifen. Das hier war besser gelaufen, als er erwartet hatte. Hinter ihm beleuchteten die immer noch bunt vor sich hin blinkenden Lichterketten die schmale Gasse, in der bald nichts mehr von der stattgefundenen Gewalttat zeugen würde, die nun endlich das Opfer gefordert hatte, vor dem er sich schon die ganze Adventszeit lang in acht genommen hatte. Der Schnee fiel inzwischen in dicken, samtigen Flocken und würde bald den Boden und die kleine, verräterische Blutlache bedecken, die sie zurückgelassen hatten. Man würde den Körper der Frau erst am nächsten Morgen finden und annehmen, dass es sich um ein Eifersuchtsdrama gehandelt hatte. Er würde dafür sorgen, dass die entsprechenden Berichte davon sprachen. Und wenn er es jetzt noch schaffte, Schuldig heute Abend davon abzuhalten, sich allzu sehr zu betrinken, dann hatte der Weihnachts-Wahnsinn bei Schwarz für dieses Jahr aller Voraussicht nach ein Ende. Endlich.

 

 

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Prompt: kreative Platzierung von Lichterketten
Musik: „Fairytale of New York“ - The Pogues https://www.youtube.com/watch?v=j9jbdgZidu8

Ich hab mir erlesen, dass dieses Lied DAS Weihnachtslied in Irland ist. Und irgendwie fand ich es ganz passend, auch wenn ich es vorher nicht kannte. Ach und übrigens: Happy Birthdy to me! ^_~ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2018-12-22T07:11:54+00:00 22.12.2018 08:11
Geniale Umsetzung des Prompts! xD Mein Herz gehört wie immer Spielverderber-Brad :D Ich liebe btw die Schilderung des Viertels - ich hatte sofort die Bilder im Kopf (aber Gott sei dank nicht den Geruch in der Nase xD), du hast das richtig atmosphärisch beschrieben 8)
Antwort von:  Maginisha
22.12.2018 09:26
Hihi, ja, ich liebe Ortsbeschreibungen. Passt natürlich nicht immer, aber wenn, dann knie ich mich richtig rein. ^_~

Zwei Türchen noch!


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