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Apfelernte

von

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Die Äpfel werden hier geerntet, wenn das Jahr schon fortgeschritten ist. Es ist eine späte Sorte.

Wenn die letzten Früchte von den Bäumen geholt worden sind, die letzten Bäume abgeerntet sind ist es bereits Herbst. Der Nebel zieht in Schwaden durch den Obsthain. Welkes Laub liegt auf dem Boden, feucht von Regen und Dunst. Es riecht nach nach Herbst und Kartoffelfeuern. Die ersten Nachtfröste sind nicht mehr weit.

Es ist eine Zeit, in der die Menschen in ihren gemütlichen Häusern sitzen und diesen gedeckten Apfelkuchen essen, den sie so lieben. Sie haben die besten Äpfel verkauft. Sie haben gebacken. Mus gekocht, Kompott eingelegt.

Haben Apfelwein gekeltert und Apfelgeist gebrannt.

Sie sitzen in ihren Häuser in dieser ländlichen Umgebung. Obsthaine, Maisfelder, Kuhweiden. Der nächste Nachbar ein paar Meilen entfernt. Oder auch nur ein paar Meter, aber dann kennt man sie alle, die in der Straße wohnen – Kleinstadt eben.

So leben die Menschen hier und es geht ihnen gut.

Solange sie ...
 

Diese kühle Zeit erinnert mich an das Land, aus dem ich komme. Das Land, weit von hier im Osten. Eine nordische, karge Welt, in der ich damals, vor Jahrhunderten, Jahrtausenden, zu einer Zeit, an die ich mich kaum entsinne, erwacht bin.

Ich erwachte in einem Baum, der zu jener Zeit in voller Pracht stand, im Frühjahr kräftig blühte und im Spätsommer, im frühen Herbst voller Äpfel war.

Ich erwachte, weil die Menschen jene Früchte, die damals noch anders waren als die Äpfel heute, härter, kleiner, sauerer, bitterer, ernteten und wertschätzten.

Ich erwachte, als die Menschen begannen, den Baum zu verehren.

Der Baum war der größte und prachtvollste in jenem Obsthain.

Ich erwachte in ihm und im Laufe der Zeit verehrten die Menschen nicht nur den Baum. Sie verehrten mich und sie nannten mich einen Gott.
 

Im Laufe der Jahrhunderte habe ich viele Namen gehabt. Viele Sprachen wurden von meinen Anbetern gesprochen und nicht immer waren die Bezeichnungen freundlich. Nicht immer nannte man mich Gott. Man nannte mich einen Geist, eine finstere Macht, einen Teufel, das Böse. Auch das Wort für Gott war nicht immer eine wohlmeinende Anrede.

Und doch. Selbst als sie mich am meisten fürchteten, verehrten sie mich und opferten mir.
 

Ich habe den Menschen immer geholfen.

Ich war nie ein großer Gott, war nie mächtig. Ich war immer der Gott meines Obsthaines. Meine Kraft erstreckte sich auf ein begrenztes Gebiet. Ich half den Menschen, die in meinem Hain die Ernte einholten.

Ich sorgte dafür, dass die Pflanzen, die sie anbauten, zuerst mit primitiven Hacken und Grabstöcken, über die Jahrhunderte immer geschickter und technisierter, wuchsen und reiche Ernten boten. Dass ihr Vieh prächtig auf der Weide stand und von Seuchen verschont blieb. Dass ihre Kinder zu starken Männern und schönen Frauen heranwuchsen. Dass die Männer gesund und kräftig waren, die Frauen gebärfreudig. Kurz, dass alles gut gedieh.

Dafür sorgte ich, und als Gegenleistung erwartete ich ihre Verehrung und … Opfer.
 

Zuerst opferten sie mir Obst aus meinem eigenen Hain.

Später dann Feldfrüchte.

Die Erzeugnisse ihrer Tiere. Käse, Milch, Wolle.

Lämmer.

Schafe und Ziegen, die sie für mich ausbluten ließen.

Und dann, als ihr Wohlstand wuchs und auch ihr Wunsch nach Besitz, da gab es die ersten Menschenopfer.
 

Und dann gab es kein zurück. Nachdem ich Menschenblut gekostet hatte, gab es nichts anderes mehr. Keine sauren Äpfel, kein tranig schmeckendes Hammelfleisch.

Und so ist es nun seit ewigen Zeiten. Seit Jahrhunderten.
 

Es sind immer ein Mann und eine Frau. Es gab Zeiten, da waren es der beste Krieger und die schönste Frau.

Es gab Zeiten, da waren es ein Jüngling und eine Jungfrau.

Nun, auf diese Feinheiten kommt es mir nicht an, das sind Dinge, die die Menschen selber sich ausdenken. Sie legen Wert darauf, nicht ich.

Ein Mann und eine Frau müssen es sein.
 

Im alten Landstrich, in jenem Land im Hohen Norden, da haben sie sich oft freiwillig zur Verfügung gestellt. Es war eine Ehre für sie, und ihre Familien waren hoch angesehen ob des Opfers.

Sie tanzten und sangen, wurden bekränzt, bekamen ein köstliches Mal und den besten Wein.

Erst dann, wenn der Abend kam, dann blieben sie allein.

Sie hatten Angst, und doch waren sie voller Mut. Sie wussten, dass man ihre Tapferkeit preisen würde. Aber noch viel wichtiger war ihnen, dass sie es für ihre Leute taten. Für ihr Volk. Dass sie ihm volle Scheunen und Truhen bescherten, in dem sie mich, den Gott des Obsthaines, besänftigten und meine Gunst auf ihren Taten liegen würde. Mein Segen auf all ihren Feldern und Weiden.

Man würde nicht hungern müssen um ihrer Tat willen, da ich, der Gott des Haines, ihnen Wohlstand und Glück schenken würde.
 

Es waren gute Zeiten für mich. Fette Zeiten, frohe Zeiten.

Es dauerte viele Jahrhunderte hindurch, doch irgendwann änderten sich die Dinge.

Die Menschen wurden selbstbewusster und begannen, mehr und mehr an ihre eigene Kraft zu glauben und sich auf sie zu verlassen. Und mit dem erstarkenden Glauben an sich selbst verblasste der Glaube an die Götter.

An mich.
 

Die Schere zwischen den armen und reichen klaffte immer mehr auseinander und die Menschen begannen, sich aufzulehnen, gegen ein Leben in Unfreiheit, ein Leben, in dem man arm blieb, wenn man arm war und keine Chance hatte, das zu ändern. Wo man abhängig blieb, wenn man abhängig war. Wo man gehorchen musste und den Nacken beugen vor der Obrigkeit und trotz aller Hände Arbeit kaum zu beißen hatte, wenn Zeiten der Not kamen.

Auch ich konnte daran nichts tun, denn ich kann die Ernte reich machen und die Kühe trächtig. Doch wenn die Menschen diesen Reichtum nicht verteilen, dann wird es Hungerleider geben und vollgefressene Pfeffersäcke, und das liegt außerhalb meiner Macht.
 

Die Menschen suchten die Freiheit in Übersee.

Und als die ersten auf ein Schiff stiegen, das sie in die Neue Welt bringen sollte, da fuhr in ihrem Gepäck ein Spross des Apfelbaumes mit.

Meines Apfelbaumes.



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