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Die Leute von Millers Landing

von

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1. Hitze

Teil eins: Jungfrauen und Huren
 

Sheriff Hubert Snyder saß am Schreibtisch seines Departments und starrte finster auf den jungen Burschen ihm gegenüber. Er wischte sich mit einem großen, nicht mehr ganz sauberen Taschentuch über die Stirnglatze, während er die üppigen schwarzen Locken des Jungen betrachtete, die diesem allmählich bis über die Augen wuchsen. `Da wäre wohl mal wieder ein Besuch beim Friseur fällig´ dachte er verdrießlich.
 

Jimmy Chester war seit einer Woche sein neuer Deputy. Snyders ehemaliger Mitarbeiter Larson hatte ihn zu seinem Bedauern im vergangenen Jahr verlassen, um sich mit seiner jungen Frau an einem anderen Ort niederzulassen.

Larson war ein Typ nach Snyders Geschmack gewesen; ein rauer, beeindruckender Kerl mit traditionellen Werten, wie er selbst. Aber nun saß dieser Chester vor ihm, mit seinen siebenundzwanzig Jahren immer noch grün hinter den Ohren und von nichts eine Ahnung. Wenn es nach Snyder gegangen wäre, hätte dieses hübsche, junge Bengelchen diesen Posten niemals erhalten, doch Jimmy war nun einmal der Sohn des Bürgermeisters der Nachbargemeinde Taylorsville. William Chester, der ein wohlhabender, einflussreicher Mann war, hatte das ganze Gewicht seiner Position dafür eingesetzt, seinem Spross diese Position zu verschaffen. Die Entscheidung war an höherer Stelle getroffen worden und der Sheriff hatte sich eben einfach fügen müssen.

Daddy hoffte wohl, dass ein Posten wie dieser aus seinem Jungen einen Mann machen würde. Snyder bezweifelte jedoch, dass dieser Jimmy dafür lange genug durchhalten würde. Vielmehr fürchtete er, dass dieser ihm selbst noch bei mehr als einer Gelegenheit gewaltig auf den Geist gehen würde:

"Du, Junge, warum machst Du nicht mal ´ne Runde im Ort und siehst nach dem Rechten?" brummte Snyder irgendwann übellaunig.
 

Der junge Mann blickte ihn angesichts der Hitze missmutig an, nickte jedoch, erhob sich und verschwand.
 

Snyder war selbst klar, dass eine Streife an diesem Morgen eine sinnlose Übung war, doch er wollte den Jungen für einen Moment los sein und einfach seine Ruhe haben.
 

Es war zehn Uhr an einem Sonntag. Die Straßen waren leergefegt. Trotz der Frühe des Tages brannte die Sonne bereits unerträglich vom Himmel. Die braven Bürger von Millers Landing schwitzten in diesem Moment in der Kirche.

Die weniger braven schwitzten vermutlich gerade in jenem Haus von fragwürdiger Reputation unter der Leitung einer gewissen Kathryn Levroux vor den Toren dieses Städtchens.
 

Snyders Gefühle gegenüber dieser rothaarigen Hexe waren zwiespältig: Unbestritten war sie eine schöne Frau, doch Snyder wusste auch, dass der Teufel gern in aufreizender Form daherkam und diese Person; das war ihm vollkommen klar, besaß weder Moral noch Scham. Der Sheriff konnte sich sehr gut vorstellen, welche Unaussprechlichkeiten sich in ihrem Hause abspielten und wenn es nach ihm und einigen anderen Leuten im Ort ginge, dann gäbe es einen Ort wie diesen in Millers Landing nicht. Doch das Weib hatte einflussreiche Freunde und Kunden, also behielt Snyder das sogenannte „Yasemines“, welches von den meisten Leuten aufgrund seiner Farbe jedoch bloß das „Rote Haus“ genannt wurde, eben genau im Blick und wartete auf seine Chance.

Snyder gefiel es überhaupt nicht, wie hochnäsig sich diese Frau ihm gegenüber bei jeder Begegnung verhielt; so als sei ausgerechnet SIE etwas Besseres als er? Offenbar hatte sie nicht viel Achtung vor seiner Autorität und Stellung.
 

Wäre er ehrlich genug gewesen, dies vor sich selbst zuzugeben, hätte er sich wohl eingestehen müssen, dass die hochgewachsene, schöne, selbstsichere Kathryn Levroux ihn mächtig einschüchterte.

Doch aufrichtige Selbstbetrachtung war eben nicht Snyders Sache.
 

Kathryn lag lächelnd mit geschlossenen Lidern in ihrem Bett. Es war dieser kurze gnädige Moment, in welchem das Gehirn noch nicht wach genug war, um Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Doch als sie die Augen öffnete, fand sie die andere Bettseite leer und schlagartig kehrte die allgegenwärtige, stille Verzweiflung der letzten Jahre zu ihr zurück.

Aufwachmomente wie diesen hatte Kathryn glücklicherweise seit Monaten nicht mehr gehabt, doch der heutige Tag war besonders. Heute jährte sich Elizabeths Todestag zum vierten Mal. Kathryns Augen wurden feucht und der Hals brannte von zurückgehaltenem Schluchzen.
 

In diesem Moment klopfte es an der Tür und Kathryn trocknete sich mit dem Handrücken rasch die Augen, ehe sie hereinbat. Es war Tiny, der seinen schwarzen Kopf durch die Tür steckte:

„Ich habe Tee. Möchtest du?“
 

Sie nickte. Er trat ein, reichte ihr eine dampfende Tasse und nahm auf der leeren Seite des Bettes Platz:

„Du hast geweint! Wird` n schwerer Tag heute, oder?“ stellte er fest und erkundigte sich: „Möchtest du, dass ich Dich begleite?“
 

Sie schüttelte den Kopf:

„Nein, Danke, aber das möchte ich lieber allein tun, “ antwortete sie und ließ ihren Kopf auf seine breite Brust sinken.

Sie strich sanft über die kleine Narbe an seiner Augenbraue und ein winziges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich an die Folgen jenes Kusses erinnerte, durch welchen er sie erhalten hatte.
 

Es war ein seltsamer Zufall gewesen, dass in derselben Nacht zwei Kinder beinahe zur gleichen Zeit auf demselben Anwesen geboren wurden. Das eine von ihnen war Kathryn selbst gewesen, als Tochter des Plantagenbesitzers Pierre Levroux und das andere war Thomas, der von Anfang an von allen bloß Tiny genannt wurde, weil er so schmächtig und klein gewesen war. Dies war schwer zu glauben, wenn man den zwei Meter großen, muskulösen, hundertzwanzig Kilo schweren Mann von heute kannte.
 

Kathryn und Tiny wuchsen auf wie Geschwister, waren unzertrennlich, auch wenn das sowohl ihren, als auch seinen Eltern; wenn auch aus unterschiedlichen Gründen gar nicht gefiel.

Als Tiny und Kathryn dann sechzehn Jahre alt waren, geschah es eines Abends, dass sie einander aus Neugierde küssten. Bedauerlicherweise kam in diesem Moment Kathryns Vater hinzu, welchen bei diesem Anblick das nackte Entsetzen packte. Ihn interessierte nicht, dass dies das erste Mal gewesen war, das so etwas passiert war. Auch nicht, dass eine Wiederholung von keinem der beiden beabsichtigt und das alles ganz harmlos gewesen war. Er nahm eine Reitgerte von der Wand und schlug auf Tiny ein, ohne Rücksicht darauf, wo er ihn traf. So verletzte er ihn auch im Gesicht und spaltete seine linke Braue. Pierre Levroux trieb den Jungen prügelnd vor sich her und jagte Tiny von seinem Land.

Dieser hatte sich daraufhin in den folgenden Wochen in den Sümpfen versteckt, wo er von Kathryn heimlich mit Lebensmitteln versorgt worden war, welche sie für ihn aus der Speisekammer stahl.
 

Die beiden Jugendlichen wussten nicht genau, was sie tun und wie es weitergehen sollte. Pierre Levroux jedoch hatte davon eine genaue Vorstellung; er hatte nämlich entschieden, dass seine Tochter zeitnah standesgemäß verheiratet werden müsse. Den Bräutigam hierfür hatte er auch bereits ausgewählt; es handelte sich um den damals dreißigjährigen Sohn ihres Nachbarn Henry Richaud.

Steward Richaud hatte bereits seit einiger Zeit ein Auge auf das schöne Mädchen aus gutem Hause geworfen und stimmte der Verbindung daher mehr als bereitwillig zu.

Kathryn war sich darüber im Klaren, dass sie ihren Vater, den großen Patriarchen niemals würde umstimmen können. So packte sie eines nachts ein paar Dinge zusammen; Kleidung, Lebensmittel und alles Geld, welches sie im Haus finden konnte und flüchtete mit Tiny in Richtung Norden. Die beiden Kinder hatten sich hierbei recht geschickt angestellt, waren in erster Linie nachts gereist und waren Menschen nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Wenn sie etwas stehlen mussten, so war Kathryn die Diebin, denn ein weißes Mädchen würde man sicherlich nicht gleich hängen; so hofften die beiden jedenfalls!

Sehr bald erkannten die Kinder auch ihr jeweils besonderes Potenzial: Kathryn wurde sich bewusst, dass kaum ein Mann ihr widerstehen konnte und gegebenenfalls auch bezahlen würde, um mit ihr zusammen zu sein und Tiny, der mittlerweile eine beachtliche Kraft und Größe entwickelt hatte, sorgte hierbei für ihre Sicherheit und nötigenfalls auch dafür, dass die Freier am Ende für das bezahlten, was sie erhalten hatten.
 

Zwei Jahre lang waren sie so unterwegs gewesen, ehe sie Millers Landing erreichten.

Warum sie letztlich hier blieben, wusste Kathryn selbst nicht so genau. Vielleicht lag es daran, dass Walter, der ehemalige Besitzer des „Yasemines“ kein übler Kerl gewesen war und ihnen beiden Arbeit und Obdach angeboten hatte, ohne viele Fragen zu stellen; vielleicht aber auch daran, dass Kathryn vom ersten Augenblick an ihr Herz an Elizabeth verloren hatte.
 

„Es wird Zeit!“ sagte sie, aus der Erinnerung zurückkehrend und erhob sich entschlossen vom Bett.

Aus Ihrem Kleiderschrank zog sie das blass rosafarbene, schlichte Sommerkleid, welches Elisabeth immer so gern an ihr gesehen hatte. Heutzutage zog Kathryn es kaum noch an, doch nun schien der richtige Tag dafür zu sein.

Bevor sie sich auf den Weg machte, hielt sie noch einmal im Garten, um die vier schönsten Rosen vom Strauch zu schneiden. Trotz der Dürre hatte Kathryn den Busch für diesen Anlass weiterhin gepflegt und mit Wasser versorgt

`Eine für jedes Jahr ohne Dich!´ sprach sie innerlich zu sich selbst und biss die Zähne zusammen.
 

Deputy Chester hatte nicht wirklich etwas dagegen, das Sheriffsdepartment zu verlassen und so den misstrauischen Blicken von Sheriff Snyder für eine Weile zu entgehen. Der verschwitzte, übellaunige, alte Kerl, an den sein Vater ihn da gekettet hatte, ob er es wollte oder nicht, behagte ihm ganz du gar nicht. Zwar hatte der Deputy bei dieser Hitze wenig Lust auf einen Streifgang, aber immerhin konnte er sich auf diese Weise einmal einen Überblick über seinen neuen Heimatort verschaffen.

Ziellos streifte er durch die staubigen Straßen, vorbei an den Wohnhäusern und den geschlossenen Geschäften. Der Ort war nicht sehr groß und schon bald hatte er die Stadtgrenze erreicht. Von hier an gab es nur noch hier und da eine Farm und außerdem die beiden hellrot gestrichenen Häuser, welche er in einer halben Meile Entfernung am Horizont ausmachen konnte. Diese hielt er für das berüchtigte Freudenhaus, über welches er in Millers Landing schon so manches hatte munkeln hören.
 

Er gestand sich nicht ein, dass es Neugierde war, welche ihn vage in diese Richtung trieb.

Doch je näher er den Gebäuden kam, desto unbehaglicher fühlte er sich. Er wollte nicht gesehen werden, wie er neugierig hier herumlungerte, also änderte er seine Richtung und ließ die Gebäude links liegen.
 

Plötzlich entdeckte er die Gestalt einer Frau in einem rosafarbenen Sommerkleid, welche in einiger Entfernung vor ihm herlief. Er bewunderte die elegante Erscheinung und die roten Locken, welche in der Sonne beinahe golden schimmerten. James hätte nicht sagen können, warum er es tat, doch er folgte der Frau und war dabei darauf bedacht, von ihr nicht entdeckt zu werden.

Zwischen einigen Bäumen machte die Fremde plötzlich Halt und kniete nieder. James versteckte sich hinter einer großen, knorrigen Eiche und beobachtete sie von dort aus.

Erstaunt erkannte er, dass es offensichtlich ein Grab war, an welchem die Frau nun saß. Sie befühlte die trockene Erde unter sich und den Grabstein. Dann legte sie sich der Länge nach auf die einsame Grabstätte und wandte James dabei erstmals den Kopf zu. Ihre Augen waren geschlossen, so dass sie ihn nicht sehen konnte. Von hinten hatte James vermutet, die Frau sei in seinem Alter, doch nun erkannte er, dass sie etwas älter sein musste, auch wenn er nicht genau hätte sagen können, wie alt. Er war ergriffen von der Schönheit der trauernden Fremden.

Er starrte sie eine Weile an, um sich jeden Zug des Gesichts einzuprägen, als ein plötzliches Knacken in den trockenen Bäumen die Frau aufschrecken ließ.
 

James erschrak auch und versteckte sich atemlos wieder hinter seinem Stamm. Dabei kam er sich extrem töricht vor, denn schließlich hatte er doch jedes Recht, hier zu sein; war er doch ein Gesetzeshüter dieser Stadt und hatte nichts angestellt, was rechtfertigte, dass sein Herz in diesem Moment wie wild gegen seine Rippen pochte, vor lauter Angst entdeckt zu werden. Schließlich hörte er, wie die Frau sich erhob und den Rückweg antrat. Er ging um den Baum herum, um in Deckung zu bleiben und blickte ihr hinterher.
 

Als sie schließlich fort war, ging James hinüber zur Grabstelle, auf der die Fremde vier Rosen zurückgelassen hatte. Ein Begräbnis in nicht geweihter Erde konnte nur eins bedeutet; nämlich dass es sich um einen Sünder handeln musste, der hier beerdigt worden war; ein Dieb oder Mörder vielleicht?

James war überrascht, als er auf dem Stein den Namen einer Frau las.
 

Als Kathryn zurückkehrte, saßen die Frauen lachend und schwatzend rund um den großen Tisch in der Küche beim Frühstück. Es duftete nach Kaffee und dem Rührei mit Speck, welches Tiny gerade am Herd in einer großen Pfanne zubereitete. Molly, eine kleine stämmige Irin mit einem Gesicht voller Sommersprossen und Lachfältchen, brachte gerade die schmale und bleiche Regine, die kleine, ernste Shy und die Zwillinge Melody und Margarete zum Lachen, indem sie die Laute eines Freiers beim Liebesspiel nachahmte. Auf dem Boden und unter dem Tisch spielten die Kinder von Regine und Molly mit dem guten Dutzend Katzen und den beiden Hunden, die nach und nach in diesem Haushalt Aufnahme gefunden hatten.
 

Kathryn hielt im Türrahmen inne und betrachtete lächelnd diese ungewöhnliche Mischung aus Harmonie und Chaos und war einmal mehr dankbar für diese Familie, welche sie so unerwartet an diesem eigenartigen Ort gefunden hatte. Als Margarete und Melody sie erblickten, erhoben sich die beiden schlanken, schönen, beinahe identisch aussehenden, schwarzen Frauen, schritten elegant zu ihr hinüber, stellten sich an je eine ihrer Seiten und küssten sie auf die Wangen; das alles in perfekter Synchronizität. Einmal mehr erstaunte Kathryn die vollkommene Einheit, welche diese beiden Frauen bildeten.

Mittlerweile konnte sie die Zwei leicht auseinanderhalten, sowohl anhand geringer äußerer Unterschiede, wie das dunklere Braun der Haut von Margarete und die etwas markanteren Gesichtszüge von Melody, als auch die inneren. Margarete war sanft, mütterlich und humorvoll, Melody hingegen vorsichtig, misstrauisch, aber auch beschützend und stark für die Ihren. Und trotz der Unterschiede geschah etwas, wenn die Zwillinge gemeinsam auftraten, das sie wie Eins erscheinen ließ:

„Komm, setz` dich zu uns und iss was, Mädchen“, sagte Melody in dem wunderbaren Südstaaten-Sing-Sang, den Kathryn aus ihrer Kindheit kannte und liebte.

Kaum dass sie sich am Tisch niedergelassen hatte, stellte Tiny sofort einen dampfenden Teller vor sie hin und legte ihr liebevoll die großen, warmen Hände auf die Schultern. Sie begann ihr Frühstück, dankbar dass keiner sie fragte, wie ihr Morgen bisher verlaufen sei.



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