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Zwei Seiten einer Medaille

von

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Niemand glaubt dir.

Alle lachen nur.

Es passt nicht!

Es passt einfach nicht!

Sagen sie alle.

Lass ihn fallen.

Lass ihn gehen.

Es geht nicht.

Denn ich sehe ihn an.

Und ich weiß.

Es passt!
 

Ich sitze über meinen Büchern gebeugt und versuche den Stoff der letzten Tage zu verinnerlichen. Es ist wichtig, dass ich gute Noten schreibe. Ich brauch sie. Für mich. Für meine Lehrer. Für meinen Vater. Doch es will nicht.
 

Mit einem schweren Seufzen schiebe ich die Blätter von mir und starre auf den schwarzen Bildschirm meines Computers. Vielleicht sollte ich mich ein wenig ablenken. Nur für ein paar Minuten. Den Kopf frei bekommen. Danach wird das Lernen bestimmt auch wieder besser gehen.
 

Kurzerhand drücke ich den Knopf und lasse den Rechner starten. Ich höre das leise Surren des Lüfters und muss dabei kurz lächeln. Es hat eine seltsam beruhigende Wirkung auf mich und erinnert mich an so manch aufregende Nacht. Ob es diesen Ort noch gibt? Ob es ihn dort noch gibt?
 

Ich habe nie erfahren, wer er wirklich ist. Aber dennoch war es eine Zeit, die ich nicht missen will. Etwas, was ich heute dennoch gerne leugne. Etwas, was existierte, als die mein Leben noch in Ordnung war und nicht nur aus Büchern bestand.

Ich schüttel den Kopf und schaue auf das Katzenbild, das meinen Desktop ziert. Es sind viele kleine Kätzchen, die in der Wiese toben. Immer wenn ich es sehe, muss ich leicht lächeln. Der Mauszeiger wandert auf den Internetbrowser und öffnet ihn. Nur zwei schnelle Klicks und schon ist mir die unendliche Weite des World Wide Webs zugänglich.
 

Doch dann starre ich auf die weiße Seite, die nur mit dem Schriftzug von Boogle verziert ist. Was will ich? Womit soll ich mit ablenken? Gibt es da etwas, was ich wirklich tun möchte? Oder sollte ich nicht lieber wieder lernen?
 

Mein Blick wandert zu den Schulbüchern, doch alleine bei ihrem Anblick bekomme ich Kopfschmerzen. Nein, da geht gar nichts mehr heute. Gut, das morgen kein Test ansteht. So wird es nicht gleich auffallen, dass ich mein Pensum nicht geschafft habe. Aber was nun?
 

Ich seufze und lege meine Finger über die Tastatur. Fühle das kalte Plastik und die kleinen Blindenzeichen, die jedem verdeutlichen sollen, wo sie sich gerade befinden. Es fühlt sich auf eine komische Art und Weise beruhigend an. Ich habe den Rechner schon lange nicht mehr genutzt. Nicht so wie früher. Wie damals.
 

Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich an diese Zeit zurückdenke. Eine Zeit, in der mein Vater noch zufrieden war mit seinem Leben und ich somit auch. Wo alles noch ruhig war und ich meine Freizeit so gestalten konnte, wie ich wollte. Eine Zeit, in der ich noch träumte und nicht nur funktionierte.
 

Ich schüttel den Kopf und erneut sind dort die Tasten, die ich erfühle, bevor ich schon den Namen eintippe, der mich seit ich an diese Zeit denke, nicht mehr los lässt: Music Heroes.

Vor drei Jahren:
 

Music Heroes. Das Spiel, der Second Life Spiele. Komm in die Welt. Schlüpfe in das Leben eines Musikers. Spiele dein Lieblingsinstrument und gründe mit anderen Begeisterten deine eigene Band. Stürmt die Charts und erlebt den Ruhm, den ihr euch schon immer erträumt habt.
 

Mir war langweilig. Ich wollte etwas Neues ausprobieren und erneut flackerte diese Werbung über meinen Bildschirm, weil meine Schwester es mal ein wenig ausprobiert hatte. Sie hatte mir damals den Grund dafür genannt, aber ich hatte ihn wieder vergessen. Es war für mich nicht wichtig, warum sie etwas tat. Eigentlich nervte sie mich eh nur.
 

Ein Schnauben entwich mir und ich wollte gerade die Werbung wegklicken, als ich stoppte. Erneut lief sie ab. Ich las alles noch einmal, doch dieses Mal erreichten mich die Worte. Wie oft hatte ich mir schon gewünscht Schlagzeug zu spielen, aber ich durfte nicht. Was ist aber, wenn ich das dort konnte? Vielleicht würde es ja wirklich Spaß machen und wenn das Spiel wirklich doof war, wie meine Schwester behauptete, dann konnte ich immer noch damit aufhören. Aber meistens stimmte das sowieso nicht.
 

Kurzerhand klickte ich darauf und begann mir einen Avatar zu erstellen. Ich ließ ihn mir ziemlich ähnlich werden. Nur ein wenig längere Haare. Ja, das wäre schon cool. Mein Vater war ja immer dagegen, aber jetzt konnte er nichts sagen.
 

Ein breites Grinsen legte ich auf meine Lippen, weil es sich für mich wie ein kleiner Sieg anfühlte. Es war perfekt. Diese kleine Welt war hell und freundlich. Um mich herum wuselten lauter kleine Avatare und ich spürte, wie ich mich verloren fühlte.
 

Wo blieb das Tutorial? Wer konnte mir sagen, wo ich hin musste? Was musste ich jetzt tun? Es vergingen Minuten und es passierte nichts. Keiner half mir und ich starrte nur auf meinen kleinen Avatar, der fröhlich auf und ab wippte. War das wirklich der Ernst dieses Spieles? Echt jetzt? Kein Wunder, dass es meine Schwester blöd fand! Scheinbar hatte sie direkt mal Recht!
 

Gerade wollte ich mich ausloggen und es ad Acta legen, da blieb neben mir ein braunhaariger Junge stehen und es öffnete sich ein Chat-Fenster: „Du wirkst verloren. Kann es sein, dass du neu bist?“
 

Ich traute meinen Augen nicht. Auch sein Avatar hüpfte mit einem grenzdebilen Dauergrinsen auf und ab, während sich schon eine neue Nachricht ankündigte. „Hallo? Bist du vielleicht afk?“
 

Afk? Was bedeutet denn das? Auch für Kino? Abseits für Kicker? Allein für Kinder? Irgendwie ergaben diese Übersetzungen alle keinen Sinn, wodurch ich mir einen Ruck gab, um ihm schließlich zu antworten.
 

„Ähm, keine Ahnung, was das bedeutet. Aber ja, ich bin neu hier. Ich warte noch auf mein Tutorial.“
 

Sein Avatar begann plötzlich zu lachen. Wie war denn das möglich? Sofort begann ich den Bildschirm abzusuchen, doch bevor ich zu einem Ergebnis kam, erreichte mich eine neue Nachricht: „Das gibt es hier nicht. Hallo? Fürs Leben gibt es auch keine Gebrauchsanweisung. Wie ich sehe, hast du als Lieblingsinstrument das Schlagzeug angegeben. Das trifft sich echt gut! Wir suchen noch einen Drummer! Magst mitkommen? Dann stell ich dir die anderen vor! Bewegen tust du dich mit den Pfeiltasten auf deiner Tastatur. Neben dem Nummernblock.“
 

Also jetzt kam ich mir wirklich selten dämlich vor. Natürlich wusste ich, wo die Pfeiltasten waren und am Liebsten hätte ich ihn geantwortet und wollte gerade tippen, als sein Avatar schon davon eilte. Ich kam gar nicht dazu, sondern stürzte ihm sofort hinterher. Er führte mich an einigen Häusern vorbei.
 

„Das sind alles Bandhäuser. Ab einen bestimmten Level kann sich jede Band eines bauen. Vorher muss man schauen, wo man unterkommt oder checkt in der Herberge ein. Keine Angst. Wir haben schon eines. Eigentlich waren wir lange sehr erfolgreich hier. Aber dann sind der Drummer und unser Gitarrist abgehauen. Einfach so. Na ja, jetzt haben wir ja dich gefunden und einen Gitarristen finden wir bestimmt auch ganz schnell.“ Erneut lachte sein Avatar und ich versuchte herauszufinden, wie er das anstellte, doch als ich ihn das fragen wollte, hätte ich ihn beinahe verloren. Dafür war später auch noch Zeit.
 

Die Häuser waren wirklich sehr unterschiedlich. Von quietschpink und puderrosa bis hin zu total düster und gruselig. Ich wusste nicht auf was für ein Haus ich hoffte, doch ich wollte weder das Eine noch das Andere und musste erst noch überlegen welches davon schlimmer sein würde.
 

„Dein Name ist Gabriel? Sehr interessanter Nick und es wundert mich, dass er noch nicht vergeben war. Hat das eine Bedeutung? Ach ja, die Namen siehst du, wenn du mit der Maus auf die Avatare gehst.“
 

Ich wollte antworten, doch es ging nicht. Erneut begann sein Avatar zu lachen und langsam begann ich das auch zu hören. Ich wusste, dass es Einbildung war, doch irgendwie konnte ich mich nicht dagegen wehren.
 

„Du kannst auch Doppelklick auf mich machen, dann verfolgt dein Avatar meinen automatisch.“ Endlich mal eine brauchbare Erklärung. Sofort tat ich, was er verlangte und ich konnte ihm antworten.
 

„Ich mag den Namen und die Engelsfigur dahinter einfach. Wie kamst du auf deinen Nick?“ Er wirkte sehr nett auf mich und so wollte ich das Gespräch durchaus weiter ausbauen.
 

„Tayaka? Zufall. Ich hatte schon so viele Namen ausprobiert, die mir gefallen hätten und irgendwann habe ich nur noch irgendwas aneinander gereiht, was gut klang. Das war der erste Name, der funktioniert hat. Na ja, du hast Glück. Bist gerade nach einer großen Ausmistaktion gekommen. Deswegen war der Name wahrscheinlich schon wieder frei gewesen.“
 

„Kann durchaus sein. Wie hättest du dich denn gerne genannt?“
 

„Ich? Öhm, das weiß ich gar nicht mehr. Akiko glaub ich.“
 

„Bevorzugst du die japanische Kultur?“
 

„Nur bedingt. Aber ich finde den Klang ihrer Namen schön.“
 

Sein Avatar grinste ein wenig breiter und dann fiel mir ein, dass ich ihn ja deswegen fragen wollte. Jetzt konnte ich ja endlich.

„Wie machst du das? Also, dass sich dein Avatar verändert.“
 

„Mit Kurztasten. Du kannst im Menü ein paar Kurztasten aussuchen und unter anderem darauf Emotionen speichern. Das erkläre ich dir alles später genauer, wenn es dann auch um das Spielen und so geht.“
 

„Okay. Danke, dass du mich angesprochen hast. Ich wollte eigentlich schon gehen.“ Ich spürte, wie meine Wangen wärmer wurden und plötzlich zuckte ich erschrocken zusammen.
 

„Was spielst du da, Bruderherz? Ist das nicht, dieses Music Heroes? Ist doch total öde!“ Meine Schwester beugte sich über meine Schulter und ich fühlte mich auf seltsame Weise ertappt, wodurch mir erst einmal die Worte fehlten.
 

„Na ja, versuch dein Glück, aber du wirst das auch noch rausfinden.“ Sie klopfte mir nur kurz auf die Schulter und verschwand dann wieder. Ich ignorierte die Chartsmusik, die aus dem Fernsehr dröhnte und das aufgebrachte Schnattern ihrer Freundinnen. Ob das Spiel auch auf den Smartphone lief?
 

„Na, da kam ich ja gerade rechtzeitig. Drummer sind nämlich richtig schwer zu finden. Gitarristen gibt es wie Sand am Meer. Jeder will einer sein. Aber eine Band braucht nicht allzu viele.“ Sein Avatar seufzte und er lief dann weiter. Schließlich kamen wir bei einem Haus an, das eher unscheinbar wirkte. Seine Fassade war weiß und das Dach mit schwarzen Ziegeln bedeckt. Auch der Zaun drum herum wirkte sehr unauffällig. Nur die Fenster und die Tür waren in einem sehr alten, gothischen Stil gehalten. Viele Verschnörkelungen und dunkle Muster. Der Türklopfer war ein Ziegenschädel, doch Tayaka trat einfach ein und so folgte ich ihm. In ein Leben, das mich vor der Wirklichkeit ein wenig retten sollte...

Wir blieben nur kurz im Hausflur, sondern folgte seinem Lauf gleich tiefer hinein. Nahmen die erste Tür links von drei Stück und ließen auch die Treppe links liegen. Ich war mir sicher, dass ich den Rest des Hauses bald noch sehen würde und war verblüfft über die Art und Weise, wie es gestaltet war.
 

Es wirkte auf den ersten Blick normal. Helle Wände und helle Holzmöbel. Alles einladend und nicht auffällig. Doch vereinzelt standen Figuren von mythischen Wesen herum oder Totenschädel. Genauso wie Bilder von Szenen aus allen möglichen Sagen an den Wänden hingen. Manchmal wirkten sie dadurch normal und wenn man die Geschichten nicht kannte, dann würde man sie nicht erkennen, doch ich hatte mich schon immer für solche Sachen interessiert, weil ich gerne Bücher las, und so erkannte ich fast jedes Märchen wieder.
 

„Was macht ihr für Musik?“ Diese Frage brannte mir schon länger unter den Nägeln und Tayaka lachte erneut kurz. „Alles mögliche. Aber meistens eher Rock mit Bezug zur Mythen- und Sagenwelt. Einzelne Stücke kann man auch ein wenig in die Metall Richtung stecken. Wir schreiben die Texte und Lieder selbst. Viele verwenden dafür eher die Möglichkeit des Spieles, das Melodien vorgeben kann, die man dann leicht verändert. Aber wir machen alles selbst. Unsere Sängerin ist auch unser Songwriter.“
 

„Wie viele seid ihr denn?“ Tayaka grinste auf meine Frage nur breit und öffnete dann die besagte Tür. Dahinter erwartete uns ein großräumiges Wohnzimmer. Der Einrichtungsstil vom Flur wurde hier fortgeführt und ließ es sehr einladend wirken. Es gefiel mir und so wanderte mein Blick zu der großen Couch, die von zwei Sesseln flankiert wurde.
 

Dort saßen vier weitere Personen. Zwei weibliche Avatare und zwei männliche. Sofort ließ ich meine Maus darüber wandern und las mir die Namen durch. Das blonde Mädchen mit dem frechen Pferdeschwanz hieß Xenia, während die Brünette sich den Namen Athena gesichert hatte. Xenia wirkte freundlich und strahlte mich breit grinsend an, während Athena gelangweilt in den Raum blickte und uns entweder ignorierte oder noch nicht bemerkt hatte.
 

Die Avatare der zwei Jungs grinste mich steif an. Einer hatte pinke, stachelige Haare und saß ebenfalls bei den Mädchen auf der Couch. Sein Grinsen wurde breiter, als er mich zu bemerken schien und ein kurzer Blick mit der Maus verriet mir, dass er auf den Namen Azrael hörte. Der Letzte im Bunde hatte schwarze, kurze Haare und stand ein wenig verloren leicht abseits der Ansammlung. Vielleicht war das der neue Gitarrist, den sie ja auch noch gebraucht hatten. Sein Nick selbst wirkte auf jeden Fall so, dass er auch entweder schon sehr lange dabei war oder wie ich erst seit kurzem. Denn Luzifer war auch einer, der bestimmt sehr schnell weg sein würde.
 

„Hey, Jungs und Mädels.“ Neben Tayaka erschien plötzlich eine Sprechblase, was mich kurz stutzig machte, doch im nächsten Moment ploppten schon lauter weitere Sprechblasen auf, die zurück grüßten. Selbst bei Luzifer erschien ein kurzes „Hi“.
 

„Ich hab uns einen Drummer gefunden. Gabriel stand ganz verloren auf dem Stellenmarkt und ich hab ihn mir geschnappt. Bestimmt wird er eine große Bereicherung für uns sein.“ Tayaka trat zu den anderen und ließ sich ebenfalls auf die Couch fallen. Ich wusste nicht, dass es solche Spiele wirklich gab, doch scheinbar war es hier möglich.
 

Mein Avatar war immer noch auf Folgen eingestellt und so trat ich nun neben ihn und wusste nicht, was ich tun sollte. Wie bekam ich das wieder raus? Was sollte ich tun?
 

„Hi“, schrieb ich in den Chat mit Tayaka. Schließlich war dies der einzige Eingabeort, den ich auf die Schnelle fand, doch dann lachte schon wieder der Avatar von Tayaka, bevor seine Antwort im Chat erschien: „Unten links ist das Eingabefeld für den allgemeinen Chat. Alles, was du da reinschreibst, können alle lesen, die sich in deiner Nähe befinden. Auf dem Stellenmarkt ist das immer so ein riesiges Gewusel, das man nichts mehr lesen kann. Deswegen habe ich dich dort privat angeschrieben. Du hättest meine Nachricht sonst niemals bekommen.“
 

Ich merkte, wie ich erneut leicht errötete, wodurch ich dann sofort das kleine Wort nochmal in den allgemeinen Chat schrieb. Die drei Avatare auf den Couch grinsten mich breit und freundlich an, während mich Luzifer dunkel musterte.
 

„Ihr habt nicht gesagt, dass ihr einen Neuling als Drummer habt. So wird das Ganze nichts. Der ist ja erst Level Eins. Unter diesen Umständen weiß ich nicht, ob ich mitmache.“ Luzifers Avatar verschränkte die Arme vor der Brust und das Dauergrinsen verschwand für einen kurzen Moment von seinen Lippen. Solange wie die kurze Emotion andauerte und dann war er wieder normal.
 

„Du kannst gerne wieder gehen, Luzifer. Gitarristen werden wir wie Sand am Meer finden, aber Drummer sind selten. Er bleibt und er wird schon werden. Wir haben alle mal klein angefangen und wenn wir alle an einen Strang ziehen, dann wird er nicht lange auf niedrigen Level bleiben. Also, bleibst du jetzt, oder gehst du wieder Luzifer?“ Tayakas Avatar wurde auch plötzlich ernst und es dauerte einige Herzschläge, bevor eine Antwort neben Luzifers Kopf erschien: „Ich bleibe.“
 

„Gut, dann wäre das geklärt. Also, Gabriel. Athena ist unsere Sängerin und Songwriterin. Xenia spielt Bass. Luzifer und Azrael sind unsere Gitarristen, während ich am Keyboard stehe. Ich weiß, auch nicht gerade ein gängiges Instrument, doch ich mag es.“ Scheinbar schien er sich schon öfters deswegen rechtfertigen zu müssen, doch ich hatte nicht vor ihn deswegen anzusprechen. Jeder hatte ein anderes Lieblingsinstrument und das war gut so.
 

„Wir sind hier alle eine große Familie. Solltest du Probleme haben, dann hören wir dir zu. Normalerweise verwenden wir Teamgeek, um uns zu unterhalten. Das Tippen wird auf Dauer lästig. Wäre gut, wenn du es dir auch holen könntest. Du auch, Luzifer.“ Azrael sah kurz zu den anderen Neuling rüber.
 

„Hab ich schon.“ Er winkte ab und verschränkte erneut kurz die Arme vor der Brust, bevor die Emotion wieder endete und sein Avatar erneut zu grinsen und wippen begann.
 

„Dann ist ja gut. Die Zugangsdaten für unseren Channel stehen draußen auf dem Bandboard. Dort sind auch alle wichtigen Termine und Ankündigungen zu lesen. Azrael oder ich kümmern uns darum. Wir sind sozusagen die Bandgründer. Es läuft alles über uns.“ Athena wirkte ernst und ihr Avatar sah ein wenig zu lange auf Luzifer, wodurch ich ihn erneut musterte. Sein Avatar war nur bedingt auffällig. Er war rot und schwarz gekleidet, während die anderen eher helle und beruhigende Farben trugen. Man merkte, dass er an sich nicht in diese Band gehörte. Zumindest noch nicht lange. Ob er hier wirklich reinpassen würde. Ich mit meinem weiß und blau schien schon eher in ihre Reihen zu passen. Aber man würde sehen. Vielleicht war er anpassungsfähiger, als man am Anfang merkte.
 

Irgendetwas faszinierte mich an diesem Avatar, wodurch meine Maus erneut auf ihm zum Liegen kam. Neben dem Namen stand noch etwas „Lv. 60“. Auch bei den anderen war es zu lesen, doch niemand war so hoch wie er.
 

Selbst Azrael und Athena hatten nur fünfzig dort stehen. Tayaka und Xenia waren sogar erst 45. Er schien also wirklich schon sehr lange dabei zu sein. Ich selbst kam mir plötzlich so klein vor, doch bevor ich in Depressionen verfallen konnte, schnellte Tayaka schon in die Höhe. „Na ja, wie wäre es mit einer Führung durch das Haus und vielleicht sogar schon die ersten Proben. Komm, Gabriel. Ich zeig dir alles, okay?“
 

Ich schrieb nur ein kurzes „Okay“ und sofort folgte mein Avatar immer noch seinem automatisch, während ich selbst weiter auf Luzifer sah. Er blieb stehen und verschränkte noch einmal die Arme vor der Brust, bevor er sich dann auf einen Sessel niederließ und sich dann mit den anderen dreien zu unterhalten begann. Hatte er Recht? Würde ich eine Last sein? Nein! Ich würde es ihm beweisen! Ja, ich würde ein spitzen Drummer werden und dann musste er mich anerkennen!

Gegenwart
 

Das Spiel existiert wirklich noch. Es ist größer als damals. Selbst die Seite, auf der man es herunterladen kann, wirkt professioneller. Die Gestaltung der Bilder hat stark an Qualität zugenommen und selbst wenn ich jetzt die Screenshots betrachte, merke ich, dass sie auch dort an sich gearbeitet haben.
 

Soll ich wirklich? Was erhoffe ich mir davon? Aber schaden kann es ja nicht. Wenn es mir nicht mehr gefällt, dann kann ich auch einfach wieder damit aufhören. Ja, das kann ich tun.
 

Ich gehe auf die Downloadseite und starte ihn. Es wird nicht lange dauern und dennoch spüre ich, wie in mir mit jedem Prozent, das mir mehr angezeigt wird, die Spannung in meinem Körper wächst.
 

Ob es die alte Band noch gibt? Was wohl aus den Leuten geworden ist? Schließlich war ich damals ohne ein Wort zu sagen abgehauen. Ob mein Account noch existiert? Vielleicht ja auch nicht und dann? Will ich mich wieder Gabriel nennen?
 

Der Download ist abgeschlossen und ich starte die Installation. Erneut heißt es warten. Ein Umstand, der mich noch einmal in die Zeit zurückreisen lässt. Ich fühle mich schuldig, dass ich ohne ein Wort gegangen war. Aber ich konnte nicht anders. Es war mir nicht mehr möglich dorthin zu gehen. Nicht nachdem, was damals passiert war. Aber auch wenn der Wunsch da war. Ich konnte meinen Avatar nicht löschen.
 

Ich schüttel den Kopf. Nein, daran will ich nicht denken und so schaute ich auf den Installationsbildschirm. Immer wieder tauchen neue Bilder auf. Artworks und Screenshots. Ich bin überwältigt über die Grafik. In diesen wenigen Jahren hat sich viel getan und das hat den Erfolg des Spiels definitiv nicht gebremst.
 

Der Balken füllt sich schließlich gänzlich und nach wenigen Klicks erscheint der Anmeldebildschirm vor meinen Augen. Ich spüre, wie mein Herz schneller zu schlagen beginnt und meine Hände zu zittern anfangen. Was würde ich tun, wenn mein Account gelöscht ist? Einen Neuen machen oder aufgeben?
 

Wie von selbst tippen meine Finger meinen Nick ein und es dauert nur einen Atemzug, um auch selbstsicher die Spalte des Passworts zu füllen. Diese Kombination ist in mein Kleinhirn eingebrannt.. Nie wieder werde ich sie vergessen. So oft habe ich sie eingegeben, damit meine Schwester sich nicht ohne mein Wissen dort anmelden konnte. Schließlich hatten wir zu der Zeit noch einem Computer für alle.
 

Kurz zögere ich, bevor ich dann auf „Einloggen“ drücke. Es dauert zwei Herzschläge und die Meldung erscheint, dass die Anmeldung erfolgreich war. Ich kann es nicht glauben. Immer wieder lese ich diese Nachricht. Bis sie verschwindet und ich auf meinen Avatar sehe.
 

Seine braunen fast goldenen Augen sehen mich an, während das grenzdebile Dauergrinsen mittlerweile zu einem sympathischen leichten Lächeln wurde. Er wippt auch nicht mehr auf einer Stelle, sondern steht ruhig da. Nur seine Brust hebt und senkt sich unter einer gefakten Atmung. Die langen, blonden Haare fielen neckisch über seine Schultern und ich weiß nicht, was ich darüber denken soll.
 

Selbst die stupide Kleidung, die damals nur aus einfachen Farben bestand, ist jetzt detailliert. Mein Avatar trägt ein weißes Hemd und eine blaue Jeans. Man kann Knöpfe und Nähte sehen. Wieso haben sie sich so viel Mühe für diese Details gegeben? Selbst die Stummelnase von damals wirkt jetzt individueller.
 

Ich reiße mich von diesem Anblick los und will mich mit ihm einloggen. Mein Level Siebzig Drummer existiert also noch. Er lässt die Drumsticks in seinen Händen kreisen, als sich schon das Bearbeitungsmenü öffnet und ich sehe, wie krass ich meinen Avatar individualisieren kann. Jeden noch so kleinen Bereich an seinem Körper kann ich anders machen, doch ich will nicht. Das Einzige, wofür ich mich entscheide, ist ein Pferdeschwanz anstatt den offenen Haaren.
 

Erneut erscheint ein Ladebildschirm und einige Herzschläge später baut sich der Stellenmarkt um mich herum auf. Man sieht die Schwarzenbretter und die Stände, die es damals schon gab, doch die damalige 2-D Grafik ist einer 3-D Grafik gewichen. Nur die Vogelperspektive ist geblieben und so sehe ich erneut auf meinen Avatar hinunter. Alle um mich herum eilen davon oder bleiben vor den interessanten Orten stehen.
 

Ich sehe auf mein Charaktermenü. Alles ist noch da. Meine Skills, meine Items und meine Level. Nur eines fehlt: Meine Band. Das Feld, in dem der Name „Sacrifice“ stehen soll, ist leer. Aber was habe ich erwartet? Selbst wenn sie noch existieren. Sie hatten keine andere Wahl. Dennoch kann ich die Enttäuschung nicht aus meinem Herzen verbannen. Ich schüttel sie aber so gut es geht ab und begebe mich ebenfalls zu den Stellenanzeigen.
 

Schließlich bin ich immer noch ein Drummer und wie Tayaka damals gesagt hatte: Die waren und sind hoffentlich immer noch Mangelware. Während sich mein Charakter durch Doppelklick auf den Weg dorthin macht, öffne ich meine Freundesliste, doch auch sie ist leer. Keiner mehr da. Nicht einmal Tayaka oder Luzifer. Schließlich verstand ich mich mit ihnen doch so gut. Wieso haben sie mich gelöscht?
 

Kurz kommt Wut in mein Herz, doch ich lasse es nicht zu. Das führt nur zu unüberlegten Handlungen und die kann ich gerade nicht brauchen. Vielleicht treffe ich sie ja irgendwo wieder. Wenn sie überhaupt noch spielen.
 

Ich reihe mich bei den anderen ein und sehe auf das geöffnete Schwarze Brett. Es werden wirklich Drummer gesucht. Das Angebot ist reichlich, doch viele spielen Pop, Hip Hop oder Volksmusik. Nichts, was ich gerade bevorzuge. Nur eine handvoll bietet auch die Musik an, die ich selbst gerne spiele. Sofort nehme ich sie an und wende mich dem Ausgang zu. Diese Welt wirkt klein, aber sie ist riesig. Ich habe mich früher gerne verlaufen, doch am Ende konnte ich sie blind durchqueren. Auch jetzt fühlt es sich so an, als wäre es noch möglich. Mein einziges Problem ist nur, dass ich den Weg nicht kenne und so öffne ich das erste Gesuch und mit einem Doppelklick rennt mein Avatar los. In eine neue, alte Welt, die mich vielleicht schon vergessen hat...

Auch wenn sie behaupten, dass sie Rock produzieren, dennoch stehe ich nun vor einem pinken Gebäude, das sogar rosa Flamingos im Garten stehen hat. Was wird das für Rock sein? Nur Schmusebaladen und Kuschelrock? Definitiv nicht meine Musik. Mein Avatar will gerade das pinke Gartentor öffnen, als ich ihn schon stoppe.
 

Nein. Nein. Und nochmal nein. Ich will in so einem Haus nicht leben. Wenn es draußen schon so aussieht, dann bekomme ich drinnen nur Probleme. Das ist mir alles zu grell und zu aufdringlich. Außerdem erinnert es mich ein wenig schmerzhaft an meine Schwester, wodurch ich das Gesuch lösche und das Zweite anklicke. Sofort wendet sich mein Charakter um und rennt wieder los. In seinen hinteren Hosentaschen stecken seine Drumsticks und ich wundere mich bei jeden seiner Schritte, das sie nicht herausfallen. Die Welt der Computerspiele ist schon fantastisch. Da kann man die Physik gerne mal ignorieren.
 

Immer wieder drehen sich andere Avatare nach mir um. Ich erkenne, dass die meisten weit unter meinem eigenen Level sind. Wahrscheinlich sind sie verwirrt, warum sie mich noch nie gesehen haben, obwohl ich doch so ein hohes Niveau vorweise. Desto weiter ich jedoch laufe und umso mehr fremde Gesichter ich sehe, desto bewusster wird mir, dass die Wahrscheinlichkeit einen der anderen wiederzusehen unheimlich gering ist. Sie sind wahrscheinlich alle schon gegangen. Warum sollen sie noch hier sein? Ihr Leben hat sie bestimmt auch so eingeholt wie meines. Nur bei einem kann ich mir vorstellen, dass er immer noch hier sein könnte: Luzifer.
 

Seine Begeisterung für diese Spiel war damals schon fast ansteckend. Er nahm es sehr ernst und entwickelte sich zur treibenden Kraft in unserer Band. Ohne ihn hätten wir einige Erfolge bestimmt nicht erreicht und ich? Was habe ich getan? All das weggeworfen. Aber ich hatte damals keine andere Wahl.
 

Erneut will mein Avatar in ein Haus gehen, doch auch jetzt stoppe ich ihn. Es ist so dunkel und düster. Nicht, dass es arg gruselig dekoriert wäre, aber es strahlt eine so erdrückende Macht aus, dass ich auch nicht hinein will. Da werde ich bestimmt depressiv. Wenn das so weiter geht, dann werde ich keine neue Band finden und all mein Abenteuer würde schon enden bevor es begonnen hat.
 

Was soll ich denn dann tun? Ich will das Spiel jetzt noch nicht wegwerfen. Nicht nachdem ich gesehen habe, was daraus geworden ist. Noch einmal wandert mein Blick zu den Büchern. Ich weiß, dass ich lernen soll, aber auch jetzt sperrt sich alles in mir alleine bei dem Gedanken daran. Außerdem kann ich die zwei Sachen bestimmt unter einen Hut bekommen. Aber dafür muss ich erst einmal wieder einen Anschluss finden. Irgendeine brauchbare Band muss doch einen Drummer suchen.
 

Also, auf zum dritten Gesuch. Die Level der Bands werden immer kleiner, wodurch ich nicht einmal weiß, ob ich die anderen Mitglieder nicht damit überfordere. Aber irgendwie bin ich ja selbst wieder ein Anfänger. Wahrscheinlich ist es sogar besser so. Da sind die Erwartungen nicht so hoch und ich kann selbst wieder Schritt für Schritt zurückfinden und all die Neuigkeiten entdecken.
 

Das dritte Bandhaus ist nicht weit entfernt und wirkt sehr neutral und unauffällig auf mich. Dieses Gebäude erinnert mich ein wenig an das Zuhause von Sacrifice. Vielleicht kann ich dort wirklich von Neuen anfangen und wer weiß, vielleicht werde ich dort auch die anderen treffen. Zumindest wenn es sich dem gleichen Muster wie Sacrifice damals bedient.
 

Dieses Mal lasse ich meinen Avatar das Gartentor öffnen und er tritt ein. Lauter kleine Fabelwesen sind im Gras versteckt. Feen und Kobolde. Sie verleihen diesem Ort einem angenehmen Hauch von Magie indem sie einen Schein von Leben entstehen lassen. Im nächsten Moment stehe ich schon auf der Türschwelle und drücke die Klingel.
 

Es dauert ein wenig und dann höre ich wie das Schloss entriegelt wird. Mit einem tiefen Atemzug trete ich ein und sehe mich um. Auch jetzt erinnert mich alles an Sacrifice, doch als ich dann um die Ecke schaue, traue ich meinen Augen nicht. Es ist das Gebäude von Sacrifice, doch die Band nennt sich jetzt „Angels Feather“. Was ist geschehen?
 

„Hallo?“, schreibe ich in den allgemeinen Chat und betrete langsam das Wohnzimmer. Dort sehe ich Tayaka über ein paar Zettel gebeugt sitzen. Neben ihn auf der Couch steht sein Keyboard und er drückt immer mal wieder eine Taste, um dann etwas auf das Blatt zu schreiben.
 

„Tayaka! Hallo!“ Ich eile auf ihn zu und lasse mich dann neben ihn auf die Couch fallen. „Du bist noch hier im Spiel! Aber was ist mit Sacrifice und den anderen passiert? Sind sie auch noch da?“
 

„Gabriel?“ Tayakas Avatar sieht mich ungläubig an und ich lasse meinen nicken. „Du bist wieder da? Seit wann? Wohin bist du verschwunden? Warum?“ Ich merke richtig, wie er meine eigenen Fragen gar nicht mitbekam, doch ich lächel ihn kurz an, bevor ich dann auf die Notenblätter sehe und auf sein Keyboard. Ist es wirklich das, was ich glaube? Ist er jetzt alleine hier?
 

„Das ist eine lange Geschichte und Vergangenheit. Wichtig ist nur, dass ich jetzt wieder da bin. Vielleicht erzähle ich dir alles mal in einem ruhigen Moment. Aber sag mal, wo ist der Rest und warum habt ihr einen neuen Namen?“ Ich sehe mich um, doch außer Tayaka war niemand zu sehen und sein Avatar seufzt, bevor er den Stift niederlegt.
 

„Als du weggegangen bist, ist hier einiges schief gelaufen. Wir haben lange nach einem neuen Drummer gesucht, doch keiner blieb wirklich lange. Alle verließen sie uns für eine andere Band. Kaum dass wir sie irgendwie eingearbeitet hatten. Dann heirateten Azrael und Athena. Sie wurden Eltern und kamen immer seltener online. Ich konnte Azrael überreden uns wenigstens das Haus zu überlassen, doch er wollte mir den Namen nicht weitergeben und so habe ich mit Luzifer und Xenia eine neue Band gegründet. Immer wieder habe ich versucht das Schlagzeug mit meinem Keyboard zu ersetzen, doch es ging nicht und Drummer blieb uns keiner. Irgendwann gingen dann auch Luzifer und Xenia um ihr eigenes Ding zu machen. Seitdem sitze ich hier und na ja... versuche wieder eine Band zusammen zu bekommen.“ Tayaka lächelt traurig und ich spüre Schuldgefühle in meinem Inneren, doch dann nicke ich ihm zuverlässig zu.
 

„Du bist jetzt nicht mehr alleine. Ich werde bei dir bleiben und gemeinsam bauen wir die Band wieder auf. Gitarristen finden wir bestimmt welche und Bassisten. Ach, die gibt es auch genug. Wir schaffen das und dann werden wir die Säle wieder rocken. So wie damals. Okay, Tayaka?“ Ich strahle ihn an und es dauert ein paar Herzschläge bevor er mein Lächeln erwidert und dann ebenfalls nickt.
 

„Ja, das klingt gut.“ Die Traurigkeit in seinen blauen Augen beginnt langsam zu verschwinden und ich selbst spüre, dass wir es schaffen können. Wir werden schon jemanden brauchbares finden und wenn es ein paar Versuche dauert. Irgendwo gibt es die passenden Bandmitglieder bestimmt und wir werden solange nach ihnen suchen bis wir sie schließlich auch gefunden haben...

„Also, wir brauchen einen Gitarristen und einen Bassisten. Hast du da auch Stellengesuche geschrieben und sie ausgehängt? Vielleicht sollten wir auch selber auf den Markt ein wenig suchen gehen.“ Ich blicke auf die Zettel, doch ich kann nichts erkennen. Sie sind nur der Zugang zum Komponierprogramm. Aber ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass Tayaka gut darin war.
 

„Sänger wäre auch nicht schlecht. Meine Stimme ist miserabel. Als Athena und Azrael gegangen sind, hat den Part Xenia übernommen. Aber na ja... sie ist ja auch verschwunden und hat mit Luzifer eine Zwei-Mann-Band aufgemacht.“ Tayakas Avatar ist immer noch niedergeschlagen. Er wirkt zwar nicht mehr ganz so depressiv, wie zu Beginn der Unterhaltung, doch irgendwie vermisste ich das Dauergrinsen auf seinen Lippen.
 

„Seit wann haben die Charaktere eigentlich aufgehört am laufenden Band zu grinsen?“ Mittlerweile sind wir auf Teamgeek gewechselt, um nicht mehr tippen zu müssen. „Ist schon eine geraume Weile so. Hast du in der rechten unteren Ecke den grünen Balken gesehen? Er zeigt die Laune deines Avatars an. Erfolgreiche Auftritte, Proben oder Aktionen mit anderen Musikern lässt die Laune steigen oder hält sie oben. Aber Trennungen, Misserfolg und zu lange keine Aktion lässt sie sinken. Je nach Zufriedenheitslevel ist die Mimik deines Avatars. Tja, ich war schon lange nicht mehr erfolgreich und langsam steckt mich seine depressive Laune an. Ich bin ehrlich, dass ich echt kurz davor war alles hinzuwerfen. Aber jetzt bist du da. Wir können es also wieder schaffen.“
 

Mein Balken war im hellgrünen Bereich, aber er könnte höher sein. Aber kein Wunder, dass er keine Leute fand. Sein Avatar strahlt nicht viel Zuversicht aus und würde ich Tayaka nicht kennen, dann wäre ich wohl schon gegangen. Etwas, was ich nicht gut finde, aber auch nicht unterdrücken kann.
 

„Ich werde mal auf den Stellenmarkt gehen. Vielleicht finde ich ein paar neue Leute, okay? Du bleibst hier, weil deine Trauermiene wird uns echt nicht helfen.“ Ich will meinen Avatar gerade das Haus verlassen, als mich Tayaka aufhält. „Warte! Lass uns erst ein wenig proben und interagieren. Dann wird sich die Laune meines Charakters heben und ich kann dir helfen. Auch kann ich dir dann alle Neuerungen zeigen.“
 

Sein Vorschlag klingt nicht schlecht und so nicke ich, um dann mit ihm hinunter in den Proberaum zu gehen. Das Haus wirkt ein wenig verfallen, was wohl an der Inaktivität der Band liegt. Schon öfters habe ich früher Häuser gesehen, die eher einer Ruine als einem richtigen Gebäude ähnelten. Ein Punkt, der beim Anwerben auch nicht förderlich sein wird, aber ich will mich nicht entmutigen lassen.
 

Schließlich betreten wir den kleinen Raum und ich gehe an das Schlagzeug. Es sieht noch wie damals aus nur viel realer und kaum nimmt mein Avatar seinen Platz ein, öffnet sich ein neues Fenster.
 

„So, du siehst hier das neue Steuerpult. Links hast du eine Liste unserer Stücke, die wir gespeichert haben und somit spielen können. Wir können ja erst einmal mit etwas Leichten anfangen. Nehmen wir das erste Lied.“ Ich klicke auf die Datei und sofort wird die Mitte des Fenster mit lauter kleinen Symbolen ausgefüllt.
 

„Die Sachen sind alle ein wenig komplizierter geworden. Früher waren es ja nur die Pfeiltasten, die man verwendet hat und zur richtigen Zeit drücken musste. Mittlerweile sind es mehr Tasten. Beim Schlagzeug ist alles noch ein wenig übersichtlich. Du müsstest Pfeiltasten und die Tasten A, S, D und W haben. Genauso wie die Leertaste und vielleicht noch Enter. Die Pfeiltasten sind für deine rechte Hand und die Buchstaben für deine Linke. Die zwei letzten lassen dich die Bassdrums spielen. Manchmal kommen Kombinationen, doch für den Anfang sollte das reichen, um wieder ein Gefühl dafür zu bekommen. Wie auch damals schon kommen die Eingabemöglichkeiten mit deinem Level dazu und erlaubt es dir komplizierter zu spielen und so mehr Punkte zu holen. Mehr Punkte bedeutet mehr Ruhm und so weiter. Aber das weißt du bestimmt noch alles. Wollen wir es mal versuchen?“
 

Es wirkt nicht kompliziert und so stimme ich zu, wodurch Tayaka das Stück startet und sofort versuche ich die richtigen Tasten zu treffen. Damals war es einfacher. Zumindest fühlt es sich so an, doch ich weiß, dass mir einfach die Übung fehlt. Ich muss erst wieder in das System reinkommen und so lässt meine Leistung gerade stark zu wünschen übrig.
 

„Okay, das kenn ich an sich anders von dir. Aber du warst lange weg und findest bestimmt wieder rein. Pass bitte auf, dass du nicht zu viele Fehler machst, sonst wird dein Avatar der traurige sein und wir haben das Problem nicht gelöst sondern nur verschoben. Wollen wir es gleich noch einmal probieren?“ Tayakas Stimme hebt sich mit jeder Sekunde mehr. Ich merke richtig, wie der Spaß zu ihm zurück kommt.
 

„Die Animation ist jetzt auch viel besser. Wenn du richtig gut spielst, führt dein Avatar Tricks auf und man kriegt mehr Punkte. Damals saß man ja nur am Instrument und man hat nicht viel gesehen, außer dass er sich freut, wenn es geklappt hat oder zerknirscht drein schaute, wenn man einen Fehler machte. Aber nun kannst du ihm richtig beim Spielen zu sehen. Mittlerweile kann man sich dann auch Videos von den Auftritten anschauen, die man so gibt, um zu sehen, wie die anderen gespielt haben und das Ganze auf einen gewirkt hat. Auch gibt es jetzt Autogrammstunden und Fantreffen, denn man kann sich mittlerweile auch als Fan anmelden, wenn man keine Lust hat in einer Band zu spielen, aber gerne mit Musikern interagieren will.“ Tayaka klärt mich weiter auf und ich versuche dieses Mal besser zu sein. Langsam komme ich in den Takt und merke, wie mir immer weniger Fehler unterlaufen, wodurch sich meine Stimmung zumindest nicht verschlechtert.

„Das war doch schon besser. Los, noch einmal und dann machen wir uns auf die Suche, okay?“ Tayaka startet das Lied erneut ohne auf eine Antwort von mir zu warten, wodurch ich mich wieder sofort auf die Tastenkombination konzentriere. „Wie heißt denn die Band von Luzifer und Xenia?“
 

„Hell Lovers“, antwortet Tayaka ein wenig zerknirscht und ich beiße mir auf die Unterlippe. Scheinbar ist es ein empfindliches Thema für ihn und auch wenn alles in mir nach mehr Informationen schreit, schweige ich und beende das Lied fast perfekt. Scheinbar ist dieses Spiel wie Fahrrad fahren. Man verlernt es nie wirklich.
 

„Gut, jetzt können wir beide los gehen. Bereit unsere neuen Bandmitglieder zu finden?“ Tayakas Avatar grinst mich zuversichtlich an und das Lächeln bleibt direkt, wodurch ich nicke. „Natürlich! Schließlich wird es Zeit, dass unsere Band wieder dorthin kommt, wo sie hingehört: An die Spitze!“

„Nach was wollen wir Ausschau halten? Wollen wir uns erfahrene Spieler holen oder lieber die Frischlinge abfangen?“ Tayaka klingt nervös und ich verstehe es nur bedingt. Klar, jetzt wird sich zeigen, ob wir noch eine Chance haben oder ob wir die Band beerdigen können.
 

„Na ja, wir haben zwar ein hohes Level aber leider unsere Band nicht. Erfahrene Spieler können davon abgeschreckt werden, daher würde ich eher Neulinge nehmen. Klar, ist da die Gefahr hoch, dass sie aufhören und man wieder suchen muss. Aber das kann einen immer passieren.“ Ich verstehe seine Nervosität nur bedingt. Schließlich ist es nur ein Spiel und irgendwann wird es bestimmt klappen. Man kann hier nicht so stark versagen wie im richtigen Leben. Und an sich war ich immer der Meinung, dass Tayaka das Ganze auch eher locker sah. Nicht so verbissen wie Luzifer.
 

„Wollen wir uns aufteilen?“, frage ich, doch wie aus der Pistole geschossen kommt sofort eine Ablehnung von Tayaka: „Nein! Wir müssen als Einheit auftreten. Dann wird das bestimmt etwas. Siehst du? Da kommt schon ein Bassist ins Spiel. Zwar Level Eins, aber den kriegen wir schon hoch.“
 

Sofort eilt sein Avatar auf das junge Mädchen zu, das gerade vor uns erschienen ist und spricht sie an. Ich folge ihm und lasse meinen Blick über die Masse schweifen. So viele sind hier. Meine Maus kommt gar nicht hinterher und ich bin mir auch nicht sicher, woher Tayaka wusste, dass sie Bass spielt. Scheinbar hat er einen kleinen Trick, den er mir noch nicht verraten hat.
 

Die Zwei sind schon in ein Gespräch vertieft, als mich Tayaka anspricht. „Pass auf! Bald kommt ein Junge online, der Sänger sein will. Schnapp ihn dir. Der gehört zu dem Mädchen. Dann fehlt uns nur ein Gitarrist.“
 

Tatsächlich erscheint schon ein neuer männlicher Avatar vor meiner Nase und ich öffne sofort ein privates Chatfenster: „Hallo, deine Freundin sagte, dass du Sänger sein willst? Wir suchen noch einen für unsere Band? Lust mit zu machen?“
 

Ich falle sofort mit der Tür ins Haus und hoffe, dass ich ihm damit nicht zu arg auf den Schlips trete, doch ich bin an sich niemand, der zögert oder sich arg zurückhält. Normalerweise... Nur kurz erschaudere ich bei den Gedanken an die Ausnahme und schlucke trocken. Mein Blick wandert noch einmal zu den Büchern neben mir und ich spüre, dass es falsch ist, was ich hier tue.
 

Was wenn ich doch morgen ausgefragt werde und dann eine schlechte Note bekomme? Wenn ich nicht perfekt genug bin? Wenn ich...?
 

„Hey! Gabriel?! Hallo?! Ich rede mit dir! Wie sieht es aus? Ist der Junge auch dabei?“ Tayaka reißt mich aus meinen Gedanken und ich will ihm antworten, doch meine Stimme versagt mir. Nur kurz räuspern und dann ist sie wieder einigermaßen brauchbar da. „Ja, er... er ist dabei. Hast du schon einen Gitarristen?“
 

„Nein, noch nicht. Alles okay bei dir?“
 

„Ja, ja. Passt alles.“
 

Tayaka zögert und ich kann spüren, wie eine Frage auf seiner Zunge brennt, doch er scheint sie herunter zu schlucken, denn sie kommt ihm nicht über die Lippen.
 

„Okay, dann gehe ich mit den Beiden schon einmal zu unserem Haus. Siehst du dich nach einem Gitarristen um?“ Tayaka bekommt nur eine kurze Zustimmung von mir und ich zwinge mich von diesen Gedanken los zu lassen. Schließlich bin ich doch hier um mal wieder ein wenig frei zu sein.
 

„Folge den Jungen neben mir namens Tayaka mit Doppelklick auf seinen Avatar. Er bringt dich und deine Freundin zu unserem Bandhaus. Ich komme auch gleich nach. Wir brauchen noch einen Gitarristen.“
 

„Ist okay. Bis später und danke fürs Anschreiben. :)“ Ich sehe, wie Tayaka mit den Beiden verschwindet und schon ist die Last wieder da. Ich sollte lernen. Es ist klüger. Schließlich hab ich noch ein paar Stunden bevor ich ins Bett gehen werde. Aber...
 

Mein Blick wandert über die ganzen Avatare. Sie alle rennen um mich herum. Bleiben vor den schwarzen Brettern stehen oder verschwinden in der Herberge. Ein Ort, den ich niemals zu Gesicht bekommen habe, aber auch jetzt reizt er mich nicht. Zumindest nicht das, was in ihm ist, aber das, was davor sitzt.
 

Ich traue meinen Augen nicht. Kann es wirklich sein? Ein kurzer Mouseover zeigt mir deutlich, dass ich mich nicht täusche. Ich kann mich nicht irren. Niemand könnte in der kurzen Zeit, die es vielleicht möglich wäre, dass der Name neu vergeben wurde, diesen Level erreichen. Er ist wirklich noch hier und dennoch wirkt sein Avatar gerade mehr als verloren.
 

Kurzerhand gehe ich auf ihn zu und sehe ihn an. Als ich ein privates Chatfenster öffne, ploppt sofort eine automatische Meldung auf: „Bin afk. Etwas Essen und so. Komme irgendwann wieder. Schreibt mir und wenn ich Bock habe, schreib ich zurück wenn ich wieder da bin.“
 

Diese Worte sind normal für ihn und lassen mich sogar kurz lächeln, wodurch ich ihn dennoch anschreibe: „Hey, Luzifer. Ich bin es, Gabriel. Zusammen mit Tayaka würde ich gerne seine Band Angels Feather wieder aufleben lassen. Wenn du nichts Besseres zu tun hast, kannst du dich uns ja gerne anschließen. Einen guten Gitarristen kann man immer gebrauchen ;)“
 

Ich hoffe, dass er kommt und auch wenn ich nicht verstehe, warum er vor der Herberge sitzt und laut seinem Profil keiner Band angehört, freut es mich ihn zu sehen und vielleicht dort weiter zu machen, wo wir gezwungen waren damals aufzuhören...

Vergangenheit:
 

Wir standen im Proberaum. Ruhig bezog mein Avatar hinter dem Schlagzeug Stellung, während sich die anderen ebenfalls zu ihren Instrumenten begaben. Es war unsere erste Probe und ich spürte, wie ich nervös wurde.
 

„Mit Doppelklick geht das Fenster auf.“ Tayakas Stimme war sanft und erklärte mir ruhig, was ich tun musste. Ich hatte mir Teamgeek besorgt und so waren die Geräusche der anderen in meinen Ohr. Es wirkte, als würden wir wirklich zusammen in diesem Raum sein. Auch wenn mich die zwei dimensionalen Avatare etwas anderes zeigten.
 

Ich öffnete das Schlagzeug mit Doppelklick und schon erschien das Liedermenü. Sofort wählte ich den Titel aus, den sie spielen wollten. Es waren noch nicht viele Eingabemöglichkeiten vorhanden. An sich gerade einmal zwei Stück und so wirkte es im ersten Moment recht langweilig. Zumindest wenn man danach ging, was ich tun musste, doch das Lied, das erklang, zog mich in seinem Bann.
 

„Warum macht ihr das nicht professionell?“ Ich war gänzlich überrumpelt und wusste gar nicht, was davon Wirklichkeit war und was der Computer davon machte. Daher irritierte mich das Lachen der anderen, bevor dann Azrael antwortete: „Wir können alle keine Instrumente spielen. Das Komponieren in diesem Spiel kann man relativ gut lernen und mit ein wenig Übung klappt es auch ganz gut. Den Rest macht das Spiel dann selbst.“
 

„Okay.“ Ich kam mir gerade sehr dumm vor, doch dann drang die dunkle Stimme von Luzifer zu mir durch: „Ich kann Gitarre spielen.“ Auf seine Aussage hin breitete sich ein betretenes Schweigen aus und irgendwie kam ich mir noch ein wenig kleiner vor. „Azrael hat auch eine sehr schöne Stimme.“ Athena klang jünger als wir und langsam kam in mir das Interesse auf, dass ich das Alter der anderen gerne erfahren würde.
 

„Jetzt übertreibst du aber Athena. Ich singe nur wenn ich der Meinung bin, dass ich alleine bin. Du hättest mich niemals hören dürfen.“ Azrael klang peinlich berührt und ich musste breit grinsen, als man mich plötzlich an der Schulter berührte und ich erschrocken zusammen zuckte.
 

„Du bist immer noch in diesem Spiel? Mit wem redest du denn da? Die Grafik ist doch echt scheiße. Warum bleibst du dabei? Und wo seid ihr überhaupt?“ Das süßliche Parfüm meiner Schwester drang in meine Nase ein und ich funkelte sie böse an.
 

„Es macht Spaß, okay? Und ich unterhalte mich mit meinen Mitspielern. Lass mich in Ruhe.“ Ich versuchte sie zu verscheuchen und erntete von ihr einen giftigen Blick, bevor sie dann beleidigt ihren Kopf wegdrehte. „Tja, das sag ich unseren Eltern. Paps wird bestimmt nicht so begeistert sein, wenn er mitbekommt, dass du den ganzen Tag vor den Rechner sitzt!“
 

Ihre Drohung war mir egal. Was sollte mir der Alte schon tun? Außerdem saß ich noch gar nicht so lange dran. Mit ein bisschen Glück bekam ich es vielleicht sogar auf meinem alten Laptop zum Laufen. Dann könnte mich meine Schwester zumindest nicht mehr nerven.
 

„Wollen wir noch einen Titel spielen?“ Ich hatte die Diskussion über Azraels Gesangskunst gänzlich ignoriert, weil mich meine Schwester abgelenkt hatte und wollte gerade antworten, als mich ein lauter Knall hochschrecken ließ. Mein Körper war so stark zusammen gezuckt, dass ich vor lauter Schwung die Maus hinunter geschleudert hatte und sie nun hilflos an ihrem Kabel baumelte.
 

„Amber meinte, dass du sie nicht an den Rechner lässt und nur ein dummes Spiel spielst?!“ Seine dunklen Augen fixierten mich und ich spürte, wie sich meine Kehle bei dem Anblick leicht zuschnürte, doch sofort war dort wieder der Trotz.
 

„Ich bin noch gar nicht so lange da. Sie übertreibt! Außerdem hat sie nie gesagt, dass sie an den Rechner möchte!“ Im Affekt stand ich auf, um auf einer Augenhöhe mit meinem Vater zu sein und auch wenn wir gleich groß waren, so überragte er mich dennoch und ich fühlte mich klein neben ihm.
 

„Du wirst das, was auch immer du gerade tust, jetzt beenden und in dein Zimmer gehen um zu lernen! Haben wir uns da verstanden?!“ Seine Stimme war ruhig und genau das machte sie so bedrohlich, wodurch ich nur stumm nickte und widerwillig alle Programme schloss, um dann in mein Zimmer zu gehen, doch ganz bestimmt nicht um zu lernen.
 

Dort angekommen, fuhr ich meinen Laptop hoch und lud mir das Spiel und Teamgeek herunter. Zweiteres war schneller fertig, wodurch ich sofort wieder in den Raum meiner Band ging und mich kurz entschuldigte: „Es tut mir Leid, dass ich so plötzlich verschwunden bin. Aber mein Alter.“
 

„Ja, wir haben es gehört. Hey, was geht denn da bei dir ab?“ Tayaka war sichtlich irritiert, doch ich grummelte nur. „Nichts wichtiges. Ich bin jetzt in meinem Zimmer. Drückt mir die Daumen, dass mein alter Laptop das Spiel packt.“
 

„Warum warst du dann überhaupt an dem anderen Rechner?“ Luzifer war verwirrt und ich zuckte kurz mit den Schultern. „Musste paar Sachen für die Schule raussuchen und ausdrucken. Das geht nur dort. Mein Laptop hat keinen Drucker und dann hat mich die Werbung einmal zu oft genervt und ich hab das Spiel installiert.“
 

Xenia lachte kurz auf. „Oh ja, mir ging es ähnlich. Der Trailer kann einen schon überzeugen. Aber ich bereue es nicht und du wirst es bestimmt auch nicht tun.“
 

„Bis jetzt tue ich es auf jeden Fall noch nicht. Aber jetzt heißt es Daumen drücken.“ Die Installation war abgeschlossen und somit versuchte ich das Programm zu starten. Es lud und lud und lud.
 

„Wird das heute noch was?“ Athena wirkte unruhig und auch Xenia schnaubte unwillig. „Scheinbar will es nicht bei dir starten, hm?“ Azrael wirkte ein wenig geknickt, doch ich wollte noch nicht aufgeben.
 

„Es lädt, aber es dauert zu lange, wodurch es sich immer wieder aufhängt. Bestimmt kriege ich es zum Laufen. Mal schauen, was Boogle dazu sagt“, versuchte ich meine Mitspieler zu besänftigen, doch auch Tayaka schnaubte jetzt unwillig. „Das klingt ja nicht so gut. Na ja, ich bin raus. Man sieht sich hoffentlich morgen.“
 

Nach unserer Verabschiedung war er verschwunden und es dauerte nur wenige Herzschläge in denen auch Azrael, Xenia und Athena verschwanden. Nur der ruhige Atem von Luzifer hallte in meinem Ohr nach und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Er sagte nichts, sondern war einfach nur da und ich konnte in seinem Hintergrund eine leise Gitarrenmusik hören, die sich nicht anhörte, als käme sie aus dem Spiel.
 

„Was machst du?“, durchbrach ich die Stille, während ich einen Artikel nach dem anderen öffnete und kurz las, doch bis jetzt war kaum eine Lösung zu finden. Nur hin und wieder probierte ich etwas aus, das nicht funktionieren wollte.
 

„Ich spiele ein wenig, während ich auf dich warte.“ Er zupfte an ein paar Saiten, was mich irritierte. Warum sollte er auf mich warten? Das ergab für mich keinen Sinn. „Wäre es nicht sinnvoller mir zu helfen?“
 

„Ich weiß nicht wirklich wie. Aber es macht in meinen Augen Sinn dich sobald möglich so schnell wie möglich auf ein höheres Level zu bekommen. Damit du aufhörst eine Last zu sein.“ Seine Antwort überraschte mich nur im ersten Moment, doch als er die Erklärung hinterher legte, wurde mir klar, dass es ihm nur darum ging, dass ich möglichst schnell ein brauchbares Mitglied wurde. Es ging ihm nicht um mich, sondern nur um meinen Charakter, der für ihn von Nutzen war.
 

Ich knirschte unwillig mit den Zähnen und durchsuchte die Treffer weiter, als ich endlich eine brauchbare Methode gefunden hatte, die ich mir sogar zutraute, wodurch ich die Anleitung Schritt für Schritt befolgte. Es schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, in der ich vor mich hin murmelte und die leise Gitarrenmusik von Luzifer im Ohr hatte, die diese leichte Stille zwischen uns vertrieb.
 

„Jetzt sollte es klappen und es heißt nun Daumen drücken“, kündigte ich meinen neuen Versuch an und startete das Spiel. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, in der sich der Ladenbalken so langsam wie eine Schnecke bewegte, doch er füllte sich. Stück für Stück und das Gitarrensolo verstummte schließlich.
 

„Na? Wie sieht es aus? Können wir endlich weitermachen?“ Ungeduld war in der Stimme von Luzifer zu hören, doch ich ignorierte sie, wobei mir ein kurzer Blick auf die Uhr verriet, dass ich nicht mehr allzu viel Zeit hatte. Bald würden meine Eltern von mir verlangen ins Bett zu gehen, aber vielleicht schafften wir ja dennoch etwas.
 

„Ja, bald bin ich drinnen. Aber ich kann nicht mehr lange.“
 

„Wieso? Musst du ins Bett?“
 

„Ja und meine Eltern sehen es nicht gerne, wenn ich länger wach bleibe.“
 

„Ernsthaft? Bist du ein Muttersöhnchen oder was?“
 

Er hatte doch gerade den Wutausbruch meines Vaters mitbekommen. Da konnte er doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich mich gegen sie auflehnte, doch dort war wieder dieser Trotz und ich spürte, dass ich eine leichte Wut gegen Luzifer entwickelte.
 

„Nein, bin ich nicht. Aber mein Vater duldet Ungehorsam nicht.“ Ich bekam nur ein amüsiertes Lachen von Luzifer und spürte, wie mir Galle hoch stieg, doch ich schluckte sie herunter und schon öffnete sich das Spiel gänzlich, wodurch ich mich im Wohnzimmer wiederfand.
 

Luzifers Avatar saß auf der Couch und schien wirklich auf mich zu warten, während die anderen nirgends zu sehen waren. „Die liegen alle oben. Sobald man sich ausloggt, wird der Avatar in das Schlafgemach im ersten Stock teleportiert, wo er dann solange schläft bis man zurück kommt. Aber lass uns jetzt nach unten gehen und noch ein wenig üben.“
 

Sofort machte er sich auf den Weg nach unten und ich folgte ihm schließlich, wo wir dann schon eines der Lieder zu spielen begannen. Es klang anders, aber dennoch wirkte es schön. Mit jedem Mal wurde ich besser und mein Level stieg und stieg. Ich wusste nicht, wie schnell die Zeit verging, doch plötzlich ließ mich das Hämmern meines Vaters emporfahren.
 

„Nathaniel! Zeit fürs Bett!“ Dann entfernten sich seine Schritte schon wieder und ich wandte mich zurück zum Spiel. Luzifer lud mich gerade zu einer weiteren Saison ein, doch ich lehnte ab. „Tut mir Leid. Ich muss jetzt raus. Man sieht sich morgen, okay? Danke fürs Warten.“
 

„Tz. Ja, bis morgen.“ Seine Stimme war kühl und distanziert. Dann kam schon die Meldung, dass er den Raum verlassen hatte und somit schloss ich auch die beiden Programme. Irgendwie hinterließ dieser Abschied einen komischen Nachgeschmack auf meiner Zunge, doch ich fuhr meinen Rechner herunter und machte mich fertig fürs Bett, aber das Verhalten von Luzifer ließ mich auch im Schlaf nicht gänzlich los...

Die Dunkelheit, die mich umschließt, wurde nur durch ein sanftes Gitarrenspielen durchbrochen. Sie schien mich zu locken und zu rufen. Ich wusste, wer mich dort erwarten würde und dennoch fragte ich mich, ob er erneut auf mich wartete.
 

Noch bevor ich mich tatsächlich dazu entschlossen hatte, liefen meine Füße von selbst los und trugen mich den ruhigen Klängen entgegen. Ich konnte nicht sehen wohin mich mein Weg führte, doch ich verspürte keine Angst in mir. Denn die Musik führte mich und wurde mit jedem Schritt lauter, aber nicht aufdringlicher.
 

Langsam tauchte aus der Finsternis eine Couch auf und an einem Ende saß Luzifer. Mir war klar, dass es nur sein Avatar war, den meine Fantasie zum Leben erweckt hatte, doch er wirkte plötzlich so real auf mich.
 

Er beugte sich über die Gitarre auf seinem Schoß und seine Finger glitten sanft und schon fast andächtig über ihre Saiten. Ich traute mich nicht näher heran aus Angst, dass ich diesen Zauber dadurch zerstören könnte. Und so blieb ich schweigend am anderen Ende der Couch stehen und beobachtete ihn dabei, wie er sein Instrument spielte.
 

„Wie lange willst du mich noch anstarren? Hab ich was im Gesicht?“ Plötzlich stoppte sein Spiel und er sah mich genervt an. „Nein. Ich wollte dich nur nicht stören.“
 

Es kam nur ein verächtlicher Laut über seine Lippen und ich spürte erneut eine leichte Wut in meinem Inneren, während mein Blick sich kurz abkühlte. „Worauf wartest du? Sitzplätze kosten auch nicht mehr!“ Er deutete mit seinem Plektrum auf den Platz neben sich. „Wir sollten noch ein wenig üben, damit du endlich brauchbar wirst.“
 

Ruhig trat ich neben ihn und kaum nahm ich Platz tauchte ein Schlagzeug vor mir auf. Er sah mich abwartend an und nur zögerlich griff ich nach den Drumsticks, die auf einer der Trommeln lagen. Sie fühlte sich seltsam an. Meine Erinnerung daran war verschwommen. Es war ewig her, dass ich sie tatsächlich in der Hand gehalten hatte. Schlagzeug war kein Instrument für Gewinner und somit verbaten meine Eltern mir es zu erlernen.
 

Kaum hatte ich die zwei Sticks fest umschlossen, begann Luzifer wieder mit dem Spielen. Er zupfte bedächtig an den Saiten. Es war eines der Lieder, die wir auch im Spiel geübt hatten und sofort versuchte ich die Bewegungen meines Avatars nachzuahmen, doch es gelang mir nicht. Mein Spiel klang schrecklich.
 

Daher verwunderte es mich nicht, dass Luzifer schließlich stoppte und sich eine tiefe Zornesfalte auf seiner Stirn bildete. „Du bist echt miserabel. Du wirst niemals brauchbar werden. Tu uns allen einen Gefallen und verlasse die Band.“
 

Seine stechenden blauen, schon fast grauen Augen sahen mich erbarmungslos an und ich spürte erneut diesen Trotz in mir, doch ich traute mich im ersten Moment nicht etwas zu sagen. Wie konnte ich seine Worte entkräftigen? Es stimmte. Mein Spiel klang fürchterlich. Ich... ich würde niemals gut genug für sie sein, oder?
 

„Verschwinde einfach. Du bist es nicht wert, dass wir unsere Zeit mit dir verschwenden.“ Mit diesen Worten erhob er sich und verschwand. Sofort wollte ich aufspringen, doch anstatt seine Gestalt war plötzlich meine Zimmerwand vor mir. Ich saß in meinem Bett und hörte das penetrante Piepen meines Weckers, der mir zeigte, dass es Zeit für die Schule war. Doch anstatt ihn auszuschalten, starrte ich eine Weile auf meinen geschlossenen Laptop.
 

Ich seufzte und fuhr mir durch die Haare, bevor ich das Piepen stoppte und schließlich aufstand. Kurz streckte ich mich und musste kräftig gähnen, bevor ich aufstand und mir ein paar neue Klamotten suche, um dann unter die Dusche zu steigen.

Es war ein seltsames Gefühl dort zu stehen. Das warme Nass auf meiner Haut zu spüren und so jede einzelne Faser meines Körpers wahr zu nehmen. Mit dem Wasser verschwanden auch langsam die Bilder des Traumes im Abfluss und es blieb nur dieses schale Gefühl des Versagens zurück. Ich kannte diesen Luzifer erst seit ein paar Stunden, doch irgendetwas störte und faszinierte mich an seiner Art zugleich. Bestimmt würde ich irgendwann mehr über ihn erfahren. Jetzt hieß es aber erst einmal kurz frühstücken und dann in die Schule.
 

Kaum trat ich aus der Duschkabine, trocknete ich nur kurz meine Haare ab und schlüpfte in die neue Unterhose und Hose. Richtete noch mit schnellen Griffen meine Haare, bevor ich mir das Hemd anzog und es schon beim Rausgehen zuknöpfte, um mir dann meine Krawatte umzulegen und blind zu binden.
 

Ich wusste nicht mehr, wann es für meinen Vater wichtig war, dass ich so in die Schule ging. Am Anfang hatte ich mich gewehrt, doch ich musste sehr schnell einsehen, dass dies keine allzu gute Idee war und es nicht wert war, dass man sich dagegen auflehnte.
 

Meine Mutter stand nur kurz in der Küche, um sich selbst eine Tasse Kaffee einzuschenken und saß dann am Tisch, wo sie durch die Zeitung blätterte. Hingegen mein Vater schon vor der Garderobe stand und sich Schuhe und Jacke anzog, bevor er dann auch schon mit einem kurzen Abschiedswort verschwand. Alleine, dass er nicht mehr da war, ließ mein Leben leichter erscheinen.
 

Ich nahm ebenfalls kurz am Tisch Platz und griff mir ein Brötchen um es zu beschmieren. Butter und eine Scheibe Käse. Ich mochte nichts Süßes und somit ignorierte ich die Marmelade und den Schokoaufstrich, der noch auf dem Tisch stand. Ersteres wurde sowieso gerade von Amber in Beschlag genommen, während sie sich angeregt mit unserer Mutter unterhielt.

Es ging anscheinend um irgendeine Shoppingtour, die sie am Nachmittag mit ihren Freundinnen unternehmen wollte, während kurz ihre Blicke auf mir ruhten, doch ich ignorierte es. Ich hatte gar keine Lust den Packesel für die Drei zu spielen, wodurch ich mein Frühstück schnell beendete, bevor sie mich darauf ansprechen konnten.
 

„Nathaniel! Hast du heute Nachmittag etwa schon etwas vor? Deine Schwester kann bestimmt Hilfe gebrauchen!“ Die Stimme meiner Mutter war wie immer kühl und sie verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, um mehr Autorität auszustrahlen. Doch in meinen Augen wirkte sie dadurch nur aggressiv und distanziert. Nichts, was mich dazu veranlasste eher auf sie zu hören.
 

„Ich muss noch etwas für die Schule machen. Ein paar Schülersprecher Angelegenheiten. Keine Ahnung, wann ich heute nach Hause komme.“ Ich packte meine Brotzeit ein und sah dann noch einmal kurz auf Amber. „Wie sieht es bei dir aus? Bist du fertig? Können wir los oder soll ich schon einmal vorgehen?“
 

Amber sah mich entgeistert an und stopfte sich dann noch den letzten Bissen Brot in den Mund, bevor sie sich von unserer Mutter mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete und dann schließlich ebenfalls ihre Pause zusammenstellte. Ich wartete ein wenig ungeduldig. An sich mochte ich es nicht, wenn wir gemeinsam zur Schule gingen. Ihr Ansehen war nicht besonders gut dort, aber meine Eltern bestanden darauf. Ihrer kleinen Prinzessin könnte ja irgendetwas passieren. Was ihre Anwesenheit für meinen Ruf bedeutete, war ihnen egal. Ihnen war alles egal, was mich betraf, solange es nicht meine schulischen Leistungen betraf oder beeinträchtigte.
 

Wir verließen wie jeden Tag Seite an Seite unser Haus und machten uns auf den Weg. Eigentlich hoffte ich darauf, dass wir wie immer schweigen würden, doch anscheinend war irgendwas in der Marmelade, denn Amber begann ein Gespräch: „Du hast doch bestimmt noch das Spiel weitergespielt, als dich Paps aus dem Wohnzimmer geschmissen hat, oder? Das ist doch total langweilig. Warum verschwendest du deine Zeit damit?“
 

Ich sah sie kurz strafend an, bevor ich dann seufzend den Kopf schüttelte. „Vielleicht hättest du das Spiel länger als fünf Minuten spielen sollen. Es ist nämlich richtig schön, wenn man in einer Band ist und sich mit den Menschen dort austauscht. Bis jetzt macht es mir Spaß und dir kann es an sich egal sein mit was ich meine Zeit verbringe.“
 

„Mir vielleicht. Aber unseren Eltern ist es bestimmt nicht egal. Vielleicht hast du heute Nachmittag doch lieber Zeit mit meinen Freundinnen und mir shoppen zu gehen.“ Ein bösartiges Funkeln trat in ihre Augen und ich traute meinen Ohren nicht. War das wirklich das, was ich gerade glaubte? Ist doch nicht ihr Ernst, oder?
 

„Versuchst du gerade mich zu erpressen, Schwesterherz? Außerdem ist es auch unseren Eltern egal. Solange meine Noten nicht darunter leiden und das habe ich nicht vor.“ Ich beschleunigte meine Schritte. Auf dieses Gespräch hatte ich definitiv keine Lust. Vor allem nicht wenn es auf Erpressung hinaus lief.
 

„Hey! Warte! Das sag ich unseren Eltern!“ Wie ich diesen Satz von ihr hasste! Am Liebsten würde ich ihr jedes Mal dafür eine Ohrfeige verpassen, doch ich rettete mich in ein gequältes Lächeln. „Was willst du ihnen sagen?“
 

„Dass du mich alleine auf der Straße lässt!“ Sie atmete ein wenig schwerer, als sie neben mir zum Stehen kam, doch ich hatte kein Mitleid mit ihr. „Wenn wir so schnell laufen, dann fang ich das Schwitzen an und das geht nicht. Ich kann doch nicht verschwitzt in die Schule gehen.“
 

Die hatte Probleme. Mit einem abfälligen Laut wandte ich mich ab und ging jetzt jedoch wieder im normalen Tempo weiter. Ihr süßliches Parfüm drang in meine Nase und desto öfters ich es wahrnahm, umso weniger konnte ich es leiden. Es bedeutete immer Ärger und da war sie wieder: Die Sehnsucht nach einem eigenen Leben. Ich konnte es gar nicht erwarten auf eigenen Beinen zu stehen und endlich meine Ruhe zu haben. Doch das würde noch so lange dauern. Viel zu lange...

Gegenwart:
 

„Ich komme jetzt zu euch. Hab Luzifer eine Nachricht hinterlassen. Vielleicht kommt er ja und wenn nicht, dann geh ich nochmal auf die Suche.“ Ich mache mich voller Zuversicht auf den Weg zu unserem Bandhaus und ich höre schon wie Tayaka die Luft scharf anzieht, als hätte ich ihm mit voller Wucht auf den Finger gehauen.
 

„Echt jetzt? Den hast du gefragt? War kein anderer da?“
 

„Doch, aber wieso denn nicht? Luzifer ist gut und er ist auch zuverlässig. Ich sehe da kein Problem, warum er nicht mitmachen sollte. Laut seinem Avatar ist er aktuell auch in keiner Band. Also, sprich doch nichts dagegen. Ist ja nicht so, dass ich ihn irgendwo abwerbe.“
 

„Echt? Wieso denn das? Normalerweise war er doch immer in einer. Schon komisch. Was ist wohl aus seiner Band mit Xenia geworden?“
 

„Weiß ich nicht. Aber er kann uns dabei helfen die zwei Neulinge höher zu bekommen. Desto mehr wir sind, umso schneller wird es gehen.“
 

„Du weißt, dass er so etwas hasst wie die Pest, oder?“
 

„Ja, schon. Aber was sollen wir denn bitte sonst tun? Soll ich irgendeinen x-beliebigen ansprechen? Bei ihm wissen wir zumindest, dass er dran bleibt!“
 

„Ja, am Spiel, aber nicht unbedingt in der Band! Außerdem ist jeder besser als der!“
 

Der Wutausbruch von Tayaka irritiert mich und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Schließlich kann ich mich nicht daran erinnern, dass er große Probleme mit Luzifer hatte. Klar, er ist nicht unbedingt leicht im Umgang, aber man kann es dennoch lernen und an sich hatten wir alle den Dreh am Ende raus.
 

„Was ist damals passiert?“ Ich will es verstehen und auch wenn ich ein wenig Angst habe, weiß ich, dass ich die Geschichte hören muss, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Tayaka seufzt schwer und ich kann direkt spüren, wie er um Worte ringt. Nur weiß ich nicht, ob es daran liegt, dass er keine findet oder nicht will.
 

„Es ist kompliziert, okay?“, weicht er aus und ich spüre, dass es zweiteres ist, dennoch will ich es nicht darauf beruhen lassen. Diese Geschichte ist wichtig und er muss es mir endlich erzählen, doch bevor ich etwas sagen kann, trudelt schon eine Antwort von Luzifer ein.
 

„Gabriel? Du bist wieder da? Ich komme!“ Seine Reaktion verwirrt mich so sehr, dass es scheinbar selbst Tayaka mitbekommt, denn dieser hakt sofort nach. „Was ist los? Ist irgendetwas passiert?“
 

„Luzifer kommt hierher. Er scheint mitmachen zu wollen.“ Seine Reaktion überrascht mich. Ich rechnete mit viel, aber nicht damit. Er scheint es kaum erwarten zu können mich wieder zu sehen. Was war nur in den drei Jahren passiert? Ich hätte eine kühlere Begrüßung erwartet.
 

„Echt jetzt? Ach, verdammt!“ Tayaka seufzt schwer und ich lasse meinen Avatar im Flur stehen. Eigentlich hatte ich vor in den Proberaum zu gehen, um Tayaka beim Training der Neulinge zu helfen, doch jetzt warte ich darauf, dass Luzifer ankommt, was nicht lange dauert. Nur wenige Atemzüge später klingelt es an der Tür und ich öffne das Schloss, um dann auf seinen Avatar zu sehen.
 

Ich kann nichts sagen, sondern schaue ihn nur an und auch er bleibt abrupt stehen und traut sich keinen Zentimeter weiter. Als schon eine neue Nachricht im Chat erscheint. „Du bist es wirklich. Du hast es echt gewagt zurück zu kommen.“
 

Meine Kehle schnürt sich plötzlich zu und ich höre die Fragen von Tayaka nur am Rande ohne sie wirklich zu verstehen. Ich starre weiter auf den Avatar und diese wenigen Worte. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und tippe nur ein einfaches „Hi“ in den Chat. Mein Avatar winkt automatisch und ich fühle mich so dämlich dabei. Nach all den Jahren bringen ich wirklich nicht mehr zustande. Idiotisch!
 

Plötzlich wird meinem Avatar eine verpasst, was mich irritiert und ich begreife nicht, seit wann das denn möglich ist, doch mein Charakter rappelt sich wieder auf und ich sehe nur, dass meine Laune dadurch ein wenig gefallen ist. Genauso wie sich meine Wange leicht verfärbt.
 

Ich bin der Meinung, dass wir jetzt quitt wären, doch anstatt sich unserer Band anzuschließen, lehnt er meine Einladung ab und wendet sich mit wutverzerrten Gesicht ab. „Schreib mich nie wieder an! Am Besten verpisst du dich gleich wieder! Beim nächsten Mal kommst du nicht so leicht davon!“
 

Sein Avatar verschwindet vor meinen Augen in der Masse und ich verstehe nicht, was gerade passiert ist und erst die Stimme von Tayaka holt mich zurück in die Wirklichkeit: „Was ist denn passiert? Er ist nicht in unserer Band. Ist er noch nicht da?“

„Doch, aber er ist wieder gegangen.“ Ich kann meine Worte selbst nicht glauben. Wieso ging er wieder? Warum schlug er mich? Er... er wollte das damals doch, oder etwa nicht?
 

„Häh?! Was sollte denn das? Klar, er war echt sauer gewesen, als du einfach abgehauen bist ohne einen richtigen Abschied. Aber hey, keiner von uns war darüber glücklich. Auch die anderen haben dich für eine gewisse Zeit zum Teufel gejagt. Ich dachte aber eigentlich, dass er sich wie wir alle irgendwann gefangen hätte.“
 

„Es tut mir Leid.“ Ich hab eine Ahnung, warum er es eben nicht vergessen hat. Schließlich habe ich nicht nur den Kontakt im Spiel zu ihm abgebrochen, sondern auch außerhalb. Etwas, was die anderen niemals erfahren haben. Zumindest nicht von mir. Nur Xenia wusste es damals. Aber ich...
 

„Na ja, jeder macht mal Fehler. Schwamm drüber. Jetzt bist du wieder da und gut ist.“ Ich kann das Lächeln von Tayaka richtig hören. „Komm runter und hilf mir mit unseren Neulingen. Wenn wir zu zweit sind, dann geht das schneller.“
 

„Ist okay.“ An sich ist mir die Lust an dem Spiel gerade vergangen, aber ich habe Tayaka versprochen, dass ich ihm helfe und das muss ich auch halten. Also lasse ich meinen Avatar die Treppen nach unten steigen und nehme hinter dem Schlagzeug Platz, als Tayaka schon das nächste Lied startet.
 

Die zwei Neuen – Akiko und Nocturn – haben schon einige Level bekommen und scheinen Spaß zu haben, denn immer wieder erscheinen grinsende Smileys über ihren Kopf, wodurch ich nun auch anfange wieder in das System des Spiels zurück zu finden. Doch das ist gar nicht so leicht, denn immer wieder kommen mir die Worte von Luzifer in den Sinn und ich fange an mich wie der größte Idiot zu fühlen, aber ich konnte damals einfach nicht anders...

Ich bemerke, wie es langsam ruhig wird in unserem Haus. Die Lichter gehen aus und ich stehe immer noch mit Tayaka im Proberaum. Mein eigenes Zimmer ist mittlerweile in Finsternis getaucht und mein Verstand sagt mir, dass ich aufhören soll. Auch wenn morgen nichts Wichtiges ansteht, so sollte ich nicht als Zombie dort hinkommen. Mein Vater wird das bestimmt nicht gerne sehen.
 

„Ich muss jetzt raus. Brauche schließlich meinen Schönheitsschlaf.“ Akikos Stimme ist angenehm, aber sie zeigt deutlich, dass sie sich nichts gefallen lässt. Sie und Nocturn holten sich Teamgeek, sodass wir uns das Schreiben endlich sparen konnten.
 

„Das klingt nach einer guten Idee.“ Nocturn wirkt ruhiger und überlegter als sie. Er spricht eher weniger, aber seine Stimme ist angenehm und somit hört man ihm gerne zu. Ich kann mir vorstellen, dass er durchaus auch im richtigen Leben ein guter Sänger sein könnte.
 

„Man sieht sich morgen, oder?“ Tayaka ist wie immer vollends begeistert und ich kann sein Lächeln direkt hören, wodurch ich ebenfalls leicht grinse, als schon die Antworten der beiden kommen.
 

„Natürlich! Du kannst dich auf mich verlassen!“ - „Ja, bis morgen.“
 

Dann sind sie auch schon verschwunden. Kaum verklingt der Abmeldeton von ihnen, höre ich ein lautstarkes Gähnen von Tayaka. Dieses Phänomen ist wirklich immer wieder aufs Neue faszinierend. Sobald einer anfängt zu gehen, folgen so viele, denn auch Tayaka verabschiedet sich: „Du, Gabriel, ich bin auch raus. Bist du morgen wieder da? So wie immer? Eher abends?“
 

„Ja, ich werde es versuchen. Kann aber nichts versprechen. Du weißt ja.“ Ich lächel ein wenig zerknirscht, wodurch Tayaka kurz seufzt. „Immer noch? Hat sich daran nichts geändert? Spinnen deine Alten damit echt noch rum? Solltest du nicht bald alt genug sein, um es selber entscheiden zu können?“
 

„Ja, ja und nochmal ja. Aber... es passt schon.“ Ich will mit ihm darüber nicht reden. Auch damals habe ich kein Wort verloren. Nicht als es begonnen hat und auch nicht, wenn es passiert war kurz bevor ich zu ihnen gestoßen bin. Das ist der Vorteil der Anonymität des Internets. Du kannst deinen Schmerz und deine Verletzungen ganz gut verstecken. Einfach so tun als wäre es nie passiert.
 

„Oh Mann. Du bist echt nicht zu beneiden. Na ja, ich bin raus. Bis morgen, okay? Cool, dass du wieder da bist, Gabriel.“ Ich verabschiede mich ebenfalls und dann ist er auch schon verschwunden. Ein tiefes Seufzen kommt über meine Lippen und ich schließe kurz die Augen. An sich sollte ich echt auch ins Bett gehen, aber... irgendwas blockiert mich und gerade will ich die Kopfhörer abnehmen und aus dem Chatraum gehen, als plötzlich jemand rein kommt.
 

Ich traue meinen Augen nicht und muss trocken schlucken, als ich den Nick lese: Luzifer. Woher kennt er die Zugangsdaten? Warum ist er hier? Was soll das alles? Soll ich gehen oder bleiben? Bin ich der Grund oder wer anderes? Hat er sich vielleicht verirrt?
 

Ich spüre erneut diesen Kloß in meiner Kehle und lausche nur auf das leise Atmen, das aus meinen Kopfhörern kommt, bevor ein leises Gitarrenspielen anfängt. Er sagt nichts und ich bin gerade auch nicht fähig dazu, sondern kann nur den sanften Klängen lauschen, die mir so bekannt sind.
 

Dieses Stück spielte er immer wenn wir alleine waren. Jedes Mal kam dabei ein weiteres Stück dazu. Es wurde länger und komplexer, doch bis heute verstehe ich seinen Sinn nicht und auch jetzt kann ich nur lauschen und schweige. Die Erinnerung an unseren ersten gemeinsamen Abend alleine kommt zurück. Wie er auf mich wartete, während alle anderen schon gegangen sind. Auch damals spielte er dieses Stück.
 

Ich schweige und lausche. Auch wenn alles in mir danach schreit, dass ich etwas sage. So kann ich es nicht. Bis jetzt ist es mir bekannt. Die Töne sind sanft, freundlich und verspielt, doch nach und nach werden sie schwerfälliger. Schon fast melancholisch. Diesen Teil kenne ich noch nicht und nur kurz erwacht in mir das Gefühl nachzufragen, doch ich kann nicht. Ich will das Spiel nicht zerstören.
 

Der Song ist so voller Schmerz und Trauer, die sich nach und nach in Wut verwandelt. Die Noten werden aggressiver und auch das Stück wird wieder schneller. Impulsiver, bis es sich in einer großen Explosion entlädt und dann mit wenigen fröhlichen Noten endet. Der letzte Akkord hallt lange nach und ich merke erst jetzt, dass ich vor Spannung die Luft anhielt, wodurch ich erst einmal tief durchatme und dann weiter lausche.
 

Soll ich etwas sagen? Will er etwas von mir hören? Doch ich kann nicht. Weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Ich will ihn nicht verärgern. Niemanden mehr, doch dann höre ich ein Räuspern von ihm. Scheinbar scheint es ihm ähnlich zu gehen, bevor seine dunkle Stimme die Stille durchbricht: „Willkommen zurück.“
 

Ich will etwas sagen, doch er hat den Chat schon wieder verlassen. Noch bevor ich irgendetwas sagen kann und so lasse ich meinen Avatar aus dem Haus stürmen. In Richtung Stellenmarkt, wo auch die Herberge in der Nähe ist. Ich eile dorthin und sehe ihn vor einem der Schwarzenbretter stehen. Über seinem Avatar ist das Besichtigungssymbol und ich kann wirklich nicht glauben, was er da tut. Er sucht sich eine neue Band, anstatt sich unserer anzuschließen! Ernsthaft!?
 

Ich spüre, wie erneut Zorn in mir aufkommt. Wie kann man nur so ignorant, verbohrt und stupide sein?! Er kann doch echt nicht unser Angebot ablehnen, weil er noch wegen damals schmollt! Schließlich gehören dazu immer zwei! Er hat genauso viel Schuld an all dem! Ich... ich ging doch nur, damit ich ihm sein Spiel nicht kaputt mache!
 

„Was sollte das?!“, schreibe ich ihn privat an. „Wieso suchst du eine neue Band aber kommst nicht zu uns? Vor allem, wenn du nicht zu uns willst, warum gehst du dann in unser Teamgeek?! Woher hast du überhaupt die Daten?! Wieso verschwindest du einfach?! Was soll dieses Lied?“
 

„Bist du umgezogen?“ Seine Frage irritiert mich und ich sehe seinen Avatar verwirrt an. Was soll das jetzt? Soll ich darauf jetzt antworten? Er antwortet mir ja auch nicht, doch meine gute Erziehung lässt kein anderes Verhalten zu: „Nein.“
 

„Okay, morgen um Drei in den Park von damals, verstanden?“ Was? Was geht denn jetzt ab? Meint er wirklich, dass er so mit mir umgehen kann? Ernsthaft?! Nein, nicht mit mir!
 

„Nein, geht nicht. Hab Schularbeiten zu tun.“
 

„Immer noch so ein Streber, hm? Hast immer noch Angst vor deinem Papi?“ Sein Avatar lacht und ich weiß, dass er mich damit provozieren will und es klappt natürlich auch. „Ich habe nun einmal meine Pflichten! Es ist nichts Schlimmes dabei gewissenhaft zu sein! Kann nicht jeder so rücksichtslos sein wie du!“ Wieso lasse ich mich immer von ihm provozieren?
 

„Wenigstens verrate ich meine Freunde nicht.“ Dieser eine Satz trifft mich hart und ich muss trocken schlucken. Ich sollte gehen. Raus aus dem Spiel. Ab ins Bett, doch ich starre nur auf den Satz und den Avatar von Luzifer. Er will mich treffen und dann? Soll es so wie das erste Treffen werden oder eher wie das Letzte? Was will er von mir? Wie sieht er mich?
 

„Du kennst den Grund ganz genau.“ Ich kann nicht mehr schreiben. Zu tief sitzt die Wunde, die er mir mit diesem Satz zugefügt hat, doch sein Avatar verzieht nur verächtlich die Lippen. Sie sind wirklich sehr genau geworden mittlerweile.
 

„Wann hast du Zeit?“ Erneut übergeht er das Thema, das immer noch wie ein Damoklesschwert über uns schwebt. „Vielleicht am Wochenende. Aber... ich weiß nicht, ob das so gut ist. Mein Vater sieht es nicht gerne, wenn ich zu viel draußen unterwegs bin. Demnächst sind auch noch Prüfungen.“
 

Erneut lacht sein Avatar auf. „Immer noch? Muttersöhnchen. Na ja, dann halt nicht.“ Mit diesen Worten verschwindet er vor meinen Augen. Er hat sich einfach ausgeloggt und ich selbst spüre, wie mein Herz schwerer wird. Nein, er hat sich nicht verändert. Kein bisschen und dennoch bildet sich langsam ein Kloß in meinem Hals, wenn ich nur an das Treffen denke. Ein Kloß, den ich krampfhaft hinunter schlucke und der wie ein Stein in meinen Magen fällt.
 

Damals schien alles nur perfekt. Bevor wir uns das erste Mal getroffen hatten, war die Welt noch in Ordnung und auch wenn es damals ins Chaos gestürzt wurde. Ich würde es immer wieder tun...

Vergangenheit
 

„Langsam wird es ja direkt etwas.“ Luzifers Stimme klang schwer in meinem Kopf nach, als wir nur zu zweit im Proberaum standen. Es passierte immer wieder, dass alle schon gegangen waren und nur noch wie Zwei übrig blieben. Auch jetzt öffnete er das nächste Lied und wir begannen zu spielen. Meine Eingabemöglichkeiten waren schon komplexer geworden und jedes neue Stück begann erst einmal eine Herausforderung zu werden, doch sobald ich es ein paar Mal gespielt hatte, konnte ich die Bewegungen schon fast im Schlaf.
 

„Ja, danke, dass du so viel mit mir übst.“ Ich musste leicht lächeln und Luzifer schnaubte nur kurz. Schmetterte so das Kompliment ab, wie er es immer tat. „Reiner Eigennutz. Morgen haben wir ein Konzert. Ich hoffe, dass du pünktlich sein wirst. Ist schließlich leicht vor deiner Zeit. Keine Ahnung, was sich Azrael da gedacht hatte.“
 

Ich lächelte kurz gequält, doch dann zuckte ich mit den Schultern. „Ja, dürfte schon klappen. Ich habe keine Schulpflichten und Hausaufgaben kann ich auch später machen. Sollte also kein Problem sein.“
 

Alleine bei dem Gedanken an das Konzert wurde mir ein wenig flau im Magen. Es wäre mein erstes und ich wusste nicht, ob ich wirklich bereit dafür war. Andererseits war ich mittlerweile schon auf Level Vierzig angekommen und stand somit den anderen in nichts nach. Das Spiel machte Spaß und ich verbrachte jede freie Minute damit. Manchmal sogar Zeit, die ich an sich nicht hatte, doch ich fühlte mich frei, wenn ich mit ihnen sprach.
 

„Du bist immer noch wach?“ Amber öffnete einfach die Tür und sah mich ein wenig verschlafen an. Sie trug ein leichtes Nachthemd und in ihren Haaren waren Lockenwickel. Davon mal abgesehen, dass sie ungeschminkt mehr als ungewohnt war. Ich hatte sie schon ewig nicht mehr so gesehen und konnte ein überraschtes Zusammenzucken daher nicht vermeiden.
 

„Amber! Klopf gefälligst an!“, zischte ich sie an, doch sie ignorierte meinen aggressiven Ton und trat neben mich. „Du spielst das echt immer noch? Echt jetzt? Und dann auch noch zu so später Stunde. Papa wird das gar nicht gefallen.“
 

Ich konnte ein diabolisches Aufblitzen in ihren Augen sehen und verdrehte genervt die Augen, bevor ich sie dann wieder sanft zur Tür hinausschob. „Es kann dir und ihm egal sein. Jetzt verschwinden und geh schlafen. Sonst kriegst du noch Falten.“
 

Auf meinen letzten Satz hin wurde sie weiß wie eine Wand, doch sie fing sich relativ schnell wieder und ging dann zurück in ihr Zimmer. Leider nicht ohne eine letzte Drohung auszusprechen: „Wir werden es ja sehen.“
 

Sie war meine Zwillingsschwester und dennoch war sie so bestialisch zu mir. Ich würde sie so gerne hassen, doch irgendwie konnte ich es nicht wirklich. Aber auf ihre Nähe konnte ich dennoch verzichten und so schloss ich mit einem schweren Seufzer die Tür. Was sollte ich denn bitte jetzt tun?
 

„Wer war denn das?“ Luzifer wirkte irritiert und ich winkte schon ab. „Nur meine Schwester. Nicht so wichtig.“
 

„Echt ein reizendes Ding.“ Man hörte deutlich, dass Luzifer auf eine Bekanntschaft mit ihr verzichten konnte und Gott sei Dank schien ihm das auch erspart zu bleiben. „Hast du auch Geschwister?“
 

„Nein.“ Mehr sagte er nicht, sondern schwieg erneut, bevor ich spürte, wie ich langsam unruhig wurde. Die Worte meiner Schwester ließen mich nicht los und so versagte auch meine Konzentration. Immer mehr Fehler schlichen sich in mein Spiel und Luzifer bemerkte dies verwirrt. „Was ist denn jetzt los? Hast du nen Schlaganfall erlitten?“
 

„Nein, ich bin nur abgelenkt. Vielleicht sollte ich für heute auch Schluss machen. Wir haben genug geübt. Ich werde morgen schon nicht versagen.“ Meine Hände zitterten leicht, wodurch ich sie zu Fäusten ballte und Luzifers Antwort lauschte: „Scheint so. Na ja, man sieht sich morgen. Gute Nacht.“
 

Er loggte sich aus und verschwand nach meiner Verabschiedung aus dem Chat. Ruhig schloss auch ich das Fenster, um dann aufzustehen und mich ins Bett zu legen. Doch schlafen konnte ich nicht. Immer wieder rollte ich mich von einer Seite zur anderen. Versuchte irgendwo Ruhe zu finden, doch es ging nicht. Alles schien unbequem. Nichts schien zu passen. Ich wusste nicht, wie lange ich mich herum wälzte, bevor mich dann doch der Schlaf übermannte und ich erst wieder von meinem Wecker aufgeschreckt wurde. Doch es passierte viel zu spät.
 

Als das Piepen erklang, fühlte ich mich wie vom Bus überfahren. Meine Glieder waren schwer und ich konnte die Augen nur mit größter Mühe aufmachen. Ich drehte mich herum und wollte nur noch für ein paar Sekunden die Augen schließen, als mich dieses Mal das Klopfen meiner Mutter aus den Schlaf riss. „Nathaniel! Aufstehen! Du kommst sonst zu spät zur Schule!“
 

Warum machte sie so einen Stress? Es war doch noch gar nicht so... Scheiße! Ich fuhr erschrocken hoch, als ich die Ziffern auf meinem Wecker erkannte und sprang schon fast aus dem Bett, um mir nur noch die Sachen von gestern überzuwerfen.

Ich war wieder eingeschlafen! Keine Zeit mehr für irgendetwas! Ich musste wirklich los!
 

Und so rannte ich an der Küche vorbei. Schnappte mir nur kurz einen Apfel für unterwegs und noch eine Orange für die Pause. Für mehr war wirklich keine Zeit. Meine Haare richtete ich mit einer gezielten Handbewegung und schnappte dann auch schon die Hand meiner Schwester, die ungeduldig neben der Haustür wartete.
 

„Los! Wir müssen uns beeilen!“ Sie hatte Probleme am Anfang mitzuhalten und begann sich gegen meinen Griff zu wehren. „Nath! Was soll das? Jetzt mal langsam! Du weißt, dass ich es hasse zur Schule zu laufen! Ich will nicht verschwitzt dort ankommen!“
 

Schließlich schaffte sie es sich loszureißen und ich stoppte kurz, bevor ich dann langsamer weiterging. „Ist ja gut. Ich will nur nicht zu spät kommen.“
 

„Das werden wir schon nicht. Hast wohl gestern zu lange das dumme Spiel gespielt, hm?“ Ihre Stimme ist schnippisch und ich ignorierte den böswilligen Unterton in ihr. Der war immer da und ich glaube, dass ich ihn vermissen würde, wenn er mal fehlen sollte. „Eigentlich nicht. Nach deinem nächtlichen Besuch habe ich zeitnah ausgemacht. Der Wecker hat mich nur blöd erwischt.“
 

„Das sage ich Papa. Wenn das nicht sogar schon Mama tut.“ Dieses schadenfrohe Grinsen begleitete mich nun schon mein ganzes Leben. Solange, wie ich immer den Ärger bekam und sie die Prinzessin war. Ein Umstand, den ich langsam nicht mehr ertrug, aber dem auch noch nicht entkommen konnte.
 

„Schon einmal etwas von Solidarität gehört?“ Ich sah sie böse von der Seite an, doch sie fuhr sich nur arrogant durch ihre langen, blonden Haare. Ein Fakt, der bei uns gleich war, doch ebenfalls anders. Ihre waren lang und wellig. Meine dagegen kurz und glatt. Na ja, sie half halt über Nacht immer nach.
 

„Das bist du auch nicht, Bruderherz.“ Ein eigentlich schöner Kosename, der aber schon lange seine positive Wirkung verloren hatte. Sie war schon seit Jahren nicht mehr meine Verbündete, sondern der Feind in den eigenen Reihen. Alles steckte sie brühwarm unseren Eltern. Sei es mein Versagen oder Fehlverhalten in der Schule oder meine Grenzübertretungen im privaten Bereich. Manchmal würde ich gerne wissen, was sie dafür bekam.
 

Ich schwieg schließlich. Diese Diskussion hatte keinen Sinn und so durchschritten wir das Schultor, um das Gebäude zu betreten. Mein Körper fühlte sich immer noch schwer und bleiern an. Auch spürte ich, dass ich mich nur schlecht konzentrieren konnte, was dazu führte, dass ich die ein oder andere Frage nicht richtig beantworten konnte. Bis die Lehrer einsahen, dass man mich heute nicht gebrauchen konnten. Sie hatten Verständnis. Meine Familie nicht.
 

Ich wusste nicht mehr, wie ich den Schultag herum brachte, doch es gelang mir und so befand ich mich mit meiner Schwester auf den Heimweg. Sie hatte ihr Handy in der Hand und tippte wild irgendwelche Nachrichten. Das war mir ganz Recht. Dann würde sie sich nicht mit mir unterhalten wollen. Etwas wofür ich jetzt definitiv keine Energie mehr hatte.
 

Schließlich kamen wir Zuhause an und ich spürte plötzlich den Anflug von purer Panik. Etwas schien mein Unterbewusstsein bemerkt zu haben, was nichts Gutes bedeutete. Ich sollte hier verschwinden und zwar so schnell wie möglich, wodurch ich überhastet aus meinen Schuhen schlüpfte und über den Flur in mein Zimmer eilen wollte. Ein Ort, an dem ich so schnell nicht ankommen sollte.
 

„Nathaniel!“ Die eiskalte Stimme meines Vaters hallte durch das Wohnzimmer zu mir und ich stoppte. Mein Körper war wie gelähmt. Wieso war er schon hier? Ich musste weg. In mein Zimmer und den Schlüssel umdrehen.
 

Ich lachte in Gedanken auf. Mein Zimmer besaß gar keinen Schlüssel. Zumindest war er nicht in meinem Besitz. Es gab keinen sicheren Ort vor ihm und so blieb ich weiter wie erstarrt stehen. Sah die Treppenstufen hinauf und wünschte mich nach dort oben.
 

„Komm her!“ Scheinbar hatte er gehofft, dass er es nicht aussprechen hätte müssen, doch auch jetzt brauchte ich einige Atemzüge, um auf seinen Befehl zu reagieren, bevor ich mit zitternden Beinen näher kam. Alles in mir sträubte sich dagegen diesen Raum zu betreten. Das edel eingerichtete Zimmer mit dieser schönen Couch, auf der meine Mutter und meine Schwester saßen.
 

Amber grinste mich wie immer schadenfroh an, während die Miene meiner Mutter schon fast ausdruckslos war. Mein Vater stand zu mir gewandt nur wenige Schritte in Richtung Tür von ihnen entfernt und in seinem Gesicht war purer Zorn zu sehen.
 

„Du warst heute unkonzentriert in der Schule und bist kaum aus dem Bett gekommen. Stimmt das?“ Seine Stimme war scharf und schneidend. Ich zuckte unter ihnen wie unter Schläge zusammen. Was sollte ich tun? Egal, was ich antwortete. Nichts würde richtig sein. Mein Blick glitt hilfesuchend zu meiner Mutter. Doch sie erhob sich und nahm Amber bei der Hand, um dann das Zimmer zu verlassen.
 

„Es kommt nicht wieder vor“, flüsterte ich und machte mich unbewusst kleiner. „Stimmt es, dass du deine Zeit mit einem dämlichen Spiel vergeudest?!“ Meine Entschuldigung prallte an ihm ab. Wie immer hörte er eh nichts von dem, was ich sagte. Es war egal. Er glaubte schon alles von den anderen Zwei gehört zu haben und ich log ihn in seinen Augen eh nur an. Verzweifelte Ausflüchte hatte er sie früher immer genannt. Damals, als er noch auf meine Worte reagiert hatte.
 

„Du wirfst deine Zukunft deswegen nicht weg!“ Der erste Schlag traf mich obwohl ich ihn kommen sah total unvorbereitet. Ich wusste, dass ich mich wehren sollte. Zumindest sie irgendwie abfangen, doch mein Körper war wie gelähmt. Als er weiter auf mich einschlug. Überall in meinem Körper explodierte der Schmerz und ich begann mich zusammen zu kauern. Mich irgendwie zu schützen, aber egal, was ich tat. Er fand immer wieder ein Ziel.
 

In solchen Momenten bestand meine Welt nur noch aus Schmerzen. Ich vergaß die Zeit und manchmal entglitt mir sogar mein eigenes Selbst. Keine Ahnung, wann er von mir abließ, aber ich wusste, dass es noch nie so schlimm war wie dieses Mal.
 

Es fing mit festen Drücken der Schultern an. Nach und nach wurden diese Berührungen schmerzhaft. Dann ging es über zu Schlägen auf den Hinterkopf. Meine erste Ohrfeige bekam ich, als ich mal die Zeit in der Schule übersehen hatte und nicht pünktlich zum Essen Zuhause war. Aus der Ohrfeige wurden irgendwann richtige Schläge. Aber sie waren bis zu diesem Moment immer einzeln gewesen.
 

„Steh auf, Junge. Ich hoffe, dass du es jetzt endlich verstanden hast. Du musst lernen, um etwas im Leben zu erreichen. Ich will nur dein Bestes. Lass dich nicht von solchen Unsinn ablenken und jetzt... hilf deiner Mutter in der Küche.“
 

Er reichte mir die Hand und half mir hoch. Ich hatte Angst sie zu ergreifen, doch dadurch griff er nur nach meinen Arm und zerrte mich unsanft in die Höhe. Schmerz raste durch meinen Körper und ich zog scharf die Luft ein.
 

„Verstanden, Junge?“ Er sah mir fest in die Augen und ich konnte nicht anders als zu nicken, wodurch ich mich auf den Weg in die Küche machte. Ich wusste, dass ich so die Verabredung mit den anderen nicht einhalten konnte. Aber... ich konnte nicht. Ich konnte ihm nicht widersprechen. Schließlich war er mein Vater. Er hatte immer gut für mich gesorgt und... irgendwie war ich doch selbst schuld daran. Hoffentlich könnten sie mir mein Fehlen verzeihen. Ich... ich machte immer alles falsch....

Immer wieder vibrierte mein Handy in der Hosentasche. Es waren kurze Nachrichten. Ab und an sogar ein Anruf, doch ich wagte es nicht es rauszuholen um nachzusehen. Mit gesenkten Blick und schweigend half ich meiner Mutter bei der Vorbereitung des Essens, bevor ich dann anfing den Tisch zu decken.
 

Meine Schwester saß auf der Couch und sah fern, während sie weiter eifrig in ihr Handy tippte. Ich hatte aufgehört diesen Umstand zu hinterfragen, sondern erneut suchte mein Blick den meiner Mutter. Sie sah mich immer nur kurz an. Ohne Gefühle und gleichgültig. Ich wusste nicht, was sie dachte. Lieber ich als sie?
 

Sofort schüttelte ich diese Gedanken ab. So etwas wollte ich nicht denken und so konzentrierte ich mich darauf meine Aufgabe gewissenhaft zu verrichten. Immer wieder zitterten meine Hände und ich versuchte sie unter Kontrolle zu bekommen, doch es wollte nicht funktionieren.
 

Zwar saß unser Vater bei Amber auf der Couch und sie unterhielten sich oberflächlich, doch ich spürte seinen prüfenden Blick, wodurch ich nur noch nervöser wurde. Keine Fehler. Ich durfte heute keine Fehler mehr machen.
 

Mein ganzer Körper schmerzte unter jeder Bewegung, doch ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, sondern weiter meiner zugeteilten Arbeit nachzugehen. Ruhig deckte ich den Tisch zu Ende und im nächsten Moment saßen wir schon alle an ihm um ruhig zu essen.
 

„Scheinbar hast du wenigstens das heute richtig gemacht.“ Die Stimme meines Vaters war kühl und distanziert. Auch sein harter Blick traf mich, wodurch ich nur kurz dankend nickte und dann zögernd zum Essen begann. Ich verstand nicht, warum mich Amber so angrinste, bevor sie meinen Beispiel folgte und wir alle schweigend aßen. Dabei versuchte ich das Zittern meiner Hände so gut es ging zu verstecken. Mal klappte es besser. Mal schlechter. Manchmal war es so heftig, dass mein Essen zurück auf den Teller fiel, doch alle schwiegen.
 

Kaum waren wir fertig, räumte ich den Tisch ab und wollte nach oben gehen, doch mein Vater stoppte mich sofort wieder: „Wo gehst du hin?“ „Nach oben. Hausaufgaben machen und lernen.“ Es war zum Teil gelogen. Ich wollte Hausaufgaben machen, doch für das Zweite fehlte mir aktuell die Konzentration.
 

„Geht doch, Junge. So werden wir auch keine Probleme mehr miteinander haben.“ Er vertiefte sich wieder in die Zeitung in seinen Hände und ich war frei. Zumindest für diesen Moment und so eilte ich schon fast überhastet die Treppen hinauf. Es war mir egal, dass es wie eine Flucht wirkte. Schließlich war es auch so und ich hatte jetzt nicht die Kraft dies zu verstecken.
 

Vielleicht sollte ich mir die Verletzungen ansehen. Mein Blick schweifte zum Bad, doch ich schüttelte den Impuls ab und ging in mein Zimmer. Ich wollte es nicht sehen. Nicht erkennen, was da gerade passiert war. Solange ich es nicht mit eigenen Augen sah, würde es vielleicht auch nicht existieren.
 

Kaum rastete die Tür hinter mir ins Schloss ein konnte ich spüren wie ein gewaltiger Stein von meinem Herzen fiel und ich dann mit fahrigen Bewegungen mein Handy aus der Hosentasche fischte. Es waren mindestens wenn nicht mehr verpasste Anrufe von Luzifer drauf. Genauso wie eine Nachricht nach der anderen, wo er nach meinem Verbleib fragte. Am Anfang waren sie verwirrt, dann wurden sie schnell aggressiv und am Schluss schon fast ängstlich und besorgt.
 

Mein Blick wanderte auf den Stapel Bücher und kurz überlegte ich, ob ich ihm antworten sollte, doch ich wusste nicht, was ich ihm schreiben sollte. Ich konnte ihm nicht die Wahrheit sagen und eine Lüge hatte ich gerade nicht parat. Schließlich schmerzte es mich doch selbst, dass ich zu dem Gig nicht auftauchen konnte. Aber... ich hatte keine andere Wahl.
 

Was würden sie wohl jetzt von mir denken? Waren sie alle sauer? Werden sie mich hassen? Wie sollte ich dann damit umgehen? Schließlich war dieses Spiel einer der wenigen Orte, wo meine Welt noch in Ordnung war. Ich konnte ihn noch nicht verlieren und so musste ich eine gute Ausrede finden. Etwas, was sie mir glauben würden. Außerdem wäre es wirklich gut, wenn ich mal wieder ein wenig mehr für die Schule tun würde.
 

Plötzlich waren dort wieder die Bedenken und so setzte ich mich an meinen Schreibtisch und begann die Bücher durchzublättern um meine Hausaufgaben zu machen. Ich wollte mich nur noch ablenken. Von Music Heroes, von meinen Vater, von meiner Schwester und irgendwie von meinem ganzen Leben. Klappte nur minder gut. Vor allem als mein Handy erneut vibrierte und den Anruf von Luzifer ankündigte.
 

Ich schluckte trocken und spürte, wie meine Stimme flüchtete. Sollte ich ran gehen? Was wollte ich ihm dann sagen? Gab es dafür überhaupt eine richtige Antwort? Vielleicht wollte er aber gar nicht wirklich einen Grund dafür erfahren. Schließlich vergaß er das gerne mal in seinem Zorn.
 

Nein, ich war es ihm irgendwie schuldig und so griff ich blitzschnell nach dem Telefon, um dann in letzter Sekunde abzuheben: „Ja?“
 

Überrascht wurde die Luft am anderen Ende eingesogen und ich konnte die pure Erleichterung in seiner Stimme hören: „Gabriel? Bist du das?“
 

„Ja, ich bin es. Was gibt es Luzifer?“
 

„Gott sei Dank geht es dir gut. Ich habe mir...“ Er brach ab und seine Laune schwang sofort um. „Wo warst du verdammt nochmal?! Wir hatten einen Auftritt! Du hast gestern gesagt, dass du es schaffen wirst! Wir brauchen keinen Drummer, der nur mit uns probt und dann nicht mit uns auf er Bühne steht! Wenn du nicht vorhast das Spiel vernünftig zu spielen, dann sag Bescheid und wir sehen uns nach einem Neuen um!“
 

„Es tut mir Leid, Luzifer. Ich wurde aufgehalten.“ Ich hoffte, dass er es so schluckte, doch ich hörte nur ein ablehnendes Schnalzen. „Von was? Hausarbeiten? Deiner ach so tollen Familie? Belügen kannst du jemand anderen!“
 

„Es ist keine Lüge, aber es ist alles so kompliziert. Ich wollte wirklich kommen. Aber es ging nicht. Den Grund kann ich dir leider nicht sagen.“ Ich hatte noch nie mit jemanden über die Sache mit meinem Vater gesprochen, weil ich Angst hatte, dass alleine die Aussprache das Ganze noch realer machen würde. So konnte ich mir ab und an zumindest einreden, dass noch alles in Ordnung war und es irgendwann besser werden würde, wenn ich nur ein guter Sohn werden würde.
 

„Ja, schon klar. Verscheißern kannst du dich alleine.“ Mit diesen Worten legte Luzifer einfach auf und ich lauschte einer Weile den Besetztton. Ich konnte es ihm wirklich nicht sagen. Was würde er dann von mir denken? Ich war doch eh schon so unfähig. Dann wäre ich doch komplett unten durch bei ihm.
 

Mit einem lauten Seufzen konzentrierte ich mich wieder auf meine Schularbeiten. Ich durfte jetzt nicht mehr auffallen. Heute musste ich wirklich wieder etwas für die Schule tun. Ich musste zeigen, dass ich mich gefangen hatte und diese Nacht eine große Ausnahme war. So war mein Plan und den wollte ich auch in die Tat umsetzen, wodurch ich den restlichen Tag über meinen Büchern verbrachte und alles mögliche lernte. Sogar Sachen, bei denen ich mir sicher war, dass sie niemals abgefragt werden würden. Ich wollte einfach auf Nummer sicher gehen und meinem Vater keinen neuen Grund geben wütend zu werden.
 

Mein Zimmer verließ ich nur um auf Toilette zu gehen oder später fürs Abendessen. Ansonsten sah man mich nicht außerhalb und so versank meine Welt um mich herum wieder in der Nacht. Das Haus wurde still und ich konnte immer noch nicht aufhören. Auch wenn meine Augen schon schmerzhaft brannten. Ich wollte meinen Vater beweisen, dass ich immer noch der Musterschüler war, der ihm so viel bedeutete. Dieses Spiel hatte daran nichts geändert. Gar nichts.
 

Plötzlich vibrierte mein Handy und ich erkannte die Nachricht von Luzifer: „Na? Noch wach und am Lernen?“ Ich rang mich zu einem kurzen „Ja“ durch, aber hängte sofort ein „Aber nicht mehr lange.“ hinten dran, um ihm zu zeigen, dass ich wohl nicht mehr erreichbar sein würde für heute. Ich hatte auch wirklich keine Lust mehr mit ihm zu reden. Außerdem wollte ich nur noch dieses Kapitel durchgehen und danach ins Bett. Sonst würde es wieder zu spät werden.
 

Es kam nur ein „Gut“ zurück und gerade als ich ihm zurückschreiben wollte, hörte ich wie etwas Hartes gegen meine Fensterscheibe flog. Irritiert sah ich dorthin. Das habe ich mir bestimmt nur eingebildet, doch es folgte ein zweiter leiser Knall gefolgt von einem dritten und vierten. Immer häufiger prallte etwas gegen das Glas und mit einem leicht mulmigen Gefühl stand ich auf, um dann das Fenster zu öffnen.
 

Zu früh, denn im nächsten Moment knallte schon ein Stein gegen meine Wange und ich spürte erneut einen Schmerz in meinem Gesicht explodieren. Leise fluchte ich unter dieser Empfindung auf und sah dann etwas vorsichtig aus dem Fenster heraus. Dort unten stand ein rothaariger Junge, der ungefähr in meinem Alter sein musste und setzte gerade zum nächsten Wurf an.
 

„Stopp! Ich bin schon da!“ Ich konnte seine Bewegung gerade noch stoppen und so trat er ein wenig näher heran. Seine Gesichtszüge waren kalt und unnahbar, während er mich ruhig musterte. „Gabriel?“
 

Diese dunkle Stimme würde ich überall erkennen und dennoch konnte ich meinem Verstand gerade nicht trauen: „Luzifer?“ Ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen und dann nickte er mit Nachdruck, bevor er mit den Händen in den Hosentaschen noch einmal ein wenig näher kam.
 

„Soll ich rauf kommen oder kommst du runter?“ Er hielt sich nicht mit einer Erklärung auf, sondern fiel wie immer mit der Tür ins Haus, wodurch ich kurz schmunzelte. Sein Anblick vertrieb die Negativität dieses Tages und irgendwie war ich mir gerade sicher, dass ich eh nur träumte.
 

„Kommt drauf an, was du vor hast. Meine Familie schläft schon. Du müsstest also leise sein und na ja, ich darf an sich nicht mehr raus.“
 

„Wie alt bist du? Zwölf?“ Er lachte auf und ich spürte, wie sich meine Wangen leicht erröteten und mir heiß und kalt zugleich wurde. „Nein. Fünfzehn. Aber...“
 

„Nichts aber. Komm jetzt runter. Ich brauche jemanden, der mir die Stadt zeigt.“ Er winkte mich nach unten und noch einmal spürte ich die Angst vor dem Zorn meines Vaters, aber wenn ich vorsichtig war, dann würde er mein Fehlen vielleicht gar nicht bemerken. So nickte ich ihm zu und begann mich aus dem Haus zu schleichen. Unten zog ich mir nur kurz Schuhe an, bevor ich aus der Tür schlüpfte und ich schon von Luzifer in Empfang genommen wurde.
 

„Warum bist du hier und woher wusstest du, wo ich wohne?“ Ich sah ihn irritiert an, als ich leise die Tür hinter mir ins Schloss zog und er lächelte mich nur verschwörerisch an. „Ich war in der Gegend. Dank Tayaka habe ich erfahren, dass du hier in der Nähe wohnst und ich dachte, dass ich mal vorbei schaue.“
 

Er trat mit mir aus unserem Garten und ging auf eine Straßenlaterne zu. Erst als er sich bückte, erkannte ich, dass dort ein großer Dobermann angebunden war. Luzifer nahm dessen Leine selbstsicher in die Hand und ging dann einfach weiter. Nur kurz sah er zu mir zurück und ich folgte ihm nach einigen Herzschlägen schon fast überhastet.
 

„Du hast einen Hund?“ Diese Frage war dämlich und ich biss mir kurz auf die Zunge dafür, doch Luzifer lachte nur kurz auf: „Blitzmerker. Also, was sollte man hier gesehen haben?“ Ich wusste, dass er nicht deswegen gekommen war. Schließlich war er heute Nachmittag doch noch bei sich Zuhause gewesen. Es ergab also keinen Sinn, dass er einfach so hier auftauchte.
 

„An sich fällt mir nichts ein. Aber der Park soll in der Nacht richtig schön sein. Wäre vielleicht auch etwas für deinen Hund. Wie heißt er?“ Ich mochte Katzen lieber, aber dennoch interessierte mich das Tier ein wenig und so ließ ich es kurz an meiner Hand schnuppern, bevor ich sanft über seinen Kopf streichelte.
 

„Demon. Park sagst du also. Na, dann zeig mir mal den Weg.“ Er überließ mir die Führung und ich ging mit ihm zusammen dorthin. Wir liefen über die leeren Wege. Der Kies knirschte unter unseren Schuhen und ich war froh, dass die Beleuchtung nicht allzu stark war, denn ich spürte, wie mein Auge leicht anschwoll.
 

„Warum bist du heute nicht erschienen?“ Luzifers Stimme war ruhig und ich schluckte trocken. „Meine Mutter brauchte Hilfe und sie ließ keinen Widerspruch zu.“ Es war nicht ganz gelogen. Schließlich war ja wirklich diese Hilfsaktion schuld an meinem Fehlen, aber selbst wenn es nicht gewesen wäre. Ich wäre nach der Aktion meines Vaters nicht online gegangen.

„Azrael hat den Auftritt auf morgen verschoben. Meinst du, dass du es da schaffen wirst oder braucht deine Mutter erneut Hilfe? Vielleicht ist es dieses Mal dann deine Schwester. Soll ja nicht langweilig werden.“ Er funkelte mich an, als wüsste er, dass es eine Lüge war, aber ich spürte deutlich, dass er etwas anderes dahinter vermutete.
 

„Ich werde es versuchen, aber kann nichts versprechen.“ Ich spielte kurz nervös mit meinen Fingern, doch Luzifer schnaubte nur, bevor er sich dann schließlich an einem Baum ins Gras sinken ließ. „Der Gig ist sehr spät. Das wirst du schaffen. Normalerweise dauert es dann nicht mehr lange und der Rest verschwindet um die Zeit dann immer. Es sollte also machbar sein.“
 

Demon legte sich neben ihn und er begann ihn zu streicheln, während ich wie verloren stehen blieb. Ein paar Herzschläge lang bis er mit einem mürrischen Knurren neben sich deutete. Nur widerwillig ließ ich mich dorthin sinken und fuhr mit meinen Fingern durch das Gras. Es fühlte sich so sanft und ein wenig kühl an.
 

„Dann sollte es hin hauen.“ Ich nickte kurz und spürte den Blick von Luzifer auf mir. Unsere Knie berührten sich kurz und ich zuckte zurück, doch ich brachte es fast sofort wieder in Ausgangsstellung und die Nähe war wieder da. Flüchtig. Unbedeutend. Aber doch so intensiv, dass ich gar nicht wusste, was das sollte und für einige Atemzüge nur in die Stille der Nacht lauschte.
 

„Du kannst immer zu mir kommen. Ich habe damals mit dir nicht nur Nummern getauscht, um dich an Gigs oder ähnliches zu erinnern, sondern damit du mit mir reden kannst, wenn du jemanden brauchst. Und hey, das ist eine totale Ausnahme, okay? Sowas mache ich normalerweise nicht!“ Ich nickte ihm zu und zupfte einen Grashalm aus, bevor ich mit ihm zu spielen begann.
 

Sein Angebot war verlockend, doch ich konnte darüber nicht sprechen und hielt meinen Körper ein wenig in Bewegung, dass mein Zittern nicht auffiel. Es durfte niemand erfahren. Keine einzige Seele, doch Luzifers Blick lag direkt und ruhig auf mir. Ich hatte das Gefühl, dass er bis tief in meine Seele sah und so hatte ich Angst ihm in die Augen zu sehen. Schließlich könnte es dann passieren, dass ich ihm dann die Tür zu meinem Innersten gänzlich öffnete.
 

Ich wusste nicht, wie lange wir einfach nur da saßen und in die Nacht lauschten. Diese simple Berührung unserer Körper genossen, Luzifer Demon streichelte und ich weiter Gras ausrupfte um dann damit zu spielen. Wir schwiegen, aber dennoch wirkte es nicht unangenehm. Unsere Hände lagen nur wenige Millimeter von einander entfernt, bevor auch sie sich leicht berührten. Er wich nicht zurück und so ließ ich auch meine dort liegen. Genoss das leichte Kribbeln, das diese Berührung in mir auslöste und endlich mal wieder jemanden neben mir zu haben, dem ich etwas bedeutete.
 

Leicht nahm ich den Duft von Luzifer war, der aber ein wenig von Demons Duftnote verfälscht wurde. Er gefiel mir und ließ ein angenehmes Kribbeln in mir entstehen. Ich wusste nicht, warum ich so auf Luzifer reagierte, doch im Moment genoss ich nur diesen Augenblick und lauschte seiner Atmung und der seines Hundes. Es wirkte nur perfekt. Mehr schien ich nicht zu brauchen und seit langem fühlte ich mich wieder einmal gänzlich gewollt.
 

„So, ich muss nun wieder los. Der letzte Zug fährt bald ab. Man sieht sich morgen also im Spiel. Gekniffen wird nicht.“ Er richtete sich auf und sah dann zu mir herunter. Ich tat es ihm gleich und im nächsten Moment standen wir uns gegenüber. Er war leicht größer als ich und so musste ich ein wenig nach oben sehen. Unsere Blicke trafen sich und im nächsten Moment beugte er sich kurz zu mir hinunter und hauchte mir einen kurzen Kuss auf die Lippen. Diese Berührung kam so schnell, wie sie auch schon wieder verschwand.
 

Ich verstand es nicht und war verwirrt, doch bevor ich nach dem Grund fragen konnte, war er auch schon in der Nacht verschwunden. Mit dem großen Hund an seiner Seite. Ich selbst blieb zurück und verstand die Welt nicht mehr. Warum war er jetzt hier aufgetaucht? Was sollte der Kuss? War er nicht mit Xenia ein Paar? Wir waren doch nur Freunde, oder nicht?
 

Meine Finger tasteten kurz über meine Lippen, doch dann schüttelte ich den Kopf und begann ebenfalls zurück zu gehen. Jede Sekunde, die ich länger hier draußen verbrachte, stieg das Risiko erwischt zu werden und so eilte ich schon fast panisch nach Hause. Schob alle Bedenken und Verwirrungen in die hinterste Ecke meines Denkens. Irgendwann würde sich diese Rätsel schon lösen und ich schwor mir diesen Kuss solange zu verschweigen bis er ihn selber erwähnen würde. Er bedeutete sonst nur Probleme und vielleicht hatte ich mir das Alles doch nur eingebildet. Vielleicht war er auch nur ein Versehen, weil er den Abstand falsch eingeschätzt hatte.
 

Dieser Moment sollte in der Dunkelheit der Nacht verborgen bleiben und nur uns gehören. Nur uns alleine für alle Zeit und einzig bei dem Gedanken an Luzifer fuhr meine Zunge bedächtig über meine Lippen. Wollte ihn noch einmal schmecken, doch dort war nichts mehr.
 

Vielleicht war das Alles nur ein Traum gewesen. Ja, ein einziger Traum, denn auch wenn es sich wunderschön anfühlte. Es war falsch. Falsch in so vielen Richtungen und so war es vielleicht am Besten niemals geschehen. Genau. Es war nie geschehen. Vermeidet Ärger und Kummer. Luzifer gehörte zu Xenia. Wir waren nur Freunde. Einzig und alleine nur Freunde. Und dieser Kuss... er war ein Versehen. Ein einziges, riesiges Versehen. Mehr nicht. Mehr durfte es nicht sein. Niemals. Nie...

Gegenwart
 

Die Wochen vergehen und unsere neuen Bandmitglieder machen sich mittlerweile sogar richtig gut. Nach ein paar Tagen fanden wir auch einen neuen Gitarristen. Sein Name ist Keksmonster und auch wenn er am Anfang recht ungeschickt war, so stellt er sich jetzt richtig gut an und wir haben alle mittlerweile viel Spaß beim gemeinsamen Spielen.
 

Diesen Abend haben wir unseren ersten Gig. Er ist nur in einem kleinen Club des Spiels, aber dort fangen alle Bands an und ich bin gespannt, wie sich das System in dem Bereich verändert hat. Ich muss schmunzeln als ich an den ersten stattfindenden Gig von damals denke. Auch wenn meine Hand unbewusst auf meinen Rücken gleitet, als mir wieder der Grund meines Fehlens beim ersten geplanten Auftritt in den Sinn kommt.
 

Ich seufze schwer und logge mich schließlich in das Spiel ein. Meine Tür ist mittlerweile mit einem Kettenschloss versehen. Ich will nicht mehr gestört werden und ich musste mir diesen sicheren Ort schaffen. Es war nicht mehr anders möglich. Nicht nach dieser verhängnisvollen Nacht.
 

Meine Hände zittern, als ich daran denke, was der Auslöser dafür war, doch ich verdränge die Erinnerung sofort wieder. Kaum wird der Startbildschirm von unserem Wohnzimmer abgelöst, sehe ich mich um, doch meine Mitspieler sind noch nicht da oder schon längst weg. Ein kurzer Blick nach oben bestätigt mir beide Theorien. Tayaka ist schon online, aber die anderen noch nicht. Wir haben ja auch noch Zeit, doch ich will es auf keinen Fall verpassen. Nur kurz wandert mein Blick zu den Büchern. Nein, ich hab darauf jetzt keine Lust. Vielleicht später.
 

Schließlich starte ich auch Teamgeek, wo mich Tayaka schon empfängt: „Hallo, Gabriel. Na? Bereit? Dann komm zum Stellenmarkt. Wir müssen noch ein wenig die Werbetrommel rühren.“
 

„Echt jetzt? Das war früher nicht nötig, oder?“ Ich bin ein wenig verwirrt, doch lasse meine Figur zum Stellenmarkt laufen, als Tayaka schon kurz auflacht. „Nein, war es nicht. Aber seitdem man auch als Fan spielen kann, muss man diese jetzt überzeugen hin zu kommen. Es sind jetzt halt keine NPCs mehr. Also, komm endlich her. Ich schaff das nicht alleine.“
 

Ich muss schmunzeln und die kalten Erinnerungen verschwinden langsam wieder im hinteren Bereich meines Bewusstseins. Tayaka hatte schon immer ein Talent, dass er jeden noch so trüben Tag mit Sonnenschein füllt. Sein fast grenzenloser Optimismus ließ mich schon so einige schlechten Dinge des Tages vergessen. Ich bin froh, dass wir uns wiedergetroffen haben, denn er ist einer der Gründe, warum ich wieder in das Spiel zurück wollte.
 

Schließlich komme ich an meinem Ziel an und lasse meinen Blick über die Masse wandern. Viele loggen sich ein und verschwinden dann gleich in irgendeine Richtung. Ich komme mir gänzlich verloren vor, weil ich gar nicht weiß, wie ich diese Werbung schalten soll. Doch im nächsten Moment erblicke ich schon Tayaka, der vor einer besonderen Herberge steht und sich mit einer Gruppe Mädchen unterhält. Scheinbar ist dies die Unterkunft für die Fans.
 

Ruhig nähere ich mich ihm, doch dann stoppe ich fast augenblicklich wieder, als mein Blick auf Luzifer fällt, dessen Avatar erneut auf den Boden sitzt. Aber dieses Mal spielt er auf seiner Gitarre und scheint ein kleines Privatkonzert zu geben um so zu versuchen an Geld zu kommen. Kurz zögere ich, doch dann trete ich auf ihn zu und als meine Maus über seinen Avatar fährt, erscheint der Button, dass ich ihn zum Konzert einladen kann.
 

Ich schlucke trocken und klicke ihn dann an, bevor ich mich wieder abwende und auf Tayaka zugehe. Zwar ist das Bedürfnis da mit ihm zu reden, doch ich weiß nicht, was ich zu ihm sagen soll. Seine Reaktion damals war verwirrend und ich habe Angst, dass er erneut ein Treffen fordern wird, aber ich fühle mich dazu nicht in der Lage. Was wenn es mein Vater wieder mitbekommt?
 

Ich schüttel den Kopf, als mich Tayaka schon wieder anspricht: „Wo bleibst du? Ich hab schon ein paar überzeugen können, aber es sind noch nicht genug. Siehst du den Balken in der rechten oberen Ecke? Der zeigt an, wie viele Besucher zugesagt haben und es wäre gut, wenn er fast ganz voll wird. Aber mindestens die Hälfte ist ein Muss.“
 

„Tut mir Leid. Ich habe Luzifer eine Einladung überreicht.“ Ich weiß, dass es an sich Schwachsinn ist ihm davon zu erzählen, aber ich will ihn nicht anlügen. Nicht nachdem er mich mit offenen Armen empfangen hat.
 

„Warum? Oh, Mann. Lass den alten Griesgram doch einfach grimmig sein! Was wollen wir mit ihm dort?! Der ruiniert uns bestimmt nur die Stimmung!“ Tayaka reagiert in meinen Augen gerade ein wenig zu theatralisch. Schließlich war Luzifer früher ein gutes Bandmitglied und er hat es nicht verdient, dass man ihn gänzlich übergeht. Er war nicht unbeteiligt an unseren damaligen Erfolg.
 

„Er scheint immer noch keine Band zu haben. Wer weiß, vielleicht schließt er sich uns an, wenn er sieht, dass wir es mittlerweile doch zu etwas gebracht haben und unsere anderen Mitglieder auch etwas taugen. Auch wenn er vielleicht ein wenig schwierig ist im Umgang so kann man ihm sein Geschick in diesem Spiel nicht absprechen.“ Ich will auf Luzifer nicht verzichten. Die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit ist viel zu schön, als dass ich keine Neuen schaffen will. Tayaka kann das vielleicht nicht verstehen, weil die schönsten Zeiten mit Luzifer waren einfach die, in denen wir alleine waren.
 

„Warum hast du an ihm nur so einen Narren gefressen?“ Tayaka seufzt schwer und ich kann sein Kopfschütteln direkt hören, was mich ein wenig demotiviert. Er weiß nichts. Gar nichts von alldem, was passiert ist. Woher auch? Luzifer ist damit bestimmt nicht hausieren gegangen und Xenia? Na ja, die wird bestimmt nicht die Wahrheit erzählt haben. Das tat sie selten, wie ich bitter feststellen musste.
 

„Was weißt du von damals? Wie viel haben euch Luzifer und Xenia erzählt?“ Ich spüre, dass ich Tayaka ein wenig einweihen muss. Er wird sonst niemals wirklich verstehen, warum ich nicht von Luzifer lassen kann und vielleicht wird er mir dann ein wenig helfen.
 

„Na ja, so viel, dass ich der Meinung bin, dass du dich eher auf die Suche nach Xenia machen solltest, wenn es stimmt, was das Mädel damals erzählt hat.“ Ein eisiger Stich durchfährt mein Herz und ich spüre, wie ich erneut zu zittern beginne. Wie einfach wäre es gewesen, wenn es wirklich so war? Das Schloss wäre jetzt jedenfalls nicht da.
 

„Ich hatte mit Xenia keinen Kontakt außerhalb des Spiels. Mit Luzifer dagegen schon.“ Ich stoppe und muss trocken schlucken. Nein, ich kann immer noch nicht darüber sprechen. Ich will nicht daran zurück denken. Nicht an diesen Tag und die Hölle danach.
 

Verzweifelt kneife ich die Augen zusammen und schüttel den Kopf, bevor ich tief durchatme. „Lass uns lieber noch ein paar Zuschauer finden. Wir haben nicht mehr allzu viel Zeit.“ Ich hoffe, dass Tayaka den Wink mit den Zaunpfahl versteht und nur kurz spüre ich, dass er weitersprechen will, doch dann entscheidet er sich anders: „Ja, du hast Recht. Wir wollen ja schließlich, dass unser erster Gig ein Erfolg wird.“
 

Ich muss leicht lächeln, als ich sehe, wie sein Avatar anfeuernde Bewegungen macht und wir uns wieder in das Getümmel der Fans stürzen. Immer wieder verschicke ich Einladungen und unterhalte mich kurz mit ein paar Spielern. Viele sagen zu und der Balken füllt sich immer mehr. Stück für Stück. Es kann wirklich etwas werden. Ein Erfolg, der uns zurück in das Spiel bringen wird und vielleicht auch wieder ein wenig zurück in die alte Zeit. Als das Leben zwar auch seine Höhen und Tiefen hatte, aber man hier all dies vergessen konnte.
 

Bitte, Luzifer, komm auch. Das Schicksal hat uns eine zweite Chance gegeben. Lass sie uns nutzen und das tun, was wir uns damals schon gewünscht haben, aber nicht den Mut dazu hatten. Zumindest hatte ich ihn nicht. Bitte, verzeih mir dies. Nur diese winzige Kleinigkeit.
 

Von wegen winzig. Sie hat so viel zerstört und ich habe Angst davor zu erfahren, wie es bei dir danach weiterging. Ich will nicht hören, dass auch du durch die Hölle musstest. Nein, ich will nicht wissen, was ich für Wunden geschlagen habe, weil ich feige war. Ich will nicht glauben, dass du mich hasst...

„Ich bin nervös.“ Akikos Stimme flattert leicht unter der Aufregung, doch Nocturn schaltet sich sofort ein: „Das brauchst du nicht. Wir haben gut geübt. Es wird schon werden.“ „Genau. Wir können die Lieder doch eh schon fast im Schlaf.“ Keksmonster klingt mehr als zuversichtlich, obwohl ich mir bei ihm die größten Sorgen mache, doch ich schweige und dann schaltet sich auch schon Tayaka ein:
 

„Gabriel und ich haben eine gute Menge an Fans für das Konzert gewinnen können. Die Bude ist fast gefüllt, aber das ist hier auch nicht so das Problem. Wir haben die Songliste besprochen, doch gibt es besondere Kombinationen, die hier auftauchen, wodurch die Avatare dann bestimmte Moves aufführen, die man so nicht üben kann. Sie dienen zur Unterhaltung der Fans. Aber keine Angst. Es ist nicht schlimm, wenn man sie übersieht oder nicht perfekt hinbekommt. Dadurch dass es richtige Spieler sind, geht es eher um die Musik und reagieren auch gerne mal auf falsche Kunststücke positiv. Das Spiel ist dadurch ein wenig leichter, aber auch unkalkulierbarer geworden. Daher, spielt einfach die Musik richtig. Das ist das Wichtigste, denn die Fans reagieren auf nichts allergischer, als wenn die Musik falsch klingt.“
 

Er atmet tief durch, als schon der Countdown auf unseren Bildschirmen erscheint. „Dann lasst uns rausgehen und unser Bestes geben.“ Ich versuche uns aufzumuntern und schon treten wir auf die Bühne, um an unsere Instrumente zu gehen. Sofort öffnet sich das erste Lied und ich beginne zu spielen. Wir schweigen und sind gänzlich konzentriert. Ich versuche die Sonderkombinationen zu erwischen und meistens gelingt es mir auch. Jubel kommt aus den Boxen meines Headsets und ich spüre, wie mich das leicht beflügelt. Den Leuten gefällt unsere Musik. Sie mögen uns.
 

Ich vergesse bei unserem Spiel gänzlich die Zeit. Wir genießen es und baden im Jubel. Eine Zugabe nach der anderen erfolgt und ich sehe, wie unser Bandlevel immer weiter in die Höhe klettert. Wir können es schaffen. Ja, wir können es in diesem Spiel wirklich zu etwas bringen. Ein Herz nach dem anderen fliegt uns aus der Menge entgegen. Gefolgt von Sternen und anderen Abzeichen.
 

„Wir sind gut.“ Tayakas Stimme ist leise, als hat er Angst, dass er dadurch den Zauber zerstört und ich kann ihm nur mit einem „Mhm“ zustimmen. Die anderen Drei schweigen und konzentrieren sich gänzlich auf ihr Spiel.
 

Schließlich ist die Zeit für das Konzert gänzlich abgelaufen und unsere Avatare verlassen von alleine die Bühne und wir finden uns hinter ihr wieder, wodurch ich ein erleichtertes Aufatmen von Keksmonster und Akiko höre.
 

„Das war gut.“ Nocturn klingt stolz, aber auch ein wenig distanziert. So schön seine Stimme ist, desto mehr hat man das Gefühl, dass er einen nicht an sich lässt. Nicht näher, als unbedingt nötig und sich gerne ein wenig geheimnisvoll gibt.

„Wir haben den Laden gerockt!“, jubelt Keksmonster, „Geist High Five!“ Ich muss darüber schmunzeln, vor allem als ich auch noch das Klatschen höre. Scheinbar hat er sich gerade selbst ein High Five gegeben.
 

„Ja, wir waren echt nicht schlecht. Gute Arbeit zusammen. An sich können wir jetzt rausgehen und uns noch ein wenig mit den Fans unterhalten. Ich werde das tun, wenn ihr wollt, schließt euch an. Ansonsten könnt ihr gerne etwas anderes tun.“ Tayaka klingt stolz und verlässt dann auch schon mit seinem Avatar den Raum. Das ist auch etwas, was es früher nicht gab, wodurch ich mich ihm anschließe. „Ich komme mit.“
 

„Tut mir Leid, ich muss noch ein wenig lernen. Morgen schreiben wir einen Test“, verabschiedet sich Akiko ein wenig verlegen und auch Nocturn schließt sich ihr an: „Ich muss meinen Eltern noch auf ihren Hof helfen. Aber heute Abend bin ich dann wieder da, wenn ihr wollt.“
 

„Ist gut. Man sieht sich abends.“ Tayaka wirkt nicht böse und kurz warten wir ein wenig auf die Reaktion von Keksmonster, doch sein Avatar folgt uns in den Barraum, wo wir uns dann aber auch schon trennen. „Ich will mich auch ein wenig unterhalten. Jeder für sich, oder? Abends sehen wir uns dann wieder zum Proben, oder?“
 

„Ja, gerne.“ Tayaka lächelt kurz und dann kommen die Meldungen, dass die Drei den Chat verlassen haben. Es irritiert mich ein wenig, dass auch Keksmonster geht. Schließlich kann man sich ohne Probleme auch so noch ein wenig unterhalten. Auch sein Avatar taucht in der Masse der Fans unter, genauso wie sich Tayaka von meiner Seite verabschiedet und so stehe ich alleine hier.
 

Mein Blick sucht einen ganz bestimmten Avatar. Er muss hier sein. Bestimmt kam er. Also wo versteckt er sich. „Du suchst ihn, oder?“ Tayaka wirkt ruhig und ich fühle mich ertappt, wodurch ich kurz rot werde. „Vielleicht.“ Ich will meine Schwäche nicht so offensichtlich zugeben, doch scheinbar kennt er mich schon lange genug, um meine Gedanken teilweise lesen zu können.
 

„Er verlässt gerade die Bar.“ Mehr sagt Tayaka nicht und ich spüre, wie mein Herz kurz aussetzt und ich meinen Avatar aus dem Gebäude stürmen lasse. Er war hier! Er war wirklich hier!
 

Draußen auf der Straße erblicke ich ihn und klicke ihn für eine private Unterhaltung an: „Warte doch! Warum haust du ab? Hat es dir nicht gefallen?“ Ich lasse meinen Avatar Luzifers mit Doppelklick verfolgen und hoffe, dass er auf mich reagiert, doch es kommt keine Antwort.
 

„Was ist los? Waren wir so schlecht? Warum bist du dann bis zum Schluss geblieben?“ Ich will nicht locker lassen. Er muss mit mir reden, doch auch jetzt kommt wieder keine Reaktion. „Hör auf mich zu ignorieren!“
 

„Ich ignoriere dich nicht. Ich habe dir nur nichts zu sagen.“ Luzifers Worte wirken nüchtern und ich muss trocken schlucken, als sich schon die Stimme von Tayaka in meinem Kopf meldet. „Hast du ihn gefunden? Redet er mit dir?“
 

„Ja und ich weiß nicht. Angeblich hat er mir nichts zu sagen.“ Tayaka zieht scharf die Luft ein und ich muss trocken schlucken, bevor ich wieder an Luzifer schreibe: „Du wolltest mich treffen. Also, muss es definitiv etwas zum Reden geben.“
 

Sein Avatar bleibt stehen und dreht sich zu meinem um. „Komm in den Teamgeek Channel „Ride to Hell“ dann werden wir weitersehen.“ Mit diesen Worten loggt er sich erneut vor meiner Nase aus und ich seufze schwer, bevor ich mich an Tayaka wende: „Luzifer will mit mir im Teamgeek sprechen. Wir hören uns heute abend wieder?“
 

„Ist okay und ja. Ich werde da sein.“ Ich kann sein Lächeln erneut direkt hören, wodurch ich mich ummelde und schon von Luzifers dunkler Stimme begrüßt werde: „Hallo, Gabriel. Oder soll ich lieber Nathy sagen?“
 

Alleine bei dem Erklingen seines Spitznamen für mich läuft es mir heiß und kalt zugleich den Rücken herunter. Ich hole zittrig Luft: „Nenn mich, wie du es für angemessen hältst.“
 

„Okay, also feiges Arschloch.“ Ich höre deutlich, dass er mich damit nur provozieren will, doch ich atme tief durch, um Ruhe zu bewahren. „Wenn du meinst, dass dies passt, dann ja. Ich will nur mit dir reden. Über damals und wie es weitergeht.“
 

„Da gibt es nichts zu bereden. Bist du nur deswegen wieder ins Spiel gekommen? Um mir halbgare Entschuldigungen entgegen zu werfen? Darauf kann ich verzichten. Die Sache ist Vergangenheit.“ Ich höre, wie er sich immer mehr verschließt und kann seinen abwertenden Blick direkt auf mir fühlen.
 

„Du weißt, was damals passiert ist. Ich... ich hatte keine andere Wahl, Castiel!“ Es ist das erste Mal, dass ich ihn bei seinem richtigen Namen nenne und es verfehlt seine Wirkung nicht, wodurch er kurz sprachlos ist, doch dann wird er wieder kühl und jedes seiner Worte tut auf eine sonderbare Art und Weise weh.
 

„Man hat immer eine Wahl. Meinst du, das Ganze war für mich schön? Es zu wissen, aber nichts tun zu können, weil du mich nicht lässt! Du hast mich nicht an deiner Seite geduldet, sondern mich von dir gestoßen! In allen Bereichen! Derweil...“ Er bricht ab und ich schlucke trocken, als die Erinnerungen an diesen Moment zurückkommen. An diesen Abend, der unseren Kontakt mit einer harten Faust auf unbestimmte Zeit zerschlagen soll...

Vergangenheit
 

Wir saßen zusammen auf den Rasen. Luzifer hatte wieder seinen Hund Demon bei sich, dem er dieses Mal immer wieder einen Ball warf, damit er ihn holen konnte. Ich wusste nicht, warum er erneut hier war. Wie auch damals stand er einfach vor meinem Fenster und wollte etwas mit mir unternehmen.
 

„Was hält Xenia davon?“ Meine Stimme ist leise und auch wenn ich es eigentlich nicht wissen wollte, so musste ich des Bandfriedens zu Gute zumindest so tun als würde es mich interessieren. „Was soll sie schon davon halten? Sie ist vor Freude in die Luft gesprungen.“ Seine Stimme war kühl und ich konnte deutlich hören, dass es eine zynische Antwort war, wodurch ich kurz auf das Gras vor mich starrte.
 

„Warum bist du dann hier?“, fragte ich weiter und begann erneut einzelne Halme auszureißen, als Luzifer schon schwer seufzte. „Ich wollte dich mal wiedersehen. Das dauernde nur reden aber nicht sehen hat mich genervt. Außerdem ist es irgendwie süß, wie du auf bestimmte Sachen reagierst.“
 

Ich spürte, wie ich erneut leicht rot wurde, aber versteckte dies sofort in meinen Armbeugen. Das war nicht fair, was er da gerade tat. Ich konnte nichts dafür, dass ich mich in seiner Nähe so anders fühlte. Es war jetzt nicht unangenehm, aber ich wusste, dass es kein gutes Empfinden war und ich es an sich nicht haben sollte.
 

Plötzlich fuhr er mir fast beiläufig über meinen Rücken und ich konnte einen angenehmen Schauer nicht unterdrücken. Wieso hatte er solch eine Wirkung auf mich? Ich begriff es nicht und sah ihn kurz verstohlen von der Seite an. Demon kam gerade wieder zurück und Luzifer schickte ihn sofort wieder los, bevor er seine Hand viel zu nah neben mich ins Gras legte.
 

„Außerdem ist der Park hier wirklich schön. Es gefällt mir hier und Demon auch.“ Es war nur eine Ausrede und das wussten wir beide auf unsere eigene Art und Weise. Ruhig sah ich dem großen Dobermann dabei zu, wie er hin und her rannte. Es hatte schon fast etwas meditatives, doch dieses Gefühl schüttelte ich schließlich ab.
 

„Wie lange willst du dieses Mal bleiben? Wann fährt dein Zug nach Hause?“, wechselte ich leicht das Thema, weil ich wissen wollte, auf wie viel Zeit ich mich anstellen sollte. Ich wollte nicht, dass er wieder so plötzlich wie beim letzten Mal verschwand. Sein Lippen umspielte kurz ein zärtliches Lächeln, bevor der Schalk zurück in seine Augen kam. „Na? Kannst es nicht erwarten mich los zu sein?“
 

„Sowieso. Ich genieße diese Zeit ja überhaupt nicht“, versuchte ich mich ebenfalls ein wenig an seinem Zynismus, doch er reagierte anders, als ich dachte. Denn plötzlich packte er meinen Hinterkopf und zog mich einfach zu sich, um mich kurz aber bestimmt zu küssen. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie er mich wieder losließ und ich ihn entgeistert ansah.
 

„Vielleicht hörst du jetzt auf so einen Blödsinn zu reden“, grummelte er kurz und warf dann erneut Demon den Ball, während ich nur perplex hier sitzen blieb. Er war doch. Aber warum? Spielte er mit mir?!
 

Plötzlich erwachte eine gewisse Wut in meinem Inneren und ich riss gleich mehrere Grashalme auf einmal aus, bevor ich sie zornig von mir pfefferte. All dies hätte wohl mit etwas anderen einen beeindruckenderen Eindruck hinterlassen, aber so handelte ich mir nur ein amüsiertes Lächeln von Luzifer ein. Dies linderte meine Wut nicht im geringsten und ich spürte, wie ich meine Hand zur Faust ballte.
 

Plötzlich legte er seine Hand auf meine Faust und ich spürte, wie ich mich ein wenig entspannte. Sämtliche Wut verschwand, als er kurz mit seinem Daumen über meinen Handrücken strich und dann wieder von mir abließ. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich heute bei dir schlafen kann und erst morgen zurückfahre. Meinst du, dass dies deine Eltern erlauben würden?“
 

„So kurzfristig? Ich... ich weiß nicht.“ Ich hatte Angst, was meine Eltern sagen würden. Wie sollte ich ihnen das nur verkaufen? Aber andererseits, was sollten sie dagegen haben? Ambers Freundinnen durften auch immer übernachten. Also sollte ein Freund von mir auch kein Problem darstellen.
 

„Wir können es gerne versuchen. Ich verspreche aber nichts. Vor allem könnte Demon vielleicht ein Problem werden.“ Ich wusste, dass meine Eltern keine Haustiere mochten. Dann auch noch so ein großer Hund. Bestimmt würden sie Luzifer nur deswegen ablehnen.
 

„Der kann zur Not auch draußen schlafen. Das macht ihm nichts.“ Er winkte ab und warf seinem Hund noch einmal den Ball. Okay, wir hatten an sich eh einen eingezäunten Garten. Er sollte also über Nacht nicht verloren gehen. Mal sehen, was sie sprechen würden. Ich war mir nicht einmal sicher auf was ich hoffen wollte.
 

„Dann lass es uns gleich mal abklären. Sonst muss ich mir einen anderen Plan zurecht legen.“ Luzifer stand auf und klopfte sich ein wenig Gras von der schwarzen Hose, bevor er seine schwarze Lederjacke zurecht rückte und mich dann erwartungsvoll ansah. Es dauerte zwei Herzschläge bevor ich verstand, was er von mir wollte und so stand ich schon fast ein wenig überhastet auf und lächelte ihn dann verlegen an.
 

Ohne ein Wort zu sagen ging er schon voraus und ich folgte ihm nach einen Herzschlag, während ich versuchte zu verstehen, was sein Verhalten zu bedeuten hatte. Warum tauchte er hier einfach auf und wieso lud er sich über Nacht ein? Was bezweckte er damit? Alleine bei der Vorstellung, dass er bei mir übernachtete wurde mir ein wenig flau im Magen und so folgte ich ihm still schweigend.
 

Demon lief brav neben ihm an der Leine und es verwunderte mich, dass er den Weg jetzt schon kannte, doch ich sagte nichts, sondern schloss mit leicht zitternden Händen die Haustür auf. Ein kurzer Blick auf die Schuhe verriet mir, dass mein Vater noch nicht Zuhause war. Dafür aber meine Mutter und Amber.
 

„Ich bin wieder da“, rief ich in das Haus, „und habe Besuch mitgebracht.“ Sofort hörte ich eilige Schritte und nur wenige Atemzüge später stand meine Schwester vor uns. Luzifer wich ein wenig überrascht zurück. Demon wartete wirklich brav vor der Tür.
 

„Wer bist denn du?“ Amber begann verführerisch mit ihren Haaren zu spielen, doch Luzifers Miene verschloss sich fast augenblicklich. „Niemand, der dich kennen will.“ Er trat an ihr vorbei und ihr fiel alles aus dem Gesicht, während ich mir ein Schmunzeln verkneifen musste. Scheinbar konnte es doch ganz interessant werden.
 

„Wer ist das, Nathaniel?“ Meine Mutter trat aus dem Wohnzimmer heraus und musterte Luzifer von oben bis unten, während dieser demonstrativ die Hände in die Hosentaschen steckte und ihren Blick ruhig begegnete. „Ich bin Castiel. Ein Freund von ihrem Sohn und gerade auf der Durchreise. Ich hoffe, dass es keine Umstände macht, wenn ich die Nacht hier verbringe.“
 

Diese Höflichkeit war ich gar nicht von ihm gewohnt, doch meine Mutter schien positiv überrascht, während meine Schwester schmollend den Mund verzog. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sie so eine kalte Abfuhr bekam. Schließlich hatte sie bis jetzt doch jeden Kerl bekommen, den sie wollte. Aber... jeder traf mal auf seinen Meister.
 

„Ich sehe da kein Problem, aber wir warten noch darauf, was dein Vater sagt. Aber es spricht nichts dagegen. Schließlich ist morgen Wochenende.“ Sie nickte ihm zu und wandte sich dann wieder ab, wodurch ich Castiel nach oben in mein Zimmer führte. Vorbei ein den neidischen Blicken meiner Schwester und ich konnte richtig sehen, wie sie vor Eifersucht kochte. Alles Dinge, auf die ich nie wieder zu hoffen gewagt hatte.
 

Aber erst als ich die Tür hinter mir ins Schloss zog, konnte ich mich entspannen. Castiel ging ein paar Schritte weiter und trat dann kurz ans Fenster, um nach unten zu sehen. „Demon. Warte schön brav. Ich bringe dir später Fressen.“
 

Dann wandte er sich wieder zu mir und sein Blick fiel auf meinen Laptop, der geschlossen auf meinem Schreibtisch stand. Umringt von lauter Schulbüchern und bedeckt von Hausaufgaben. Ich war gerade mittendrin gewesen, als er mich mal wieder überraschte.
 

„Du bist echt ein Muttersöhnchen und Musterschüler, hm? Keine Lust auf Rebellion?“ Er grinst mich herausfordernd an und stemmt dabei eine Hand in die Hüfte, wodurch ich kurz lächelte. „Es macht mein Leben einfacher, wenn ich der Musterschüler und das Muttersöhnchen bin. Außerdem... muss die Beziehung zur Mutter dafür um einiges besser sein. Musterschüler nehme ich also gerne an, aber ich bin kein Muttersöhnchen.“
 

„Manchmal bist du wirklich langweilig“, grummelte er und trat dann an meine Schularbeiten. Dabei besah er sich einzelne Blätter und runzelte kurz verwirrt die Stirn, doch dann zuckte er mit den Schultern. „Das ist aber nicht alles nur Hausaufgaben, oder? Sind das nicht sogar Sonderaufgaben?“
 

Ich spürte, wie ich ein wenig rot wurde und mir verlegen durch die Haare fuhr, bevor ich dann schon zu ihn trat und begann die Sachen wegzuräumen. Es war mir unangenehm, dass er in meinen Sachen herumschnüffelte. Was sollte ich sonst noch dazu sagen? Ich konnte ihm nicht widersprechen. Ich war ein Musterschüler, aber nur weil man es von mir verlangte. Wahrscheinlich wäre ich anders, wenn ich nicht diese Last hätte. Wenn ich frei wäre. So wie er.
 

Plötzlich hörte ich das Knarren meiner Matratze und überrascht sah ich auf ihn. Luzifer machte es sich gerade auf meinem Bett gemütlich. Seine Jacke hatte er über meinen Stuhl gehängt und die Schuhe standen vor meiner Ruhestätte.

„Da ist genug Platz für Zwei.“ Er klopfte neben sich auf die Matratze, doch ich blieb stehen und sah ihn verwirrt an. War es das? Tat er es gerade wirklich? Wie? Wie sollte ich damit umgehen? Er war doch in einer Beziehung?
 

„Hast du Angst, dass ich beiße? Brauchst du nicht. Hab gut gefrühstückt.“ Er grinste mich breit an und streckte dann die Hand nach mir aus. Ich wusste nicht, ob ich es gut heißen sollte oder nicht, aber ich konnte nur trocken schlucken. Zögerlich hob ich meine Hand und legte sie dann kurz in seine. Doch als er meine umfassen wollte, entzog ich sie ihm sofort wieder und ging eher ein wenig steif zu meinem Bett, bevor ich mich nervös auf die Kante niederließ.
 

Ich wusste nicht, warum ich hier saß und ob ich es wirklich gut heißen sollte, dass sich Castiel fast augenblicklich mir näherte und ich einen Kuss in meinem Nacken spürte. „Wieso? Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“
 

„Wieso denn nicht?“ Seine Hand strich über meinen Arm und ich entzog ihn ihm sofort, wodurch ich ein missbilligendes Knurren von ihm hörte. „Erster Grund, wir sind beide Jungs. Das sollte nicht stattfinden. Ich weiß auch nicht, warum du überhaupt wieder hier bist. Zweitens kennen wir einander doch kaum. Woher willst du überhaupt wissen, dass diese Gefühle echt sind? Und drittens, der wohl wichtigste Punkt, du hast eine Freundin!“
 

Ich wollte nicht nur irgendein schöner Zeitvertreib sein. Schließlich hatte ich bis jetzt keine Zeit für irgendeine Beziehung und neben Luzifer gab es auch niemanden, der mich in diese Richtung interessiert hätte. Dort war sein Atem an meinem Nacken und meinem Ohr. Er ließ mich erschaudern und ich schluckte trocken.
 

„Erstens, Begehren kennt kein Geschlecht. Zweitens, ich kenne dich gut genug, um zu wissen, was ich will. Drittens, lass das mal meine Sorge sein.“ Ich spürte seinen Griff an meinem Kinn und er zog meinen Kopf zu sich, um mich erneut zu küssen. Begierig und ungestüm. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Alles in mir schrie danach, dass ich ihn von mir stoßen musste. Wer wusste, wer das sehen könnte, doch ein winzig kleiner Teil in mir genoss diese Liebkosung und übertönte jeden noch so kleinen Funken Zweifel. Lähmte meine Arme und ließ mich mit einem leisen Seufzen die Lippen ein wenig mehr öffnen.
 

Als wäre dies das Startsignal gewesen, tauchte seine Zunge in meine Mundhöhle ein und begann zu räubern, während er mich langsam näher zu sich zog und unter sich dirigierte. Ich spürte erneut diese kurze Panik in mir, doch als er am Ende des Kusses noch einmal kurz über meine Lippen leckte, war auch sie wieder vergessen.
 

Ich sah ihm in seine blaugrauen Augen und musste trocken schlucken. Verdammt! Wieso passierte dies jetzt? Es war so falsch! So unheimlich falsch! Aber konnte sich etwas Falsches so gut anfühlen?
 

Meine Hand fuhr durch sein kinnlanges, rotes Haar und wanderte dabei auf seinen Hinterkopf, bevor ich ihn zu einem weiteren Kuss zu mir herunter zog. Ich wusste nicht, was gerade mit mir geschah, doch all meine Gedanken versanken tief in diesem unendlichen Meer aus Verlangen.
 

Seine neckischen Finger, die sich unter mein Hemd stahlen, kaum dass sie es frech aus dem Bund meiner Hose gezogen hatten. Jede Stelle, an der er mich berührte, schien in Flammen aufzugehen, während ich immer weiter die Welt um mich herum zu vergessen begann. Ich wollte ihn spüren. Kurz kam die Angst zurück, doch bevor ich sie konkret erfassen konnte, versank auch sie in diesem unendlichen Meer.
 

„Nathy.“ Ich erschauderte bei dem Klang meines Namens aus seinem Mund. Ich wusste nicht, wann er meinen richtigen Namen erfahren hatte, doch er gab mir einen ganz persönlichen Spitznamen, den er nur verwendete, wenn wir alleine waren und uns niemand hören oder sehen konnte. Er hatte dadurch etwas geheimnisvolles schon fast intimes für mich, das auch jetzt einen angenehmen Schauer über mein Rücken schickte und sogar ein leichtes Seufzen forderte.
 

Unsicher und schon fast leicht zitternd ließ ich auch meine Finger unter den Saum seines T-Shirts wandern. Seine Haut fühlte sich angenehm warm und weich an, doch ich spürte dennoch jeden noch so kleinen Muskel, der sich unter seinen Bewegungen zeigte. Etwas, was mich kurz genießerisch über meine Lippen schlecken ließ. Diese Handlung geschah gänzlich unbewusst und zauberte ein zufriedenes Lächeln in Castiels Gesicht.
 

„Na, gefällt es dir?“ Er zog sich sein Shirt über den Kopf und blieb noch eine Weile über mir aufgebaut stehen. Ich konnte sehen, wie sehr es ihm gefiel von mir angeschaut zu werden und auch als ich meine Finger noch einmal unsicher auf Wanderschaft schickte. Meine Augen folgten ihnen Millimeter genau. Ich wusste nicht, ob ich gerade träumte oder ob es wirklich passierte.
 

Ihre Wanderung begann auf seinem Brustkorb und ging dann über seinen Brustkamm hinunter zu seinem Bauchnabel. Erst der Bund seiner Hose stoppte meine Berührungen, was ein verführerisches Funkeln in seinen Augen auslöste. „Wir sollten aufhören.“ Ich glaubte meine Worte selbst nicht und das Grinsen auf Castiels Lippen zeigte mir deutlich, dass er es auch nicht tat, wodurch er langsam einen Knopf nach dem anderen löste und dabei jede noch so feine Kontur meines Oberkörpers nachzeichnete.
 

Ich wusste nicht, wie er es anstellte, doch jede noch so kleine Bewegung entfachte das Feuer in meinem Körper mehr. Ließ den Druck und die Hitze langsam steigern und meinen Atem immer schwerer werden. Irgendwann war Logik nicht mehr wichtig und die Vernunft hatte sich schon längst über die Reling gestürzt.
 

Ich richtete mich leicht auf und griff erneut nach seinem Kopf, um einen Kuss von ihm zu fordern, während ich mein Becken verlangend näher an seines drückte. Dabei merkte ich wie störend Stoff sein konnte. Ich hasste seine Existenz in diesem Moment richtig, doch das neue Zungenspiel von uns vertrieb diese Gedanken sofort wieder und ließ die Lust erneut mein Handeln beeinflussen.
 

Ich fahre mit meinen Händen zu seinem Hintern und beginne ihn ein wenig durch zu kneten, was ihm sichtlich gefiel, denn er warf den Kopf leicht in den Nacken und konnte sich ein leises Stöhnen nicht verkneifen. Doch im nächsten Moment drängte er mich wieder hinunter in die Kissen und sah mir direkt in die Augen. Seine waren von Lust und Verlangen durchtränkt und wirkten leicht verklärt, was mich trocken schlucken ließ. Bestimmt sah ich nicht anders aus. Auf jedenfall raste mein Herz und ich spürte, dass mir meine Hose mittlerweile zu eng war.
 

„Willst du das wirklich?“ Seine Stimme war kehlig und nur kurz kamen die Zweifel zurück, doch dann nickte ich auch. Es war viel zu spät um umzudrehen. Zumindest dachte ich das gerade und Castiel beugte sich zu seiner Jacke, doch dort kam er nie an.
 

Meine Tür flog schwungvoll auf und krachte gegen die Wand. Sofort stürmte mein Vater herbei und ich hatte noch nie so viel Hass in seinen Augen gesehen. Er riss Castiel von mir herunter und warf ihn aus meinem Zimmer. Castiel hatte gerade noch genug Zeit seine Kleidung aufzusammeln, bevor die Tür auch schon wieder schwungvoll zuschlug.
 

Mein Vater blockierte die Türklinke mit meinem Stuhl, als ich schon hörte wie Castiel gegen die verschlossene Tür knallte und versuchte verzweifelt sie zu öffnen. Er rief irgendetwas, doch ich konnte ihn nicht verstehen. In meinen Ohren war nur noch das Rauschen meines Blutes. Ich versuchte so schnell es ging aus meinem Bett aufzustehen, um meinen Vater wenigstens auf Augenhöhe zu begegnen. Doch er stieß mich fast augenblicklich wieder zu Boden.
 

„Ernsthaft?! Ist dir eigentlich bewusst, was für eine Schande du damit über deine Familie bringst?! Wie kannst du es wagen so etwas unter meinem Dach zu tun?!“ Es kam der erste Schlag, der mich hart zwischen meine Schulterblätter traf und mich zu Boden warf. Der nächste Treffe war ein Tritt in meine Seite und ich versuchte mich zusammen zu rollen.

Immer wieder rüttelte jemand an meine Tür, doch der Stuhl wollte nicht weichen. Ich fühlte mich hilflos und dennoch konnte ich mich zu einer Reaktion durchringen: „Luzifer! Verschwinde einfach! Es... es ist okay!“
 

Das Rütteln hörte auf und auch mein Vater stoppte kurz, doch dann erfolgte nur noch ein Schlag gegen das Holz, bevor ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Ich wollte mich dadurch langsam wieder aufrichten, doch sofort schleuderte mich ein Tritt meines Vaters wieder zu Boden. Mit vor Schmerzen verzogenes Gesicht hielt ich meinen Bauch, doch ich wurde an meinen Haaren empor gezogen und konnte den Schmerz nicht mehr ausblenden.
 

Sein nächster Schlag ging ins Gesicht und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Ich sollte mich wehren, doch ich konnte nicht. Es war mein Vater. Er wollte doch nur das Beste für mich. Immer wieder explodierte irgendwo ein Schmerz, doch ich war langsam nicht mehr in der Lage in zu lokalisieren. Ich sank zu Boden und wurde wieder in die Höhe gezogen. Es schien nicht aufzuhören. Warum? Warum konnte ich es nicht verhindern?
 

Ich spürte Tränen in meinen Augen und irgendwann begann ich nur noch drei Sätze zu flüstern wie ein Mantra damit es endlich aufhörte: „Es tut mir Leid. Bitte verzeih mir. Es wird nie wieder passieren.“
 

Ich wusste nicht, wann es endlich zu meinen Vater durchdrang, doch seine Schläge hörten endlich auf. „Das will ich auch hoffen. Ich habe keine Schwuchtel als Sohn, verstanden? Diese Schande wirst du niemals über unsere Familie bringen. So habe ich dich nicht erzogen.“
 

Er verließ endlich mein Zimmer und ich blieb zitternd zurück. Die Schmerzen verschlangen sämtliches Denken und ich spürte die heißen Tränen auf meinen Wangen kaum noch. Wieso musste das passieren? Es... es hätte so schön sein können. Es war doch so schön. Warum kam er jetzt so plötzlich in mein Zimmer?
 

Ich schloss meine Augen, um im Schlaf meine Erholung zu finden, als ich nur noch das Klacken von Stöckelschuhen hörte, die sich mit sicheren Schritt entfernten. Doch ich wollte es nicht hören und damit akzeptieren, was es bedeutete. Das... das durfte einfach nicht wahr sein. Niemals...
 

Doch, es ist wahr. Sie war es. Nur sie allein. Dein Schwesterherz hat dir den Todesstoß verpasst. Du bist ihr egal. Nur ein Spielzeug und du standest ihr im Weg. Sehe der Wahrheit ins Auge. Du bist hier gänzlich allein. Allein auf dich gestellt. Niemand hilft. Keiner wird dich befreien. Das kannst nur du. Du alleine...

Klack.
 

Die Dunkelheit umschloss mich immer weiter. Ich wollte hier bleiben. Fern der Schmerzen und der Pein.
 

Klack.
 

Warum sollte ich überhaupt aufwachen? Egal, was ich tat. Es würde niemals besser werden. Solange ich nicht auf eigenen Beinen stehen konnte, würde ich immer wieder dieser Wut ausgesetzt sein.
 

Klack. Klack.

Langsam kehren die Schmerzen zurück. Ich wagte es kaum mich zu bewegen. Zu groß war die Angst, dass alles nur noch schlimmer wurde. Es war also wirklich geschehen. Kein Traum, sondern die kalte Realität. Ich...
 

Klack. Klack. Klack.
 

Das Geräusch wurde immer penetranter und führte mich hinaus aus der geistigen Dunkelheit hinein in die Finsternis der Nacht, die sich in meinem Zimmer ausgebreitet hatte. Meine Augen fühlten sich geschwollen an und mein Körper protestierte unter jeder Bewegung. Ich wollte nur noch liegen bleiben. Es hatte doch keinen Sinn mehr.
 

Klack. Klack. Klack. Klack.
 

Das Geräusch wurde lauter und immer heftiger. Langsam bekam ich Angst, dass die Glasscheibe bald zu Bruch gehen würde, wodurch ich mich mit einem Grummeln aufrichtete und dann vorsichtig mein Fenster öffnete. Der nächste Stein flog erneut in mein Zimmer und sofort hörte das Bombardement auf, wodurch ich kurz nach draußen sah.
 

Castiel stand dort unten und Demon war an seiner Seite. Er wirkte total aufgelöst und pure Erleichterung kam in sein Gesicht, als er mich erblickte. „Gott sei Dank. Dir geht es einigermaßen gut. Ich... warum lässt du das geschehen?!“
 

„Das verstehst du nicht. Du solltest gehen.“ Ich wollte wieder zurück in mein Zimmer gehen und das Fenster schließen, doch er hielt mich sofort auf. „Warte! Kannst du nicht runter kommen? Ich... wir sollten reden, okay?“ So kannte ich ihn gar nicht, doch ich wusste nicht, was es zu bereden gab. Beziehungsweise wollte ich es nicht wissen.
 

„Du solltest zu deiner Freundin zurückgehen.“ Mehr sagte ich nicht und schloss dann wieder das Fenster, bevor ich mich auf mein Bett legte und in die Dunkelheit starrte. Immer wieder flogen Steine gegen das Fenster, doch ich reagierte nicht. Er warf immer neue Steine bis die Stimme meines Vaters erklang. Ich wollte ihn nicht verstehen und dann hörte es auch schon auf. Irgendwie spürte ich, dass sich Castiel jetzt entfernte und dieser Fakt schmerzte. Kurz darauf begann mein Handy zu klingeln. Es war Luzifer, doch ich konnte nicht rangehen. Schließlich war es besser, wenn der Kontakt sich nur noch auf das Spiel begrenzte.
 

Ich wollte das nicht, aber es musste sein. Jeder neuer Versuch von Castiel zerriss mich innerlich. Er sollte es gut sein lassen. Umso früher er das verstand, umso besser war es für uns. Plötzlich kam eine Nachricht von ihm rein: „Ich werde bis 23 Uhr im Park warten. Dann geht mein Zug nach Hause. Nathy, wir müssen reden. Das kann so nicht weitergehen.“
 

Ich antwortete nicht darauf, sondern drehte mich nur um. Nein, ich wollte nicht mit ihm darüber reden. Es aussprechen und somit wirklich werden lassen. Das konnte ich nicht. Castiel sollte einfach fern bleiben. Es war das Beste für uns Beide und wahrscheinlich würde es seine Freundin auch nicht so toll finden, wenn sie rausbekam, was hier beinahe passiert wäre.
 

Ich wollte wieder schlafen, doch ich konnte nicht, sondern starrte auf die leuchtenden Ziffern meines Weckers. Sie näherten sich immer mehr der Deadline von Luzifer und nur kurz erwachte der Gedanke, dass ich doch gehen sollte, doch etwas hielt mich ab. Der Fakt, dass immer noch Licht unter meiner Tür hinein kam. Bestimmt lag mein Vater auf der Lauer. Nur kurz sah ich zu meinem Fenster, doch ich wusste, dass es fast unmöglich war unbeschadet dort hinaus zu klettern.
 

Daher rollte ich mich noch einmal ein wenig enger zusammen und versteckte mich unter meiner Bettdecke. Dieser Tag hatte so schön begonnen, um dann umso katastrophaler zu enden. Wie würde es jetzt weitergehen? Auf welche Art und Weise sollte ich jetzt meinen Vater begegnen? Ich war nicht einmal mehr hier sicher. Hier in meinem Zimmer. Das... das konnte ich nicht zulassen. Irgendwo musste ich einen Ort haben, an dem ich mich geschützt fühlte.
 

Aber wie? Oder war es einmalig? Vielleicht vergaß es mein Vater auch wieder, wenn er Castiel nicht mehr sah? Ja, vielleicht war das schon genug. Ich hoffte es so sehr und zog all meine Kraft aus dieser Überzeugung.
 

Die Zeit schritt weiter voran. Das Ziffernblatt zeigte 23 Uhr und ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte und mein Herz schwerer wurde. Jetzt würde er weg sein und wir würden einander nie wiedersehen. Zumindest wenn es nach mir ging. Ich hoffte, dass er es auch verstand. Egal was wir hatten, es sollte nicht sein. Das sollte auch er jetzt verstanden haben.
 

Kurz zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen und mich beschlich der Gedanke, dass ich vielleicht etwas essen sollte, aber ich wollte nicht aus diesem Raum gehen. Nicht meiner Familie begegnen und spüren, was ich für sie war. Ja, vielleicht sollte ich etwas daran ändern. Aber was? Ich ging doch noch zur Schule und saß dadurch hier fest.
 

Ich seufzte schwer, als ich mich erneut umdrehte und die Augen schloss. Vielleicht würde es morgen schon viel besser aussehen. Ganz bestimmt. Es war doch immer so, oder nicht? Hoffentlich...

Die Tage vergingen und mein Vater gab es mir deutlich zu verstehen, dass ich gewiss keine Schwuchtel zu sein habe. Mit Blicken, Worten und Schlägen. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Jeder noch so kleine Fehler endete mit einem Schlag. Ich ließ ein Messer fallen, verpasste er mir einen Hieb. Ich wählte die falschen Worte setzte es erneut etwas. Egal, was es war. Ich konnte es ihm nicht mehr recht machen.
 

Daher dauerte es auch gut eine Woche bevor ich mich wieder ins Spiel traute. Erst als ich mich dazu entschlossen hatte mir eine Türkette zu besorgen, wagte ich es wieder meinen Laptop zu starten und in den Teamgeekchannel zu gehen.
 

„Gabriel?!“ Tayaka wirkte überrascht und ich konnte ein verlegenes Lächeln nicht unterdrücken. „Ja, hallo. Sorry. Früher ging es nicht. Plötzliche Familienprobleme.“ Es kam der Wahrheit ziemlich nahe und zumindest Tayaka schien es zu schlucken. „Und die sind jetzt gelöst? Na ja, Reallife geht nun einmal vor. Schön, dass du wieder da bist.“
 

„Wir hatten schon Angst, dass wir uns einen neuen Schlagzeuger suchen müssen. Kommst du ins Spiel? Wir haben ein paar neue Songs, die wir gerne einstudieren würden.“ Azrael wirkte ebenfalls glücklich, doch er schien noch skeptisch zu sein. Athena jedoch beruhigte ihn fast sofort: „Bestimmt kommt er gleich. Wir sind wirklich froh, dass du wieder da bist.“
 

Xenia und Luzifer schwiegen. Es tat weh seinen Namen zu lesen und kein Lebenszeichen zu bekommen. „Ich... ich komme sofort.“ Mein Blick wanderte zu der Türkette, die vorgelegt war. Jetzt konnte er mich hier nicht mehr überfallen. Etwas, was das Zittern meiner Hände ein wenig leichter werden ließ, wodurch ich das Spiel startete.
 

Kaum stand mein Avatar wieder im Proberaum wurden die Gespräche belangloser. Wir redeten über die nächsten Auftritte und die neue dazu kommende Möglichkeit eine CD aufzunehmen. Etwas, was an sich von Anfang an in dem Spiel hätte sein sollen, aber scheinbar jetzt erst kam. Es war alles zwanglos und ich spürte, dass ich meine Schmerzen, die blauen Flecken und das Zittern meines Körpers endlich vergaß.
 

Der Tag neigte sich dem Abend entgegen und alle bis auf Luzifer verabschiedeten sich um etwas zu essen. Stille kehrte zwischen uns ein und ich musste dem Drang widerstehen ebenfalls zu gehen. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. So hoffte ich darauf, dass er das Schweigen brach, doch dabei vergaß ich, dass er das ganz gut beherrschte. Wenn er sauer war, dann konnte er einen mit Schweigen strafen und wenn man ehrlich war, dann wollte man auch nicht wirklich, dass er mit einem sprach.
 

„Es tut mir Leid.“ Mehr brachte ich nicht heraus, denn sofort kam ein verärgertes Schnauben. „Was davon? Dass ich von dir gerissen werde, wie der übelste Triebtäter? Dass du meine Hilfe abgelehnt hast? Dass ich mich danach auch noch blöd von deiner Schwester anlabern lassen musste? Dass mich dein Alter vertrieben hat, als ich stundenlang darauf gewartet habe, dass du dein Fenster öffnest? Dass ich mir im Park den Arsch abgefroren habe, weil du deinen nicht in der Hose hattest um zu mir zu kommen? Dass du dich eine ganze Woche lang nicht meldetest und ich nicht wusste, wie es dir geht? Such dir also was aus.“
 

„Irgendwie alles.“ Ich schluckte hart und erneut trat Stille zwischen uns. Ich hörte den wütenden Atem von Luzifer durch mein Headset und dann knurrte er bedrohlich. „Wie soll es jetzt weitergehen?“
 

„Ich weiß es nicht. Lass uns einfach Spaß im Spiel haben, okay?“ Ich wollte nicht, dass die Band unter unseren privaten Problemen litt. Das hatten die anderen vier einfach nicht verdient. Wir hatten doch so viel Spaß zusammen. Das wollte ich nicht verlieren oder durch diese Kleinigkeit gar zerstören.
 

„Echt jetzt?“ Erneut kam nur ein dunkles Knurren und im nächsten Moment verabschiedete er sich auch schon. „Sorry, ich muss raus. Ich... man sieht sich.“ Er wartete gar nicht darauf, dass ich irgendwie reagierte, sondern verließ fast im selben Atemzug noch den Channel und ich blieb alleine zurück.
 

Wieso passierte das? Ich wusste, was er wollte. Was er sich wünschte. Doch es ging nicht. Er... er war doch mit Xenia zusammen. Was wollte er dann plötzlich von mir? Das ergab doch alles keinen Sinn mehr. Vielleicht sollte ich wirklich einfach gehen. Es war wohl besser für uns alle.
 

Gerade wollte ich den Channel verlassen, als Xenia plötzlich zurückkehrte und mich direkt ansprach: „Gabriel. Wir müssen reden.“
 

Mir rutschte mein Herz in die Hose und ich schluckte trocken. Die übelste Vorahnung kämpfte sich in meine Gedanken hoch und ich wünschte mir, dass es nicht so wäre, aber ihre Tonlage war alles nur nicht gerade freundlich. Was wusste sie?
 

„Lass die Finger von Luzifer. Er gehört mir. Mir ganz alleine. Du wirst ihn niemals glücklich machen können. Schließlich war er noch nie so frustriert wie an diesem Tag, als er von dir kam. Du musst ja eine echte Niete sein. Es ist mir an sich egal, was dort passierte oder nicht. Er hat versucht es mir zu erklären, doch du solltest eines wissen. All das bedeutete nichts. Wahrscheinlich hätte er in diesem Moment jeden besprungen. Du warst halt gerade griffbereit. Das Testosteron ist nur mit ihm durchgegangen. Du bist nur ein Bandmitglied. Nichts Besonderes. Wirst du niemals sein. Luzifer gehört mir und solltest du es wagen auch nur daran zu denken, dass dieser Ausrutscher irgendetwas zu bedeuten hat, dann sei gewarnt. Ich werde dann nämlich dafür sorgen, dass du freiwillig und mit großen Vergnügen das Spiel verlässt.“
 

Ich konnte nichts sagen, sondern nur ihren Worten lauschen. Selbst als schon einige Herzschläge Stille zwischen uns herrschte, fand ich immer noch keine Antwort. Wie viel wusste sie? Was hatte ihr Luzifer erzählt? Stimmten ihre Worte?
 

Ein kalter Schauer glitt beim letzten Satz über meinen Rücken und ich schluckte trocken. Was sollte ich tun? Sollte ich mich wehren? Aber wieso? Sie hatte doch Recht. Ich sollte Luzifer los lassen. Er bedeutete nur Ärger. Sowohl Zuhause als auch hier im Spiel. Es war wohl besser für uns alle.
 

„Hast du das verstanden?“ Ihre Stimme war scharf und ließ keinen Widerspruch zu. Erneut konnte ich nur schlucken und fast kleinlaut ein leises, krächzendes „Ja“ von mir geben. „Gut, dann wäre das geklärt. Man sieht sich später, Gabriel.“ Am Ende war ihre Stimme wieder zuckersüß und engelsgleich. Die Gefahr, die sie eben noch ausgestrahlt hatte, war plötzlich verschwunden und ich hatte kurz das Gefühl, dass ich es mir eingebildet hatte. Doch der kalte Schauer, der sich immer noch an meinen Rücken krallte, zeigte mir deutlich, dass es nicht so war.
 

Xenia hatte mir offen gedroht. Ich wusste, wie sehr sie in Luzifer verliebt war, doch ich hätte nicht damit gerechnet, dass er es ihr erzählen würde. Oder woher sie es auch immer wusste. Ich hatte keinen Plan über die Verbindungen von Luzifer oder Xenia. Es war mir bis jetzt auch immer egal gewesen.
 

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, doch die Kette stoppte sie fast augenblicklich. Ich konnte ihn das verwirrte Gesicht meines Vaters sehen. Seine Augen verengten sich vor Wut und er stemmte sich stärker gegen die Tür. „Nathaniel! Mach sofort die Tür auf! Was tust du da drinnen?!“
 

Unsere Blicke begegneten sich und er erkannte das Headset auf meinem Kopf, doch er schien es gänzlich falsch zu verstehen. „Sprichst du schon wieder mit diesem Jungen?! Ich hatte es dir verboten! Öffne sofort diese Tür!“
 

Ich sprang vom Stuhl auf und riss mir dabei das Headset vom Kopf. Die Kette hielt den Attacken meines Vaters stand. Hätte ich sie doch schon viel früher geholt. Dann wäre alles vielleicht anders gekommen. Dann...
 

Nein, ich wollte diesen Gedanken nicht zu Ende formen. Es war nicht sein Kampf und ich musste das alleine durchstehen. Auch wenn ich nicht wusste wie. „Ich tue gar nichts, sondern rede nur mit Freunden! Es... es ist nichts Schlimmes dabei! Geh weg! Geh einfach weg! Du wirst hier nie wieder reinkommen!“
 

Es war so lächerlich, dass ich mich dafür rechtfertigen musste. Für etwas ganz normales. Ich unterhielt mich doch nur mit Freunden und spielte ein Spiel mit ihnen. Es war nichts anrüchiges dabei und wenn ich ehrlich war, dann wollte Luzifer doch eh nichts mehr von mir. Nicht nachdem was hier passiert war. Das hatte er mir doch gerade deutlich gezeigt.
 

„Nathaniel! Ich sag das nur noch einmal: Mach die verdammte Tür auf!“ Die Stimme meines Vaters war bedrohlich und kurz erwischte ich mich dabei seinem Befehl nachzukommen, doch ich konnte mich in letzter Sekunde noch davon abhalten.
 

„NATHANIEL!“ Er schlug hart gegen das Holz und ich zuckte unter dem lauten Knall zusammen, doch dann schien er davon abzulassen: „Komm du mir da raus, Junge. Komm du mir da raus.“
 

Ich hörte wie sich seine Schritte entfernten und sank zu Boden. Klar, ich war hier sicher, aber ich konnte nicht ewig hier bleiben. Mich nicht ewig hier verstecken. Was sollte ich tun? Plötzlich hörte ich eine leise Stimme aus meinem Headset.
 

Mit zitternden Beinen nahm ich es an mich und setzte es mir auf, um dann Tayakas Stimme zu hören: „Gabriel?! Was ist denn da bei dir abgegangen?! War das dein Dad?!“ Ich hörte deutlich, dass er fast panisch war, doch ich lächelte zerknirscht. „Ja, war er. Aber... er hat nur einen schlechten Tag. Es ist alles gut. Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut.“
 

„Das klang gerade echt anders. Hat der öfters schlechte Tage?“ Die Stimme von Tayaka war voller Skepsis, doch ich wollte ihm die Wahrheit nicht erzählen. Wenn ich dies mit in diese Welt lassen würde, dann könnte ich dort nicht mehr so frei sein, wie ich es jetzt war.
 

„Nein. Aktuell hat er nur ein wenig Stress auf der Arbeit. Ist bestimmt bald wieder vorbei.“ Ich winkte ab. „Na, wenn du meinst.“ Tayaka wirkte nicht wirklich überzeugt, doch er schien das Thema erst einmal fallen zu lassen. „Wie sieht es aus? Lust noch ein wenig zu jammen?“
 

Ich war froh über den Themenwechsel und nickte, als ich die Tür schon wieder schloss. Dankend blickte ich zu der Kette hinauf. Sie war jetzt schon ihr Geld wert. Auch wenn ich nicht wusste, ob ich es jemals wieder wagen konnte hier raus zu kommen.
 

„Du, Gabriel. Sollte der Stress deines Vaters nicht aufhören. Du kannst jederzeit für ein paar Tage bei mir unterkommen. Ich wohne nicht allzu weit weg. Es würde sogar jetzt noch ein Zug gehen. Also... wenn du mal Abstand von deinem Dad brauchst. Du bist immer willkommen bei mir und meiner Familie.“ Wir hatten schon ein paar Lieder gespielt, als Tayaka plötzlich mit diesem Thema kam, wodurch ich trocken schluckte und im nächsten Moment bekam ich schon ungefragt seine Adresse im privaten Spielchat. Ich notierte sie mir.
 

„Danke...“ Ich konnte nicht mehr sagen. So gerührt war ich von dieser Geste. „Du bist immer willkommen.“ Kaum war die letzte Silbe von Tayaka verklungen, war der Plan schon gefasst: Ich würde diese Nacht zu Tayaka abhauen...

Ich vergrub mich tiefer in meiner Jacke, als ich mich so klein wie möglich auf dem Sitz des Zuges machte. Zwischen meinen Beinen stand ein Rucksack, der nur mit ein paar Kleidungsstücken und anderen nötigen Kram gefüllt war. Mein ganzer Körper zitterte noch unter dem Adrenalin, das mir meine Flucht beschert hatte.
 

Im Rückblick konnte ich nicht mehr sagen, wie ich aus meinem Fenster klettern konnte, doch es hatte irgendwie funktioniert und jetzt saß ich hier und wartete darauf, dass sich der Zug endlich in Bewegung setzte. Es war erneut Freitagabend. An sich würde es also kein Problem mit der Schule geben, aber ich wusste dennoch, dass meine Eltern mir die Polizei auf den Hals hetzen konnten.
 

Mit einem leichten Ruck setzte sich der Zug endlich in Bewegung und ich spürte, wie ich mich langsam entspannte und seit langer Zeit mal wieder ein Lächeln auf meine Lippen einkehrte. Ich wusste nicht, was mich bei Tayaka erwarten würde und wenn ich ehrlich war, dann war es mir gerade auch total egal, wenn er ein Psychopath wäre, der mich in seinen Keller sperren würde. Alles war gerade besser als Zuhause zu sein.
 

Ich sah mir noch einmal den Weg vom Bahnhof zu Tayakas Zuhause an. Die Strecke war nicht zu unterschätzen, aber ich würde es dennoch relativ zeitnah schaffen. Hoffentlich jagte man mich dann nicht weg. Vielleicht hätte ich mit Tayaka Nummern austauschen sollen, aber irgendwie hatte ich in dem Moment nicht daran gedacht. Ich wollte nur noch dort raus.
 

Das leichte Takatak der Räder auf den Schienen hatte eine beruhigende Wirkung auf mich und ich spürte, wie ich mich langsam entspannte und seit langem mal nicht mehr auf der Hut war. Ich sah in die Finsternis und zeigte dem Zugbegleiter mein Ticket, als er zur Kontrolle kam. Alles lief nach Plan und ich konnte schließlich an meinem Ziel aussteigen.
 

Sofort holte ich mein Smartphone aus der Tasche, um mir den Weg zeigen zu lassen, als ich auch schon eine Nachricht von Luzifer auf den Schirm hatte: „Wo bist du? Warum bist du nicht mehr online? Ist dein Alter wieder daran schuld?“
 

Ich seufzte schwer und entschied mich ihm nur eine kurze Antwort zu schicken, weil ich wusste, dass er eh vorher nicht aufhören würde: „Bin auf dem Weg zu Tayaka. Am Sonntag bin ich wieder daheim.“ Ich hoffte, dass er sich damit zufrieden gab, doch dieser Wunsch zersprang wie eine Seifenblase.
 

„Wieso zu Tayaka? Was tust du da?!“ Ich drückte die Nachricht weg, doch immer wieder kamen ähnliche Texte und langsam ging er mir auf die Nerven, wodurch ich ein wenig aggressiv antwortete: „Mich vor meinem Vater verstecken! Wir können am Sonntag reden!“
 

„Warum kommst du dann nicht zu mir?“ Er ließ immer noch nicht locker, wodurch ich ein zorniges Knurren nicht unterdrücken konnte und ich mich erst einmal sammeln musste, um ihm nicht allzu schroff zu antworten. Immer Haltung wahren. Auch wenn einem der Gegenüber übelst auf die Nerven ging und das hatte Luzifer richtig gut drauf.
 

„Du hast es mir nicht angeboten. Tayaka hat eine Auseinandersetzung mitbekommen und mir seine Adresse gegeben. Lass mich jetzt also bitte in Ruhe. Ich muss den Weg finden.“ Ich hoffte, dass die Geschichte damit wirklich beendet war, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Luzifer wieder immens verärgert war, doch ich schob diese Empfindung so weit weg wie nur irgend möglich und konzentrierte mich auf meinen Weg.
 

Es war ein komisches Gefühl mitten in der Nacht durch eine fremde Stadt zu irren, doch dank Boogle Maps kam ich meinen Ziel immer näher. Es war ein unauffälliges mehrstöckiges Apartmenthaus, doch es war mir egal. Solange ich nur für ein paar Tage mal aus meinem eigenen Zuhause rauskam, würde ich auch einen stickigen Keller nicht ablehnen. Also trat ich an den Eingang und suchte den echten Familiennamen von Tayaka um dann auf die Klingel zu drücken.
 

„Ja?“ Es war die Stimme von Tayaka, die mich begrüßte und ich musste mich kurz räuspern, bevor ich antworten konnte: „Ich bin es. Gabriel.“ Sofort hörte ich das Surren des Türöffners und betrat den Raum, um dann schon nach einer offenen Tür Ausschau zu halten. Ich spürte, wie mit jeder Treppenstufe meine Nervosität zunahm. Ob es wirklich gut war hierher zu kommen? Mein Vater wird meine Flucht bestimmt nicht gut heißen. Aber andererseits. Schlimmer konnte es fast nicht mehr werden.
 

„Hallo, Gabriel!“ Ich wurde von einem lächelnden Schwarzschopf an der Tür begrüßt und konnte fast nicht anders als diese Mimik zu erwidern. Es tat gut, dass man so freundlich empfangen wurde und ich fühlte mich fast schon heimisch ohne in der Wohnung angekommen zu sein.
 

„Meine Eltern schlafen schon, aber denen erklären wir das Alles dann morgen beim Frühstück. Sie werden es bestimmt verstehen. Deine Jacke kannst du hier zu unseren hängen.“ Er grinste mich an und führte mich dann tiefer in die Wohnung. Sie wirkte auf den ersten Blick ein wenig klein, doch machte sie das auf eine sonderbare Art und Weise auch gemütlich. Ich fühlte mich fast sofort wohl.
 

Ruhig folgte ich Tayaka tiefer in die Wohnung und konnte dann eine gedämpfte Stimme hören, doch wir gingen in den Raum daneben. „Ich dachte, dass deine Eltern schlafen. Da ist aber doch noch jemand wach.“ Ich ließ meinen Rucksack neben der Tür auf den Boden sinken und sah Tayaka irritiert an, doch dieser winkte ab. „Ach, das ist nur mein Bruder. Der telefoniert mit einem Freund oder Freundin. Keine Ahnung.“ Tayaka zuckte mit den Schultern und nahm dann kurz an seinem Schreibtisch Platz. Ich konnte den Bildschirm von Music Heroes sehen. Genauso wie die Avatare der anderen.
 

Sofort wandte ich meinen Blick ab, als sich mein Herz leicht schmerzhaft zusammen zog und ich instinktiv mein Smartphone fester umschloss. Nein, diese Geschichte war vorbei. Luzifer war nur ein guter Freund und an diesen Gedanken musste ich mich nun wirklich endlich gewöhnen.
 

Tayaka loggte sich schließlich aus und fuhr den Computer herunter, bevor er sich dann zu mir wandte. „Ich hab dir unsere Luftmatratze aufgeblasen und ein Kissen und Decke besorgt. Hoffentlich geht das in Ordnung aber so spontan konnte ich sowieso froh sein, dass ich sie bekam und nicht irgendeiner von Alexys Freunden sie belagert.“
 

„Alexy?“ Ich sah Tayaka irritiert an, wodurch dieser kurz auflachte. „Oh, tschuldige. Das ist mein Bruder. Mein Name ist Armin. Wie heißt du? Oder willst du lieber bei den Nicks bleiben?“ Ich ergriff seine Hand, doch irgendwie sperrte sich kurz etwas in mir, bevor ich dann doch trocken schluckte und nickte. „Nathaniel. Danke für deine Gastfreundschaft.“
 

„Kein Ding. Die Sache mit deinem Dad hat sich echt nicht gut angehört.“ Er machte ein zerknirschtes Gesicht, doch dann kehrte fast augenblicklich sein Lächeln zurück und er stand motiviert auf. „So, brauchst du irgendwas? Kann ich dir etwas bringen? Wasser? Essen? Bestimmt kann ich noch was auftreiben. Wir haben ganz sicher noch eine Tiefkühlpizza da.“
 

Eigentlich wollte ich ablehnen, doch im nächsten Moment begann mein Magen schon zu knurren und Tayaka nahm das sofort als Anlass an mir vorbei in Richtung Küche zu gehen. „Einmal Pizza, kommt sofort.“
 

Ich selbst blieb ein wenig verloren zurück und sah mich in dem kleinen Zimmer um. Gleich neben der Tür stand sein Bett. Gegenüber ein Fernseher auf seinem Regal, während meine Matratze den wohl letzten Rest des Zimmers einnahm und somit zwischen Bett und Schreibtisch lag. Definitiv sehr kuschelig, aber für das Wochenende würde es schon funktionieren.
 

Mit einem Seufzer ging ich zurück und folgte dem geschäftigen Geräuschen in die Küche, wo Tayaka schon die zwei Pizzen aus dem Ofen holte und sie auf Teller verteilte, bevor er mir deutete Platz zu nehmen. Ich folgte seinem Wink und ließ es mir dann schmecken. Tayaka schwieg während wir aßen und auch ich hatte gerade kein Bedürfnis etwas zu sagen. Alleine hier zu sein ließ mich von Sekunde zu Sekunde ruhiger werden und ich spürte, wie das Zittern meiner Hände langsam verschwand.
 

„Willst du noch etwas tun? Reden?“ Er sah mich ruhig an, als er die Teller in die Spülmaschine stellte und wir langsam zurück in sein Zimmer gingen. Mittlerweile war das gedämpfte Gespräch seines Bruders beendet und die Wohnung wirkte auf sonderbare Weise gruselig still, wodurch ich den Kopf schüttelte. Ich hatte Angst, dass ich die anderen Bewohner aufwecken könnte und mir somit ihren Unmut zu zog.
 

„Na gut. Dann gehen wir halt schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Er wirkte nur kurz enttäuscht, doch dann lächelte er mich auch schon wieder an, bevor wir uns dann umzogen. Ich selbst ging dafür ins Bad, um zu verhindern, dass Tayaka die blauen Flecken auf meinen Körper sah und so stand ich nun vor den Waschbecken und sah in den Spiegel.
 

Der Anblick gefiel mir schon lange nicht mehr. Diese Angst in den Augen und die leicht hochgezogenen Schultern, doch jetzt wirkte mein Körper entspannt und auch meine Augen hatten wieder Hoffnung in sich. Etwas, was ich schon lange aufgegeben hatte dort jemals wieder zu erblicken, wodurch ich mir selbst kurz zulächelte, um dann zurück zu Tayaka zu gehen.
 

Dieser lag schon in seinem Bett und zockte noch ein wenig auf einem Handhelden, doch legte er diesen sofort zur Seite als er mich erblickte. „Hast ganz schön lange gebraucht. Irgendwas interessantes gefunden?“ Er grinste mich breit an und ich brauchte erst ein paar Herzschläge bevor ich verstand, was er damit meinte, doch dann winkte ich ab.
 

„Nein, ich... war nur kurz ein wenig in Gedanken. Danke für die Einladung.“ Ich lächelte ein wenig beschämt und kroch dann unter die Decke auf der Luftmatratze. „Keine Ursache. Manchmal muss man einfach raus. Dann sieht die Welt meist schon besser aus.“
 

Er schien noch ein wenig reden zu wollen und ich war mir sicher, dass er es auch tat, doch als diese Angst endgültig von meinen Schultern fiel und ich mich geborgen und sicher fühlte, konnte ich meine Augen nicht mehr offen halten. Seit langem erlaubte es sich mein Körper wieder in einen tiefen und erholsamen Schlaf zu fallen. Aus dem mich nichts reißen konnte. Wirklich gar nichts...

Die leise Musik eines Videospiels drang durch die Dunkelheit zu mir durch. Nur nach und nach spürte ich die sanfte Wärme der Sonnenstrahlen in meinem Gesicht und dort war auch das Zwitschern der Vögel, die draußen ihr Leben feierten. Ich grummelte und drehte mich weg. Die Luftmatratze knirschte unter meinen Bewegungen, doch ich wollte meine Augen noch nicht öffnen.
 

Kurz verstummte die Musik und ich hörte, wie sich jemand neben mir bewegte. „Bist du endlich wach?“ Tayakas Stimme klang ein wenig ungeduldig, doch ich konnte ihm nur mit einem Murren antworten. Ich wollte meine Augen jetzt noch nicht öffnen. Dieser Schlaf fühlte sich viel zu gut an, doch irgendwie wollte er nicht mehr zu mir zurückkommen.
 

„Wir haben es schon weit nach Mittag. Langsam solltest du echt aufstehen.“ Die Worte von Tayaka rissen mich sofort aus meiner Müdigkeit und ich schnellte nach oben. Sah ihn entsetzt an und begegnete so seinem überraschten Blick. „Ernsthaft?! Fuck!“
 

„Ja, du warst aber auch nicht wach zu kriegen. Ich hab dir die Decke weggenommen, aber du hast sie dir mit geschlossenen Augen wieder geangelt. Das war richtig faszinierend. Als ich sie außerhalb deiner Reichweite hatte, hast du dir dann einfach meine genommen.“ Er lachte auf und schien noch kurz etwas auf seinem Handhelden zu tun, bevor er ihn ausschaltete und zu mir sah.
 

Ich selbst spürte die Hitze in meinen Wangen. Das sah mir gar nicht ähnlich, aber wenn ich die Decke auf mir genauer musterte, dann war das wirklich nicht meine. Sie roch auch leicht nach Tayaka. Oh Gott, war das peinlich. Am Liebsten wäre ich jetzt irgendwo verschwunden.
 

„Auch hat dein Handy ununterbrochen geklingelt. Entweder Anruf oder Nachricht. Katastrophe. Ich war kurz davor es aus dem Fenster zu werfen. Na ja, willst du noch frühstücken oder gleich zum Mittagessen übergehen? Meine Mutter ist nämlich schon am Kochen.“ Er grinste mich breit an und ließ dadurch das Gefühl des Unwohlseins weniger werden.
 

„Dann kann ich bis zum Mittagessen warten. Tut mir Leid, dass ich so lange geschlafen habe.“ Ich fühlte mich deswegen wirklich schlecht. Schließlich war ich hier zu Gast und empfand es gerade als sehr unhöflich den halben Tag dann zu verschlafen, doch das Grinsen von Armin ließ mich dieses Gefühl sofort beerdigen.
 

„Ist okay. Und kein Problem. Scheinst du gebraucht zu haben. Du siehst schon besser aus als gestern. Ich sag dann mal kurz meinen Eltern Bescheid, dass du wach bist und so. Wenn du willst, kannst du dich gerne derweil umziehen und waschen. Den Weg kennst du ja.“ Armin verschwand dadurch wieder aus dem Zimmer und ließ mich alleine zurück. Kurzerhand griff ich derweil nach meinem Handy und betrachtete die Nachrichten. Luzifer und meine Familie teilten sich die Anzahl ungefähr.
 

Luzifer wollte nur wissen, wie es mir ging und ob ich gut angekommen war. Es schien ihm nicht gefallen zu haben, dass ich nicht antwortete und seine Nachrichten wurden immer besorgter, doch ich antwortete ihm schließlich mit einem knappen „Ja“, bevor ich zu den Nachrichten meiner Familie ging.
 

Mein Vater drohte mir mit allen möglichen Dingen, wenn ich nicht sofort wieder nach Hause kam. Auch fand er den Zettel alles nur nicht witzig. Seine letzte Nachricht war der Fakt, dass er die Polizei eingeschalten hatte. Kurz schrieb ich ihm, dass dies keinen Sinn hatte und ich am Sonntag wieder Zuhause sein würde. Ich seufzte schwer und löschte dann die restlichen Nachrichten von meiner Schwester. Darauf hatte ich wirklich keine Lust. Schließlich schaltete ich mein Handy aus. Ich hatte keine Lust, dass mich die Polizei darüber ortete. Außerdem hatte ich keine Lust mit einem von ihnen zu reden. Ich wollte dieses Wochenende nur meine Ruhe haben und Abstand zu all den Dingen gewinnen. Sowohl zu meiner Familie als auch zu Luzifer. Ich... ich musste endlich mal ein paar Schritte zurückgehen, bevor es mich gänzlich verschlang.
 

Mit einem tiefen Seufzer stand ich auf und holte mir neue Sachen, so wie mein Duschgel und Handtuch um mich dann kurzerhand zu duschen und neu einzukleiden. Noch einmal begegnete ich meinem Spiegelbild. Die Augenringe waren weg und ich sah wirklich wieder wie ein normaler Mensch aus. Nur kurz versetzte es mir einen Stich, dass all das meiner Umwelt nicht aufgefallen war, wobei mein Vater eh meistens darauf achtete, dass er die sichtbaren Bereiche ausließ. Nur selten hatte ich wirklich mal ein blaues Auge oder ähnliches. Das war dann eben ein Unfall gewesen.
 

Ich legte mir mein Handtuch um die Schultern und trat aus dem Bad. Mein Lauf wurde abrupt gestoppt, als ich unsanft gegen jemanden stieß. Ich erkannte nur blaue Haare, als ich schon ungebremst auf meinen Hintern fiel, während mein Aufprallpartner stehen blieb.
 

„Hoppla. Sorry, ich wusste nicht, dass da jemand rauskommt.“ Er hielt mir seine Hand hin, um mir beim Aufstehen zu helfen. Dankend nahm ich sie entgegen und blickte in das gleiche Grinsen wie bei Tayaka. Doch seine Augen waren nicht blau, sondern eher rötlich. Das musste sein Bruder Alexy sein.
 

„Macht nichts.“ Ich ließ mir aufhelfen und musste verlegen lächeln. Das war irgendwie peinlich. Ich war so sehr in Gedanken gewesen, dass ich ihn echt nicht gesehen hatte. Die erste Begegnung mit ihm hatte ich mir definitiv anders vorgestellt. Professioneller. Warum verlief mein Leben nie so wie ich es mir vorgestellt hatte?
 

Plötzlich fühlte ich mich ein wenig gemustert, wodurch ich mich noch unwohler in meiner Haut zu fühlen begann. Warum sah er mich so an? Konnte man mir die Misshandlungen doch ansehen? Habe ich irgendeine Verletzung verpasst zu verstecken?
 

Fast panisch musterte ich mich selbst, doch meine Kleidung saß perfekt und man erkannte keine Spur von den Misshandlungen, wodurch ich mich langsam entspannte. Vor allem als seine Musterung endlich aufhörte. „Bist du ein Freund von Armin? Er hatte irgendwas davon gesagt, dass er Besuch bekommt und er deswegen die Matratze braucht. Eigentlich habe ich das nicht wirklich geglaubt. Aber es freut mich, dass er auch mal zu echten Menschen Kontakt hat.“
 

„Ähm, ja.“ Ich wusste nicht, was ich noch dazu sagen sollte und schob mich dann schließlich an ihm vorbei. „Ich muss dann... wir sehen uns beim Essen, okay?“ Irgendwie war er mir ein wenig unheimlich. Klar, er wirkte nett, doch es gefiel mir nur bedingt, wie er mich ansah. Ich hatte Angst, dass er hinter mein Geheimnis kam. Dann könnte er es Tayaka stecken und dann würden es auch alle anderen wissen.
 

„Das Essen ist fertig. Oh, ihr habt euch schon kennen gelernt. Schön.“ Tayaka kam gerade aus der Küche und strahlte uns schließlich an. „Mehr oder weniger. Er fiel mir an sich in die Arme. Aber seinen Namen hat er mir noch nicht verraten.“ Das Grinsen von Alexy wurde breiter und ich begann mich unwohl zu fühlen.
 

„Nathaniel.“ Mehr brachte ich nicht zustande und ich spürte, wie mein Herz ein wenig schneller schlug. „Dein Handy ist ja endlich stumm. Hast du die Nervensägen alle beruhigen können?“ Tayaka schien zu spüren, dass ich mich unwohl fühlte und rettete mich mit dem Themawechsel, wodurch ich mich erleichtert ihm näherte. „Na ja. Ich habe ihnen alle geantwortet und dann das Handy ausgeschaltet. Ich will gerade nur meine Ruhe.“
 

Tayaka wirkte überrascht. „Auch von Luzifer? Tut mir Leid, aber nach einer Weile hat es mich genervt und ich dachte ich schau mal, wer da dauernd anruft. Da hab ich seinen Namen auf dem Display gesehen. Aber ich bin nicht rangegangen. Versprochen!“ Er hob abwehrend die Hände und die anfängliche Wut verflog auch sofort wieder.
 

„Das mit Luzifer... Es... es ist kompliziert.“ Mehr brachte ich nicht zustande. Ich war nicht in der Lage diese Situation zu benennen. Schließlich wusste ich selbst nicht, was wir nun wirklich waren. Was er von mir wollte oder gar ich von ihm. Es war nur zum verrückt werden.
 

„Na ja, vielleicht sieht die Welt nach einem schönen Essen wieder besser aus.“ Er winkte mir zu ihm zu folgen und das tat ich dann auch. Ungeachtet dessen dass ich immer noch mein Handtuch um den Schultern trug. Irgendwie passte es zu seinem Schal. Vielleicht ging es ja sogar als Partnerlook durch.
 

Bei dem Gedanken musste ich leicht lächeln und trat dann schließlich in die Küche, wo auch der Esstisch stand. Auf diesen waren schon belegte Teller verteilt. Darauf zu sehen waren Schnitzel, Pommes und ein wenig Gemüse. Wirklich nichts kompliziertes und vor allem sehr einfach im Vergleich zu den Speisen bei uns Zuhause. Aber auch wenn es mich kurz ein wenig aus dem Konzept brachte, weil ich es nicht anders gewohnt war. So spürte ich kurz darauf, dass ich mich darüber freute. So etwas Einfaches war lecker und erfüllte auch seinen Zweck. Das Leben musste nicht immer kompliziert und extravagant sein. Es machte auch Spaß, wenn es simpel gehalten wurde.
 

Unterschiedlicher konnten ihre Eltern fast nicht sein. Sie lange, gelockte, schwarze Haare. Er kurze Blonde. Sie hatte ein leicht freches Glitzern in den grünen Augen. Er wirkte dagegen sehr nüchtern und rational. Ich wusste zwar, dass sich Gegensätze anzogen, aber nicht, dass es wirklich etwas für die Ewigkeit sein konnte. Irgendwo mussten sie sich ähnlich sein, sonst könnte das nicht funktionieren. Da war ich mir sicher.
 

„Na? Ausgeschlafen?“ Tayakas Mutter lächelte mich freundlich an und erneut fühlte ich mich ertappt. Auch wenn ich an sich nichts Schlimmes getan hatte. Dieses Gefühl war lächerlich. Dennoch war es da und ich konnte nichts dagegen tun.
 

„Ja. Es tut mir Leid, dass ich beim Frühstück nicht anwesend war.“ Ich konnte sehen, wie sie mit meiner hochgestochenen Aussprache überfordert war, doch dann winkte sie lachend ab. „Das macht doch nichts. Es ist Wochenende. Aber es ist das erste Mal, dass wir jemanden bei uns haben der nach Armin aufsteht.“ Alle begannen zu lachen. Nur ich verstand diesen Witz nicht und kam mir fehl am Platz vor. Doch sie fingen sich relativ schnell wieder und wir nahmen alle Platz.

„Wie heißt du denn, Junge?“ Sein Vater lächelte mich kurz an und ich musste mich räuspern um meine Stimme zu festigen: „Nathaniel. Und Sie?“
 

„Mein Name ist Arno und meine Frau heißt Viktoria. Du kannst uns aber gerne duzen. Beim Siezen fühlt man sich so alt.“ Er lachte kurz und irgendwie fühlte es sich komisch an. Um mich herum diese grinsenden Gesichter. Entweder ignorierten sie den Ernst des Lebens oder sie waren sich dessen nicht bewusst. Ich wusste gar nicht, wie ich damit umgehen sollte, wodurch ich mich kurz für das Essen bedankte und dann mit den anderen anfing es zu mir zu nehmen.
 

Tayakas Eltern unterhielten sich über belangloses. Was so die nächste Woche anstand und was sie für das Wochenende geplant hatten. Nach wenigen Sätzen hörte ich auf zu zuhören. Es war etwas, was mich nichts anging und man tat gut daran sich aus fremden Angelegenheiten herauszuhalten. Dabei kam mich jedoch nicht umhin zu merken, dass mich Alexy die ganze Zeit leicht von der Seite musterte. Ich wusste nicht, was er suchte oder gar hoffte zu finden, doch desto länger er mich ansah, umso stärker wurde der Wunsch woanders zu sein.
 

„Lust mit mir nachher shoppen zu gehen? Wir können Nathaniel dabei die Stadt zeigen. Oder hattet ihr vor die ganze Zeit in deinem kleinen Zimmer zu hocken?“, durchbrach Alexy das Schweigen bei uns und sofort fing Tayaka das Jammern an: „Ach, nö. Ich weiß nicht, was wir geplant haben. Aber wenn wir mit dir shoppen gehen, dann wird er sowieso nicht so viel von der Stadt sehen.“
 

„Wie sieht es bei dir aus, Nathaniel? Lust ein wenig rauszugehen?“ Ich wusste nicht, ob das wirklich klug war. Schließlich hatte ich keinen Plan, wie, wo oder gar ob die Polizei schon nach mir suchte. Meine Lust erwischt zu werden hielt sich nämlich stark in Grenzen, aber andererseits wollte ich auch nicht den ganzen Tag in diesem kleinen Zimmer verbringen.
 

„Vielleicht ist das keine allzu dumme Idee.“ Die Reaktionen auf meine Antwort konnten nicht unterschiedlicher sein. Während Alexy vor Freude jubelte und über beide Wangen strahlte, sank Tayaka theatralisch und jammernd tiefer auf seinen Platz. Irgendwie fühlte ich mich dadurch ein wenig schuldig, doch vielleicht tat es mir wirklich gut ein wenig von der Stadt zu sehen. Und so schlimm konnte es doch wirklich nicht sein mit Alexy shoppen zu gehen. Zumindest nicht schlimmer als mit meiner Schwester. Oder doch?

Okay, in Sachen anprobieren, verwerfen, kaufen und Zeit in der Umkleide verbringe, da stand Alexy meiner Schwester wirklich in nichts nach und mir tat Armin fast ein wenig Leid, als er immer mal wieder ein Outfit in die Hand gedrückt bekam.
 

Manche Kombi sah wirklich nicht schlecht aus. Andere dagegen wirkten schon fast lächerlich. Er ließ sich sogar zu einem Kauf überreden, wobei man deutlich sah, dass er das Geld lieber in etwas anderes investiert hätte. Alexy schien sein ganzes Taschengeld auf den Kopf zu hauen, während ich selbst abwinkte. Ich brauchte keine neue Kleidung. Bis auf ein einziges Mal hatte es Alexy auch immer akzeptiert, doch ein Outfit musste ich dann probieren und ich konnte nicht leugnen, dass es mir stand.
 

Es war ein weißes Shirt mit schwarzes Jeans und einer ebenfalls schwarzen Lederjacke, die mich breiter machte. Ich wusste nicht, was es war, doch irgendwie fühlte ich mich stärker in dieser Kombination. Unbewusst streckte ich meine Brust raus und meinen Rücken wieder durch. Seit langer Zeit stand ich mal wieder in voller Größe da. Ich fühlte mich endlich wieder wichtig.
 

„Also, wenn du es dir nicht kaufst, dann schenk ich es dir. Das musst du fast nehmen.“ Alexy lächelte mich leicht an und auch Tayaka war davon begeistert. „Da würde ich sogar mitzahlen.“ Ihre Reaktion verwunderte mich ein wenig und auch wenn ich nicht vorhatte mein Geld für Kleidung auszugeben. So musste ich ihnen dennoch Recht geben. Daher hatte auch ich mir etwas gegönnt.
 

Schließlich saßen wir in einem kleinen Café und ruhten uns aus. Alexy hatte uns in wirklich viele Geschäfte gezerrt. Da stand er meiner Schwester definitiv in nichts nach. Aber auch wenn er gute sechs Tüten zu tragen hatte, drückte er weder Tayaka noch mir eine aufs Auge. Seine Beute schleppte er ganz alleine durch die Stadt. Von der ich aktuell fast nur das Innenleben aller Modegeschäfte gesehen hatte, als irgendetwas anderes. Aber vielleicht war das gar nicht so falsch. Desto weniger ich mich auf der Straße aufhielt, umso geringer war die Chance, dass mich die Polizei finden könnte. Vor allem wenn sie wirklich schon nach mir suchte.
 

Wir unterhielten uns an sich über Belangloses. Ab und an über das Spiel, dann wiederum über die Schule. Kurz sogar über unsere Eltern, aber die Zwei akzeptierten es, dass ich abblockte. Es war kein gutes Thema für mich. Würde es wohl niemals werden. Ich erfuhr, dass sie adoptiert waren. Aber genaueres wussten sie selbst nicht. Nur dass ihre Eltern gestorben sind.
 

Als wir kurz davor waren wieder zu gehen, erhob sich Tayaka und entschuldigte sich kurz: „Ich muss mal wohin. Bin gleich wieder da.“ Er lächelte kurz und war dann auch schon verschwunden. Ich selbst wusste jetzt nicht, wie ich mit Alexy umgehen sollte. Dieser grinste mich an und spielte mit dem Strohhalm von seinem Milchkaffee. Er schien auf irgendetwas zu warten und ich wusste nicht, was es war. Der Wunsch jemand anderes oder gar woanders zu sein wurde immer präsenter desto länger er mich ansah.
 

„Du und dieser Luzifer. Es ist also kompliziert. Willst du darüber reden?“ Ich sah ihn kurz überrascht an. Warum nahm er gerade dieses Thema? Wir könnten uns doch auch über das Wetter unterhalten oder über die Leute, die an uns vorbeigingen.
 

„Ich glaube, dass ich diese Komplikation durchaus kenne.“ Er ließ nicht locker und ich spürte, wie der Wunsch, dass er etwas anderes sagen würde, stärker wurde. Mit jedem weiteren Wort, das aus seinem Mund kam. Ich wollte darüber nicht reden. An sich habe ich ja noch nicht einmal für mich selbst darüber nachgedacht. Ich wusste nicht, was dieser Abend bedeutete. Diese kurzen Zärtlichkeiten im Park. Das lange miteinander Spielen. Ich... ich wollte darüber noch nicht nachdenken.
 

„Armin hat mir erzählt, dass du hierher gekommen bist, weil du Stress mit deinen Vater hast. Ist dieser Luzifer daran schuld?“ Alexy stoppte nicht, doch sein Lächeln hatte sich verändert. Es wurde einfühlend schon fast mitfühlend. „Als ich damals erkannt habe, dass mich Jungs mehr interessieren als Mädchen hatte ich am Anfang ein wenig Angst es irgendwem zu sagen. Doch meine Eltern waren sehr verständnisvoll und auch Armin hat mich immer unterstützt. Ich weiß, dass ich da Glück hatte. Dies ist nicht selbstverständlich.“
 

Warum hörte er nicht auf zu reden? Ich wollte darüber nicht nachdenken. All das war niemals geschehen. Wir hatten keine Zukunft, also war es auch egal, was dieser Ausrutscher zu bedeuten hatte. Es würde eh nie wieder passieren.
 

„Ich hab da auch andere Sachen erfahren. Von anderen Jungs, denen es genauso geht wie uns. Vielleicht redest du es dir immer wieder ein. Aber es ist nicht okay. Egal, was dein Vater tut und sei es nur, dass er dich anschreit deswegen. Es ist nicht okay.“ Alexy war die ganze Zeit so spaßig und fröhlich. Jetzt wirkte er auf einmal ernst und ich fand meine Stimme immer noch nicht. Ich konnte nur zuhören und merken, wie seine Worte etwas in mir erreichten.
 

Ohne es wirklich zu merken, klammerten sich meine Hände an meine Unterarme und ich starrte auf die Tischplatte vor mir. Unfähig seien Worten zu entkommen oder sie gar zu stoppen. „Wir können nicht ändern, wen wir lieben oder begehren. Egal, wie sehr es sich manche vielleicht wünschen würde.“
 

Ich spürte, dass Alexy noch etwas sagen wollte, doch dann kam Tayaka zurück und er verstummte. Etwas, was ihm irgendwie nicht ähnlich sah, doch ich dankte ihm in Gedanken für diese Diskretion. Auch wenn Tayaka vielleicht eh auch schon eine Vermutung hatte. Es gefiel mir nicht, dass meine Probleme für die Zwei so offensichtlich waren. Aber es war nun einmal so und konnte jetzt nicht mehr geändert werden.
 

„Na? Habt ihr euch nett unterhalten?“ Tayaka nahm wieder Platz und winkte dann den Kellner zu uns um zu zahlen. „Ja, haben wir.“ Alexy strahlte wieder so, wie ich es von ihm gewohnt war und nur kurz sah ich ihn irritiert an, bevor ich dann kurz seufzte. Dieser Kerl log gerade eiskalt seinen Bruder an. Wir haben uns nicht unterhalten. Er hat gesprochen und ich war überfordert. Aber gut. Das sollte nicht mein Problem sein.
 

„Willst du dann noch irgendwo hin oder wollen wir nach Hause gehen?“ Man merkte deutlich, dass Tayaka an sich keine Lust mehr hatte hier zu sein, doch Alexy grinste ihn wieder breit an. „Ich wäre soweit fertig. Aber eigentlich dachte ich mir, dass wir noch kurz in den Spieleladen schauen. Damit du auch auf deine Kosten kommst. Nathaniel? Willst du auch noch irgendwohin? Hast du einen bevorzugten Ladentyp, den du gerne aufsuchst? Du sollst ja auch auf deine Kosten kommen.“
 

Als Alexy von dem Spieleladen sprach, hellte sich Tayakas Gesicht fast schlagartig auf, was mich leicht schmunzeln ließ. Ich selbst entspannte mich auch langsam wieder und war ein wenig überrascht, als mich Alexy nach meinen bevorzugten Geschäft fragte.
 

„Ähm? Ich gehe gerne in Buchläden. Aber das muss jetzt nicht sein. Ich habe noch genug zum Lesen.“ Ich winkte ab, doch Alexy lachte nur auf. „Ich hab auch genug Klamotten. Dennoch gehe ich gerne welche einkaufen. Einfach mal stöbern und schauen, was der Markt zu bieten hat. Wir haben da auch etwas ganz schönes für dich.“
 

Er legte mir dabei freundschaftlich den Arm um die Schultern, doch ich konnte nicht verhindern, dass ich mich verkrampfte und schließlich aus dieser Berührung raus schlüpfte. Sie war mir unangenehm. Kurz musste ich an Luzifer denken. Er kam mir bei unserem Treffen auch so nah, doch da war es okay für mich. Gut, ihn kannte ich doch länger als Alexy jetzt. Daran musste es liegen. Ganz bestimmt.
 

„Na gut, dann lasst uns aufbrechen.“ Alexy wirkte nur kurz bedrückt von meiner Flucht, bevor er dann kurz in die Hände klatschte und aufstand. Tayaka und ich folgten seinem Beispiel, als der Kellner das Geld entgegen nahm und wir machten uns auf den Weg in die besagten Läden. Es sollte ein freier Nachmittag werden. Wir lachten und es fühlte sich gut an. Hier zu sein. Bei diesen Zwei, die sich so unglaublich ergänzte, aber dann doch wieder gänzlich verschieden waren. Warum konnten Amber und ich nicht so sein?

Der restliche Nachmittag war angenehm. Ich fühlte mich seit langem mal wieder gewollt und geschätzt. Empfindungen, bei denen ich mir nicht sicher war, ob ich sie überhaupt noch verdient hätte. Doch die Zwillinge ließen keine andere Denkweise zu. Ich musste mich einfach wohlfühlen.
 

Langsam näherte sich die Zeit dem Abendessen, wodurch wir uns auf den Rückweg machten. Ich war gänzlich entspannt und wünschte mir gerade, dass ich für immer hier bleiben könnte. Bei diesen Zwei und in dieser Freiheit. Dafür würde ich auch weiterhin die Luftmatratze in Kauf nehmen. Das wäre mir egal. Aber ich fühlte mich seit langem mal wieder als ein würdiger Mensch und lachte aus tiefsten Herzen. Mein Lächeln blieb und war ehrlich. Es war endlich nicht mehr aufgesetzt um irgendeinen Schein zu wahren.
 

Als wir uns dem Wohnblock näherten, erkannte ich einen Streifenwagen, der dort in der Nähe stand und ich spürte, wie die Freude von der Angst niedergedrückt wurde. War er wegen mir hier? Sollte diese wunderschöne Zeit jetzt schon vorbei sein? Ich... ich konnte dorthin nicht zurück!
 

Instinktiv zog ich mir meine Kapuze über den Kopf, um nicht erkannt zu werden und auch die Ausgelassenheit von Tayaka und Alexy nahm mit jedem Schritt, den wir uns ihrem Zuhause näherten, ab. Alexy schloss die Tür auf und trat dann ein. Schweigend stiegen wir die Treppe hinauf und als wir bei der Tür ankamen, hörten wir schon die Erwachsenen reden.
 

Es waren mehr als zwei Stimmen und so stockte ich. Ich konnte da nicht rein. Sie würden mich nach Hause bringen und da wollte ich nicht wieder hin. Tayakas, Alexys und meine Blicke trafen sich, als sie schon die Wohnungstür aufsperrten. Ich konnte nur mit den Kopf schütteln und bevor ich selbst verstand, was ich tat, rannte ich die Treppe schon wieder nach unten.
 

„Gabriel! Warte!“ Tayakas Rufen erreichte mich nicht wirklich. Ich konnte nicht warten. Sie würden mich nach Hause bringen. Dahin konnte ich nicht zurück. Ich wusste zwar nicht, wohin ich jetzt wollte, aber es war mir egal. Überall war es besser als nach Hause zu müssen und so rannte ich einfach nur weg. Ohne Ziel. Ohne Verstand. Nur weg. So weit wie möglich weg.
 

Häuser flogen an mir vorbei. Ich rannte ab und an Passanten um, doch ich blieb nicht stehen. Meine Lunge schmerzte, doch ich hielt nicht an. Immer weiter. Nur nicht stehen bleiben. Dann würden sie mich erwischen. Es glich einen Wunder, dass ich in keinen schwereren Unfall verwickelt wurde, doch schließlich kam ich in einem Park an und erlaubte es mir langsamer zu werden.
 

Mein Atem ging stoßweise und ich konnte auf Grund des Seitenstiches kaum richtig Luft holen. Ich wusste es, dass diese Aktion falsch war, aber ich konnte nicht anders. Alleine bei dem Gedanken, dass sie mich zu meinem wütenden Vater brachten, brach Panik in mir aus. Auch wenn ich jetzt nicht wusste, wo ich hinwollte, ging ich nicht zurück und so ließ ich mich an irgendeinem Baum nieder, um Kraft zu tanken.
 

Ich lehnte meinen Kopf gegen den Stamm und schloss die Augen. Ruhig atmen. Gezielt ein und aus. Herz, beruhige dich. Ich musste mir etwas überlegen. Was sollte ich jetzt tun? Zurück zu Tayaka gehen? Aber würden die Polizisten nicht dort auf mich warten? Doch nach Hause? Alleine bei der Vorstellung lief mir ein eisiger Schauer des Grauens über den Rücken, doch ich wusste, dass ich irgendwann wieder dorthin musste. Die Nacht hier im Park verbringen?
 

Diese Idee wirkte reizvoller, als sie sein sollte. Alles schien in diesem Moment besser zu sein als nach Hause zu müssen. Leise Musik drang an mein Ohr. Scheinbar schien irgendwo ein Fest zu sein. Nicht unbedingt gut. Da waren bestimmt auch Sicherheitsleute. Aber andererseits. Die waren mit anderen Dingen beschäftigt als einen entlaufenen Jungen zu finden. Wahrscheinlich war ich hier wirklich eine Weile in Sicherheit.
 

„Hallo, Nathy.“ Die dunkle Stimme ließ einen Schauer über meinen Rücken gleiten und als ich meine Augen öffnete, erblickte ich Luzifer, der direkt neben mir stand und auf mich nieder grinste. Auf seinem Rücken war eine Gitarre befestigt und ich verstand nicht, was er hier tat. Ist er mir etwa nachgereist?
 

„Luzifer? Was?“ Ich verstand es nicht und stand dann auf, um ihm ebenbürtig zu sein, wodurch er kurz einen Schritt zurückging. „Na? Hat dir mein Auftauchen die Sprache verschlagen?“ Sein Grinsen wurde breiter und er verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
 

„Warum bist du alleine hier? Ich dachte, dass du das Wochenende bei Tayaka bist? Oder kommt er gleich zurück?“ Es gefiel mir nicht, wie Luzifer suchend durch die Gegend sah. Er würde Tayaka nicht erblicken auch wenn er wüsste, wie er aussah.
 

„Ja und nein. Ich bin von dort abgehauen, weil die Polizei da auf mich gewartet hat um mich nach Hause zu bringen.“ Ich senkte kurz den Blick und seufzte dann schwer, bevor ich mir verzweifelt durch die Haare fuhr. „Aber das ist egal. Warum bist du hier? Wohnst du hier in der Nähe?“
 

„Nein, tue ich nicht. Ich bin hierher gekommen, weil hier ein Musikwettbewerb stattfindet und na ja, wer weiß.“ Er zuckte mit den Schultern, bevor er dann wieder amüsiert grinste. „Aber du scheinst ja doch kein so großes Muttersöhnchen zu sein. Bist sogar von Zuhause abgehauen und rennst jetzt vor der Bullerei davon.“
 

„Du hast das immer behauptet. Ich habe es immer abgestritten. Also, lass es gut sein.“ Ich hatte keine allzu große Lust mit ihm zu reden und irgendwie fühlte es sich komisch an mit ihm hier zu stehen. Was sollte ich sagen? Wieso blieb er hier? Wollte er nicht an dem Wettbewerb teilnehmen? Die Stille zwischen uns begann unangenehm zu werden.
 

„Wo willst du jetzt hin? Was willst du jetzt tun?“ Erneut war dort wieder dieser kühle Blick, der das scheinbare Interesse verstecken sollte, doch ich konnte nur mit den Schultern zucken. Ich hatte keinen Plan. An sich war ja nicht einmal meine Flucht strategisch überlegt gewesen. All das war aus einer reinen Notsituation heraus entstanden. Und natürlich hatte ich keinen Plan B parat.
 

Luzifer seufzte schwer, bevor er dann nach meiner Hand griff. „Okay, dann kommst du jetzt erst einmal zu mir. Meine Eltern sind nicht da. Hier können wir nicht bleiben. Wahrscheinlich suchen sie schon weiter nach dir. Wenn wir dann bei mir sind, werden wir weitersehen.“
 

Ich wusste gar nicht, was mit mir passierte, als er mich schon hinter sich herzog. Seine Gitarre wippte im Takt seiner Schritte auf seinem Rücken und ich riss mich nach wenigen Schritten los. „Stopp! Nicht so schnell. Wolltest du nicht an dem Wettbewerb teilnehmen? Außerdem weiß ich nicht, ob es so gut ist, wenn ich mit dir mitkomme. Ich... ich schaff das schon irgendwie alleine.“
 

Ich wollte mich abwenden und weggehen, doch Luzifer griff sofort nach meiner Hand und zog mich zurück. „Sei nicht so stur. Nimm meine Hilfe endlich an.“ Seine Stimme war so dunkel, dass sie jede Nervenfaser von mir zum Vibrieren brachte und mir noch viel tiefer unter die Haut ging.
 

Erneut zog er mich leicht hinter sich her. Vielleicht war es wirklich nicht schlecht zu ihm zu gehen. Dort würde ich erst einmal in Sicherheit sein und dann konnte man sich überlegen wie es weiterging. Ich wusste, dass ich irgendwann zurück musste. Aber nicht heute und vor allem nicht jetzt.
 

„Und dein Wettbewerb?“ Langsam wanderte seine Hand von meinem Handgelenk zu meiner hinunter und unsere Finger verschränkten sich wie von selbst ineinander, als er einfach weiterlief. „Ist so gut wie vorbei. Sollte ich gewonnen haben, können sie mir den Preis ja zu schicken. Also mach dir da mal keinen Kopf. Wir müssen dich jetzt erst mal hier weg bringen. Alles andere ist unwichtig.“
 

Diese Berührung fühlte sich so unendlich warm und sicher an. Ich wollte ihn nie wieder loslassen. Immer bei ihm sein. Vielleicht sollte ich einfach für immer bei Luzifer bleiben? Solange bis ich volljährig wäre. Dann würde ich frei sein. Dann konnte ich dort abhauen. Alles hinter mir lassen. War das möglich?
 

Luzifer gehört mir und solltest du es wagen auch nur daran zu denken, dass dieser Ausrutscher irgendetwas zu bedeuten hat, dann sei gewarnt. Ich werde dann nämlich dafür sorgen, dass du freiwillig und mit großen Vergnügen das Spiel verlässt.
 

Mein Körper zitterte unter dieser Erinnerung und nur kurz sah Luzifer irritiert zu mir, doch ich reagierte nicht darauf. Ich hatte jetzt keine andere Wahl. Außerdem konnte ich ja wirklich nur als Freund bei ihm unterkommen. Das Ganze hatte also gar nichts zu bedeuten. Ich musste mich also nicht schuldig fühlen.
 

Wir sagten nichts und ich folgte ihm. Erst als wir am Bahnhof ankamen, ließ er meine Hand los, um am Automaten ein Ticket zu ziehen und es mir dann zu geben. „Hier. Es passt schon. Unser Zug geht in zehn Minuten. Da haben wir echt Glück gehabt. Jeder Moment, den wir hier verweilen, kann gefährlich sein.“
 

„Du kennst dich mit Flucht ja aus.“ Ich sah ihn skeptisch an und dann kam wieder sein wissendes Grinsen. „Ich bin halt kein Muttersöhnchen wie du.“ Er nahm wieder meine Hand in seine und wir gingen weiter. Das Alles tat er so selbstverständlich, dass auch ich nicht an seiner Handlung zweifelte, sondern einfach nur seine warme Hand, die sich um meine Finger schloss, genoss.
 

Nur ein paar Gleise entlang. Ich hatte immer noch meine Kapuze auf und ließ mich von Luzifer führen. Sein rotes Haar wippte im Takt seiner Schritte mit und ich wusste nicht, ob wir es wirklich hier raus schafften, doch ich hoffte es sehr. Auch wenn mir dann noch nicht klar war, wie es weitergehen würde. Aber darüber konnte ich mir noch Gedanken machen, wenn wir an unserem Ziel angekommen waren.
 

Wir stiegen in den Zug und sofort wandte sich Luzifer in die obere Etage des Doppeldeckers. Auch da lief er ein wenig weiter nach vorne, bevor es ihm anscheinend genügte und er dann irgendwo Platz nahm. Ich sollte am Gang sitzen, während er sich dem Platz am Fenster nahm.
 

„Sobald der Zug sich in Bewegung setzt, sind wir relativ safe. Bis dahin kann es halt doch sein, dass sie dich noch erwischen.“ Luzifer sah mich kurz an. Er hielt meine Hand immer noch und irgendwie wollte ich sie jetzt auch noch nicht los lassen. Sie gab mir eine Sicherheit, die ich gerne eigenständig in mir tragen würde.
 

Wir schwiegen und ich versuchte so unauffällig wie möglich zu sein, während ich weiter auf die Stuhllehne vor mir starrte. Was tat ich hier? Ich hätte nein sagen sollen. Mich wehren und einen anderen Weg suchen. Dennoch saß ich nun hier und starrte vor mich hin. Mein Herz schlug so schnell, dass ich Angst hatte, es würde bald davon rennen. Doch es blieb wo es war.
 

Ich schluckte trocken und versuchte mich irgendwie zu beruhigen. Es war nicht gut, dass ich so auf ihn reagierte und ich musste es wirklich langsam in den Griff bekommen. Schließlich würde das schon einige Probleme beheben. Ich sollte so in seiner Gegenwart nicht reagieren. Wir waren doch nur Freunde. Er hatte doch schließlich Xenia.
 

Plötzlich ging ein Ruck durch den Zug und er setzte sich in Bewegungen. Mit jedem Meter, den er zurücklegte, entspannte ich mich ein wenig mehr, bevor ich es dann wagte meine Kapuze wieder abzusetzen. „Wie lange werden wir fahren?“ Ich wollte eine Unterhaltung starten, weil das Schweigen langsam unangenehm wurde, doch Luzifer ging nicht wirklich darauf ein: „Drei Stunden. Du hast also noch ganz viel Zeit meine Hand zu halten.“
 

Er grinste mich breit an und ich spürte, wie ich rot wurde, wodurch ich sofort schlagartig meine Hand von seiner nahm und in meinen eigenen Schoß legte. Er lachte darauf sofort amüsiert auf und wuschelte mir durch die Haare. Etwas, was ich definitiv nicht leiden konnte und ein Knurren von mir forderte.
 

„Du bist echt süß.“ Trotz breitete sich in meinem Inneren aus und ich tötete ihn mit Blicken. „Ich bin nicht süß. Hör auf mich wie ein kleines Mädchen zu behandeln. Das bin ich nicht. Ich bin nicht deine kleine Freundin! Und ein Ersatz dafür auch nicht! Verstanden?!“
 

Ich wurde lauter, als ich eigentlich wollte, doch dann biss ich mir auf die Unterlippe und versuchte mich wieder zu beruhigen. Die Augen von Luzifer verschlossen sich und auch das Grinsen auf seinen Lippen verschwand für einen kurzen Moment.
 

„Endlich wagst du es dich mal zu wehren. Den Arsch brauchst du jetzt nur auch deinem Alten gegenüber in der Hose und dein Problem wird bald gegessen sein.“ Er grinste mich wieder breit an, doch ich konnte nur knurren und strich mir kurz verzweifelt durchs Haar. „Es ist nicht so einfach.“
 

„Ja, das höre ich dauernd von dir. Kannst auch mal eine neue Platte auflegen.“ Seine Hand lag immer noch auf der Lehne und bot sich zum Halt an, während er selbst aus dem Fenster starrte. Es war verlockend, doch ich wollte diesem Drang nicht nachgeben. Schließlich war er daran schuld, dass es überhaupt zu dem ganzen Mist gekommen war.
 

„Es ist nun einmal so. Du hast ja keine Ahn-“ Ich wollte mehr sagen, doch er unterbrach mich sofort: „Keine Ahnung? Du verkomplizierst das Ganze nur. Er ist zwar dein Dad, aber deswegen kannst du dich dennoch ruhig ein wenig wehre. Nur weil er dein Erziehungsberechtigter ist, hat er noch lange nicht die Erlaubnis dich zu verprügeln!“
 

Ich sah ihn entsetzt an und als er weitersprechen wollte, hielt ich ihm sofort den Mund zu. „Bitte, sprich nicht weiter.“ Unverständnis gepaart mit Wut kam in seine Augen und im nächsten Moment nahm er meine Hand von seinem Mund und hielt sie wieder fest. Wir sahen uns nur an und ich hatte das Gefühl, dass er all meine Gedanken las und ganz tief in meine Seele sah, wodurch ich peinlich berührt den Blick senkte. „Du verstehst es nicht. Es ist kompliziert.“
 

„Ja, das hatten wir schon.“ Er blieb ruhig und seine Augen ließen nicht von mir ab, wodurch ich mich erneut unwohl zu fühlen begann. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so durchdringend schauen? Das war nicht fair.
 

„Mein Vater hat Probleme in der Arbeit. Er steht unter immensen Druck und... er will nur das Beste für mich, okay? Das wird irgendwann aufhören. Solange muss ich nur durchhalten.“ Ich konnte ihn nicht mehr ansehen und starrte deswegen lieber auf unsere verschränkten Hände. Es war falsch. Ich musste es lösen. Mein Vater würde das nicht wollen. Das hat es doch erst so schlimm werden lassen.
 

„Nein, wird es nicht. Solange man es zulässt, wird es immer da sein. Diese Aggression wird nicht verschwinden. Nicht solange du sie still schweigend erträgst. Er wird immer irgendwelchen Stress oder Probleme haben, die er dann an dir auslässt. Du musst dich dagegen wehren. Wenn man sich nur einmal wehrt, dann wird es meistens besser. Oder du gehst zu Polizei. Es ist nicht okay, was er tut.“ Seine Stimme war so sanft. Das war ich gar nicht von ihm gewohnt. All sein Zynismus war in diesem Moment verschwunden und ich dachte ein wenig über seine Worte nach.
 

Konnte ich das? Die Faust gegen meinen eigenen Vater erheben? Konnte ich ihn anzeigen? Wollte ich irgendetwas davon tun? Nein, er war doch meine Familie. Ich konnte dieses Risiko nicht eingehen, dass ich damit mein Zuhause zerstörte. Das konnte ich meiner Mutter und Amber nicht antun.
 

Ich schüttelte den Kopf und Luzifer hob irritiert eine Augenbraue. „Was nein? Da gibt es kein Ja oder Nein. So kann es nicht weitergehen.“ Er wollte noch mehr sagen, doch erneut hielt ich ihm seinen Mund zu. Ein tiefes Knurren kam aus seinem Brustkorb und ich spürte, dass sich sein Körper anspannte. Doch ich wollte es nicht hören. Ich konnte es nicht mehr hören.
 

„Lass es gut sein. Lass es einfach gut sein.“ Mehr sagte ich nicht und auch Luzifer biss sich dadurch frustriert auf die Unterlippe. Er wandte seinen Blick wieder aus dem Fenster und schien mich zu ignorieren, während ich selbst nach vorne in die Leere starrte. Die ganze Fahrt über sagten wir kein Wort mehr, aber unsere Hände blieben ineinander gelegt und rührten sich nicht. Auch nicht, als man unsere Tickets sehen wollte. Diese winzig kleine Berührung gab mir Kraft und irgendwie das Gefühl, dass auch wenn er sauer auf mich war, er trotzdem hinter mir stand. Dieser Gedanke zauberte ein Lächeln auf meine Lippen und ich entspannte mich. Lauschte dem Takatak der Räder und ließ mich treiben. In eine Zukunft, die mir gänzlich unbekannt war...

Gegenwart
 

Das Schweigen zwischen uns fängt an unangenehm zu werden. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und er scheint darauf zu warten, dass ich irgendwas von mir gebe. „Es tut mir Leid.“ Es ist mir nicht einmal bewusst, wofür ich mich gerade entschuldige. Wahrscheinlich für alles.
 

„Ist es wenigstens mittlerweile vorbei? Du müsstest ja auch bald volljährig sein oder bist du es vielleicht schon?“ Seine Stimme ist ruhig und er geht auf meine Entschuldigung gar nicht ein, wodurch ich mir noch dämlicher vorkomme.
 

„Nein.“ Ich zittere und sehe auf die Kette genauso wie auf den Kalender auf den ich die Tage zähle bis zu meinem Geburtstag. Es ist nicht mehr lange. Bald kann ich frei sein. „Was willst du tun, wenn du volljährig bist?“
 

„Abhauen.“ Ich will dieses Gespräch nicht, doch ich kann es wieder nicht stoppen. Luzifer lässt sich nicht bremsen. Er spricht weiter und achtet nicht darauf wie es einem dabei geht. Konfrontiert einen mit einer Realität, die man sonst so erfolgreich verdrängt.
 

„Wohin?“ Er ist immer noch ruhig und ich starre auf den Bildschirm, in dem nur das Fenster von Teamgeek offen ist. Dort stehen nur unsere beide Namen. Gabriel und Luzifer. Ich muss traurig lächeln, als ich an die Geschichte hinter diesen Namen denken muss. Gott sei Dank, hab ich nicht Michael gewählt.
 

„Ich weiß es nicht. Nur weg.“

„Und die Schule?“

„Ist mir egal.“
 

Erneut tritt Stille zwischen uns ein und ich starre auf meine Hände, die leicht zittern. Sie haben es nie wieder aufgehört, seit ich damals zurückgekehrt bin und auch jetzt verstecke ich sie unter meinen Achseln, um es nicht sehen zu müssen. Ich will diese Gewalt nicht mehr und alles in mir schreit danach auszubrechen, doch es geht nicht. Es geht noch nicht.
 

„Wie lange noch?“

„Ein paar Wochen.“
 

Wieder Schweigen. Ich weiß nicht, was dieses Gespräch soll. Was Luzifer damit bezweckt, doch ich versuche ruhig zu bleiben und überlasse ihn ein wenig die Führung. Spüre wie in mir der Wunsch erwacht, dass ich seine Hand spüren will. Diese Sicherheit, die ich damals im Zug empfand. Doch er ist nicht hier, sondern sitzt an seinem Rechner. So weit weg. Vielleicht mittlerweile noch weiter.
 

„Ich hab mich von Xenia getrennt.“ Vor Überraschung falle ich halb vom Stuhl herunter und kann mich gerade noch rechtzeitig an meinem Tisch festhalten. „Was? Wieso?“
 

Ein schwerer Seufzer folgt auf meine Frage und seine Stimme klingt plötzlich traurig. „Es lief nicht mehr so gut, als du das Spiel verlassen hast. Ich bin ehrlich, ich war auch nicht die Unschuld vom Lande, aber als ich erfahren habe, dass sie zweigleisig fährt, war es für mich einfach vorbei.“
 

„Deswegen bist du aktuell ohne Band.“ Ich schlucke schwer und versuche meine Gedanken zu stoppen. Nein, ich will nicht darüber nachdenken, was es für uns bedeuten kann. Aktuell muss ich mich noch von ihm fernhalten. Mein Vater darf niemals erfahren, dass ich wieder Kontakt zu Luzifer habe. Nicht solange ich noch hier bei ihm wohne. Danach kann es mir egal sein.
 

„Ja und nein. Ich habe keine Lust mehr darauf in einer Band zu sein. Klar, als wir uns trennten, war es auch im Spiel vorbei. Aber ich hab mich dann immer wieder anderen Leuten angeschlossen, doch alle haben irgendwann aufgehört. Aktuell hab ich einfach keine Lust mehr darauf. Vielleicht geh ich auch ganz da raus und versuche meine reale Musikkarriere ein wenig vorwärts zu treiben. Deswegen will ich mich euch nicht anschließen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich noch weiterspielen möchte.“
 

Diese Worte tun weh. Luzifer liebt dieses Spiel und jetzt will er es einfach aufgeben. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Vielleicht hat er aber auch... Nein, so weit will ich auch nicht denken. Niemals bin ich so wichtig für ihn, dass er dort auf mich gewartet hat. Das ist ja total verrückt.
 

„Die drei Neuen bei uns sind wirklich witzig. Es macht Spaß mit ihnen. Willst du dem Spiel nicht doch noch eine Chance geben? Du kannst ja einfach mal so als Gast mitmachen und dann entscheiden, ob du wirklich aufhören willst.“ Ich weiß, dass ich auch anders mit ihm Kontakt halten kann, aber ich vermisse diese Spieleabende alleine mit ihm. Nur wir Zwei. Es war einfach schön und ich hätte es gerne wieder.
 

Luzifer überlegt eine Weile und plötzlich ertönt wieder das sanfte Gitarrenspiel. Er summt leise dabei und bei mir stellen sich meine Nackenhaare auf. Ich bekomme richtig Gänsehaut. Vielleicht sollte er wirklich versuchen sein Talent zu vermarkten und das Spiel hält ihn nur auf. Es frisst Zeit, die er in eine richtige Karriere stecken kann. Ich will gerade etwas sagen, als er plötzlich zu singen beginnt:
 

Sometimes Life is a pain.

You will.

But you can't.

Sometimes Love is a mess.

You can.

But you won't.
 

I wanna help you.

I wanna give you strength.

But I don't know how.

I don't know where.

I wanna hold your hand.

I wanna dry your tears.

But I don't know how.

I don't know where.
 

Sometimes Life is a pain.

You will.

But you can't.

Sometimes Love is a mess.

You can.

But you won't.
 

You don't understand.

You don't want to feel.

But I see it.

I see the truth.

I feel it.

I feel the truth.

And so will you.
 

Sometimes Life is a pain.

You will.

But you can't.

Sometimes Love is a mess.

You can.

But you won't.
 

The Kiss was pure.

The Pain was real.

You tried to hide it.

But you failed.

You tried not to scream.

But I heared your voice.

I saw your tears

But you disappeared.
 

Sometimes Life is a pain.

You will.

But you can't.

Sometimes Love is a mess.

You can.

But you won't.
 

I wanna tell you,

I love you.

I screamed it out.

But you didn't hear it,

cause you weren't here anymore,
 

Sometimes Life is a pain.

You will.

But you can't.

Sometimes Love is a mess.

You can.

But you won't.
 

And I whispered

up to the dark sky:

I love you so...
 

Die letzte Note des Liedes verklingt und ich spüre, wie meine Augen feucht werden, wodurch ich sofort über sie wische um jedes Anzeichen von Schwäche zu vernichten. Stille breitet sich zwischen uns aus und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Herz wird mit jeder Sekunde, die vergeht, schwerer. Ich lausche seinem Atem und überlege, was dies für uns bedeutet und ob ich das wirklich will.
 

„Ich habe dieses Lied für dich geschrieben. Es ist mein erstes wirklich Eigenes und ich habe gehofft, dass ich es dir irgendwann vorspielen kann. Wie... wie hat es dir gefallen?“ Ich höre, wie unsicher Luzifer ist und muss trocken schlucken. Meine nächsten Worte werden unsere Zukunft bestimmen. Ich will ihm sagen, was ich gerade spüre, doch mein Blick gleitet erneut zu der Kette hoch.
 

„Es ist schön.“ Mehr bringe ich nicht raus. Mein Herz verkrampft sich bei jedem Schlag und ich wünsche mir, dass es alles einfacher wäre. Dass mein Vater nicht so stur wäre. Sogar kurz, dass einer von uns ein Mädchen wäre. Es würde so vieles einfacher machen. Aber es ist nun einmal nicht so. Wir sind beide männlich und dennoch kann ich diese Gefühle nicht leugnen.
 

„Das freut mich.“ Ich kann sein Lächeln direkt hören und muss es erwidern. Es fühlt sich so schön an. Wieso kann es das dann nicht auch sein? Erneut wandert mein Blick zu der Kette und ich spüre das Zittern meiner Hände.
 

„Bist du umgezogen?“ Ich weiß nicht, was mich gerade reitet, doch ich kann es auch nicht aufhalten, als mein Blick auf einen kleinen Stoffelefanten fällt. „Ja, ich hab jetzt meine eigene Bude.“ Er wirkt überrascht und das lässt mich leicht lächeln. Dies ist eine Seltenheit und im Moment genieße ich es direkt. Ruhig nehme ich das Stofftier an mich und streichel sanft über seinen kleinen Rüssel, bevor ich dann noch einen oben drauf setze. „Gibst du mir deine Adresse? Ich würde dich gerne am Wochenende besuchen.“ Ich will ihn wiedersehen.

Erneut sitze ich im Zug. Meiner Familie habe ich nur einen Zettel hinterlassen, dass ich das Wochenende bei einem Freund sein werde. Es ist mir in diesem Moment egal, was passiert, wenn ich nach Hause komme. Ich will nur noch zu Luzifer und ihn für dieses Lied danken. Es hat mir gezeigt, dass mein Leben doch nicht nur voller Schmerz ist. Oder es gar egal ist, wie schön die Zeit ist, sie endet eh nur in einer neuen Welle der Gewalt.
 

Dieses Mal habe ich mir die Wegbeschreibung ausgedruckt, meinen Verlauf gelöscht und mein Handy ist seit ich in den Zug eingestiegen bin ausgeschaltet. Ich habe aus meinen Fehlern von damals gelernt. Auch wenn mein Vater mir wieder die Polizei auf die Fersen hetzt. Dieses Mal werden sie mich nicht finden. Ich will dieses Wochenende ganz alleine für uns haben. Nur für Luzifer und mich. Niemand soll uns stören.
 

Als ich mich auf meinen Sitz sinken lasse, schließe ich seufzend die Augen. Es ist länger als damals, doch es ist mir egal. Ich werde irgendwann dort ankommen und desto weiter ich weg bin umso geringer ist die Chance, dass sie mich finden. Auch wenn die Reisezeit von der gemeinsamen Zeit abgezogen wird. Es ermöglicht uns vielleicht ein längeres gemeinsames Wochenende.
 

Wie damals, als ich auf den Weg zu Tayaka war, steht auch jetzt wieder nur ein Rucksack bei meinen Beinen. An sich ist es sogar noch der Selbe wie damals. Die Polizei hat meine Sachen damals aus der Wohnung von Tayaka zu mir nach Hause gebracht. Kurz wandert mein Blick zu meiner Seite, doch der Platz neben mir ist leer. Es fühlt sich einerseits komisch an ohne ihn so zu fahren, doch andererseits weiß ich, dass ich ihn dort sehen werde.
 

Ich wünsche mir gerade seine Nähe und kurz kommt der Zweifel zurück, ob ich wirklich fahren soll, doch der Zug hat bereits die ersten Bahnhöfe passiert. Es gibt jetzt kein wirkliches Zurück mehr und eigentlich will ich es ja auch. Nie habe ich diese Trennung, diesen Kontaktabbruch wirklich akzeptiert. Immer habe ich gehofft, dass wir uns wiedertreffen. Irgendwo. Irgendwie. Nur um doch noch einmal die Möglichkeit zu haben uns zu treffen. Dort weiter zu machen, wo wir unterbrochen wurden.
 

Ruhig lasse ich meinen Kopf nach hinten sinken und versuche mich zu entspannen. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sein Gesicht vor mir. Ob er sich stark verändert hat? Seinen Charakter hat er auf jeden Fall nicht verloren. Das steht schon einmal fest.
 

Bei diesem Gedanken muss ich leicht lächeln. Er treibt mich damit zwar gerne auf die Palme, doch genau diese Art von ihm hat mich über Dinge nachdenken lassen, die ich sonst wohl heute noch verdrängen würde oder als selbstverständlich annehmen würde. Ich weiß nicht, was ich mir von diesem Treffen erhoffe. Es ist mir auch an sich egal, was passiert oder eben nicht. Ich will ihn nur wiedersehen.
 

Nach einer Weile kommt der Kontrolleur und ich zeige ihm meine Karte, bevor dann für den Rest der Fahrt Ruhe einkehrt. Niemand nimmt neben mir Platz und ich muss erstaunlicherweise nicht einmal umsteigen, obwohl ich doch gute fünf Stunden unterwegs bin. Ich habe Luzifer geschrieben, wann ich ankomme und so spüre ich, wie mein Herz anfängt schneller zu schlagen, desto näher ich meinem Ziel komme.
 

Es ist keine Xenia mehr da, die uns irgendwelche Stöcke zwischen die Beine wirft. Kein Vater, der uns unterbrechen wird. An diesem Wochenende wird es nur um uns gehen. Niemand wird uns stören können. Endlich werden wir das tun, was wir schon immer wollen.
 

Ich spüre, wie ich nervös zu werden beginne und muss kurz trocken schlucken, doch da wird schon meine Haltestation angesagt und ich greife nach meinem Rucksack, um zu den Türen zu gehen. Einmal tief durchatmen, dann hält der Zug an und die Tür öffnet sich auf mein Tun hin. Es fühlt sich komisch an, als ich die Stufen hinuntersteige und dabei meinen Rucksack schultere.
 

Kurz lasse ich meinen Blick über die Menge schweifen, doch als ich nicht fündig werde, hole ich meinen Zettel raus auf dem die Wegbeschreibung steht. Es ist nicht weit und ich sollte es hinbekommen. Noch einmal tief durchatmen und dann los. Weg von den Gleisen, raus aus dem Gebäude und dann nur ein paar Straßen entlang. An sich gar nicht zu verfehlen. Zumindest wirkte es so auf Boogle Maps, doch da sieht jeder Weg einfach aus.
 

Plötzlich werde ich herumgerissen und man versiegelt meine Lippen mit einem Kuss. Zieht mich näher und ich kann seinen herben Duft wahrnehmen. Er ist hier. Luzifer ist tatsächlich gekommen um mich abzuholen. Ich kann mein Glück nicht fassen und erwidere daher den Kuss nur halbherzig, wodurch er sich schließlich von mir trennt und ich erst einmal Luft hole.

„Willkommen in meiner neuen Heimat.“ Er grinst mich breit an, bevor er mir einen weiteren Kuss auf meine Stirn haucht und dann schon wie selbstverständlich meine Hand nimmt. „Komm, lass uns erst einmal nach Hause gehen. Da wirst du dann deinen Rucksack los und wir sehen weiter.“
 

„Ist okay. Aber ich bin auch nicht böse, wenn wir heute Abend nicht mehr so viel machen. Die Fahrt war ganz schön ermüdend.“ Mein Körper fühlt sich wirklich wie gerädert an. Ich bin nicht froh darüber, aber ich kann auch nichts daran ändern. Die Flucht war doch anstrengend.
 

„Wie hast du es eigentlich hinbekommen? Was haben deine Eltern dazu gesagt? Vor allem dein ach so toller Vater?“ Er sieht mich ein wenig zerknirscht an.
 

„Sie wissen es nicht. Ich bin in mein Zimmer gegangen und sie waren der Meinung, dass ich Hausaufgaben mache. Mein Vater war auch noch gar nicht Zuhause. Dann bin ich wie damals bei Tayaka einfach aus dem Fenster geklettert und zum Bahnhof gelaufen.“ Es klingt in meinen Ohren total lächerlich, doch anders wäre dieses Treffen niemals möglich und ich will es mir nicht kaputt machen lassen.
 

„So dringend willst du bei mir sein. Das ist ja schon fast wieder süß. Ich freu mich aber dich endlich wiederzusehen.“ Er wirkt glücklich. Schon fast euphorisch. So wie ich mich fühle und sein Lächeln steckt an. Seine Haare sind ein wenig länger und er trägt sie jetzt in einem Zopf nach hinten. Auch kann ich nun mehr Tattoos bei ihm entdecken, doch mehr kann ich auf den ersten Blick nicht vermuten. Dann geht er mit mir los und erneut lasse ich mich führen. Ich spüre die Sicherheit seiner Hand und muss lächeln. Es fühlt sich richtig an. Es fühlt sich echt an. Bitte verschwinde nie wieder...

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Wir saßen schweigend beim Essen. Luzifer hatte nur ein paar Nudeln mit Tomatensauce gekocht. Nichts Aufregendes, aber es war doch gut genug, um den Hunger zu stillen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und auch er schwieg. Immer noch fühlte ich mich dämlich, weil ich den Sex abbrechen musste und ich konnte die Frustration von Luzifer fast im Raum greifen.
 

„Ich sollte vielleicht gehen. Nach dem Essen mache ich mich auf den Heimweg. Dann ist mein Vater vielleicht nicht ganz so böse, wenn ich freiwillig zurückkomme.“ Es war ein idiotisches Thema, doch ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte, wodurch Luzifer dunkel knurrte.
 

„Idiot. Du bleibst hier. Es ist mittlerweile viel zu spät um nach Hause zu fahren. Für den letzten Zug müsstest du dich jetzt schon am Bahnhof befinden. Und glaub mir, Bus willst du nicht fahren. Morgen ist auch noch ein Tag und keine Angst. Ich fress dich schon nicht. Für Demon lege ich meine Hand aber nicht ins Feuer.“ Er grinste breit und aß dann ruhig weiter, während ich mich gefangen fühlte.
 

Der große Hund lag aktuell im Flur und schien auf etwas zu warten, während wir ruhig aßen. Es war ein seltsames Gefühl und ich wollte mich weiter entspannen, doch irgendwie ging es nicht. Mein Rückzieher hing schwer im Raum und ich konnte spüren, dass ich damit etwas kaputt gemacht hatte. Eine Chance ruiniert hatte, doch ich sprach es nicht aus.
 

„Aber ich schlaf auf der Couch.“ Ich wollte diese Peinlichkeit endlich hinter mir lassen. Ihr irgendwie entkommen, doch auch jetzt ließ mich Luzifer nicht frei. „Quatsch. Mein Bett ist groß genug. Und erneut: Keine Angst, ich werde dich nicht fressen. Ich hab es verstanden. Bin ja nicht auf den Kopf gefallen.“
 

Warum ließ er mich nicht gehen? Wieso konnte er mir diesen Rückzug nicht erlauben? Ich wollte doch nur diesem beklemmenden Gefühl entkommen. Nicht mehr bei ihm sein und daran denken, was ich mit meinem Handeln in ihm angerichtet habe. Es... es war doch keine Absicht gewesen. Ach, ich wollte doch.
 

Ein Seufzer glitt über meine Lippen und ich schob den Teller von mir. Der Hunger war nun endgültig verschwunden und ich fühlte mich nur noch schlecht. Ich versuchte es doch allen recht zu machen, aber irgendwie lief alles schief. Jeden musste ich enttäuschen. Keine Erwartung konnte ich erfüllen. Ich... ich hielt das nicht mehr aus.
 

Ohne es zu bemerken hatte ich meine Finger fest in meine Haare gekrallt und plötzlich war dort wieder eine sanfte Berührung. Luzifer löste sie mit solch einer Zärtlichkeit, dass ich ihn verdutzt ansah. Er wirkte verletzt und im nächsten Moment legte er meine Hände auf den Tisch ab.
 

„Lass es gut sein, okay? Niemand hat schuld. Es ist halt scheiße gelaufen. Passiert.“ Er seufzte und aß ruhig weiter als wäre gerade nichts gewesen, während ich ihn entgeistert ansah. Was sollten diese Worte? War es wirklich so unbedeutend für ihn? Ich konnte doch sehen, dass es nicht stimmte, dennoch brachte ich kein Wort des Protestes heraus, sondern sah ihm nur beim Essen zu.
 

„Ja, es wäre wohl besser, wenn wir so tun, als wäre es nie passiert.“ Ich lächelte kurz schmerzhaft und sah den entsetzten Blick von Luzifer im Augenwinkel, weil ich auf meinen Teller starrte. Doch er lenkte fast sofort ein: „Ja, ist vielleicht besser so.“
 

„Genau. Du hast Xenia und schließlich liebst du sie. Es ist gut, dass nichts passiert ist. Dann brauchst du ihr gegenüber auch keine Schuldgefühle haben. Genauso wie ich meinem Vater gegenüber. Schließlich ist doch nichts passiert. Niemand muss böse auf uns sein.“ Ich wollte meine Worte so sehr glauben, doch irgendwie wusste ich, dass es eine reine Verzweiflungstat war. Ein Versuch das Geschehene herunter zu spielen und so den Schmerzen zu entkommen, die es zur Folge hätte.
 

„Hm.“ Mehr kam von Luzifer nicht und auch er begann jetzt in seinem Essen herum zu stochern, bevor er es von sich schob. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf den Teller. Ich hoffte auf mehr, doch desto länger ich ihn ansah umso bewusster wurde es mir, dass da nichts mehr kommen würde. Er schwieg und seine Gedanken verbargen sich in einem unüberwindbaren Tresor. Egal, wie lange ich ihn ansah, ich kam nicht darauf, was gerade in seinem Kopf vorging und erschrak schon fast, als er dann doch seine Stimme erhob: „Ist es das, was du willst? So tun als wäre nichts gewesen?“
 

„Ja, es... es würde die Sache einfacher machen. Du hast doch vorhin schon gesagt, dass niemand davon erfahren muss. Also, lass uns einfach so tun, als wäre niemals etwas passiert, okay?“ Ich fühlte mich leicht gereizt, weil ich das Gefühl hatte, dass mir Luzifer nicht zuhörte oder absichtlich so tat, als wäre die Sache so kompliziert.
 

Erneut trafen sich unsere Blicke und dort war wieder das Gefühl, dass er bis tief in meine Seele sah, was mich trocken schlucken ließ. Meine Hände fingen an zu zittern und ich versuchte mich zur Ruhe zu ermahnen. Er durfte diese Macht nicht haben. Nicht über mich. Niemand sollte das und dennoch wirkte es so, als hätten sie alle. Als wäre ich nur eine kleine Spielfigur mit der jeder machte, was er gerade wollte. Jeder außer Alexy und Tayaka.
 

In diesem Moment wünschte ich mich zu ihnen. Dort war alles so unkompliziert. So wunderschön frei. Warum war ich gleich nochmal weggelaufen? Ach ja, wegen der Polizei. Aber vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, ich wäre mit ihnen zurück nach Hause gefahren. Ja, vielleicht.
 

Meine Finger krallten sich in mein Hemd. Ich wusste, wie ich darunter aussah und ich konnte mir vorstellen, was noch dazu kam, doch ich... Oh Gott, warum konnte ich nicht fliehen!? Wieso konnte ich diese Spirale nicht durchbrechen?! Warum konnte ich ihm nichts mehr recht machen?! Ich... ich tat doch alles.
 

Mein Körper begann zu beben und plötzlich war dort wieder diese sanfte Berührung. Die Finger von Luzifer strichen über meine Wange und unter mein Kinn. Er hob meinen Kopf an. Wann war er hinter mich getreten? Erneut trafen sich unsere Blicke und seine grauen Augen waren plötzlich so sanft und warm. Ich fühlte mich dort geborgen und geliebt.
 

Er kam langsam näher. Unsere Lippen legten sich aufeinander und ich konnte ihn erneut leicht schmecken. Unter der Tomatensauce und den Nudeln war dort immer noch er. Wieder ließ ich es geschehen und genoss diese Sicherheit, die er in mein Herz streute.
 

Der Kuss war sanft, unschuldig und dennoch so lang, dass er definitiv kein Traum war. Seine Hände lagen schützend auf meinen Wangen und blieben auch dort als er sich schließlich von mir trennte. Wir sahen uns nur an. Es fühlte sich richtig und doch irgendwie falsch an.
 

„Warum?“ Dieses eine Wort verließ meine Lippen ohne dass ich darüber nachdachte. Ich wusste nicht einmal was ich damit hinterfragte. Es war unwichtig und musste dennoch raus. Auf eine seltsame Art und Weise zauberte es ein Lächeln auf Luzifers Lippen, bevor er sanft meine Nase küsste und mich dann weiter ansah.
 

„Weil ich Lust darauf hatte.“ Er zuckte mit den Schultern und ließ seinen Daumen über meine Lippen fahren. Dann kam noch einmal ein Kuss. Kurz, wohl eher ein Nippen an meinen Lippen und ich schloss dabei die Augen. Wollte nur ihn wahrnehmen. Alles andere wirkte aktuell falsch.
 

Plötzlich strich er über meine Wangen und erst da fiel mir auf, dass ich weinte. Sofort trennte ich mich von ihm und versuchte diese salzigen Verräter selbst zu vernichten. Das durfte nicht wahr sein! Ich konnte doch nicht vor Luzifer weinen! Was dachte er dann von mir? Verdammt!
 

Ich verfluchte mich weiter innerlich und hatte mich dadurch wieder beruhigt, während Luzifer schon den Raum verlassen hatte. Irritiert sah ich in den Flur, doch auch Demon war verschwunden und dann wurde die Stille schon von dem Öffnen einer Schiebetür zerstört. Was tat Luzifer?
 

Verwirrt und neugierig stand ich auf und folgte dem Geräusch, als ich Luzifer in seinem Zimmer fand. Demon rannte gerade durch die geöffnete Tür nach draußen und schien diese Freiheit zu genießen. Es wirkte sehr amüsant, wie dieser große Hund freudig über die Wiese sprang und das wohl größte Glück in seinem Leben genoss. Wie einfach Freude sein konnte, wenn man aufhörte allzu viel vom Leben zu erwarten.
 

„Ich muss noch mit ihm Gassi gehen. Willst du mitkommen?“ Luzifer sah mich bei dieser Frage nicht wirklich an, sondern trat schließlich ebenfalls nach draußen und zündete sich eine Zigarette an, während ich zurückblieb und nicht wusste, was ich antworten sollte.
 

Einerseits hatte ich Angst, dass man mich dann doch fand. Andererseits wollte ich ohne Luzifer nicht in dieser Wohnung bleiben, wodurch ich mir einen Ruck gab und dann nickte. Kurz darauf wurde mir schmerzlich bewusst, dass er dies ja nicht sehen konnte, weil er mit dem Rücken zu mir stand und so räusperte ich mich, um ihm auch verbal zu antworten: „Ja, ich würde mitkommen.“
 

Ich konnte mich ja immer noch unter meiner Kapuze verstecken und vielleicht würde ich dann noch etwas interessantes über Luzifers Leben erfahren. Oder über diese Stadt. Wenn ich schon hier festsaß, dann könnte ich auch die Zeit mit dem Menschen verbringen, der mich hierher gelockt hatte, oder etwa nicht? Da war ja nichts falsche dran, oder? Nur zwei Freunde, die zusammen durch die Stadt gingen. Nur zwei Freunde...

Es war ein komisches Gefühl, als ich neben Luzifer durch die Straßen ging. Demon lief brav an seiner Seite, wodurch die Leine locker durchhing. An sich wollte ich etwas sagen. Ein Gespräch beginnen, doch ich wusste nicht was. Alles wirkte zu banal und irgendwie hing der missglückte Akt immer noch zwischen uns. Vielleicht weil ich ihn nicht los ließ oder vielleicht auch weil es Luzifer mehr ärgerte als er zugeben würde.
 

Meine Kapuze hatte ich tief in mein Gesicht gezogen und an sich starrte ich nur auf den Weg vor meinen Füßen. Die Hände in den Jackentaschen versteckt damit sie ja nichts Dummes taten. Ich wusste auch nicht mehr, was ich mir von diesem gemeinsamen Spaziergang erhofft hatte. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn ich Zuhause geblieben wäre und wir somit ein wenig Abstand zueinander gewonnen hätten. Aber jetzt... Jetzt war es dafür definitiv zu spät.
 

„Castiel!“ Der Schrei ließ mich zusammen zucken und ich spürte, wie ich mich immer weiter verkrampfte, während Luzifer neben mir stoppte und sich ruhig umdrehte. Eine Kippe im Mund und Demon brav an seiner Seite. Ich selbst wusste nicht, was ich tun sollte. Am Liebsten wäre ich verschwunden.
 

„Nina. Was machst du hier? Lysander ist aktuell bei seinen Eltern Zuhause.“ Seine Stimme wirkte distanziert. Sie klang anders, als wenn er mit mir sprach und dieser Fakt schnürte mir kurz die Kehle zu. „Ich weiß also nicht, wann er mal wieder kommt.“ Es klang so als würde er eine Frage vorbeugen, die er nicht mehr hören konnte und ich vernahm im nächsten Moment ein erbostes Schnauben.
 

„Das weiß ich auch! Aber ich wollte mal sehen, wie es dir so geht. Du weißt ja, Lysander macht sich da immer Gedanken und will dass ich ein Auge auf dich habe.“ Die Stimme war niedlich, wie von einem jüngeren Mädchen, doch ich wagte es immer noch nicht mich umzudrehen. Ich wollte nicht, dass mich irgendwer erkannte und man auf falsche Gedanken kam.
 

„Blendend und jetzt... zieh Leine.“ Er ging im nächsten Moment an mir vorbei und ich setzte sofort zur Verfolgung an, doch das Mädchen namens Nina ließ nicht locker. „So warte doch! Wer ist das, den du da bei dir hast?!“
 

Plötzlich griff man nach meinem Ärmel und ich entriss ihn ihr panisch. Unsere Blicke begegneten sich. Sie hatte aschblondes Haar und ihre blauen Augen sahen mich entsetzt an. Wir wirkten wie zwei Rehe, die der Meinung waren, dass der andere ein versteckt Wolf sei, der es fressen wollte.
 

Im nächsten Moment wandte ich mich schon ab und zog meine Kapuze noch enger um mein Gesicht, dass man noch weniger von mir sah. Ich sprach kein Wort und hörte nur das dunkle Knurren von Luzifer, als ich schon mit schnelleren Schritten weiter ging. Es war mir egal, was das Mädchen von mir dachte. Ich wollte diesen Kontakt nicht. Niemand sollte wissen, dass ich hier bei Luzifer war.
 

„Castiel?! Wer ist das?! Weiß Debrah davon?!“ Diese Nina wollte keine Ruhe geben, doch auch Luzifer antwortete nicht darauf, sondern beschleunigte seine Schritte, um wieder neben mich zu kommen. „Castiel?!“ Ihre schrille Stimme hallte in meinen Ohren schmerzhaft nach und ich zog meine Schultern hoch, um ihr irgendwie zu entkommen. Dieses Mädchen gefiel mir nicht. Es schien viel zu wissen und sich auf eine Art in Luzifers Leben einzumischen, die mir nicht zusagte.
 

„Halt dich aus meinem Leben raus, Nina!“ Als er diesen Satz zu ihr zurück brüllte, griff er plötzlich nach meiner Hand in der Tasche und umschloss diese sanft. Ich verstand nicht, warum er das tat. Sie schien Kontakt zu Xenia zu haben und ihr jetzt so provokant zu zeigen, dass ich mehr war als eine simple Begleitung zum Spazierengehen empfand ich als äußerst riskant, wodurch ich versuchte mich aus seiner Berührung zu schälen. Es misslang mir, weil sein Griff mit jedem neuen Fluchtversuch stärker wurde.
 

„Was soll das?“, zischte ich in seine Richtung. „Willst du, dass sie es Xenia steckt?“ „Es ist mir egal. Sie soll endlich die Klappe halten. Macht sie doch eh nur um Pluspunkte bei Lysander zu sammeln. Nur zum Kotzen“, grummelte er und ich hörte mit meinen Fluchtversuchen auf. Es hatte eh keinen Sinn, weil er mich gerade nicht gehen lassen wollte und so gingen wir weiter. Hand in Hand. Ungeachtet der Blicke, die man uns zuwarf und mit Demon an unserer Seite. Auch fühlte es sich an, dass diese Mauer der Frustration mit jedem Schritt, den wir so gingen, ein Stück weiter verschwand. Wodurch ich es erst recht geschehen ließ, damit endlich dieses komische Gefühl verschwand und wir vielleicht wieder normal miteinander umgehen können.
 

Luzifer hängte den Schlüssel zurück ans Brett, während Demon schon freudig in die Wohnung rannte und ich ihm folgte. Immer noch ein wenig verwirrt über diesen Spaziergang und sprachlos. Früher war ich nicht so gewesen, aber mittlerweile traute ich mich kaum noch mein Wort zu erheben. Aus Angst, dass es schlimmer werden könnte.
 

„Du solltest aufhören darüber zu grübeln. Nina ist in Lysander verliebt und der wird es nicht gerne sehen, wenn sie mich an den Pranger stellt. Außerdem war doch nichts. Ich wollte nur verhindern, dass du verloren gehst.“ Luzifer schien erneut meine Gedanken zu lesen. Er sah mich nur kurz an, bevor er dann weiter in die Wohnung ging. „Und jetzt entspann dich. Wir haben noch ein bisschen Zeit zusammen. Lass uns das Beste daraus machen.“
 

Er sah mich an und ich spürte, wie diese Sicherheit, die er mir immer gab, langsam zurückkehrte. Ruhig folgte ich ihm daher weiter in die Wohnung und mit jedem Schritt, den ich ihm nachging, wurde die Mauer, die in letzter Zeit zwischen uns stand, immer kleiner.
 

Luzifer ging in sein Zimmer. Direkt hinter Demon her und dicht gefolgt von mir. Ich wusste nicht, was ich darüber denken sollte, als wir schon wieder auf dem großen Bett saßen. Das Kondom lag immer noch auf den Boden und als Luzifer meinen Blick bemerkte, schmiss er es mit einem tiefen Seufzer weg.
 

„Kannst du bitte aufhören daran zu denken?“ Unmut machte sich in seiner Stimme breit, als er sich mit zu viel Schwung neben mich auf das Bett fallen ließ. Er sah mich schon fast flehend aber auch leicht entnervt an. Plötzlich griff er nach meinen Hinterkopf und zog mich zu sich rüber. Erneut waren dort seine Lippen auf meinen. Ich spürte die Elektrizität und konnte ihn schmecken. Wieso tat er das immer wieder?
 

Er trennte sich von mir und grinste mich dann süffisant an. „Hoffentlich hörst du jetzt endlich auf zu grübeln und nein, es ist nicht kompliziert zwischen uns. Außer du machst es, weil du es zerdenkst.“ Ruhig legte er bei diesen Worten seine Stirn gegen meine. Diese simple Berührungen fühlte sich so rein und unschuldig an, dass ich nicht glauben konnte, dass sie von ihm kam. Von diesem ruppigen Menschen, der mit seinem Zynismus viel zu oft in Wunden stach, die man sonst so erfolgreich versteckte.
 

„Ich... es tut mir Leid.“ Mehr brachte ich nicht über die Lippen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun oder sagen sollte. Schließlich war doch ich Schuld daran. Durch meine Worte zauberte sich ein Lächeln auf Luzifers Lippen.
 

„Schon vergessen? Es ist doch nichts passiert.“ Er nippte nur noch einmal kurz an meine Lippen, bevor er sich dann gänzlich von mir trennte, um noch einmal auf die Terrasse zu gehen und eine zu rauchen. Demon rannte sofort nach draußen kaum dass die Tür geöffnet wurde, während ich zurückblieb. Ich sah auf seinen Rücken und spürte noch das Nachbeben seiner Berührungen. Heiß und innig brannten sie sich auf meine Seele.
 

War es wirklich gut, dass ich hier blieb? Sollte ich nicht vielleicht doch lieber auf die Couch bestehen? Doch desto länger ich auf seine Kehrseite sah, umso klarer wurde es für mich: Egal was ich tat. Ich würde mich nie wieder von ihm lösen können. Doch ich wusste auch, dass ich es musste. Irgendwie. Irgendwann. Aber mir war auch klar, dass ich dies jetzt noch nicht konnte und so stand ich auf, um zu ihm zu gehen.
 

Ich lehnte mich an den Türrahmen und steckte meine Hände in die Hosentaschen, während ich Demon beim Tollen zusah. Katzen waren mir definitiv lieber, aber dieser große Hund hatte schon etwas Drolliges an sich, wie er sich über jede Kleinigkeit freute. So wie gerade eben über jeden neu geworfenen Ball von Luzifer.
 

„Ich werde morgen so früh wie möglich nach Hause fahren.“
 

„Das ist mir klar.“
 

„Und dann werde ich versuchen mit meinem Vater zu reden.“
 

Luzifer sah mich überrascht an, doch ich reagierte nicht darauf, sondern ließ meinen Blick weiter auf Demon liegen. Ja, ich hatte einen Entschluss gefasst: Endlich wollte ich meinem Vater Einhalt gebieten...

Gegenwart
 

Ich stelle meinen Rucksack neben der Wohnungstür ab, als auch schon Demon um die Ecke gerannt kommt. Sofort springt er Luzifer freudig an und schaut auch zu mir. Unsere Blicke treffen sich und ich lächle ihn nach einer Weile schüchtern an. Ruhig halte ich ihm meine Hand hin und er schnüffelt daran. Dann kommt Erkennen in seine Augen und er bellt auch mich glücklich an.
 

Seine Wohnung ist nicht besonders groß, doch sie erfüllt seinen Zweck. Neben einer Küche, gibt es nur ein Badezimmer und seinen Wohnbereich. Luzifer geht in den Wohnbereich. Dicht gefolgt von Demon und mir. Der Hund legt sich sofort auf sein großes Kissen und ich selbst bleibe ein wenig verloren stehen. Ich erblicke die Gitarre in einer Ecke des Zimmers und höre wieder das Lied, das schuld daran ist, dass ich jetzt hier bin.
 

„Sitzplätze kosten auch nicht mehr.“ Ich höre seine Stimme und er deutet auf das Sofa, das am Fußende des Bettes steht, bevor er mich wieder breit angrinst. „Ich weiß, sie ist kleiner, als die von meinen Eltern. Aber sie erfüllt ihren Zweck und wir fühlen uns hier wohl. Sollte sie uns zu eng sein, dann können wir ja raus gehen.“
 

Er zuckt mit den Schultern und nachdem ich immer noch ein wenig verloren im Zimmer stehe, nimmt er mich bei der Hand und zieht mich zu sich auf die Couch. Sofort drückt er mich fast an seine Brust und auch wenn das Gefühl schön ist, so ist es mir gerade zu viel. Ruhig nehme ich dadurch Abstand und lächle ihn kurz entschuldigend an.
 

„Wo soll ich schlafen?“ Ich lasse meinen Blick über das Zimmer schweifen, doch dort existiert nur das Bett oder die Couch. Es ist keine weitere Schlafmöglichkeit aufgebaut und wenn ich ehrlich bin, ist das Zwei-Sitzer-Sofa nicht unbedingt dafür geeignet.
 

„Wie auch damals schon. Bei mir im Bett. Keine Angst, auch jetzt werde ich dich nicht fressen.“ Er lacht auf und klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. „Man kann mit dir viel schönere Dinge anstellen, anstatt dich zu verspeisen.“ Für diesen Satz kommt er direkt neben mein Ohr und ich kann seinen warmen Atem auf meiner Wange spüren. Er ist so nah. Ich brauche nur meinen Kopf zur Seite zu drehen und erneut würden wir uns küssen. Sein Geschmack würde dann über meine Zunge huschen und ich könnte seinen Atem meinem Gesicht spüren. Alles von ihm wahrnehmen und doch nur einen Hauch erfahren. So einfach. So unendlich einfach.
 

Plötzlich ist er wieder weg und lehnt sich zurück. Bringt so einen Abstand zwischen uns, der schon fast auf der Seele weh tut. Ich spüre den Verlust in mir, aber unterdrücke den Impuls ihn zu mir zu ziehen. Wir haben uns doch gerade erst wiedergefunden. Ist es da wirklich klug, wenn man gleich los heizt? Alles überstürzt? Wir haben doch Zeit, oder nicht?
 

„Hör auf zu grübeln.“ Er tippt mir an die Stirn und sieht mich selbst mit ernsten Gesicht an, während er leise knurrt. „Du sollst das Ganze nicht schon wieder zerdecken. Genieß es. Lassen wir das Wochenende einfach auf uns zukommen, okay?“
 

Er ist plötzlich offener und lächelt mich erneut sanft an. Ich fühle mich geborgen bei ihm, doch ich bin mir immer noch leicht unsicher, ob es klug ist ihm so nahe zu kommen. Schließlich weiß ich doch, wie es das letzte Mal geendet hat.
 

„Was willst du tun? Hast du Hunger? Willst du die Stadt sehen oder lieber hier bleiben?“ Luzifer sieht mich immer noch ruhig an, doch ich weiß es selbst nicht. Was will ich tun? An sich habe ich schon Hunger, aber will ich raus? Meine Beine wollen sich bewegen. Sie mussten jetzt so lange still halten, wodurch ich kurz nicke. „Ja, Bewegung klingt nicht schlecht. Genauso wie etwas essbares.“
 

„Okay, hier in der Nähe ist ein NcBonald. Wenn du damit kein Problem hast, dann können wir gerne dorthin gehen.“ Er sieht mich weiter offen an. Ich versuche derweil zu verstehen, ob es wirklich klug ist hier zu sein. Doch für jeden Wimpernschlag, den ich ihn länger ansehe, weiß ich es genauer: Es ist richtig hier zu sein. Egal was danach kommt. Hier ist mein Platz.
 

„Können wir gerne tun. Dann kannst du mir auch ein wenig die Stadt zeigen.“ Ich lächel ihn an und er erwidert es offen, bevor er dann schon aufsteht und ich es ihm gleichtue. Er schnippt nur einmal kurz mit den Fingern und sofort springt auch Demon auf und folgt uns voller Vorfreude nach draußen.
 

Ruhig laufen wir durch die Straßen. Ich habe die Kapuze meines Pullis mittlerweile abgesetzt, weil ich mich hier sicher fühle. Sie werden mich hier noch nicht suchen. Mein Verschwinden ist wahrscheinlich noch nicht einmal aufgefallen. Das wird erst in ein paar Stunden der Fall sein und selbst wenn.
 

„Hör auf damit.“ Luzifers Worte durchschneiden meine Gedanken und ich sehe ihn irritiert an. Schließlich habe ich nichts gesagt. Wir sind schweigend nebeneinander her gelaufen und jetzt schaut er mich schon fast böse oder gar beleidigt an. „Du sollst damit aufhören dir über alle möglichen Szenarien Gedanken zu machen. Vor allem wenn du mir dann nicht einmal mehr zuhörst. Dann kannst du auch gleich wieder gehen.“
 

„Es tut mir Leid, aber es ist...“ „Kompliziert. Ich weiß. Immer noch. Wird es wohl auch immer bleiben. Dennoch bist du jetzt hier und da sollst du deinen Alten und den Stress Zuhause mal vergessen. Sehe es als Vorgeschmack auf deine schon bald beginnende Freiheit.“
 

Kurz bin ich verwirrt, als mich Luzifer unterbricht, doch schon bald kann ich ihn nur anlächeln. Ja, vielleicht kann ich das. Es wird nicht mehr lange dauern. Vielleicht drückt dann auch die Polizei ein Auge zu und nimmt meinen Zettel Ernst. Lässt mich in Ruhe und akzeptiert, dass ich abgehauen bin. Diese Hoffnung keimt langsam auf. Auch wenn ich weiß, dass sie falsch ist. So nähre ich sie und will dass sie wächst. Größer, schöner und alle Zweifel vertreiben.
 

Plötzlich werde ich herumgerissen und erneut spüre ich einen Kuss. Luzifer umfasst mein Gesicht und lässt mich nicht gehen. Diese harte und unnachgiebige Berührung unserer Körper zerschlägt alle Zweifel und Gedanken in mir. Ich spüre, wie alles von Luzifer verschlungen wird und ich nur noch ihn wahrnehme.
 

„So... sind die Komplikationen jetzt beseitigt? Ich hasse es, wenn man mich ignoriert.“ Unter seiner Stimme liegt ein leichtes Knurren und erneut treffen sich unsere Blicke. Ich spüre, wie ich mich unsicher fühle, doch dann nicke ich. Klar, ich bin wegen ihm hier. Ich sollte meine Eltern nun wirklich mal nach ganz weit hinten verbannen. Darüber kann ich mir noch Gedanken machen, wenn es wirklich dazu kommen sollte. Aber jetzt sollte es nur Luzifer für mich geben.
 

„Ich glaube schon.“ Ich nicke und merke, wie ich leicht rot werde, bevor ich dann scheu seinem Blick ausweiche. Aber davor kann ich noch sein zufriedenes Lächeln sehen und im nächsten Moment geht er weiter. Sofort setzte ich zur Verfolgung an und spüre, wie ich mit jedem Schritt, dem ich ihm folge, wieder ein wenig größer werde. Ich bemerke, wie meine Zuversicht und mein Selbstvertrauen zu mir zurück kommen. Neben ihm habe ich das Gefühl, dass die Welt mich nicht mehr brechen kann.
 

Nach einer Weile kommen wir an unserem Ziel an und trotz des Hundeverbotenschildes folgt Demon Luzifer nach drinnen. Ein wenig verdutzt schau ich auf die Zwei, doch niemand scheint sich an dem großen Dobermann zu stören, wodurch ich schulterzuckend den Beiden folge.
 

Nach einer kurzen Wartezeit habe wir unser Essen und nehmen Platz, um es zu verspeisen. Es tut gut endlich wieder etwas in den Magen zu bekommen und so essen wir ein paar Minuten ohne etwas zu sagen, bevor ich das Schweigen schließlich breche: „Was tust du im Moment? Gehst du hier auf die Schule und warum bist du Zuhause ausgezogen?“
 

Luzifer lächelt mich daraufhin an und beißt noch einmal genüsslich von seinem Burger ab, bevor er dann auf meine Fragen antwortet: „Aktuell mache ich mein Abitur. Ich musste die Schule wechseln, weil sie an meiner Alten nicht meine Leistungsfächer anboten. Also, in der Kombination, die ich gerne gehabt hätte. Meine Eltern meinten dann, dass es einfacher für mich wäre, wenn ich hier wohnen würde anstatt immer hin und her zu fahren. Vor allem, weil sie ja eh kaum Zuhause sind, machte das kaum einen Unterschied. Daher finanzieren sie mir die kleine Wohnung hier und na ja. Sie erfüllt ihren Zweck.“
 

Er zuckt mit den Schultern und nimmt dann noch einmal einen Bissen. Mir drängt sich derweil schon eine neue Frage auf, die ich ihm stelle: „Willst du dann mal studieren?“ „Ja, Musikwissenschaften. Dafür gibt es hier in der Nähe auch eine Uni. Ich muss also nicht einmal nochmal umziehen. Und bei dir? Was für einen Weg hat dein Alter für dich vorgesehen?“
 

Es tut weh, wie stark er damit ins Schwarze trifft, wodurch ich ihn kurz zerknirscht anlächle. Manchmal hasse ich ihn für seine Präzision in diesen Momenten, aber auch wenn Wut in mir hochkommt. Ich kann sie nicht rauslassen und so schlucke ich sie auch jetzt wieder herunter.
 

„Ich soll natürlich auch erst einmal das Abi machen. Sieht auch ganz gut aus. Und danach würde mein Vater gerne, dass ich BWL studiere.“ Ich zucke mit den Schultern und stopfe mir eine Pommes in den Mund, bevor sich unsere Blicke erneut treffen. Auch dieses Mal wirkt es auf mich, als würde Luzifer meine Gedanken lesen.
 

„Und was willst du tun?“ Er spricht so langsam und betont jedes Wort extra, dass ich das Gefühl habe, dass er sie mir aufs Trommelfell tätowiert, damit ich sie niemals vergesse. Aber das liegt hauptsächlich daran, dass es das erste Mal ist, dass mich jemand nach meinen eigenen Wünschen fragt und so bin ich einige Herzschläge überfordert. Kann ihn nur anstarren und versuche verzweifelt die Tragweite seiner Worte zu erfassen, doch sie entgleiten mir immer wieder wie ein glitschiger Aal.
 

„Nathy?“ Er sieht mich kurz besorgt an, bevor ich mich aus meiner Blockade mit einem Kopfschütteln befreie und seinem Blick wieder begegne, bevor ich die nächsten vier Worte schon fast tonlos aus meinen Lungen presse: „Ich weiß es nicht.“
 

„Wie du weißt es nicht? Du musst doch auch irgendeinen Wunsch haben. Irgendeinen Plan, den du gerne verfolgen würdest. Wo siehst du dich in zehn Jahren? Was willst du dein ganzes Leben lang tun?“ Jede neue Frage überfordert mich weiter. Ich kann sie nicht beantworten. Noch nie habe ich mir darüber Gedanken gemacht. Es ist für mich schon immer klar, dass ich den Weg gehen werde, den mir mein Vater befiehlt.
 

Doch jetzt wird mir bewusst, was es bedeutet, wenn ich ausbreche. Wenn ich mich von ihm löse und versuchen werde auf eigenen Füßen zu stehen. Klar, ich werde endlich der Gewalt entkommen, doch ich werde auch das Gitter verlieren, das mich all die Jahre schon hält. Die Führung, die mir falsche Sicherheit gibt und mich auf einen Weg hält, der für mich selbstverständlich aber nicht richtig ist. Noch nie habe ich gewagt einmal zur Seite zu sehen. Auf einen anderen Weg. Eine andere Möglichkeit. Derweil gibt es sie doch.
 

„Ich weiß es nicht.“ krächze ich und muss mich räuspern, doch meine Stimme kehrt nicht zu mir zurück und die durchdringenden Augen von Luzifer werden plötzlich sanft. So viel Zärtlichkeit habe ich noch nie in ihnen erblickt und ich spüre, wie sie mein Herz friedlich umschließt. Dann ist dort seine Hand, die sich über meine legt. Nur kurz breche ich den Blickkontakt ab, um zu sehen, was er tut oder gar sein Handeln zu verstehen, doch ich erreiche die Erkenntnis nicht.
 

„Ach, Nathy.“ Er muss schmunzeln. Streichelt mit seinen Daumen über meinen Handrücken und nimmt sie dann wieder weg, als er sich zurücklehnt. „Es ist dein Leben. Dein Alter hat schon viel zu lange darüber bestimmt. Aber ich glaube, dass du wissen wirst, was du willst, wenn du da endlich mal raus bist.“
 

„Ja, ich hoffe, dass alles glatt gehen wird.“ Ich will nicht weiter über die Zukunft nachdenken. Über die Wege, die ich aus Angst vor meinen Vater, nie wirklich in Betracht zog. Nicht daran, wie sehr meine Familie mein wahres Ich unterdrückt haben und vor allem will ich nicht diese Wut in mir erkennen. Die sich mit jedem Schlag, Tritt oder Angriff – egal ob physisch oder psychisch – gegen mich vergrößert. Ich schlucke sie herunter. Immer und immer wieder. In der Hoffnung, dass sie endlich verschwindet. Doch diese Hoffnung ist vergebens. Denn das wird sie nicht tun. Niemals...

Luzifer zeigt mir noch kurz die Stadt. Ein paar interessante Läden, die er öfters besucht und auch den Park, in dem er die meiste Zeit mit Demon verbringt. Es ist eine schöne Welt, die er sich hier ausgesucht hat. Ich fühle mich wohl und vor allem tut es mir gut, dass sich die Menschen um uns herum nicht daran stören, was wir tun oder wer wir sind. So gehen wir auch erst zurück, als die Sonne langsam untergeht und somit die wenige Wärme mit sich nimmt. Der Winter ist aktuell sehr angenehm, doch sobald es dunkel wird, sinken auch die Temperaturen rapide ab.
 

Demon eilt als erster in die Wohnung und stürmt schon in die Küche, als würde er wissen, was für eine Zeit ist und was er jetzt bekommt. Luzifer selbst folgt ihm sofort und ich bleibe im Rahmen stehen. Beobachte ihn ruhig dabei, wie er seinen Hund füttert, bevor er dann zu mir zurück kommt und mich kurz anlächelt.
 

„Willst du auch etwas essen? Ich hätte noch ein wenig Brot und Wurst da.“ Er sieht mich offen an und wartet ruhig auf meine Antwort, bevor ich dann mit einem Lächeln den Kopf schüttel. „Nein, danke. Ich bin noch gut vom Burger satt und brauche jetzt nichts mehr. Demon scheint die Uhr lesen zu können, hm?“
 

„Na ja, er bekommt es immer zu dieser Zeit. Die Zeitumstellungen hasst er daher wie die Pest, weil es alles durcheinander bringt, wobei ich dann schon immer vorher in zehn Minuten Schritte es an die neue Zeit anpasse, damit es nicht ganz so schlimm für ihn ist.“ Er zuckt mit den Schultern und geht dann an mir vorbei in den Wohnbereich.
 

Nur kurz sehe ich auf den Hund, der begierig seine Schüssel aus schleckt um auch jeden noch so kleinen Krümmel zu bekommen, was mich leicht lächeln lässt. Dann stoße ich mich von dem Rahmen ab und gehe zu Luzifer. Er sitzt auf der Couch und sieht mich ruhig an. Ich merke, wie ich stocke, bevor ich tief Luft hole und mich ihm nähere. Im nächsten Moment nehme ich schon neben ihm Platz und er ist sofort bei mir.
 

Sanft küsst er mein Ohr und drückt mich ein wenig in die Kissen der Couch. Ich spüre einen angenehmen Schauer und den Wunsch in mir erwachen, dass er mich weiter so berührt. Seine Lippen wandern zu meiner Wange und meinen Kieferknochen entlang. Küssen sich langsam über den Hals und finden dann mein Gegenpart von ihnen.
 

Immer wieder öffnen sich unsere Münder, um unsere Zungen aneinander zu reiben. Tiefer. Wilder. Heißer. Meine Hand wandert über seinen Rücken. Er drängt sich mir entgegen. Fühlen. Finden. Anheizen. Ohne es richtig wahrzunehmen rutsche ich tiefer in die Couch. Luzifer kommt über mich. Ich sehe in seine Augen. Dort ist nur ein Schleier voller Lust.
 

Erneut küssen wir uns und im nächsten Moment verliere ich mein Oberteil. Ich weiß gar nicht, wie es dazu kommt, doch ich kann nicht denken. Die Hitze in meinem Körper steigt weiter an. Ein Stöhnen. Ich recke mich ihm entgegen. Sämtliches Denken ist ausgeschaltet. Unser Atem wird schwerer.
 

Plötzlich fällt auch sein Shirt. Ich kann seine nackte Haut auf mir spüren. Neue Wellen der Erregung erwachen in mir. Knabbern. Küssen. Lecken. Ich will ihn spüren. Meine Hände verkrallen sich in seinem Haar und ich stöhne kehlig auf. Seine Zunge tanzt über meine Nippel. Wandert tiefer. Inniger. Taucht in meinen Bauchnabel ein.
 

Was tun wir hier? Sofort wieder weggefegt, durch einen Kuss auf meinen Hüftknochen. Ich will ihn spüren. Drücke ihn tiefer. Wimmere leicht. Als er schon meine Hose öffnet und sie samt Boxershort über meine Hüfte zieht. Erneut ein Kuss. Sofort reibe ich meine Hüfte an seiner. Entlocke ihm einen Laut der Lust und drücke mich noch enger an ihm. Ich will ihn so sehr.
 

Noch einmal treffen sich unsere Lippen. Ich höre, wie er an seiner Kleidung nestelt und sie dann abstreift. Nackte Haut auf nackter Haut. Wir reiben uns aneinander und erneut kommt ein kehliges Stöhnen von uns.
 

„Willst du wirklich?“ Was für eine dumme Frage, doch ich sehe die Angst in seinen Augen. Hat er das von damals nicht vergessen? Ich kann nicht antworten. Ziehe ihn nur zu mir herunter und küsse ihn. Schlinge ein Bein um seine Hüfte und drücke ihn nach unten. Stöhnen. Streicheln. Reiben. Alles verschlingt die Hitze, die immer weiter in unseren Körpern erwacht.
 

Ich höre das Reißen einer Kondompackung. Er verschwindet kurz über mir, doch kommt fast augenblicklich wieder. Wir küssen uns. Meine Hände streichen über seinen Körper. Ich will alles spüren. Alles wahrnehmen. Jeden Zentimeter von ihm erkunden, als sich unsere Blick erneut treffen.
 

Es ist nicht mehr das erste Mal. Ich hab es mal geschafft. In einer dunklen Nacht und so versuche ich mich zu entspannen. Irgendwann wird es erträglich werden. Tief atme ich ein und aus. Luzifers Blick liegt immer noch auf mir. Ich warte. Warte auf das Eindringen und ein kurzer Schmerz erwacht in mir, doch dann ist es schon wieder vorbei. Es passiert nichts weiteres.
 

„Scheiße!“ Ein leiser Fluch und plötzlich ist Luzifers Stirn auf meiner. Ich sehe ihn irritiert an. Versuche zu verstehen. Es gelingt mir nicht. Frustration kommt mir aus seinem Gesicht entgegen, als er von mir runtergeht und sich auf seine Seite der Couch niederlässt. Irritiert richte ich mich auf und sehe ihn fragend an. „Was ist los?“
 

„Ich kann das nicht. Er will so nicht.“ Luzifer wirft das Kondom in den Mülleimer und flucht weiter leise vor sich hin. „Wie? Wieso?“
 

„Ich sehe es doch! Du hast Schmerzen. So... so kann ich nicht, okay?“ Er steht auf und zieht sich an, bevor er dann auch schon nach seiner Zigarettenschachtel sucht und sich kurze Zeit später eine anzündet. Ich ziehe mich auch an und weiß nicht, was ich denken soll. Irgendwie fühle ich mich nicht begehrt, aber dafür umso stärker geliebt.
 

„Es ist okay. Danke.“ Irgendwie ist dies das Einzige, was mir gerade einfällt. Ich will mit Luzifer schlafen. Ohne einen richtigen Grund zu wissen, denn wirklich Spaß hat es mir auf diese Art und Weise nie gemacht. Aber irgendwie hat mich Luzifer niemals zweifeln lassen, was die Rollenverteilung angeht.
 

„Ist es nicht wirklich. Aber...“ Luzifer sagt nichts mehr, sondern raucht weiter. Ich komme ihm näher und lege meinen Kopf seitlich an seinen. Der Rauch stört mich nur kurz, doch dann muss ich kurz lächeln. „Irgendwann wird es schon funktionieren und du brauchst dir keine Sorgen machen. Es wird schon mal funktionieren. Wir dürfen es beide nur nicht zerdenken.“
 

Luzifer schmunzelt auf mein letzte Wort und auch ich muss leicht grinsen. Ruhig hole ich sein Gesicht zu mir und küsse ihn sanft. Der Rauch zerstört das Erlebnis ein wenig, doch ich ignoriere es in diesem Moment. Will ihm nur nahe sein und still und heimlich für etwas danken, was andere bis dahin immer ignoriert haben. Etwas, was bis dato dabei war mich Stück für Stück langsam zu zerstören...

Vergangenheit:
 

Ich saß im Zug nach Hause. Mein Blick war starr durch das Fenster nach draußen gerichtet. Bäume flogen vorbei. Häuser und Lebewesen. Alles schien still zu stehen, während der Zug daran vorbei rauschte. Ich wusste, dass der Gedanke lächerlich war, doch es fühlte sich gerade so an.
 

Ruhig kam mir die letzte Nacht bei Luzifer in den Sinn. Wir schliefen aneinander gekuschelt und ich hatte das Gefühl, dass ich seinen Duft immer noch riechen konnte. In dieser Nacht konnte ich seit langem wirklich gut schlafen. Klar, bei Tayaka war es auch erholsam gewesen, aber dort. Ich fühlte mich einfach sicher und so war ich am nächsten Morgen gut ausgeschlafen aufgewacht.
 

Nur ein kurzes gemeinsames Frühstück und dann ging es schon wieder runter zum Bahnhof. Luzifer hatte seit meiner Erwähnung die kommende Aussprache mit meinem Vater nicht mehr erwähnt. Es war das erste Mal, dass ich ihn wirklich sprachlos erlebt hatte und irgendwie erfüllte mich dies mit einem leichten Stolz. Aber das Hochgefühl war nicht von langer Dauer. Es verschwand, als ich in den Zug stieg und die Hand von Luzifer los lassen musste.
 

Kurz sehe ich auf meine Finger und schließe sie. Wie konnte eine simple Berührung so viel Macht haben? Ich verstand es nicht, doch es war so. Luzifer gab mir so viel Sicherheit, die ich an sich für meinen Vater brauchte und die jetzt mit jeder weiteren Haltestelle, die ich meinem Zuhause näher kam, immer mehr verschwand. Verdrängt von der Angst, die mein Vater schon so lange erfolgreich in mir säte.
 

Ich holte tief Luft und versuchte noch den letzten Mut beisammen zu halten, als der Zug schon anhielt und ich langsam ausstieg. Jetzt wollte ich nicht mehr über die möglichen Konsequenzen nachdenken. Nicht darüber, wie wütend mein Vater sein würde, wenn ich nach Hause kam. Ich wollte diesen Kreislauf endlich durchbrechen und frei sein.
 

Meine Hände begannen zu zittern, als ich den Bahnhof verließ und in Richtung Heimat ging. Es war ein seltsames Gefühl hier zu sein und dorthin zu gehen. In diesem Moment wirkte es nur falsch auf mich, doch ich konnte nichts daran ändern. Klar, ich hätte mich bei Luzifer noch weiter verstecken können, doch das würde die Situation nicht besser machen. Nicht für mich und auch nicht für ihn. Irgendwann musste ich schließlich zurück.
 

Der Weg war kürzer als ich gehofft hatte und so fand ich mich vor meinem Zuhause wieder. Es war Zeit für das Mittagessen. Sie würden also alle da sein. Alle...
 

Erneut musste ich trocken schlucken und spürte, wie das Zittern in meinen Händen stärker wurde. Ich musste ruhig bleiben. Stärke bewahren. Sonst hätte ich schon sofort verloren. Wenn ich meinen Vater nicht mit Entschlossenheit entgegen treten würde, dann würde er mich nicht ernst nehmen.
 

Das Geräusch, als sich der Schlüssel im Schloss herumdreht, hallte in meinem Kopf nach, als wäre es dort gerade explodiert. Meine Hände fühlten sich nass vom kalten Schweiß an. Oh Gott! Ich konnte das nicht. Nicht ihm sagen, dass es aufhören musste. Er würde mir eh nicht zuhören. Vielleicht sollte ich wieder verschwinden?
 

Doch die Tür ging schon auf und ich sah in den leeren Flur. All ihre Schuhe standen da. Sie waren wirklich alle da. Jeder, der das Leid geschehen ließ. Wegsah. Vollführte. Zusah. Alle...
 

Ich schluckte trocken und versuchte noch den letzten Rest Mut zusammen zu kratzen, der irgendwo in der Tiefe meiner Seele herumkroch, doch es war kaum noch etwas da. Wie sollte ich damit bestehen?
 

Ein Schritt in das ewige Leid. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Schien eine Flucht unmöglich zu machen und vor mir eröffnete sich die Hölle, die mich immer wieder aufs Neue verschlang. Trautes Heim, Glück allein? Das war lächerlich! Dieser Satz schien über mich zu spotten und erneut spürte ich den Fluchtinstinkt in mir. Umdrehen und weglaufen. Noch hatten sie mich nicht bemerkt. Jetzt wäre es noch möglich. Doch meine Beine waren wie erstarrt, als ich weiter in das an sich helle Haus blickte. So luxuriös eingerichtet, um einen Schein zu wahren, der nicht mehr existierte.
 

„Nathan?!“ Die Stimme meines Vaters fegte jeden letzten Gedanken aus meinen Gehirn und die Angst eroberte mit einem Jubelgeschrei den frei geworden Platz. Ich spürte, wie selbst mein Kiefer zu zittern begann, während ich verzweifelt die Zähne zusammenbiss und meine Hände zu Fäusten schloss. Nur keine Schwäche zeigen. Ich musste Haltung wahren. Sonst hätte ich verloren.
 

Er kam um die Ecke und sein eiskalter Blick traf mich. Ich konnte den Zorn in seinen Augen sehen und spürte, wie mein Herz noch einmal schwerer wurde. Es schien plötzlich nur noch Blei durch meine Adern zu pumpen.
 

„Warum antwortest du nicht, wenn man dich ruft?! Was fällt dir überhaupt ein einfach so zu verschwinden und dann nicht einmal erreichbar zu sein?!“ Er stürmte auf mich zu. Ich sah seine erhobene Hand und befahl meinen Körper sie abzuwehren, doch er rührte sich nicht. Im nächsten Moment erfüllte ein lauter Knall das Zimmer und ich spürte den stechenden Schmerz auf meiner Wange.
 

„Ich hab einen Zettel hinterlassen. Es war schon spät als ich ging.“ Meine Stimme war ruhig und ich versuchte Haltung zu wahren. Mir diese Demütigung nicht anmerken zu lassen. Vielleicht konnte ich ja doch mit ihm normal reden.
 

„Und du meinst wirklich, dass du machen kannst, worauf du Lust hast?!“ Erneut kommt eine Ohrfeige, die mir fast die Tränen in die Augen trieb, doch ich schluckte sie herunter und versuchte stehen zu bleiben.
 

Den Schlag solltest du dir für deinen Alten merken.
 

Ich wollte meinen Vater nicht schlagen. Gewalt konnte man nicht mit Gewalt bekämpfen. Auch wenn alles in meinem Körper danach schrie, doch ich unterdrückte es. Versuchte es wegzusperren und zu vergessen, doch ich spürte, wie es tief in mir vor sich hin kochte.
 

„Es war nur ein kurzer Ausflug. Ich hatte meine Schularbeiten schon erledigt und dachte, dass es nicht so schlimm sein würde.“ Ich zuckte mit den Schultern und mein Vater spannte sich an, bevor er mir erneut eine verpasste, doch ich blieb stehen.
 

„Und warum rennst du vor der Polizei weg?! Sie hätte dich nach Hause bringen sollen! Wo warst du danach?! Warst du bei ihm?“ Es lag etwas bedrohliches in der Stimme meines Vaters und erneut musste ich kurz schlucken, als sich die Angst in eine leichte Panik verwandelte und ich kurz davor war die Kontrolle zu verlieren.
 

„Und wenn es so wäre?“ Ich wusste, dass es auf seine Frage keine richtige Antwort gab. Nur das Verleumden, doch das konnte ich nicht. Ich wollte die Zeit mit Luzifer nicht ungeschehen machen und geheim halten. Das hatte sie nicht verdient. Diese paar Stunden mit ihm hatten mir so viel Kraft gegeben, dass es unfair gewesen wäre. Ich wollte nicht sehen, dass es schlecht sein sollte.
 

Es war ein reiner Reflex. Ich sah meinen Vater auf mich zu eilen. Die Faust zum Schlag erhoben und mein Körper reagierte von selbst. Meine Faust krachte hart auf sein Brustbein und ich hörte, wie er mit einem Keuchen kurz zurückwich.
 

Es fühlte sich gut an. Dieser kurze Schlag hatte sich so unfassbar gut angefühlt, dass ich durch das Hochgefühl das bedrohliche Knurren nicht wahrnahm. Genauso wie das Geräusch von schleifenden Leder.
 

„Du wagst es deine Hand gegen deinen Vater zu erheben? Ernsthaft?!“ Schmerz funkelte in seinen Augen, als ich den Gürtel in seiner Hand erblickte und das Hochgefühl von der Panik überrannt wurde. „Ich habe dir gesagt, dass du dich von diesem Jungen fern halten sollst und was tust du?“
 

Mit langsamen Schritten kam er mir immer näher und ich wich instinktiv zurück. Doch viel Platz hatte ich nicht. Dort war schon die Haustür und ich konnte meinen Vater nur ängstlich ansehen. Ob mir noch einmal so ein Treffer gelang?
 

„Es ist nichts geschehen.“ Ich wollte mehr sagen, doch er unterbrach mich mit einem Schnauben und einem Lederknall. „So wie dort oben nichts passiert wäre. Ich sagte, dass ich keine Schwuchtel als Sohn haben will. Du hast mir dein Wort gegeben und jetzt spuckst du mir quasi ins Gesicht! Ich werde dir das Rumschwulen schon austreiben!“
 

Er holte aus und dann war dort nur noch Schmerz. Ich hatte versucht den Gürtel abzufangen, doch es gelang mir nicht so gut, wie ich es mir gewünscht hatte. Bei jedem weiteren Schlag sank ich tiefer zusammen. Ich versuchte alles Wichtige zu schützen, wodurch er irgendwann nur noch meinen Rücken traf. Es war mir egal, was er von mir hören wollte. Seine Worte drangen nicht mehr zu mir durch. Alles wurde nur noch von den Schmerzen eingenommen. Die Sicherheit, die Luzifer mir gegeben hatte, verschwand unter den Schlägen gänzlich. Ich hätte es nicht tun sollen. Nicht zu ihm gehen. Nicht zu Tayaka. Aber dennoch bereute ich es nicht. Keine Sekunde mit Tayaka und seinem Bruder. Keine Berührung von Luzifer. Ich würde es wieder tun. Immer wieder...

Die Nacht war der Horror gewesen. Egal, wie ich mich hingelegt hatte. Alles tat mir weh und wenn ich es nicht besser wissen würde oder weil ich es gerne ignorieren würde, hatte ich sogar das Gefühl, dass ich zeitweise geblutet hatte.
 

Nach den Schlägen hatte mir mein Vater noch einen Monat Hausarrest aufgebrummt und wollte mir den Laptop wegnehmen, doch zu meiner Überraschung schritt meine Mutter ein und meinte, dass ich ja freiwillig, wie von mir im Zettel versprochen, zurück gekommen war und somit eine leichte Milderung verdient hatte.
 

Es hatte mich verwundert, dass er wirklich auf sie hörte. Normalerweise war es ihm egal, was sie wollte, oder? Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann sich meine Mutter mal gegen meinen Vater gestellt hatte. Vielleicht hatte sie doch mehr Macht, als ich glauben wollte. Aber dieser Fakt schürte den Zorn in mir, wodurch ich nicht länger darüber nachdenken wollte.
 

Nicht darüber, ob es ihr möglich wäre, diesen Alptraum zu beenden oder nicht. Ich wollte nicht noch schlechter von meiner Familie denken. Sie... sie war doch das, was mir auf jeden Fall bis zum bitteren Ende blieb.
 

Mein Wecker riss mich aus einem viel zu kurzen Schlaf und so fühlte ich mich erschöpfter als vor dem zu Bett gehen. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass ich noch eine Nachricht von Luzifer hatte. Er wollte wissen, ob ich gut angekommen war und wie das Gespräch verlaufen war. Was sollte ich sagen? Die Wahrheit? Ich wusste es nicht und so verschob ich dies auf später.
 

Müde trottete ich ins Badezimmer und versuchte mich einigermaßen frisch zu machen. Die Ohrfeigen meines Vaters hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Mein Gesicht wirkte geschwollen und ein Auge war blau angelaufen. Wie sollte ich das denn wieder erklären? Schlägerei? Ja, das werden sie mir glauben. So schön wäre es. Ich musste kurz bei dem Gedanken auflachen, bevor ich mich duschte und dann anzog. Es sollte ein normaler Tag werden.
 

Frühstück ohne Worte, Schulweg mit Sticheleien. Ich hörte nicht zu. Es war mir egal. So unsagbar egal. In meinen Gedanken existierten nur die Schmerzen, die mit jeder Bewegung neu entfacht wurden und somit gar nichts anderes zuließen. Doch... es war es wert. Dieses Wochenende hatte meiner Seele etwas gegeben, dass sie gebraucht hatte, um nicht gänzlich zu versinken oder gar jede Hoffnung zu verlieren.
 

Mit einem schweren Seufzer ließ ich mich auf meinen Sitzplatz fallen und plötzlich waren dort besorgte blaue Augen umrahmt von langen braunen Haar. „Du siehst nicht gut aus, Nath.“ Ich konnte ein gequältes Lächeln nicht unterdrücken. Nicht gut war ja mal untertrieben. Ich sah richtig scheiße aus. Zumindest fühlte ich mich so und der all morgendliche Blick in den Spiegel hatte mir das auch bestätigt.
 

„Was ist am Wochenende passiert?“ Ihre Stimme war sanft und diese sanft geschwungenen Lippen waren vor Sorge leicht gekräuselt. „Nichts Besonderes. Nur eine kleine Schlägerei. Es wird schon wieder.“ Ich zuckte mit den Schultern und hoffte, dass sie es so hinnahm.
 

„Warum tust du das immer wieder, Nath?“ Ihr Blick wurde traurig und ich konnte sie nur besänftigend anlächeln. „Ich weiß es nicht. Es passiert einfach. Dafür kann ich nichts. Es ist ja nicht so, dass ich danach suchen würde, Melody. Am Liebsten würde ich es ja auch verhindern. Aber es geht nicht.“
 

„Wirst du sie dieses Mal anzeigen?“ Ihre sanfte Berührung meiner Hand war mir unangenehm und so zog ich sie langsam weg, um sie nicht zu stark zu verletzten. Melody war schon seit dem Kindergarten an meiner Seite. Ich würde sie nur bedingt als Freundin bezeichnen, weil wir an sich nur in der Schule und bei Arbeiten zusammen hingen. Noch nie hatten wir uns rein privat getroffen. Irgendetwas verhinderte es immer wieder. Mittlerweile war es das Gefühl, dass ich diese Nähe zu ihr nicht mochte.
 

„Ich weiß ja nicht, wer sie sind.“ Ich schnaubte und hoffte, dass sie es endlich ließ. Es machte die Sache nicht besser und ich fühlte mich einfach nur schuldig. Warum musste sie mich immer wieder zu diesen Lügen zwingen? Konnte sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?
 

Erneut war dort ihre Hand. Sanft legte sie sich auf meinen Unterarm. Versuchte mir Halt und Trost zu spenden, doch ich wollte diese Intimität von ihr nicht. Dennoch unterdrückte ich den Impuls sie von mir zu stoßen. Das hatte sie nicht verdient.

„Nath, ich will, dass du weißt, dass ich immer für dich da sein werde. Du kannst mit all deinen Problemen zu mir kommen. Wir kennen uns jetzt schon so lange. Bitte vergiss das nicht.“ Sie lächelte leicht und sah dabei wirklich süß aus, doch es erreichte mein Herz nicht. Dennoch zwang ich mich es zu erwidern. Sie konnte nichts für mein kompliziertes Leben und ihr Hilfeangebot war wirklich ernst gemeint, doch ich wollte nicht, dass sich dort jemand einmischte. Es brachte ja eh nichts.
 

„Danke, das weiß ich zu schätzen. Sollte es soweit sein, dann melde ich mich natürlich bei dir.“ Den Schein wahren konnte ich wirklich gut. Mein falsches Lächeln schien perfekt zu sein. Sie kaufte es mir ab und schien beruhigter zusein, wodurch sie sich schon abwandte und wieder nach vorne sah, da der Lehrer das Klassenzimmer betrat.
 

Der Unterricht begann und ich versuchte so unauffällig wie möglich zu sein. Meldete mich ab und an damit meine Eltern keinen Grund zur Aufregung beim nächsten Elterngespräch hatten und wünschte mir nur, dass der Tag vorbeiging. Dies dauerte viel zu lange und bei dem erlösenden Schulgong flüchtete ich schon fast aus dem Zimmer, doch Melody stoppte mich augenblicklich: „Nath! Du musst noch etwas als Schülersprecher tun! Hast du das etwa vergessen?!“
 

Ach, verdammt! Warum musste ich die Aushänge ausgerechnet heute vorbereiten und die Anmeldebögen erstellen und vervielfältigen? Scheiß anstehende Schnitzeljagd! Ich wollte doch gerade nur nach Hause und mich in mein Zimmer sperren damit mich mein Vater nicht in die Finger bekam.
 

„Kannst du das nicht alleine?“ Ich sah sie ein wenig zerknirscht an, doch ihr trauriger Blick verriet schon ihre Antwort. „Es tut mir Leid. Ich... ich habe heute einen Termin. Du hast doch gemeint, dass du es alleine schaffst. Kannst du jetzt doch nicht? Vielleicht kann ich den Termin ja verschieben.“
 

„Nein, nein. Es geht dann schon. Mach dir keine Umstände. Du hast Recht. Ich hab das gesagt. Danke für die Erinnerung, Melody.“ Erneut ein falsches Lächeln und dann war sie beruhigt. Sie verließ mit meinen Mitschülern die Schule während ich zurückblieb und meine Aufgabe erledigte. In diesem Moment verfluchte ich mein Amt so sehr. Ich hatte es doch nur angenommen um meine Eltern stolz zu machen und jetzt... saß ich hier fest.
 

Ich seufzte, als ich weiter am Computer bastelte und dann die Plakate ausdruckte, bevor ich mich an die Anmeldebögen machte. Mit möglichen Ortsvorschlägen konnte man sich in Teams anmelden, um dann daran teilzunehmen. Es sollte um die Osterzeit herum passieren, doch wir wollten jetzt schon Werbung dafür machen, dass sich die Schüler beraten konnten und genügend Zeit hatten um ihre Anmeldung auszufüllen.
 

Den einen Tag hoch oder runter hätte den Braten bestimmt nicht fett gemacht, aber wenn es erledigt war, dann war es das wenigstens auch. Es war schon spät, als ich die Schule endlich verlassen konnte und mich auf den Heimweg machte. Kurz hatte ich die Plakate noch aufgehängt und schloss dann auch die Tür ab. Es war niemand mehr da. Etwas, was ich schon öfters hatte und mir durchaus bekannt war.
 

Auf dem Heimweg wagte ich einen Blick auf mein Handy und erkannte, dass ich zwei Nachrichten hatte. Eine von Amber und die andere war von Luzifer. An sich fragten sie beide das Gleiche. Sie wollten wissen, wo ich steckte. Kurz antwortete ich beiden und steckte es dann wieder ein, um mich auf meinen Weg zu konzentrieren.
 

Ich wusste, dass mein Vater jetzt schon Zuhause sein würde und alleine bei dem Gedanken, dass er dort sein könnte, spannten sich die Verletzungen auf meinen Körper schmerzhaft an. Vielleicht würde er aber heute ein wenig gnädiger sein, wenn er hörte, dass ich meinen Nachmittag mit Schularbeiten verbracht hatte. Das war meine einzige Hoffnung auf ein friedliches Ankommen. Auch wenn ich mich an diesen Gedanken klammerte, so zitterten meine Hände als ich den Schlüssel ins Schloss steckte und aufsperrte.
 

Noch einmal tief einatmen und dann waren dort wieder all die Schuhe, die so viel Unheil bedeuteten. Doch ich versuchte sie zu ignorieren. Schlüpfte aus meinen und ging dann weiter in das Haus. Ich hörte die Vorbereitungen für das Abendessen und gesellte mich nach einem kurzen Gruß an meine Schwester, die wieder auf der Couch saß und in ihr Handy starrte zu meiner Mutter in die Küche. Wir nickten uns nur zur Begrüßung zu und ich half ihr dann schweigend mit den Vorbereitungen.
 

„Wo warst du?“ Die Stimme meines Vaters war kalt und hart. Sie ließ mich zusammen zucken und beinahe hätte ich das Messer in meiner Hand fallen lassen, doch ich drehte mich dann kurz zu ihm um. „Es tut... mir Leid. Ich habe vergessen, dass ich noch... ein paar Aufgaben als Schülersprecher hatte. Melody konnte mir leider nicht... helfen und so hatte das Ganze ein wenig länger gedauert als gedacht.“
 

Immer wieder brach ich ab, doch auch wenn ich gestern die schlimmste Strafe meines bisherigen Lebens bekam. So spürte ich, dass ich dennoch mehr Selbstvertrauen ihm gegenüber hatte. Ich machte mich nicht mehr so klein wie sonst, sondern blieb fast aufrecht stehen und auch die Angst verwandelte sich nicht sofort in Panik, sondern unterdrückte die Wut in meinem Inneren. Das Hochgefühl von diesem einen Schlag schlummerte tief in mir und sorgte für ein anderes Machtverhältnis meiner Gefühle.
 

„Okay. Dann ist es gut. Ich dachte schon, dass du wieder abgehauen bist.“ Er wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern verließ auch schon wieder das Zimmer und ich war mit meiner Mutter alleine. Nur kurz trafen sich unsere Blicke bevor wir dann ruhig weiter arbeiteten. Vielleicht würde es jetzt doch langsam mal bergauf gehen...

Seufzend klappte ich das letzte Schulheft zu und räumte es in meine Tasche. Mein Nacken schmerzte und ich rieb kurz darüber, bevor ich meinen Laptop öffnete und ihn startete. Ich wusste, dass ich an sich nicht allzu viel Zeit mehr für das Spiel hatte, doch ich wollte zumindest mal kurz reinschauen, um vor allem Luzifer und Tayaka zu zeigen, dass es mir gut ging und ich noch aktiv mit dabei sein konnte.
 

Ich trank einen Schluck aus meiner Wasserflasche, während das Spiel lud und ich mich dann schließlich einloggen konnte. Teamgeek war auch schon offen und ich ging in unseren Channel. „Hallo zusammen.“
 

„Gabriel? Schön, dass du wieder da bist. Wie geht es dir?“ Azrael kam Tayaka und Luzifer zuvor. Ich konnte hören, wie sie die Luft einsogen um etwas zu sagen, doch dann auf Grund der ruhigen Stimme des Bandleaders schwiegen.
 

„Mir geht es gut. Danke.“ Wie von selbst lächelte ich falsch. Versuchte ruhig zu bleiben und mir nichts anmerken zu lassen. „Wo warst du die ganze Zeit?! Ich hab mir Sorgen gemacht! Du bist weggerannt und ja, du hattest Recht. Die Bullen waren wegen dir da. Aber dennoch... wo bist du hingelaufen?“
 

„Du warst bei Tayaka? Warum das?“ Azrael wirkte verwirrt, doch bevor ich antworten konnte, riss Luzifer das Wort an sich: „Er war bei mir.“ „Wieso warst du bei Luzifer?“ Athena kam gar nicht mehr klar. „Was läuft hier ab? Wieso trefft ihr euch? Aber an sich wäre es doch echt cool mal ein großes Bandtreffen zu veranstalten!“ Aus ihrer Verwirrung wurde Begeisterung und ich spürte, dass sie keine Antwort mehr wollte. Das war mir auch lieber so.
 

„Ich hätte nichts dagegen.“ Tayaka wirkte wieder so optimistisch wie schon immer, während auch Azrael kurz zustimmte. Luzifer, Xenia und ich schwiegen. Wollte ich das wirklich? Dieses Treffen? Die Zwei zusammen sehen. Aber andererseits würde es mich schon interessieren, wie sie aussahen und in Wirklichkeit so drauf waren.
 

„Warum denn nicht? Wir können uns ja in der Mitte treffen.“ Xenia wirkte kühl und distanziert, wodurch ein tiefer Seufzer von Luzifer kam. „Ich hab auch nichts dagegen.“ Als hätte er Angst etwas zu sagen, was jemanden wütend machen konnte. Ich spürte direkt, wie sie darauf warteten, dass auch ich meine Meinung kundtat.
 

„Ich... ich hab erst einmal einen Monat Hausarrest und ich weiß nicht, ob mich meine Eltern lassen.“ Ich wollte noch mehr sagen, doch Azrael unterbrach mich sofort. „Wie? Du weißt nicht, ob sie dich lassen? Du warst doch bei Tayaka und Luzifer. Warum sollten sie sich gegen ein größeres Treffen wehren?“
 

Ich wusste nicht, wie ich es ihm sagen sollte, doch Luzifer nahm mir die Aufgabe fast augenblicklich ab. „Er ist abgehauen. Deswegen waren auch die Bullen hinter ihm her und er hat jetzt Hausarrest.“
 

„Echt jetzt? Warum denn das?“ Azrael wirkte schon fast entsetzt, bevor er sich dann wieder zur Ruhe mahnte, doch auch jetzt konnte ich nicht selber antworten. Tayaka übernahm das für mich. „Weil sein Dad nicht mehr alle Latten am Zaun hat. Der ist total ausgetickt und da musste ich ihm diese Chance geben.“
 

Azrael reagierte darauf nicht und ich begann mich schlecht zu fühlen. Es war nicht schön, wie man mich bevormundete und bevor Azrael noch etwas sagen konnte, ergriff ich das Wort, um diesen Wahn zu stoppen: „Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhörte. Er hatte nur einen schlechten Tag und ich musste mal raus. Das ist alles.“
 

Ich spürte, dass er mir nicht glaubte und Tayaka setzte sofort nach: „Gabriel... du hast bis Mittag bei mir geschlafen. Irgendwas stimmt da doch nicht.“ „Ich hatte vorher paar schlechte Nächte. Aber es ist alles okay. Bitte... können wir einfach spielen.“ Meine Stimme klang flehender als ich wollte, doch ich nahm die Worte nicht zurück. Ich wollte jetzt nicht über mein Leben oder gar meinen Vater diskutieren. Es war nicht nötig und ich wollte nicht, dass sie mich bemitleideten.
 

„Okay... aber du kannst immer zu uns kommen, wenn du Probleme hast, Gabriel.“ Athenas Stimme war sanft und sie umhüllte mich leicht wie eine Umarmung, was mich lächeln ließ. „Ja, ich weiß. Danke. Aber... es ist wirklich nicht so schlimm.“
 

Ich konnte vor meinem inneren Auge direkt sehen, wie sich Luzifer anspannte und zurückhielt. Dafür war ich ihm dankbar. Er wusste mehr, als mir lieb war und dennoch schien er zu respektieren, dass ich es nicht in die Welt hinausposaunen wollte. Eine Art, die ich ihm nicht wirklich zugetraut hätte.
 

„Ja, lasst uns spielen.“ Es ist das zweite Mal, dass Xenia etwas sagte. Ihre Stimme war kühl und endlich konzentrierten wir uns auf das, was ich schon die ganze Zeit wollte: Music Heroes. Es tat gut mit ihnen dort abzuhängen. Ihnen so ein wenig nahe zu sein und vor allem gelobt zu werden. Wir studierten neue Lieder ein und besprachen unsere nächsten Gigs. Wann wir Zeit hatten dafür und wo wir sie machen wollten. Welche Lieder wir dann performen wollten und wann wir eine CD aufnehmen wollten. Alles so belanglos, dass ich meine Schmerzen für einen Moment vergaß.
 

Bis zu dem Moment, als die Nacht immer weiter voranschritt und einer nach dem anderen ging. Ich hatte gehofft, dass ich mit Luzifer noch ein wenig alleine sein würde, doch er war dieses Mal einer der Ersten, der verschwand. Stattdessen blieb Xenia und das gefiel mir nicht.
 

„Ich muss jetzt auch los.“ Ich versuchte aus dieser unangenehmen Lage zu kommen, doch sie ließ mich nicht wirklich. „Nicht so schnell, Gabriel. Ich hatte dir etwas gesagt.“ Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, den ich verzweifelt versuchte zu schlucken, doch er wollte nicht verschwinden. Machte mir das Atmen schwer und ich spürte, wie ich mich mit jeder Sekunde weiter weg wünschte.
 

„Ich hab von deinem kleinen Ausflug zu Luzifer gehört und es gefällt mir nicht, was man mir gesagt hat. Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Willst du es wirklich darauf anlegen?“ Ich konnte nicht antworten und starrte nur auf den Bildschirm. Unfähig mich zu bewegen oder gar einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Stimme war so schneidend und kalt, dass ich das Gefühl hatte auch sie würde sichtbare Wunden bei mir hinterlassen.
 

„Scheinbar scheinst du es aber nicht anders zu verstehen. Wirst du freiwillig gehen oder soll ich dich davon überzeugen?“ Alles in mir schrie danach zu antworten, doch ich konnte nicht. Mein Handy klingelte, doch auch jetzt wagte ich es nicht mich zu bewegen. Wie ein Kaninchen vor einer Schlange saß ich vor meinem Laptop und starrte ihn an. Wartete darauf dass er mich im ganzen Stück verschlang.
 

„Überlege es dir. Ich werde auf deine Antwort warten. Bis morgen. Ich hoffe, dass du weißt, was klug für dich ist.“ Ich schluckte trocken und gerade wollte sie erneut ansetzten, als Luzifer plötzlich zurück in den Channel kam. „Was macht ihr Zwei hier?“
 

„Nichts. Wir haben uns nur unterhalten.“ Ihre Stimme war zuckersüß und ich selbst war immer noch nicht in der Lage zu antworten. Alles in mir war auf Flucht geschaltet, doch ich konnte nicht weglaufen. Warum war ich wie gelähmt?
 

„Gabriel?“ Erst als mich Luzifer ansprach, verschwand die Starre und ich räusperte mich. „Ähm, ja. Alles bestens. Ich muss dann aber auch schon. Gute Nacht.“ Ich wartete nicht einmal auf irgendeine Erwiderung, sondern schloss das Programm sofort und fuhr den Laptop runter. Das war doch echt nicht wahr. Sie zwang mich zu einer Entscheidung, doch ich konnte das nicht. Ich wollte dieses Spiel nicht verlassen. Schließlich gab es mir so viel Kraft und ich mochte unsere Leute wirklich sehr. Doch allein die Erinnerung an ihre Worte ließ mich erschaudern. Ich wollte keinen Krieg, doch so wie es aussah, hatte ich keine andere Wahl. Für welche Seite sich wohl Luzifer entschied? Ich hoffte, dass er hinter mir stand, doch ich befürchtete, dass er bei Xenia blieb. Oder vielleicht hielt er sich auch raus.
 

So oder so. Ich wollte diesen Kampf nicht, doch er schien unvermeidbar zu sein. Denn wenn ich ehrlich war: Ich wollte das Spiel nicht verlassen. Niemals. Denn es gab mir den Ausgleich und die Freude, die ich aktuell brauchte, um irgendwie mit meinem Leben klar zu kommen. Wenn ich da jetzt rausging, dann wäre ich endgültig verloren und das konnte und wollte ich definitiv nicht riskieren. Deswegen würde mich Xenia nicht vertreiben können. Niemals...

Gegenwart:
 

Sanfte Arme liegen um meinen Körper. Sie halten mich fest. Geben mir Schutz und Sicherheit. Ich fühle mich geborgen und weiß nicht, wie es genau passiert ist. Am Anfang der Nacht lagen wir noch nebeneinander, doch irgendwann kamen wir uns näher. Wir kuschelten uns aneinander und ich zweifelte kurz daran, ob es wirklich richtig ist. Doch als ich seinen Atem auf meiner Haut spürte und seine Wärme mich gänzlich umschloss, war jeglicher Zweifel wie weggeblasen.
 

Jetzt kitzelt mich die Sonne an der Nase und lockt mich so aus meinem traumlosen Schlaf. Ich fühle mich erholt und spüre immer noch die Arme von Luzifer um mich herum. Ein Lächeln drängt sich auf meine Lippen, als ich mich langsam zu ihm umdrehe.
 

Seine roten Haare hängen ihm wirr ins Gesicht, während seine Gesichtszüge entspannt und friedlich sind. Leicht geöffnet laden seine Lippen fast zu einem Kuss ein, doch ich halte mich zurück. Sehe ihn nur an und genieße es bei ihm zu sein.
 

Hauchzart streichel ich über seine Wange und weiß nicht, wie ich ihn für alles danken kann. Für die Stunden, die er bei mir war und in denen wir redeten. Über alles und wieder über nichts. Diese Momente, in denen man nur stumm füreinander da ist, um eben nicht alleine zu sein. Die rettende Hand, als ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte und dieses Lied, das ihn all die Jahre begleitet hat. Aber vor allem, dass er jetzt wieder da ist.
 

Ich hauche einen Kuss auf seine Nasenspitze und streiche noch einmal über seine Wange. Seine Haut fühlt sich so weich an. Er ist perfekt. Seine Tattoos machen seine Haut zu einem kleinen Kunstwerk. Es ist nur ein Totenkopf und Flügel mit einzelnen Tribals. Aber irgendwie passen sie einfach zu ihm.
 

Unsere Körper erzählen eine Geschichte. Seiner gewollt, meiner unfreiwillig. Die eine voller Trauer, Schmerz und Leid. Die andere voller Freiheit und Kreativität. Ich weiß nicht, ob ich ihn um seine Kunstwerke beneiden soll, wobei ich schon ab und an mit dem Gedanken eines Tattoos gespielt habe. Aber in meiner Familie: Undenkbar. Aber bald... bald werde auch ich frei sein.
 

Als mein Blick zurück zu seinem Gesicht wandert, begegnen mir zwei graue Augenpaare. Er sieht mich ruhig an und ich kann ein zufriedenes Grinsen auf seinen Lippen erkennen. Ihm scheint zu gefallen, was ich gerade tue.
 

„Na? Zufrieden mit dem was du siehst?“ Schelm leuchtet in seinen Augen auf und ich spüre erneut einen gewissen Trotz in mir, doch ich kann das Grinsen nur erwidern. „Kann durchaus sein. Du siehst im Schlaf viel zu lieb aus. Kommt da vielleicht deine wahre Gestalt zum Vorschein?“
 

Ich fühle mich gut. Das kann ich wirklich nicht oft genug sagen. Neben Luzifer wirken meine Probleme nichtig. Was gestern war oder morgen sein wird. Alles unbedeutend. Es zählt nur der aktuelle Moment. Der Rest wird sich schon ergeben.
 

„Das ist nur tarnen und täuschen.“ Er lacht auf und im nächsten Moment ist dort seine Hand in meinem Nacken. Er zieht mich zu sich herunter und küsst mich gierig. Ich lasse mich darauf ein. Dränge mich ihm entgegen und spüre, wie ich mir mehr wünsche. Seine Hand gleitet durch mein Haar und krault meinen Hinterkopf. Versucht mich so noch näher zu holen, doch es geht kaum noch. Unsere Oberkörper berühren sich schon und ich kann seinen Herzschlag gegen meine Brust spüren.
 

Wir trennen uns und sehen uns an. Ich tauche ein in diesen Nebel, der mich Stück für Stück verschlingt. Dort unten will ich bleiben. Für alle Zeit und nie wieder zurückkehren. Denn dort werde ich beschützt sein. Keine Verletzung wird mich jemals wieder erreichen und ich wünsche mir, dass mein Geburtstag schon war, doch es dauert noch ein paar Wochen. Es war doch gerade erst Weihnachten.
 

Plötzlich kommt ein kurzer Schmerz in mein Bewusstsein und ich zucke instinktiv zurück. Erst dann erkenne ich, dass Luzifers Finger über meinen Körper wandern und die blauen Flecken berühren. Es ist unangenehm und ich ziehe ab und an scharf die Luft an.
 

„Diese Narbe ist neu.“ Er ist ruhig und ich spüre, wie er über die leicht hellere Haut fährt, doch ich schlucke nur und zucke mit den Schultern. „So neu ist sie nicht. Wir haben uns nur schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.“
 

Ich weiß noch von welchem Schlag sie kam, doch ich will nicht daran denken und so küsse ich Luzifer noch einmal. Dränge ihn so zurück in die Kissen und komme über ihn. Greife seine Hände und drücke sie neben seinen Kopf in das Kissen, um zu verhindern, dass er damit weiteren Blödsinn macht. Ich trenne mich erst von ihm, als uns die Luft ausgeht, bevor ich ihn dann noch einmal ruhig ansehe.
 

„Na? Gefällt dir die Aussicht?“ Erneut ein freches Grinsen auf seinen Lippen und er deutet mit seinen Augen zwischen meine Beine. Ich muss ihrem Wink nicht folgen, um zu verstehen, was er meint. Schließlich spüre ich selbst, wie die Hitze in meinem Körper durch diesen intensiven Kuss anstieg und jetzt unangenehm in meiner Unterhose zog. Und ja, die Aussicht gefällt mir durchaus, doch auch das will ich ihm nicht auf die Nase binden.
 

„Vielleicht. Aber bestimmt besser, wenn du dir ein wenig Mühe gibst.“ Ich grinse ihn breit an und nippe noch einmal an seinen Lippen. Alles, was wir tun, fühlt sich so selbstverständlich an. Erst in diesem Moment verstehe ich, was für ein großes Hindernis Xenia damals war. Wie stark sie zwischen uns stand und jetzt... jetzt ist der Weg frei und ich renne ihn ohne zu zögern entlang.
 

„Ich bin ein Naturtalent. Sowas kann ich sogar im Schlaf.“ Sein Grinsen wird breiter und ich kann nur noch knapp antworten: „Oh ja.“ Er kommt zu keiner Erwiderung, denn erneut küsse ich ihn. Lege mich enger auf ihn und beginne mich kurz ein wenig an ihm zu reiben.
 

„Nathy. Wenn du so weiter machst, dann kann ich für nichts garantieren.“ Seine raue Stimme schickt einen Schauer über meinen Rücken und ich muss trocken schlucken, bevor ich meine Bewegung kurz stoppe. Aber nicht nur wegen seiner Worte, sondern auch, weil seine Hände plötzlich über meinen Rücken und Seiten wandern. Tiefer hinab. Erkunden jeden Zentimeter und schicken leichte Wellen des Schmerzes durch meinen Körper, die mich immer wieder kurz stöhnen lassen.
 

Im nächsten Moment sind seine Hände schon unter meiner Boxershort und krallen sich leicht in meinen Hintern. All dies verfehlt seine Wirkung nicht und ich muss trocken schlucken, um mich nicht weiter zu bewegen. Jede Faser meines Körpers schreit nach mehr, doch ich weiß nicht, ob ich kann. Ich will ihn nicht erneut frustrieren.
 

Kurz nippe ich an seinen Lippen und lächle ihn sanft an. „Was hältst du von Frühstück und einen kleinen Spaziergang mit Demon?“ Luzifer verzieht beleidigt die Lippen, doch anstatt einer Antwort dreht er den Spieß plötzlich um. Schwungvoll bringt er mich unter sich und drückt meine Hände neben meinen Kopf ins Kissen. Unsere Blicke treffen sich und ich spüre erneut diese freudige Erregung in mir. Ja, ich will ihn. So sehr. Aber...
 

„Ich würde jetzt viel lieber dich vernaschen. Stehst du auch auf der Speisekarte?“, flüstert er mir ins Ohr und knabbert dann sanft daran. Erneut ist dort diese leichte Hitze, die aus jeder Ecke meines Körpers in meine Lenden fließt. Diese Reaktion scheint für ihn Antwort genug zu sein, denn er beginnt sich erneut nach unten zu küssen.
 

Jede noch so kleine Berührung elektrisiert mich, doch ich weiß, dass es schief gehen wird, wodurch ich ihn auf Höhe meines Bauchnabels schließlich abfange. „Warte, Luzifer. Warte bitte. Ich... ich...“
 

Erneut fehlen mir die Worte und Luzifer sieht mich leicht genervt an, wodurch ich all meinen Mut zusammen nehme, um ihn eine für ihn hoffentlich brauchbare Antwort zu liefern. „Ich will dich... so sehr. Aber... ich kann das nicht, okay? Bitte, lass uns einfach frühstücken gehen.“
 

Frustration macht sich in seinem Gesicht breit und erneut ist dort dieses Knurren, bevor er sich beleidigt erhebt. Er fährt träge durch seine Haare als er seinen Körper durchstreckt und dann verschwindet er auch schon. Erneut alles falsch gemacht. Verdammt!
 

Ich spüre, wie die Hitze langsam aus meinem Körper entweicht, doch ich kann mich immer noch nicht bewegen. Schließlich weiß ich nicht, was ich tun soll oder wie ich uns beide glücklich machen kann. Es muss doch irgendwie gehen. Endlich steht nichts mehr zwischen uns. Jetzt sollte es doch...
 

„Argh!“ Ich raufe mir die Haare und dann ist dort wieder Luzifers sanfte Stimme: „Hör auf alles zu zerdenken. Lust auf Frühstück? Demon muss dann auch langsam raus. Wir können also gerne deinen Plan in die Tat umsetzen.“
 

Er steht im Türrahmen und wartet auf eine Antwort von mir, während ich ihn nur entgeistert anstarre. Dann wird mir bewusst, dass ich nur ein Kleidungsstück trage und er somit meinen geschunden Körper sieht. Irgendein Schalter kippt bei dieser Erkenntnis um und ich wickel mich schon fast panisch in die Decke.
 

„Echt jetzt?“ Luzifer wirkt genervt, als er wider erwartend auf mich zukommt und neben mir auf dem Bett Platz nicht. Ruhig greift er nach der Decke und schiebt sie Stück für Stück runter. Dabei küsst er jeden einzelnen blauen Fleck auf meiner Haut. Jedes Mark, das mein Vater gewaltsam in meine Haut eingearbeitet hat. Es fühlt sich so an, als würde er kein einziges auslassen. Ich selbst kann nur hier sitzen und es geschehen lassen, denn auch wenn es hin und wieder ein wenig schmerzhaft ist. So erfüllt es mich mit einer Liebe, die mich nur hart schlucken lässt.
 

„Ich kenne sie. Jedes einzelne kenne ich. Ich habe sie gestern Nacht gezählt, als du geschlafen hast. Habe deinen Vater für jedes einzelne verflucht und mir geschworen, dass ich es niemals wieder zulassen werde, dass man dir so weh tun wird. Nie wieder.“ Er sagt dies zwischen den einzelnen Küssen und ich weiß nicht, was ich dazu sagen kann. Alles wirkt nur abgedroschen oder falsch.
 

„Ich bin bald frei.“ Mehr fällt mir nicht ein. Wie ein Ertrinkender klammere ich mich an diesen Satz. Daran, dass ich bald volljährig bin und dadurch endlich verschwinden kann. Aus dem Haus, das mich schon seit Jahren systematisch versucht zu zerstören.
 

„Bald ist nicht früh genug.“ Ich weiß nicht, was Luzifer damit meint, doch ich sehe ihn nur irritiert an. Unfähig irgendeine Frage zu stellen. Was soll ich auch sagen? Ich weiß nicht einmal, was ich denken soll.
 

„Ich schaff das schon.“ Auch wieder ein Satz, der mir Hoffnung und Kraft geben soll, doch schon lange zu einer Floskel geworden ist. Ich kann das Grinsen von Luzifer auf meiner Haut spüren. Kaum ist er fertig, kommt er wieder zu mir hoch. Ich sehe in seine Augen und er streicht mir über die Wange, bevor er mich erneut sanft küsst.
 

„Du bist nicht alleine.“ Ich bin diese Sanftheit von ihm nicht gewohnt und langsam beginnt sie mir Angst zu machen. Desto länger ich ihn ansehe und versuche zu verstehen, umso dichter scheint der Nebel um ihn herum zu werden. Warum kann ich ihn nicht durchschauen?
 

„Aber jetzt lass uns etwas essen gehen und an die frische Luft. Ich krieg langsam Hunger.“ Er lacht auf und zieht mich mit sich in die Höhe. Es scheint ihm egal zu sein, dass ich noch nicht angezogen bin, denn er schleift mich so wie ich bin mit sich mit. Ich kann sein leises Lachen hören und muss grinsen. Dieser Tag scheint schön zu werden und auch jetzt bereue ich es nicht. Meine Flucht nicht. Die Zärtlichkeiten, die wir austauschen. Auch die lieben Worte nicht, die wir uns ins Ohr flüstern. Nichts davon. Denn als ich neben Luzifer am Tisch Platz nehme und in seine grauen Augen sehe, weiß ich, dass es all das Leid wert sein wird. All die Pein, die mich Zuhause erwarten wird.
 

Sie wird es nicht schaffen. Er wird es nicht schaffen. Denn ich werde nicht mehr von Luzifers Seite weichen. Nie wieder...

Die Zeit vergeht wie im Flug. Wir haben Spaß. Sind viel draußen im Park gewesen oder haben bei ihm einen Film gesehen. Wir haben es einfach genossen wieder zusammen zu sein. Den anderen in unserem Leben zu haben und somit wieder komplett zu sein.
 

Ich weiß, dass sich das alles so komplett bescheuert anhört. Wie die Worte eines Teenagers – der ich ja doch noch irgendwie bin – aber definitiv eher von einer Frau als von einem Mann, doch es ist so. So hat es sich angefühlt. In den drei Jahren ist es mir nicht aufgefallen, doch jetzt ist es mir umso bewusster.
 

Wir schweigen, als wir uns auf den Weg zum Bahnhof machen. Mein Rucksack scheint unendlich schwer zu sein, doch ich weiß, dass ich jetzt zurück muss. Dort wartet mein Leben auf mich und auch wenn es vielleicht nicht schön ist. So bin ich an es gebunden. Ruhig drehe ich mich zu Luzifer und lächle ihn sanft an.
 

Ich sehe, wie er auf seiner Unterlippe herum beißt und meinem Blick ausweicht. Auch er will diesen Weg nicht gehen. Schließlich haben wir das die letzten zwei Stunden ausführlich diskutiert.
 

„Bleib einfach hier! Bis du volljährig bist können wir dich schon vor der Polizei verstecken!“

„Ach, komm. Das ist doch Schwachsinn. Ich muss zurück. Was ist mit der Schule? Mit meinen Freunden? Es dauert ja nicht mehr lange.“

„Zu lange! Dein Alter wird dich doch wieder vermöbeln, kaum dass du durch die Tür gehst! Warum wehrst du dich nicht?“
 

„Hab ich. Hat es nur schlimmer gemacht. Es ist gut, okay? Bald ist es vorbei.“

„Du klingst wie ein Süchtiger! Morgen hör ich damit auf! Das ist aber jetzt wirklich das letzte Mal! Du glaubst die Worte doch selbst nicht mehr!“

„Doch, ich muss sie glauben. Nur so kann ich es ertragen ohne durchzudrehen.“

„Dann lass mich mitkommen!“

„Nein. Das ist Schwachsinn. Es würde die Situation nur schlimmer machen.“

„Wieso? Ich würde verhindern -“
 

„Nein, würdest du nicht! So kann ich behaupten, dass es irgendein Freund war, aber wenn er dich sieht, dann wird er eins und eins zusammen zählen. Und glaub mir, dann willst du nicht mehr dort sein.“

„Ich habe keine Angst vor deinem Alten.“

„Hah. Noch nicht.“

„Er ist nicht so mächtig, wie du ihn gerne darstellst. Du gibst ihm diese Macht. Hättest du keine Angst mehr vor ihm, dann würde er das nicht mehr mit dir machen können. Darum, lass mich mitkommen.“
 

„Nochmal: Nein. Es ist besser so.“

„Das sagst du immer. Es ist aber nicht so. Du belügst dich. Immer.“

„Vielleicht. Aber es ist egal. Es hält mich über Wasser und das ist das Einzige, was zählt.“

„Nein, ist es nicht.“

„Doch.“

„Nathy, du bist nicht auf dieser Welt, um zu überleben, sondern um zu leben. Und das ist ein gewaltiger Unterschied. Glaub mir.“
 

„Ich kann ja bald leben.“

„Wie oft sagst du dir das?“

„Weiß nicht. Zähl nicht mit.“

„Doch tust du. Unbewusst tust du das und es ist zu oft.“

„Du kannst trotzdem nicht mit. Er wird mich nicht brechen.“

„Stimmt, wird er nicht. Er hat es nämlich schon.“
 

Seit diesem letzten Satz liegt ein bedrücktes Schweigen zwischen uns. Aber die Nähe bleibt. Immer wieder berühren wir uns sanft. Tauschen Küsse aus, doch wir wissen beide nicht mehr was wir sagen sollen. Diese Wahrheit traf mich wie ein Schwall eiskaltes Wasser mitten ins Gesicht. Er stieß eine Tür auf, die ich nun mit aller Kraft versuche wieder zu schließen.
 

Nein, ich will darüber nicht nachdenken. Ich will dieser Tatsache nicht ins Gesicht sehen. Es ist nicht möglich. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Sie soll wieder zugehen. Bald... bald würde ich doch frei sein.
 

Sanft schließen sich seine Finger um meine Hand, als wir den Bahnhof betreten. Unsere Blicke treffen sich und wir gehen ruhig zum Gleis. Ich kann meinen Zug schon sehen und spüre, wie mein Herz schwerer wird. Noch einmal sehen wir uns an.
 

Ich will nicht gehen. Wie gerne würde ich einfach hier bleiben. Hier bei ihm, doch es ist nicht so einfach. Zwar sind es nur noch sechs Wochen, doch... da kann so viel passieren. So viel oder eben auch nichts. Außerdem will ich keinen Ärger mehr. Ich will es nur noch irgendwie hinter mich bringen und dann frei sein.
 

Plötzlich berührt er mich sanft an der Wange. Er legt seine Stirn auf meine und wir bleiben so stehen. Die Zeit scheint still zu stehen und für mich gibt es nur ihn. In diesem Moment ist mir alles andere egal. Ich lausche seinem Atem, spüre seine Nähe und nehme seinen Duft in mir auf. Wir werden uns wiedersehen.
 

Schüchtern legen sich unsere Lippen aufeinander. Berühren sich flüchtig, bevor sie sich zu einem wilden Kuss noch einmal treffen. Seine Hand ziehen mich näher zu sich und ich komme ihn ohne zu zögern entgegen. Ich will ihn schmecken. Ihn bei mir wissen. So viel von ihm mitnehmen, wie es in diesem Moment möglich ist.
 

„Ich... ich muss jetzt los.“ Mein Atem geht stoßweise und immer wieder küsst mich Luzifer unter den Worten. Macht mir das Reden so noch schwerer, bevor er den Kopf schüttelt. „Nein, bleib einfach hier. Dort will dich doch eh keiner.“
 

„Ja, vielleicht. Aber es ist dennoch meine Familie, die sich um mich sorgt. Außerdem habe ich versprochen heute zurück zu kommen und ich halte mein Wort.“ Ich streiche ihm sanft über die Wange und muss noch einmal lächeln. Versuche die Traurigkeit hinunter zu schlucken, doch der Abschiedsschmerz blieb, als ich weiter in diese wunderschönen grauen Augen sah.
 

„Ja, das tust du. Danke“, flüstert er und ich spüre, wie unter diesen Worten mein Herz wärmer wird. Ja, ich hab es ihm versprochen und wir haben beide unser Wort irgendwie gehalten. Weil dieses unsichtbare Band es von uns verlangt hat.
 

„Ich... ich muss jetzt wirklich los.“ Ich nippe an seinen Lippen und spüre, wie der Drang zu bleiben immer stärker wird, doch mein Zug wird bald los fahren. Wenn ich da nicht einsteige, dann werde ich nicht rechtzeitig zurückkommen.
 

„Ich weiß.“ Erneut liegt seine Stirn auf meiner und ich lass es geschehen. Genieße diesen letzten Moment, bevor er sich mit einem Nippen von mir trennt. Solch ein Verhalten habe ich niemals von ihm erwartet, doch es berührt mich innerlich und versorgt Wunden, die seit Jahren leise vor sich hin bluten. Er ist endlich bei mir.
 

Unsere Finger trennen sich erst im letzten Moment voneinander, bevor ich mich von ihm abwende und in den Zug steige. Alles in mir schreit hier zu bleiben, doch ich kann nicht. Meine Pflicht treibt mich weiter und verlangt von mir, dass ich mich auf einen Platz niederlasse. Als ich aus dem Fenster sehe, ist Luzifer verschwunden und mein Herz wird schwerer.
 

Hier gehöre ich hin. Das weiß ich und dennoch muss ich gehen, denn mein Leben verlangt nach mir. Das letzte Stück meines Leidensweges steht vor mir und ich habe mir geschworen, dass ich ihn zu Ende gehen werde. Ich werde es überleben und dann... Dann werde ich endlich frei sein...

„Ich bin wieder da.“ Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und ich schlüpfe aus meinen Schuhen. Stelle sie zu den anderen und doch nicht dazu, bevor ich weiter hinein gehe. Ich höre die Schritte meines Vaters und schon kommt er aus dem Wohnzimmer gestürmt. Sein Gesicht war nur noch eine Fratze aus Wut und Zorn, doch dieses Mal fange ich seinen Schlag ab.
 

„Wie kannst du es wagen?! Einfach so zu verschwinden?! Und dann besitzt du jetzt auch noch die Dreistigkeit deine Strafe abzuwehren?!“ Ich erkenne direkt, wie sehr ihn diese Situation überfordert, während ich ihn weiter ruhig ansehe.
 

„Ich bin so gut wie volljährig. Ich brauche deine Erlaubnis nicht mehr und ich bin zum versprochenen Zeitpunkt zurückgekommen.“ Ich bleibe ruhig und genieße seine Faust in meiner Hand. Endlich kann ich ihn stoppen. Ich will nicht mehr vor ihm kriechen und um Gnade winseln. Luzifer hat mir dafür die nötige Kraft dafür gegeben.
 

„Du warst bei ihm, oder?“ Seine Stimme wird bedrohlich dunkel, doch ich antworte nicht, sondern sehe ihn ruhig an. „Ich war bei einem Freund. Mehr hat dich nicht zu interessieren.“ Ein dunkles Knurren verlässt seine Lippen und ich gebe seine Hand frei, um an ihm vorbei zu gehen.
 

Ich darf ihm keine Macht geben. Luzifer hat Recht. Solange ich ihn nicht gewinnen lasse, kann er mir nichts tun. Doch plötzlich spannt er sich neben mir an. Ich wirbel herum und versuche den Angriff abzuwehren, aber sein Knie bohrt sich hart in meine Magengrube und ich sacke nach vorne zusammen.
 

„Du bist immer noch mein Sohn und ich dulde nicht, dass du etwas mit einem Kerl anfängst. Du magst vielleicht bald volljährig sein, doch aktuell bist du es noch nicht und somit bestimme immer noch ich über dein Leben. Hast du das verstanden?“ Ich rühr mich nicht. Will ihm keinen Sieg schenken. Nur diese Schmerzen endlich wieder loswerden. Warum tut er das?
 

Qualvoll richte ich mich langsam wieder auf und begegne seinem Blick, so gut es für mich möglich ist. „Nein. Es ist mein Leben und du musst endlich über deine Schmach hinweg kommen. Ich bin nicht der junge Mann, der dir deinen Posten weggeschnappt hat. Auch bin ich nicht du. Ich werde bestimmt nicht dein Wunschleben für dich führen. Es ist jetzt genug! Wenn du also verhindern willst, dass unsere Familie gänzlich zerbricht, sobald ich volljährig bin, dann solltest du dein Verhalten allmählich überdenken. Denn solltest du mich weiter so behandeln, werde ich an meinem Geburtstag durch diese Tür gehen und mich nie wieder umdrehen.“
 

Sein Körper zittert unter der Wut, die in ihm kocht. Dieser Anblick gefällt mir und zaubert sogar ein leichtes, siegessicheres Grinsen auf meine Lippen. Ich habe endlich die Zügel in der Hand und auch wenn sich immer noch ein beißender Schmerz durch meinen Oberkörper arbeitet, fühle ich mich endlich mal wieder als der Sieger.
 

Es ist sogar ein noch stärkeres Hochgefühl als zu diesem Moment, in dem ich zurückschlug. Etwas, dass mir jetzt immer größere Flügel verleiht. Mich hinauf trägt und mich hinfort bringt von diesen Ort. Die Unsicherheit, die mit der kommenden Freiheit, verbunden war, ist verschwunden. Ich weiß, wohin ich will und wo ich auch willkommen sein werde.
 

„Das wagst du nicht.“ Sein Körper spannt sich an. Er versucht sich größer zu machen, doch ich lasse ihn mich nicht überragen. Ich weiß, was ich will und vor allem was ich wert bin. Nie wieder will ich sein Fußabtreter sein. Kein einziges Mal soll er mir all das nehmen, was mir meine Freunde geben.
 

„Doch.“ Dieses eine Wort hängt schwer im Raum und seine Augen verdunkeln sich weiter, als er leise zu knurren beginnt. Ich sehe, wie sich sein Oberkörper anspannt und dennoch hoffe ich, dass es nicht passiert. Es ist vergebens.
 

Im nächsten Moment wirft er sich auf mich. Ich fange seine Schläge ab und versuche ihn auf Abstand zu halten. Es funktioniert nicht. Er packt nach meinem Kragen. Versucht mich herum zu reißen. Ich halte stand. Spüre einen Schlag ins Gesicht. Weiche nicht zurück. Packe ebenfalls zu. Erneut ein Knurren. Wehre sein Bein mit meinem Knie ab. Er darf nicht. Ich will nicht.
 

Mit all meiner Kraft stoße ich ihn von mir. Höre wie der Stoff meines Oberteils reißt. Es ist mir egal. Sehe ihn nur an und balle meine Hände zu Fäusten. „Es ist vorbei, Vater! Du hast nicht das Recht dazu! Du hattest es nie! Also hör bitte auf damit oder ich muss doch die Polizei einschalten.“
 

„Das wagst du nicht! So habe ich dich nicht erzogen!“ Er will erneut auf mich losgehen, doch ich hebe in diesem Moment nur die Hand. Sofort kommt er ins Stocken und sieht mich verwirrt an. Warum hört er nicht auf? Wieso will er mich dazu zwingen? Wie gerne würde ich eine richtige Schlägerei mit ihm beginnen. Ihn alles heimzahlen, doch... es würde nichts besser machen. Für niemanden.
 

„Du hast mich nie erzogen, sondern nur systematisch zerstört.“ Wie kann ich so ruhig bleiben? Ich versteh es nicht. Zwar rauscht das Adrenalin durch meinen Körper, doch meine Stimme wirkt entspannt und schon was friedlich. Ich sehe ihn an. Versuche zu verstehen, warum er nicht aufhören kann. Doch es gelingt mir nicht.
 

„Ich bin dein Vater! Du musst mir gehorchen!“ Die Kontrolle entgleitet ihn immer mehr und mit dieser Erkenntnis nimmt die Ruhe in mir zu. Ich wage es sogar tief ein und auszuatmen, bevor ich ihn direkt und innig ansehe. Mein Blick fesselt ihn und die nächsten Worte kommen aus tiefster Seele und ich spüre, dass es schon fast schmerzt sie auszusprechen, doch sie wollen raus. Sie müssen raus und so lasse ich sie die Luft zerreißen. „Ja, du bist mein Vater und deine Pflicht ist es deine Familie – zu der auch ich zähle – zu beschützen. Mit deinem Leben solltest du jegliches Leid von uns fernhalten. Doch du... du hast auf ganzer Linie versagt.“
 

Ich hoffte, dass ihn diese Worte endlich wach rütteln, doch es geschieht nicht. Sein Körper spannt sich erneut an und mit einem lauten Knurren stürzt er sich auf mich. Erneut packt er mich, doch ich halte ihn fern von mir. Ich will ihn nicht mehr so nahe haben. Mit all meiner Kraft versuche ich ihn von mir zu drücken.
 

Geh weg! Verpiss dich! Ich lasse dich nicht mehr an mich ran! Nie wieder! Du sollst verschwinden! Verschwinde endlich!
 

Mit einem Keuchen taumelt er zurück. Er hält sich seine Brust und erst jetzt fällt mir meine erhobene Hand auf. Erneut funkelt er mich an und ich richte mir meine Kleidung. „Ich will dir nicht weh tun, Vater. Lass es einfach gut sein, okay? Akzeptiere, dass du mich nicht mehr kontrollieren kannst und sei stolz darauf. Ich lasse mich nicht mehr herum schubsen und werde dadurch vielleicht ein besseres Leben haben als du.“
 

„Ich soll stolz darauf sein, dass du deine Hand gegen deinen Vater erhebst?! Wie respektlos bist du geworden, Junge?!“ Er richtet sich unter Schmerzen auf und hat nichts von seiner Aggressivität verloren. Wieso lässt er es nicht gut sein? Er kann nicht gewinnen. Nicht so.
 

„Und wie erbärmlich bist du schon all die Jahre, dass du deine Hand gegen deinen eigenen Sohn erhebst?“ Meine Stimme ist ruhig und erneut entsteht ein Hochgefühl in meinem Körper, dass mich meinen Rücken weiter durchstrecken lässt. Es ist endlich vorbei. Ich will mich nicht mehr ducken und kriechen. Denn ich bin es wert mit Respekt behandelt und vor allem um geliebt zu werden.
 

Erneut kommt nur ein Knurren. Keine Einsicht. Nichts, was mir zeigt, dass ich Erfolg habe. Dass diese Familie noch eine Zukunft hat. Ich werde also wirklich gehen ohne mich noch einmal umzudrehen. Aber ich habe es versucht. Daher brauche ich mir keine Schuldgefühle machen. Manche Menschen erreicht man halt nie.
 

Ich wende mich um und will in mein Zimmer gehen, als mich die Stimme meines Vaters erneut stoppt: „Ich will, dass du verschwindest. Du bist für mich gestorben, Nathaniel. Wenn ich morgen von der Arbeit zurückkomme, bist du verschwunden. Haben wir uns verstanden? Ich will dich hier nie wieder sehen. Das sollte dir eh entgegen kommen. Schließlich wolltest du doch eh abhauen. Also, genieße deine Freiheit, die du dir so sehr ersehnt hast. Dieses Zuhause existiert nicht mehr für dich. Verstanden?“
 

Er geht an mir vorbei ins Wohnzimmer und ich weiß nicht, was ich denken soll. Mir ist bewusst, dass ich mich freuen sollte, doch ich kann nicht. Plötzlich ist die Freiheit, die ich mir schon so lange wünsche, da. Doch es ist anders. Er wirft mich raus. Jetzt wenn ich kein Prügelknabe mehr für ihn bin, setzt er mich vor die Tür. War ich nie etwas anderes für ihn? Nur dazu gut?
 

Das Hochgefühl wird von Zweifel verschlungen und ich spüre, wie das Zittern zurückkommt. Wo soll ich hin? Zu Luzifer? Er hat es ja gesagt, aber... ist das auch wahr? Nicht nur dummes Gerede? Und die Schule? Wie soll es jetzt weitergehen?
 

Ich schlucke trocken und gehe nach oben. Ohne wirklich zu wissen, was ich tue, beginne ich zu packen. Ein paar Kleidungsstücke und sonstige Sachen, die man dabei haben sollte. Aber schon nach wenigen Minuten bin ich mir nicht mehr sicher. Was brauche ich? Kann ich wirklich zu Luzifer? Seine Wohnung ist doch sehr klein und selbst wenn. Was mache ich mit der Schule?
 

Plötzlich vibriert mein Handy und als ich es aus der Tasche nehme, erkenne ich Luzifer darauf. Kurz durchatmen und dann hebe ich ab. „Hi.“ „Hi, Nathy. Wie geht es dir? Alles klar bei dir? Ist dein Alter arg durch getickt?“
 

„Es geht mir gut. Glaube ich.“

„Du glaubst. Na, das hört sich ja prima an.“

„Nein, nein. Nicht so wie du denkst. Es ist -“

„Lass mich raten: Kompliziert?“
 

Ich muss auflachen und den Kopf schütteln, bevor ich weiterspreche. „Ja und nein. Es ist anders als erwartet. Ich habe mich gegen meinen Vater gewehrt. Er fand das nicht so witzig und hat mich jetzt rausgeschmissen.“
 

„Im Ernst jetzt? Der Kerl hat echt nicht mehr alle Latten am Zaun. Und was nun?“

„Na ja, an sich wollte ich ja eh hier raus. Es fühlt sich zwar ein wenig komisch, aber an sich ist es das, was ich wollte. Nur hat es einen komischen Nachgeschmack.“
 

„Das war nicht meine Frage. Was wirst du jetzt tun? Wo willst du hin? Wie sieht dein Plan aus?“

„An sich habe ich keinen Plan. Ich packe jetzt ein paar Sachen und na ja... dann weiß ich auch nicht.“ Ich wollte ihn nicht so offen um einen Platz zum Schlafen bitten. Schließlich bin ich doch erst von ihm weg und außerdem habe ich sein Schlafplatzangebot ausgeschlagen. Wer weiß, wie er deswegen darauf reagieren wird.
 

„Hast du Freunde in deiner Nähe bei denen du erst einmal unterkommen kannst?“ Bei dieser Frage taucht Melody vor meinem geistigen Auge auf. Ich betitel sie zwar nicht direkt als Freund, doch irgendwie weiß ich, dass ich auf sie zählen kann. Aber irgendwie kommt es mir doch arg unhöflich vor jetzt plötzlich bei ihr aufzutauchen.
 

„Ähm, ja, schon, aber...“

„Lass mich raten: Es ist kompliziert.“

„Nein, äh doch. Ach... vergiss es.“
 

„Nicht so einfach. Was ist daran nun wieder kompliziert? Langsam glaube ich, dass dies für dich eine Verkürzung des Satzes 'Ich will es nicht erklären' ist. Weil du es mir nie erklärt hast und ich gar nicht weiß, ob alles wirklich so kompliziert ist, wie du immer behauptest.“
 

„Wir kennen uns schon sehr lange und haben auch oft für die Schule zusammen gearbeitet, aber da wir uns nie wirklich privat getroffen haben, sehe ich sie an sich nicht wirklich als Freundin an. Zwar hilft sie mir immer, wenn es in ihrer Macht steht und stellt einiges für mich hinten an, aber es geht nie über die Schule hinaus. Irgendwie will ich das auch nicht.“
 

„Tja, weil die Kleine auf dich steht. Deswegen wahrscheinlich. Aber für eine Nacht geht es bestimmt in Ordnung und morgen kannst du gerne wieder zu mir kommen. Außer du willst dich in den Nachtzug schmeißen.“
 

„Ähm... nein. Mir hat die Fahrt für heute gereicht. Es ist leider nicht so angenehm. Aber du hast Recht. Ich werde sie mal fragen, ob ich die Nacht bei ihr unterkommen kann. Wenn ich dann mehr weiß, schreib ich es dir, okay?“
 

„Ist okay. Man hört oder liest sich.“

„Ja, tut man.“
 

„Ach ja, Nathy. Ich bin stolz auf dich.“ Dieser Satz zaubert ein Lächeln auf meine Lippen und lässt das Hochgefühl zu mir zurückkommen. Endlich fühlt es sich wieder gut an und irgendwie bringe ich nur ein leise, gehauchtes „Danke“ über meine Lippen, bevor er dann schon auflegt und ich wieder mit meinen Gedanken alleine bin.
 

Sofort wähle ich die Nummer von Melody und nach ein paar Freizeichen nimmt sie auch schon den Hörer ab: „Ja? Melody hier.“ „Hallo, Melody. Ich bin es, Nathaniel.“ Sofort hellt sich ihre Stimmung auf und wird schon fast euphorisch. „Oh, hallo, Nathan. Was gibt es? Du rufst sonst nie so spät noch an. Hast du etwa Probleme bei den Hausaufgaben?“
 

Ja, es geht fast immer nur um Schule bei uns, aber irgendwie verletzt es mich ein wenig, dass sie der Meinung ist, dass ich wirklich Hilfe nötig haben könnte, doch ich schlucke den Zorn kurz herunter, bevor ich das Gespräch in die richtige Richtung lenke: „Nein, da passt alles. Aber ich bin gerade auf der Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht und na ja...“
 

„Was? Wieso? Ist etwas passiert? Hast du Streit mit deinem Vater? Kommen daher immer die Verletzungen?!“ Melody dreht komplett durch und durch die Panik überschlägt sich ihre Stimme immer wieder. Es war ein Fehler sie anzurufen.
 

„Nein... Nein... alles gut. Vergiss es einfach, okay?“ Mein Vater sagte, dass ich erst morgen Abend weg sein muss. Ich kann die Nacht also noch hier bleiben. Warum bin ich nicht früher drauf gekommen? Weil ich wahrscheinlich nur weg wollte.
 

„Ähm... okay. Aber der Schlafplatz?“ Sie wirkt verwirrt und ich merke, wie wieder das falsche Lächeln auf meine Lippen kommt. „Passt schon. Alles gut. Ich... ich habe da wohl etwas falsch verstanden. Das hat mir Amber gerade durch ein Stück Papier mitgeteilt. Mach dir also keine Sorgen. Wir sehen uns morgen in der Schule, okay?“
 

„Ähm... okay. Bis morgen dann.“ Sie glaubt es mir nicht, aber es ist mir auch egal. Nach einer kurzen Abschiedsfloskel lege ich auf und sperre mein Zimmer mit der Kette ab, bevor ich dann ruhig weiter packe. Diese Nacht wird meine letzte hier sein und irgendwie wird mir bei diesem Gedanken mein Herz kurz ein wenig schwer. Aber nur für einen Wimpernschlag, als schon die Freiheit wieder nach mir greift und der Fakt, dass ich Luzifer morgen wieder sehen werde.
 

Ja, morgen sehen wir uns wieder und dann hoffentlich endlich für immer...

Vergangenheit:
 

„Ich werde nicht gehen und du kannst mich nicht vertreiben!“

„Das werden wir sehen.“
 

Zwei Sätze, die ein Versprechen inne hatten, das so viel beinhaltete, dessen Tragweite ich nie wirklich begriff. Doch von da an, war alles seltsam. Immer wieder kamen die anderen auf mich zu. Waren gekränkt und konnte nicht glauben, was ich angeblich gesagt hätte.
 

„Wenn du die Sache als Witz abstempelst, dann solltest du die Band verlassen.“ Azrael war ruhig, doch seine Aussage war eindeutig.
 

„Wieso behauptest du, dass du mich mit jemand anderen gesehen hättest? Ist dir nicht bewusst, was du Azrael und mir damit antust?!“ Athena war wütend und verletzt zugleich. Ich konnte direkt hören, wie ihr Vertrauen in mich zerbrach.
 

„Warum sagst du so etwas? Das stimmt doch gar nicht! Mein Zuhause ist keine Müllhalde!“ Tayaka war entsetzt, als er mir davon erzählte, dass Xenia behauptet hätte, ich hätte ihr das erzählt. Überall war es Xenia. Alles hatte sie gesagt, dass sie von mir gehört hätte. Alles und doch nichts. Denn ich habe davon nie ein Wort verloren.
 

Doch immer wenn ich Xenia zur Rede stellte, verschwand sie mit einem amüsierten Lachen. Ich konnte sie nicht greifen und auch Luzifer vermied es mit mir alleine zu sein. Die anderen drei waren nur verletzt. Sie glaubten ihr mehr als mir und dies schmerzte ungemein.
 

„Luzifer! Warte bitte!“ Alle anderen hatten sich schon verabschiedet und er wollte gerade auch gehen, doch dieses Mal konnte ich ihn stoppen. Er schien zu warten. Auf den Grund, warum er warten sollte und ich selbst wusste nicht mehr, wie ich es ihm sagen sollte.
 

„Bitte, sag Xenia, dass all das zwischen uns nichts zu bedeuten hat. Sie versucht mich systematisch schlecht zu machen. Ich will das Spiel nicht verlassen müssen. Schließlich macht es doch so viel Spaß“, flehte ich ihn an und wartete auf eine Reaktion. Die Sekunden und Minuten verstrichen. Ich hatte Angst, dass er ohne ein Wort verschwinden würde, doch dann hörte ich doch seit lange Zeit wieder seine Stimme.
 

„Das kann ich nicht. Sie hat von mir eine Entscheidung verlangt. Entweder sie oder du und... es tut mir Leid. Aber... ich habe mich für sie entschieden.“ Mit diesen Worten verschwand er erneut und ich starrte fassungslos auf den Bildschirm. Mein Avatar wippte debil grinsend auf der Stelle herum, während ich nur spürte, wie sich Wut in mir ausbreitete.
 

War das wirklich sein Ernst?! Er stellte sich hinter dieses Miststück, das mich schamlos vertrieb!? Wie konnte er nur?! Warum?! Was?! Wie?! ARGH!
 

Ich fegte mit einem Schrei meine Hefte vom Tisch und starrte schwer atmend auf das Chaos zu meinen Füßen. Das Alles war doch nur ein schlechter Witz! Mehr konnte es nicht sein! Das war doch wirklich nicht sein Ernst! Wie stellte er sich das jetzt vor?! Sollte ich wirklich gehen? Einfach so...
 

Mein Blick wanderte noch einmal zu meinem Avatar. Er grinste und irgendwie lockte dies auch ein Lächeln auf meine Lippen. Ich... ich wollte das Alles nicht aufgeben. Nicht einfach so hinter mir lassen. Doch dann kamen mir ihre Sätze wieder in den Sinn.
 

„Warum bist du nicht erschienen?! Der Gig war vor einer Stunde!“

„Es ist echt nicht fair, dass du mich bei allen als hässlich betitelst. Warum tust du das?“

„Wieso behauptest du, dass wir ein Verhältnis hätten?! Azrael dreht komplett am Rad!“

„Wenn du es nicht mehr ernst nimmst, dann geh! Wir wollen alle weiterkommen und du behinderst uns nur.“

„Ich habe dir gesagt, dass ich schon dafür sorge, dass du freiwillig gehst. Niemand vertraut dir mehr. Keiner steht hinter dir. Nicht einmal Luzifer. Du solltest endlich gänzlich verschwinden.“

„...“

„Ich weiß gar nicht mehr, was ich dir glauben soll! Und dir habe ich einen Unterschlupf angeboten!“

„Du bringst nur noch Unruhe hier rein. Wärst du kein Schlagzeuger, dann hätte ich dich schon längst rausgeschmissen.“

„Du wirst immer schlechter. Vielleicht solltest du dich mehr aufs Spielen konzentrieren anstatt aufs Verbreiten von Lügen.“

„Geh... geh lieber, bevor es nur noch schlimmer wird. Es ist sowieso unausweichlich. Sieh es ein, Gabriel. Ich habe gewonnen.“

„...“
 

Ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte. Es war richtig. All das hatte keinen Sinn mehr. Sie mochten mich eh nicht mehr. Auch Luzifer stand nicht mehr hinter mir. Ich war alleine. Alleine auf weiter Flur und vor mir standen nur ihre wütenden Gesichter. Ich sollte gehen, bevor sie mich wirklich alle nur noch hassten.
 

Mit schweren Herzen ging ich in das Einstellungsmenü meines Avatars und sah noch einmal auf unseren Bandnamen „Sacrifice“. Ich wollte austreten. Ihn löschen, doch irgendetwas sperrte sich in mir. Es war die einzige Verbindung zu den Menschen, die mir wirklich etwas bedeuteten. Vielleicht könnte ich nach ein paar Tagen wieder zurückkommen. Dann hätte sich möglicherweise alles beruhigt.
 

Ja, ich sollte einfach mal ein wenig Pause machen. Abstand gewinnen und dann sah die Welt bestimmt schon besser aus. Viel besser. Da war ich mir sicher. Ein Grinsen legte sich auf meine Lippen und ich loggte mich aus. In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich nach kurzer Zeit zurückgehen würde, doch was ich damals noch nicht wusste, war der Fakt, wie stark die Angst in den nächsten Tagen noch wachsen würde. Wachsen und ein Zurückkehren unmöglich machte...

Die Tage vergingen wie im Flug. Ich konzentrierte mich wieder mehr auf die Schule. Ließ den Laptop ausgeschaltet und sah so gut wie nie zu ihm. Er verschwand immer mehr unter all den Dingen, die ich immer mal wieder auf meinen Schreibtisch ablegte.
 

Heute war wieder ein Tag an dem ich zurückgehen wollte, doch ich saß nur vor dem Laptop und starrte auf den schwarzen Bildschirm. Ich musste ihn starten, doch mein Finger lag nur auf der Taste ohne sie zu drücken. Es waren nun schon mehrere Wochen, dass ich nicht dort war und ich spürte, wie mein Herz noch schwerer wurde.
 

Erneut vibrierte mein Handy neben mir. Eine Nachricht von Luzifer. Ich wusste, dass sie von ihm war und ich hatte auch eine Ahnung, was in ihr stehen würde. Sie kamen in letzter Zeit fast täglich. Wollten immer das Gleiche wissen: Wann ich zurückkam. Doch ich hatte keine Antwort und so öffnete ich sie auch dieses Mal nicht. Ich konnte nicht, auch wenn ich es so sehr wollte.
 

All das war so unbedeutend, aber alles verschlingend. Vielleicht hatten sie sich wirklich beruhigt oder es hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Und genau dieser letzte Gedanke machte es für mich unmöglich meinen Rechner zu starten und darauf zu warten, dass ich zurück in die Welt, die ich einst so sehr liebte, kehrte. Lächerlich und doch so nachvollziehbar.
 

Ich seufzte, als ich den Laptop wieder schloss und mir ein Schulbuch griff. Gedankenverloren blätterte ich darin herum. Las hier und da mal einen Satz, aber hatte ich ihn im nächsten Atemzug schon wieder vergessen. Das Alles diente nur einem Zweck: Die Zeit vergehen zu lassen, doch es wollte nicht gelingen.
 

Plötzlich klingelte mein Handy. Es war Luzifer und ich drückte ihn weg. Mit einem Räuspern wandte ich mich wieder an meine Lektüre, doch ich konnte nicht einmal einen Satz lesen, da klingelte es erneut. Wieder drückte ich ihn weg. Ich wollte nicht mit ihm reden. Mit niemanden. Das hatte doch alles keinen Sinn mehr. Dieses Kapitel war vorbei und ich wusste es.
 

Die Welt um uns herum hat die Fäden zusammen mit ihm gekappt. Er hatte sich für sie entschieden und somit jegliches Recht verloren mich überhaupt zu kontaktieren. Erneut ein Klingeln, das ich abschaltete. Noch einmal. Noch einmal. Noch einmal.
 

Luzifer gab nicht auf. Immer wieder versuchte er mich zu erreichen. Was wollte er? Wieso konnte er es nicht akzeptieren? All das hatte keinen Sinn mehr. Es sollte nicht sein. Nicht jetzt und auch nicht morgen. Bestimmt auch nicht in einer Woche. Aber irgendwann... irgendwann würde es vielleicht wieder möglich sein.
 

Erneut ertönte das Lied „Haunted Hearts“, das ich einzig und alleine Luzifer gab. Die Stimme von Dark Tenor erfüllte meinen Raum und ich musste die Augen schließen. Dabei sah ich sein Gesicht vor mir. Spürte seinen Kuss, doch ich riss mich wieder daraus los. All das war eine Träumerei, die mich nur zerstören würde. Es war vorbei. Er hatte sich anders entschieden und irgendwie musste ich bei diesem Gedanken traurig lächeln. Was wäre passiert, wenn ich ihn vor diese Wahl gestellt hätte? Nichts, weil ich kein Recht dazu hatte.
 

Kurzerhand griff ich nach dem Telefon und hob ab. Versuchte ruhig zu klingen, doch das „Ja“, das über meine Lippen kam, war belegt und blieb mir fast im Hals stecken. „Endlich gehst du ran. Was sollte der Mist?“ Er klang ungehalten, doch es war mir in diesem Moment egal.
 

„Du wolltest diesen Kontakt nicht mehr. Ich helfe dir nur dabei.“ Meine Stimme ist kühl und ich schäme mich nicht dafür. Es ist mir egal. Schließlich wollte er diese Nähe nicht. Nicht ich. Diese zwei Sätze sagte ich mir innerlich immer wieder vor, um mich an sie zu klammern und so auf meinem Standpunkt beharren zu können.
 

„Ach, komm. Na ja, egal. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass sich unsere Band am kommenden Wochenende bei Tayaka im Park trifft. Er scheint ziemlich mittig zu wohnen. Deswegen dieser Ort. Ich weiß, dass du schon lange nicht mehr im Spiel warst, aber vielleicht hast du ja doch Lust darauf. Die anderen würden sich bestimmt auch freuen und dann kannst du bestimmt das ein oder andere erklären.“ Ich wusste nicht, was das sollte, doch ich hatte auch keine große Lust mit ihm darüber zu diskutieren.
 

„Okay, danke. Man wird sehen.“ Ich wartete nicht einmal mehr auf eine Antwort von ihm, sondern legte gleich auf und sah dann auf mein Handy in der Hand. Sollte ich dorthin gehen? Aber was wenn? Wenn sie mich hassten, weil ich ohne ein Wort verschwunden war?
 

Ich seufzte und sah dann noch einmal in das Buch. Die Buchstaben ergaben plötzlich keinen Sinn mehr, wodurch ich es schließlich schloss und auf den Schreibtisch legte. Ich... ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. All das ergab keinen Sinn mehr. Wieso rief mich Luzifer an? Er wollte doch keinen Kontakt mehr zu mir und dennoch erzählte er mir von dem Treffen. Wusste er nicht, wie groß die Kluft zwischen uns nicht schon war? Und durch mein Verschwinden ist sie bestimmt nicht kleiner geworden. Das wurde mir mit jedem Atemzug bewusster. Ich konnte dort nicht hingehen.
 

Erneut schnürte mir die Verzweiflung die Brust zu. Ich wollte so sehr mit allen reden. Mit Tayaka und vielleicht war sogar Alexy dort. Aber... sie hassten mich bestimmt. Schließlich war ein Schlagzeuger nicht so leicht zu finden. Ich hatte sie bestimmt wieder nach hinten geschmissen. All die Bemühungen waren umsonst gewesen. Sie... ich war schuld daran, dass die Band nicht weiterkam.
 

Noch einmal wanderte mein Blick auf den Laptop. Ich griff nach dem Deckel, doch ich konnte ihn nicht anheben. Alles in mir sperrte sich. Dieser Weg war geschlossen. Ich hatte ihn eigenhändig zugemauert ohne es selbst wahrzunehmen. Nie wieder würde ich zurückkehren. Sie nicht mehr sehen. Nicht mehr mit ihnen lachen.
 

Die ganze Band trifft sich am Wochenende im Park von Tayaka.
 

Es war eine Chance, die mir Luzifer gab, doch auch wenn alles in mir schrie, dass ich sie wahrnehmen sollte. So war dort ein kleiner Teil, der sich direkt davor stellte und verhinderte, dass ich den Entschluss endgültig fasste: Woher sollte ich wissen, ob sie mich wirklich dort wollten?
 

Ich wollte ihren Hass nicht begegnen, aber ich sehnte mich danach wieder in Kontakt mit ihnen zu treten. Leicht hob ich den Deckel des Laptops an, doch nicht weiter als fingerbreit. Ich wusste, dass es an sich so einfach war, aber es war für mich gerade ein Ding der Unmöglichkeit. Was sollte ich tun,wenn sie mich wegjagten? Wenn sie einen neuen Schlagzeuger hatten? Was dann?
 

Bestimmt hatten sie schon einen Neuen. Anders könnte es ja nicht weitergehen und sie wollten, dass es fortschritt. Es war ein komisches Gefühl, während ich weiter auf diesen geschlossenen Laptop starrte. So einfach und doch so kompliziert.
 

Bei dem letzten Wort musste ich leicht lächeln. Ja, irgendwie war es kompliziert. Aber nur weil ich Angst vor Ablehnung hatte. Weil ich mir wünschte, dass man mich nur mochte. Keine Ausgrenzung und keine Schmach mehr. Ich wollte nur dazu gehören, doch in diesem Fall hatte ich mich selbst ins Aus katapultiert.
 

Niemals hätte ich Xenia gewinnen lassen sollen. Vehementer abstreiten sollen, was sie mir an den Kopf geworfen hatten. Aber ich war so überrumpelt von den Vorwürfen gewesen, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ich konnte nicht verstehen, wie sie ihr diese Worte glauben konnten.Warum sie nicht von selbst darauf kamen? Kannten sie mich wirklich so schlecht? Wollten sie mich nicht besser kennen? Sollten sie das nicht sogar?
 

Ich klappte den Laptop wieder zu und stand auf. Schmiss das Buch auf meinen Tisch und verließ mein Zimmer. Mein Handy lag auf meinem Bett. Ich wollte es nicht sehen und auch nicht länger hier sitzen und mir dem Fakt, dass es kein Zurück mehr gab, immer bewusster werden. Ich wollte raus. Nur raus und auf andere Gedanken kommen. Es war mir an sich egal, dass es bald finster werden würde und ich verabschiedete mich auch nicht von meinen Eltern.
 

Niemand sollte wissen, wohin ich ging. Keinem sollte bewusst werden, was ich vielleicht dabei bin zu tun. Dieser Moment sollte nur mir gehören. Sonst niemanden. Nur mir ganz alleine und so zog ich die Tür hinter mir ins Schloss, um mich auf meine Reise zu begeben. Ohne Ziel und ohne wirklichen Sinn. Nur mal rauskommen und etwas anderes sehen. Etwas anderes, als diesen geschlossenen Laptop, der die Schuldgefühle in meinem Herzen weiter wachsen lässt und mich somit langsam von innen heraus zerriss. Ich musste sie endlich vergessen. Fallen lassen und nicht mehr zurück sehen. Dieser Bereich war geschlossen. Für immer und alle Zeit. Ich würde sie nie wiedersehen. Nie wieder...

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Warmes schon fast heißes Wasser prasselte auf mich nieder, während ich regungslos unter der Dusche stand. Mein Kopf war an die Wand gelehnt und ich versuchte die Bilder zu sortieren. Diesen schalen Geschmack auf der Zunge los zu bekommen und die Erinnerung an dieses ekelhafte Gefühl, als das Sperma von Viktor über meine Haut lief.
 

Viktor hatte sich für die schöne Zeit bedankt und war dann verschwunden. Er hatte mich einfach dort zurück gelassen, als er bekommen hatte, was er wollte und aus dem Gefühl geliebt zu werden, wurde eine eiskalte Hand, die sich nun unbarmherzig um mein Herz schlang und zu drückte. Ich wurde benutzt. Schamlos benutzt. Von wegen geliebt oder gar gemocht. Ich war nur ein Mittel zum Zweck. Wie für alle.
 

Für meinen Vater war ich der Punchingball. Für Luzifer ein netter Zeitvertreib. Für die Band ein Schlagzeuger, der an sich schwer zu finden war. Für meine Schwester der Packesel und Sündenbock. Für Melody der Idiot, der die blödsten Aufgaben übernahm und sie ihr so ersparte. Für meine Mutter ein willkommenes Schutzschild.
 

Meine Hand ballte sich zur Faust und ich schlug auf die Wand ein. Immer und immer wieder. Es war mir egal, ob ich irgendwen damit weckte oder ich es beschädigte. Ich musste diese Wut, diese Angst. Dieses verdammte Gefühlschaos nur irgendwie los werden. Ein Knurren drang über meine Lippen als meine Schläge härter wurden und sich Schmerz in meinen Händen ausbreitete, doch ich hörte nicht auf.
 

Mit einem letzten verzweifelten leisen Aufschrei legte ich all meine Kraft in den Schlag und spürte, wie die Wand nachgab. Die gebrochenen Ränder bohrten sich in meine Hand und schickten neuen Schmerz durch mein Inneres. Ich sog scharf die Luft ein, als ich das Blut fließen sah.
 

Die Wut war erst einmal verflogen, als ich vorsichtig versuchte meine Hand aus dem Loch zu ziehen. Dabei schnitt ich mich erneut, doch ich zischte nur kurz, bevor ich dann die Verletzungen betrachtete. Sie waren nicht allzu schlimm. Mit einem kleinen Verband sollten sie versorgt sein. Das größere Problem war eher die beschädigte Wand. Ich wusste, dass ich eine gute Erklärung für meinen Vater brauchte, doch aktuell fiel mir noch keine ein.
 

Die konnte ich mir noch überlegen und so begann ich mich zu Ende zu waschen und dann aus der Kabine zu steigen. Ich trocknete kurz meine Haare grob ab, bevor ich das Handtuch dann um meine Hüfte band und mir den Verbandskasten holte.
 

Ich konzentrierte mich vollends auf mein Tun und ließ keine anderen Gedanken zu, weil ich das gerade nicht wollte. Es tat gut endlich mal keine negativen Gefühle mir zu haben. Sich einfach auf sonderbare Weise befreit zu fühlen. Auch wenn es Ärger bedeutete, was gerade geschehen war. So bereute ich es nicht. Ich hatte es gebraucht. All dem endlich mal Luft machen zu können und so legte sich seit langem mal wieder ein zufriedenes Lächeln auf meine Lippen.
 

Es blieb sogar, als ich mich abtrocknete und nur eine Boxershort anzog, um dann in mein Zimmer zu gehen. Das ganze Haus war dunkel. Scheinbar hatte niemand meinen Wutausbruch oder gar meine Abwesenheit mitbekommen und somit konnte ich unbehelligt zurück in mein Zimmer gehen. Sofort fiel mein Blick auf das blinkende Handy auf dem Bett. Ich konnte mir denken von wem die Nachrichten waren und diese Vermutung löschte mein Lächeln aus.
 

Mit einem Seufzer nahm ich auf meiner Schlafstätte Platz und griff nach dem Smartphone. Ich hatte Recht. Sie waren alle von Luzifer. Sogar ein paar Anrufe und ich seufzte schwer. Der letzte war nicht allzu lange her, doch ich unterdrückte das Verlangen ihn zurück zu rufen, sondern schrieb nur eine kurze Nachricht: „Du wolltest den Kontaktabbruch. Halte dich endlich selbst daran. Mir geht es gut. Ich brauche keinen Babysitter. Konzentrier dich auf Xenia und vergiss mich. Es ist besser so.“
 

Es dauerte nur zwei Herzschläge und schon klingelte mein Handy. Luzifer rief an, wodurch ich ein Knurren nicht unterdrücken konnte und entsprechend geladen abhob: „Hör auf! Hör auf mich zu kontaktieren! Du wolltest den Abbruch! Du hast dich gegen mich gestellt! Dann steh endlich dazu! So viel Arsch solltest sogar du in der Hose haben! Steh zu deinen Entscheidungen, sonst kann ich dich nicht mehr ernst nehmen. Werde einfach glücklich mit Xenia. Ich komm schon klar.“
 

Ich legte auf, bevor Luzifer auch nur ein Wort erwidern konnte und ich war fest davon überzeugt, dass mein Handy sofort wieder klingeln würde, doch es blieb still. Eine Minute. Zwei. Fünf. Zehn. Dreißig und dann vibrierte es nur kurz, um die Nachricht anzukündigen. Ich schluckte schwer und traute mich fast nicht sie zu öffnen, doch ich konnte es auch nicht verhindern. Sie war kurz. Zu kurz und rammte mir ein Messer in die Brust. „Du hast Recht. Lebewohl.“
 

Ich las sie immer wieder. Versuchte zu verstehen. Ein anderes Gefühl zu bekommen, doch es blieb. Diese eisige Kälte, die mich schon vorhin unter der Dusche in ihren Klauen hatte, war zurückgekehrt. Mit diesen vier Worten hatte er alles Glück in meinem Inneren zerstört. Ich wusste, dass ich es wollte. Provoziert hatte. Doch... ich hatte mir etwas anderes erhofft. Ein anderes Gefühl. Eine andere Antwort.
 

Ich schluckte trocken, als ich spürte, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Sofort schloss ich die Nachricht und legte das Smartphone auf mein Nachtkästchen, bevor ich mich verzweifelt in meine Bettdecke einrollte. Versuchte so den Gedanken und Gefühlen zu entkommen. Nicht zu weinen und diese Kälte los zu werden, die sich langsam um meine Kehle und mein Herz legte.
 

Ich schloss meine Augen und zog die Decke noch enger um mich. Nur schlafen. Ich wollte nur noch schlafen und diesen Tag vergessen. Mit all seinen Hochs und Tiefs. Ich atmete tief durch um mich zu beruhigen und die Tränen endgültig zu vertreiben, als plötzlich der Wunsch in mir erwachte, dass Viktor bei mir wäre.
 

Ich wusste, dass ich für ihn nur eine schnelle Nummer war, dennoch hatte er mir für diese kurze Zeit ein unheimlich warmes Gefühl geliebt zu werden gegeben und ich wollte es noch einmal spüren. Nur wissen, dass man würdig ist solche Empfindungen zu bekommen. Ich hatte mich trotz der anfänglichen Schmerzen wohl bei ihm gefühlt. Hatte mir gewünscht, dass es länger dauern würde. Es war viel zu schnell vorbei. Er verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war.
 

Seine sanften Berührungen und diese beruhigenden Worte haben mir eine unglaubliche Kraft gegeben. Mich in eine andere Welt entführt und jetzt schien ich wieder in der kalten Realität angekommen zu sein. Meine Hand pochte unter dem Verband und ich seufzte schwer. Ich wollte gar nicht wissen, was ich für eine Strafe dafür bekam. Irgendwie war es unbedeutend. So unglaublich unbedeutend.
 

Ich drehte mich um. Starrte in die Dunkelheit. Umklammerte meine verbunden Hand und schloss schließlich langsam die Augen. Ich wollte schlafen und nur kurz war dort der Wunsch nicht mehr aufzuwachen. Doch ich wusste, dass es töricht war. Irgendwann würde ich aus dieser Spirale ausbrechen. Spätestens wenn ich volljährig war. Dann würde ich von hier verschwinden. Denn alles war besser als hier zu bleiben. Wirklich alles...

Gegenwart:
 

Der Schultag war sehr schnell vorbei, obwohl ich es kaum erwarten kann zurück zu Luzifer zu fahren. Dieser Welt voller Schein zu entkommen und endlich frei zu sein. Nicht mehr falsch lächeln zu müssen und das Gefühl zu haben, dass es endlich bergauf gehen kann. Ich weiß, dass es lächerlich ist, wie ich denke, doch so ist meine Welt nun einmal.
 

Den ganzen Tag ignoriere ich schon die merkwürdigen Blicke wegen der Reisetasche, die ich mit mir herumtrage. Auch Amber sieht immer wieder verstohlen zu mir und hat es noch nicht gewagt etwas dazu zu sagen. Sie war auf dem Schulweg extrem ruhig, doch mir war es ganz recht. Ich will darüber nicht reden. Sie würde es eh nicht verstehen.
 

Schließlich stehen wir vor dem Schultor. Melody und Amber sehen mich mit großen Augen an und sagen nichts. Kurz bleibe ich stehen. Warte auf irgendeine Reaktion, bevor ich dann meine Hand hebe. „Man sieht sich. Macht es gut.“
 

Ich will gehen, doch die Stimme von Amber stoppt mich: „Wo willst du hin? Du kannst doch nicht einfach gehen!“ „Was wird aus der Schule, Nath? Die kannst du doch nicht vernachlässigen.“ Dieses Mädchen kennt wirklich kein anderes Thema, oder? Es gibt so viel mehr im Leben. Sieht sie das nicht?
 

„Doch kann ich. Vater will mich nicht mehr da haben. Ich werde zu einem Freund gehen und die Schule werde ich schon irgendwie beenden.“ Ich schultere die Tasche noch einmal besser und gehe dann weiter, doch erneut werde ich gestoppt. Ambers Hand legt sich um meinen Arm und als ich zurück sehe, erkenne ich direkt Tränen in ihren Augen und sie tut mir für einen kurzen Moment Leid.
 

„Bitte, geh nicht.“ Ihre Stimme zittert leicht und plötzlich ist dort wieder diese Verbindung, die ich seit Jahren vermisse. Dieses Wissen, dass man verwandt ist und einander irgendwie braucht, doch es ist zu spät. Sie hat zugesehen. So lange. Ich kann dorthin nicht zurück und ich will es auch nicht.
 

„Es hat keinen Sinn mehr, Amber. Ich kann mit ihm nicht unter einem Dach leben. Nicht mehr. Er sieht es nicht ein und ich will es nicht mehr ertragen.“ Sanft löse ich mich aus ihrer Umklammerung.
 

„Es ist doch gar nicht so schlimm.“ Sie greift sofort nach und lässt mich nicht gehen. Ihr Blick haftet an mir und fleht um ein Umentscheiden, doch ich kann nur schmerzlich lachen. „Doch war es und wird es immer sein.“
 

„Es muss doch einen anderen Weg geben.“ Melody geht auf mich zu und ich sehe ihr an, wie sehr sie mich auch aufhalten will. Festhalten und somit dazu zwingen hier zu bleiben. „Du kannst doch erst einmal bei mir unterkommen. Vielleicht sieht es in ein paar Tagen schon ganz anders aus.“
 

„Das wäre nicht okay. Wir kennen uns kaum und haben nur wegen schulischen Dingen miteinander zu tun. Ich hätte kein gutes Gefühl dabei, wenn ich mich bei dir einquartiere.“ Bald wird mein Zug fahren. Ich muss endlich von hier weg sonst verpasse ich ihn noch. Warum lassen sie mich nicht gehen? Ich war ihnen doch sonst auch egal!
 

„Nath, bitte.“ Sie umfasst sanft meine Hand und plötzlich muss ich an die Worte von Luzifer denken. Kann es sein? Hat er damit Recht? Steht Melody auf mich? Wieso? Seit wann? Wie konnte ich es all die Zeit über ignorieren?
 

„Es tut mir Leid. Ich muss jetzt los. Bis irgendwann.“ Ich löse mich erneut aus ihren Griffen und eile davon. Ignoriere ihr Rufen und sehe nicht mehr zurück. Diese Stadt. Dieses Leben. Ich will es nur noch hinter mir lassen und einen Neuanfang wagen.
 

Alleine der Gedanke, dass ich bald Luzifer wieder sehen werde, lässt mich schneller laufen. Meine Zukunft verspricht großartiges. Eine Zeit, in der ich endlich aufblühen kann. Endlich der Mensch werden kann, der ich schon immer sein will. Niemand wird mich mehr unterdrücken. Ich muss keinem mehr gefallen. Endlich bin ich frei.
 

„Du willst also wirklich verschwinden.“ Es ist eine Stimme, die ich schon lange nicht mehr gehört habe und so lässt sie mich gänzlich stocken. Ich sehe das Gebäude des Bahnhofes vor mir. Nur noch wenige Meter und ich würde im Zug sitzen. Nie wieder zurück sehen und vielleicht vergessen was hier all die Jahre geschah. Doch ich kann mich nicht mehr bewegen.
 

„Wie stellst du dir dein Leben jetzt vor? Wohin willst du gehen?“ Diese Nüchternheit nimmt mir sämtlichen Wind aus den Segeln, doch ich stemme mich gegen die Machtlosigkeit, die sich langsam in meinem Herzen ausbreitet.
 

„Ein guter Freund wird mich aufnehmen und dann sehe ich weiter. Vielleicht mache ich meinen Abschluss via Fernstudium. Vielleicht gehe ich auf eine andere Schule. Vater will mich nicht mehr. Er hat mich rausgeschmissen.“ Trotzig sehe ich in das emotionslose Gesicht meiner Mutter, die nur eine Armlänge von mir entfernt stehen bleibt.
 

„Selbst wenn nicht. Du wärst in wenigen Wochen von alleine verschwunden. Das hast du selbst gesagt. Wann wolltest du uns das mitteilen?“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust und ich spüre, wie mir die Zeit davon läuft. Ich muss diesen Zug erwischen. Der nächste wird erst in ein paar Stunden fahren und solange will ich nicht warten.
 

„Das ist jetzt unwichtig. Ich muss los, Mutter.“ Ich umschließe den Gurt der Tasche fester und sehe erneut auf die Uhr. Noch habe ich Zeit. Ich kann es noch schaffen. Luzifer. Doch ich kann mich nicht bewegen. Sehe sie nur an und warte auf irgendwas. Vielleicht eine Erlaubnis.
 

„Dein Vater will nur dein Bestes. Vielleicht könnt ihr euch wieder vertragen. Denk doch an Amber und mich. Du wirst uns fehlen.“ Ihre Augen glänzen feucht und ich spüre wie mein Entschluss ins Wanken gerät. Kann ich? Soll ich? Ist es wirklich richtig?
 

„Es tut mir Leid. Ich... ich...“ Meine Stimme versagt und ich spüre, wie ich plötzlich zweifle. Handle ich zu vorschnell? Soll ich ihm noch eine Chance geben? Können wir eine normale Familie werden? Irgendwie wenn ich mich nur besser anstrenge? Ist es wirklich richtig zu Luzifer zu fahren?
 

Plötzlich greift man nach meinem Handgelenk. Ich kenne den Geruch, der mir in die Nase kriecht und erblicke die Überraschung in den Augen meiner Mutter. „Nathy, unser Zug geht. Ich wusste, dass ich dich abholen muss, weil du dich wieder breit schlagen lässt von irgendwem. Sag tschüß zu deiner Mami und dann geht es los.“
 

„Wer bist du?“ Die Stimme meiner Mutter wird kühler, als sie Luzifer dunkel fixiert, der sofort meine Hand in seine nimmt, als ich von dem Taschengurt ablasse. Ihr Blick fiel auf unsere verschränkten Hände und sie wird ganz blass. „Du?! Bist du? Nein!“
 

Sie will mich ihm entreißen, doch bevor ich irgendwie reagieren kann, verfrachtet mich Luzifer hinter sich und macht es ihr unmöglich zu mir zu kommen. „Ich bin dein zukünftiger Schwiegersohn. Man sieht sich bestimmt noch einmal. Wir müssen jetzt aber.“
 

Ich kann gar nicht reagieren, als er mich dann auch schon hinter sich herzieht. Erst nach einigen Metern verschwindet die Schockstarre und ich kann zu Luzifer aufholen, wodurch wir nun nebeneinander laufen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Einerseits kann ich es nicht glauben, dass er wirklich hier ist. Andererseits bin ich ihm unsagbar dankbar dafür. Ich hätte den Zug wohl verpasst und so flüstere ich ihm ein sanftes Danke zu, als wir einsteigen und uns einen Platz suchen.
 

„Kein Problem. Es freut mich, dass mich mein Gefühl nicht getäuscht hat und außerdem dachte ich mir, dass du dich bestimmt über ein wenig Gesellschaft freust.“ Er lässt erneut meine Hand nicht los. Auch nicht als wir schon unserem Platz gefunden haben. Es erinnert mich an unsere erste gemeinsame Fahrt und das Gefühl der Sicherheit kommt zurück in mein Herz.
 

Wir sagen nichts. Sitzen nur nebeneinander und ich spüre, wie ein unsagbar schwerer Stein von meinem Herzen fällt kaum dass der Zug sich in Bewegung setzt. Solange habe ich auf diesen Moment gewartet. Darauf all das hinter mir zu lassen und diese warme, zärtliche Hand, die meine sanft umschließt, macht es noch perfekter. Ich bin wunschlos glücklich und das Lächeln, das mir Luzifer schon vor drei Jahren ermöglicht hatte, kommt zurück auf meine Lippen, um es sich dort erst einmal gemütlich zu machen. Denn ich spüre, dass ich es noch lange behalten werde. Sehr lange. Vielleicht sogar für immer...

„Dann willkommen in deinem neuen Zuhause.“ Luzifer tritt in seine Wohnung ein und ich folge ihm. Sofort kommt uns Demon entgegen und begrüßt uns mit zwei kurzen Lauten. „Ja, wir gehen gleich raus, mein Großer.“ Er tätschelt die Flanke des großen Hundes und auch ich streichel kurz über seinen Kopf. Katzen sind mir definitiv lieber, aber Demon gehört nun einmal zum Gesamtpaket und irgendwie mag ich den treudoofen Dobermann.
 

Ich bringe meine Tasche in den Wohnbereich und muss kurz schmunzeln. Die Wohnung ist wirklich klein und viel Platz um sich aus dem Weg zu gehen existiert nicht, doch wir werden uns schon zusammen raufen. Es wird zumindest für den Übergang funktionieren. Kaum fällt meine Tasche zu Boden spüre ich schon die Arme von Luzifer um meinen Brustkorb. Ein sanfter Kuss in meinen Nacken lässt mich erschaudern und ich spüre wie mir warm und kalt zugleich wird.
 

Meine Hand legt sich auf seine und ich genieße diesen Moment. Seine Nähe gibt mir unglaublich viel Kraft und lässt Wunden heilen, die schon seit Jahren vor sich hin bluten. Erneut ein kurzer Kuss in den Nacken. Plötzlich ist dort das Winseln von Demon und Luzifer trennt sich von mir. „Willst du mitkommen oder erst einmal deine Tasche ausräumen? Ich hab dir ein wenig Platz in meinem Kleiderschrank gemacht.“
 

Der Fakt, dass sich anscheinend auch Luzifer über meinen Einzug freute, lässt mich leicht lächeln, doch ich schüttel den Kopf. „Das kann ich auch später. Im Moment würde ich mich gerne bewegen. Meine Beine fühlen sich noch ganz steif vom langen Sitzen an.“
 

Ich folge ihm nach draußen. Demon selbst springt wild umher und ich muss erneut leicht lächeln, bevor ich ihnen weiter folge. Der große Hund läuft immer noch perfekt an der Leine und scheint den Weg schon zu kennen. Luzifer selbst bleibt ebenfalls ruhig und greift kurz nach meiner Hand. Ich spüre, dass er sie festhalten will, doch mir kommt es gerade ein wenig falsch vor.
 

Schließlich will ich hier leben. Wollen wir hier leben und ich habe keine Lust, dass diese Intimität jemand sieht, der uns vielleicht gefährlich werden kann. Im Augenwinkel erkenne ich den irritierten Blick von Luzifer, der sich in Trotz verwandelt, bevor er dann schmollend seine Hand in die Hosentasche steckt.
 

Nach einer Weile kommen wir in einem Hundepark an, wo Luzifer Demon von der Leine lässt. Sofort rennt dieser los und beginnt über die Wiese zu tollen. Luzifer selbst geht ruhig weiter den Weg entlang. Ich folge ihm schweigend und genieße die frische Luft. „Danke, dass du mich bei dir aufnimmst.“
 

„Mhm.“ Er steckt sich eine Zigarette an und schweigt. Ich fühle mich falsch und irgendwie irritiert mich sein Verhalten. Ist er mir nur wegen der Verweigerung des Händchenhaltens sauer? Das ist ja mehr als kindisch. Er muss doch selbst wissen, was das für Probleme geben kann. Auch wenn ich es mal akzeptiert habe. Damals wusste ich nicht, dass ich irgendwann hier wohnen werde.
 

„Was ist dein Problem?“, grummel ich und vermeide ihn anzusehen, wodurch ich ein Zischen von ihm bekomme und selbst schnaube. „Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Also, spuck es aus.“
 

„Warum bist du jetzt plötzlich so distanziert? Als du zu Besuch warst, war alles in Ordnung und jetzt darf ich dich nicht mehr berühren in der Öffentlichkeit. Das ist lächerlich!“ Ich kann seinen Frust deutlich heraushören. Auch freut es mich ein wenig, dass es ihm anscheinend egal ist, wenn er deswegen in Schwierigkeiten gerät.
 

„Ich will nicht, dass wir Probleme kriegen. Nur weil es der Falsche sieht.“ Ich seufze schwer und hoffe, dass sich Luzifer mit diesen Worten zufrieden gibt, doch erneut nur ein Schnauben. „Die können mir alle gestohlen bleiben. Heutzutage sollen sie sich echt nicht mehr so anpissen deswegen. Leben und leben lassen. Die meisten haben das schon kapiert.“
 

Demon kommt zu uns zurückgelaufen und schmeißt Luzifer einen Stock vor die Füße. Dieser hebt ihn auf und wirft ihn wieder weg. Freudig rennt der Hund dem Geschoss hinterher und kommt kurze Zeit später wieder, um das Spiel fortzusetzen. Wie schön muss es sein, wenn man sich über solche Kleinigkeiten freuen kann? Manchmal ist ein primitives Denken definitiv ein Segen.
 

„Ich will nur Probleme vermeiden.“ Warum will er das nicht verstehen? Erneut ein Schnauben und ein wütender Blick, als er den Stock wieder von sich wirft. „Du kannst es nicht allen recht machen, Nathy. Egal, ob es jetzt deine Haare sind oder deine Art, wie du gewisse Wörter aussprichst. Es wird immer einen Menschen geben, der irgendwas an dir störend finden wird. Deswegen solltest du dein Leben so gestalten, wie es für dich schön ist. Egal, was andere sagen oder tun. Wichtig ist nur dein eigenes Glück. Denn man lebt eben nur einmal und ich will später nicht zurückblicken und irgendeine verpasste Chance bereuen.“
 

Ich stocke bei seinen Worten, denn sie treffen durchaus einen Nerv in mir. Luzifer hat Recht. Wir leben nun einmal nur einmal und deswegen ist es Blödsinn sich diese kostbare Zeit kaputt machen zu lassen, weil man zu sehr an die anderen denkt.
 

„Außerdem können wir uns beide recht gut wehren. Es soll sich also erst einmal jemand trauen uns blöd zu kommen.“ Er lacht auf und ich muss leicht lächeln. Irgendwie hat er ja Recht. Ich habe mich schließlich lange darauf gefreut und jetzt stehe ich mir selbst im Weg. Wie blöd kann man nur sein?
 

Ich schüttel über mich selbst den Kopf und trete dann neben Luzifer, um sanft seine Hand in meine zu nehmen. Überrascht sieht er mich an, doch ich lächle nur, bevor ich sie sanft drücke und dann mit ihm weitergehe. Demon rennt bellend an uns vorbei und drückt Luzifer dabei den Stock in die Hand. Sofort fliegt dieser wieder durch die Lüfte. Es ist ein schönes Gefühl hier zu sein. Die Blicke zu ignorieren und nur zu sein. Bei einem Menschen, der einen so mag, wie man war. Nichts hinterfragt und die kleinen Fehler akzeptiert.
 

„Danke.“ Ich kann es nicht oft genug sagen und erneut lächelt Luzifer. Drückt sanft meine Hand und geht dann weiter mit mir. Vielleicht ist es gut so, wie es nun einmal ist. Ja,vielleicht haben wir diese Etappen in unserem Leben gebraucht, um jetzt gemeinsam durchs Leben zu gehen.
 

Demon tobt weiter und wir genießen diese Zeit. Ich hab nicht das Bedürfnis irgendetwas zu sagen. Nur einfach zusammen sein. Auch Luzifer schweigt und wirft immer mal wieder den Ast, den ihn Demon bringt.
 

Schließlich kommen wir am Ende des Parks an und Luzifer nimmt Demon wieder an die Leine, bevor wir uns langsam auf den Rückweg machen. Ich lasse meine Hand in seiner und spüre, wie diese simple Berührung mir unsagbar viel gibt. Kraft, Liebe, Zuversicht und Wärme. Alles Dinge, die ich lange in meinem Leben vermisst habe und mich jetzt lächeln lassen.
 

Immer wieder bemerke ich missbilligende Blicke und kurz versuche ich den Griff zu lösen, doch Luzifer lässt mich nicht gehen und hält mich bestimmt fest. Demon geht stolz an unserer Seite. Sein Kopf ist neugierig erhoben und er strahlt unheimlich viel Kraft aus.
 

Ja, vielleicht ist meine Angst unberechtigt. Sowohl Luzifer als auch Demon machen nicht den Eindruck, dass sie leichte Beute wären. Im Gegenteil. Nur ich selbst fühle mich als Opfer und das obwohl ich mich erst vor kurzem mit meinem Vater geschlagen habe. Ein Kampf, den ich sogar relativ gut gemeistert habe. Vielleicht sollte ich das auch mal einsehen. Ich bin nicht schwach und man kann mir nichts tun, wenn ich es nicht zulasse. Ja, ich kann mich wehren.
 

Alleine bei diesen Gedanken spüre ich, wie ich größer werde und mein Kreuz durchstrecke. Ich will nicht mehr kriechen. Nicht mehr zurück sehen oder schwach sein. Das war meine Vergangenheit, aber jetzt bin ich in einer Gegenwart angekommen, in der meine Schwäche nicht mehr existiert. Ich bin kein Prügelknabe mehr und ich habe nicht vor, dass ich es wieder werde. Nie wieder...

Vergangenheit:
 

Erneut war ich abgehauen. Mein Vater hatte mir Hausarrest aufgebrummt, als er mitbekam, dass ich die Duschkabine beschädigt hatte. Ich hatte mit Schläge gerechnet, doch es kamen ausnahmsweise keine. Dafür aber drei Monate Hausarrest. Ich wusste nicht, was ich von dieser Strafe halten sollte. Es passte nicht in sein Schema. Schließlich nutzte er doch jede Möglichkeit mich zu verprügeln.
 

Aber durch das Verbot konnte ich auch nicht fragen, ob ich weggehen durfte. Nicht sagen, dass ich doch zu diesem Treffen ging. Ich wusste nicht, ob ich mich wirklich zu ihnen gesellen würde, aber ich wollte sie alle noch einmal sehen. Vielleicht ihnen mein Verhalten erklären, oder auch nicht. Sie... sie bedeuteten mir so viel.
 

Daher saß ich im Zug zu Tayakas Zuhause. Ich würde zu spät kommen. Aber früher hatte ich keine Chance mich aus meinem Zimmer zu schleichen. Vielleicht war das auch ganz gut. Sie rechneten sowieso nicht mit mir und anders würde ich vielleicht zögern. Aber jetzt saß ich hier und wartete darauf, dass der Zug an seinem Ziel ankam. Nur noch zwei Stationen.
 

Meine Hände begannen zu zittern und ich schluckte trocken. Versuchte irgendwie ruhig zu bleiben. Es würde nichts passieren. Ich konnte immer noch umdrehen. Niemand musste je wissen, dass ich das hier tat. Darum musste ich nicht nervös sein. Ich konnte umdrehen, wenn ich merkte, dass die Entscheidung falsch war.
 

Noch eine Station. Ich wünschte mir, dass sie fröhlich waren. Dass sie irgendwie immer noch eine gute Band waren. Auch wenn ich nicht mehr da war. Ich wollte nicht schuld an ihrem Zerbrechen sein. Schließlich hatten sie das nicht verdient. Sie alle liebten das Spiel und hatten Spaß. Nur ich... ich war zu blöd gewesen. Mit einem Knurren unterbrach ich meine Gedanken. Nein, ich wollte nicht in die Opferrolle rein. Auch Luzifer war schuld daran. Er hatte das Alles genauso zugelassen. Genauso getan. Und jetzt? Jetzt half er mir nicht einmal.
 

Wut kroch in mein Herz und ließ mich erneut leicht knurren, als sich mein Körper anspannte. Warum musste das passieren? Hätte Xenia diesen Mist nicht gemacht. Hätte Luzifer hinter mir gestanden. Ihr Paroli geboten. Dann hätte ich nicht gehen müssen. Dann hätten mich die anderen nicht angegriffen. Aber...
 

Meine Haltestelle wurde durchgesagt und ich stand auf, um zu den Türen zu gehen. Ich wusste nicht, was ich mir erhoffte oder gar was ich erwartete. Aber irgendwie wollte ich vorbei schauen und so trat ich aus dem Zug, bevor ich nach meinem Handy griff, um mir den Weg zum Park anzeigen zu lassen.
 

Der Park... dort hatte mich Luzifer gefunden und dann mit zu sich genommen. Mit diesem Treffen hatte das Unheil begonnen. Schon fast ein Zeichen von Ironie, dass es dort endgültig enden sollte. Endgültig vorbei sein würde. Nicht mehr nach hinten sehen. Nur noch weitergehen.
 

Ich folgte der Anweisung und kam schließlich bei der Grünanlage an und begann nach Luzifer und Tayaka Ausschau zu halten. Von den anderen Drei wusste ich nicht, wie sie aussahen. Aber die Zwei sollten mir als Anhaltspunkt reichen und so folgte ich dem Weg. Menschen kamen mir entgegen. Manche mit Hund andere nur so. Ein paar in Gruppen, zu zweit oder sogar ganz alleine. Ich sah sie nicht an. Wünschte mir, dass sie nicht existierten. Ich hatte Angst, dass sie mich verpfeifen würden. Bei meinem Vater, bei meine Bandmitgliedern oder irgendwem, der mir aus meiner Anwesenheit einen Strick drehen könnte.
 

„Das glaubst du doch selbst nicht, Azrael! Niemals!“ Ich hörte das Lachen von Tayaka und stoppte meine Schritte. Ruhig ging ich von dem Weg herunter und bewegte mich nur noch im Schutz der Bäume vorwärts.
 

„Doch. Es war so. Dem Kerl war unsere Band nicht berühmt genug. Aber er selbst hatte gerade erst angefangen.“ Auch Azrael lachte auf und schließlich erblickte ich sie. Die kleine Gruppe saß auf einer Decke mitten im Gras. Azrael und Athena nahe beieinander. Auch an Luzifers Seite lehnte ein Mädchen, das wohl Xenia war. Tayaka wirkte fast wie ein Außenseiter. So einsam wie er dem beiden Pärchen gegenüber saß, doch das schien ihn nicht zu stören.
 

Athenas hellblaues Haar fiel ihr sanft über den ganzen Rücken, während sich Azrael eine seiner schwarzen Strähnen hinters Ohr strich, doch sie fiel fast augenblicklich wieder nach vorne. Sie wirkten elegant gekleidet und passten nicht in das Bild der anderen Drei. Denn Xenia selbst zeigte nur allzu gerne, was sie zu bieten hatte. Ihre Kleidung war knapp und ich würde es schon fast als nutig bezeichnen. Sie klammerte schon fast an Luzifer, der ein wenig desinteressiert wirkte und ihr halt aus Bequemlichkeit seinen Arm überließ. Vielleicht wollte ich das aber auch nur sehen.
 

Ihre braunen Haare hatte sie zum Teil in einem Dutt, während der Rest offen über ihre Schultern und Rücken fiel. Immer wieder spielte sie mit einer Strähne und lachte ebenfalls über die Unterhaltung von Tayaka und Azrael. Sie wirkten ausgelassen. Fast schon perfekt. Ich spürte wie in mir das Gefühl erwachte, dass ich dort nicht hingehörte. Dieser Gruppe gehörte ich nicht mehr an. Ich hatte mich selbst ins Aus katapultiert und ich hätte nicht hierher kommen sollen.
 

Mit eine Seufzer wandte ich mich um und wollte gerade gehen, als ich schon beim ersten Schritt in jemanden hinein lief. „Hoppla! Warum so stürmisch?“ Die Stimme kam mir bekannt vor und kaum hob ich meinen Blick war dort das grinsende Gesicht von Alexy. Er sah mich irritiert an, während seine Hand erhoben war, als wollte er mich ansprechen, doch ich wich sofort einen Schritt zurück.
 

„Es tut mir Leid. Ich muss schon wieder los.“ Ich wollte an ihm vorbeigehen, doch er stoppte mich sofort. „Du willst vielleicht, aber du musst nicht.“ Er griff nach meinem Arm und sieht mich immer noch direkt an. „Bist du nicht hier, um die anderen kennen zu lernen? Wenn du dabei bist, kann ich vielleicht endlich gehen. Armin hat mich genötigt mitzukommen, weil er nicht alleine mit den Pärchen sein will.“
 

„Nein, ich... Doch, aber ich...“ Ich stoppte und atmete tief durch, um meine Gedanken zu sortieren, bevor ich erneut zu einer Antwort ansetzte: „Doch, wollte ich. Aber ich habe kein Recht mehr dort zu sein. Ich bin einfach verschwunden ohne etwas zu sagen und hab sie dadurch in eine blöde Situation gebracht.“
 

„Armin ist nicht nachtragend und auch der Rest wirkt sehr nett. Bestimmt verstehen sie deine Beweggründe und verzeihen dir. Komm doch einfach mit mir, okay?“ Er will mich mit sich zerren, doch ich wehrte mich sofort und befreite mich dabei aus seinem Griff.
 

„Nein! Ich will nicht! Ich kann nicht, okay? Das ist nicht mehr meine Welt. Ich muss mich auf andere Dinge konzentrieren. Wenn ich da jetzt hingehe, dann muss ich ihnen nur wieder weh tun. Es ist vorbei. Es ist endgültig vorbei.“
 

Ohne auf eine Antwort zu warten rannte ich los. Ich wollte nur noch weg von dort. Sie waren ohne mich definitiv besser dran. Ich konnte ihnen nicht die Freude am Spiel nehmen, indem ich einen Streit provozierte. Xenia und ich konnten nicht nebeneinander existieren. Nicht solange wir beide etwas für Luzifer empfanden.
 

Alexy folgte mir nicht und nach einigen Minuten stoppte ich schließlich langsam meine Schritte. Ich wusste, dass es falsch war. Schließlich war ich doch hier um mich vielleicht wieder mit ihnen zu versöhnen. All das endlich zu bereinigen und klare Linien zu ziehen. Doch ich konnte nicht. Auch jetzt konnte ich nicht zu meinem Standpunkt stehen. Mich selbst behaupten. Ich hätte es nur schlimmer gemacht. Viel schlimmer.
 

Mit einem Seufzen ging ich weiter auf den Ausgang des Parks zu. Ließ dieses Treffen hinter mir. So weit es irgendwie möglich war. Es war besser so. Um so vieles besser. Immer wieder wiederholte ich diese zwei Sätze, um mich selbst davon zu überzeugen, dennoch konnte ich nicht verhindern, dass sich eine große Leere in meinem Herzen ausbreitete und ich das Gefühl hatte, dass ich gerade die letzte Chance verpasst hatte. Die letzte Chance zurück zu kehren. Zurück in mein eigenes Paradies...

Ich saß auf einer Bank am Bahnhof und wartete auf meinen nächsten Zug. Ruhig hielt ich mein Handy in der Hand und scrollte durch ein paar Nachrichten. Hier und da überflog ich die Titel, aber irgendwie war nichts Interessantes dabei. Es würde noch eine geraume Weile dauern bis mein nächster Zug nach Hause kam und so begann ich eine Sprachen-App zu starten, um ein wenig Englisch zu üben. Vielleicht verging so die Zeit schneller.
 

„Da ist er! Ich hab dir doch gesagt, dass er da war!“ Die Stimme ließ mich hochfahren und ich sah erschrocken zur Tür. Dort waren Alexy und Tayaka. Ich verstand es nicht. Wieso waren sie beide hier? Das war doch totaler Irrsinn!
 

„Gabriel?!“ Tayaka wirkte überrascht und rannte dann zu mir, bevor er mich breit angrinste. „Was machst du hier? Stimmt es, was Alexy behauptet hat? Du wolltest zu unserem Treffen kommen? Woher weißt du davon?“
 

Was? Wieso? Das durfte nicht sein! Verdammt! Ich wollte doch ungesehen verschwinden! Was sagte ich jetzt? Warum musste Alexy es Tayaka stecken? Das machte es doch nur unnötig kompliziert und schmerzhaft!
 

„Du hättest nicht kommen sollen, Tayaka.“ Ich senkte meinen Blick und spürte die Enttäuschung, dass nicht Luzifer bei ihnen war. Wusste er nichts davon? Wollten die anderen mich nicht mehr sehen? Mein Gefühl war also doch richtig gewesen. Ich war kein Teil mehr von dieser Gruppe.
 

„Wieso nicht? Ich würde gerne verstehen, warum du das Spiel verlassen hast. Klar, in letzter Zeit lief es nicht so gut. Es wurde viel Scheiß erzählt und na ja...“ Er schien sichtlich nach Worten zu suchen, doch er fand sie nicht. Scheinbar ging es ihm ähnlich. Warum war er also dann hier? Das ergab keinen Sinn für mich.
 

„Die Spannungen zwischen dir, Luzifer und Xenia waren echt unschön, aber vielleicht kann man sie mit Reden aus der Welt schaffen.“ Er lächelte unsicher und irgendwie musste ich es erwidern. Auf meine gelernte falsche Art und Weise. „Nein, kann man nicht.“
 

„Ach, komm schon.“ Tayaka sah mich verzweifelt an. „Du bist ein wertvolles Mitglied unserer Band.“
 

„Das bin ich nur, weil ich Schlagzeug spiele. Wäre ich Gitarrist, dann würdest du mir jetzt nicht so bettelnd hinterher rennen.“ Ich umschloss mein Handy fester und spürte, wie ich mich woanders hin wünschte. Nur noch weg von hier. Warum kam mein Zug nicht?
 

„Nein, wir mochten dich auch als Mensch.“ Tayaka klang verletzt und irgendwie taten mir die Worte Leid, doch ich schwieg erst einmal. Hoffte, dass noch mehr kam und wurde nicht enttäuscht. „Es hat Spaß gemacht mit dir zu spielen. Du warst immer korrekt.“
 

„Und dennoch habt ihr den Worten von Xenia geglaubt.“
 

„Wir kennen sie einfach schon länger. Vielleicht haben wir falsch gehandelt. Aber...“
 

„Nichts aber. Es hat wirklich Spaß gemacht mit euch. Aber die letzte Zeit hat mir gezeigt, dass ihr mich entweder nicht kennt oder nicht kennen wollt. Dass ihr Xenia all die Sachen geglaubt habt, tat unheimlich weh und deswegen kann und will ich auch nicht mehr zurückkommen.“
 

„Warum bist du dann hier aufgetaucht?“ Tayaka war sichtlich verwirrt und ich spürte wieder, wie das falsche Lächeln in mein Gesicht kam. Würde es mich jemals wieder verlassen oder war es schon eine Art Reflex für mich?
 

„Ich wollte euch noch einmal sehen und vielleicht mit euch reden. Aber als ich euch dort sitzen sah, war mir klar, dass ich kein Teil dieser Gruppe mehr bin. Vielleicht war ich es sogar nie. Wer weiß.“
 

„Das ist Unsinn!“ Tayaka fuhr hoch und ich konnte direkt Zorn in seinem Gesicht sehen, doch auch jetzt konnte ich nur lächeln. „Nein, ist es nicht. Ich war nur ein guter Schlagzeuger für euch. Niemals mehr.“
 

„Jetzt tust du ihnen Unrecht.“ Alexy war die ganze Zeit still gewesen, aber er sah mich jetzt traurig an und ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Es fühlt sich aber dennoch so an.“
 

„Ja, am Anfang warst du nur ein Schlagzeuger, den wir nach unserem Willen formen konnten. Aber du wurdest zumindest für mich zu einem Freund. Meinst du wirklich, wenn du mir so egal gewesen wärst, dass ich dich dann zu mir nach Hause eingeladen hätte?“ Tayaka versuchte ruhig zu bleiben, doch ich konnte ihm ansehen, dass es ihm schwer fiel und er wahrscheinlich am Liebsten irgendetwas anderes tun würde.
 

„Warum hast du dann Xenia geglaubt?“ Dieser eine Satz hing schwer zwischen uns und ich konnte sehen, wie tief die Wunde war, die langsam auf Tayakas Seele aufklaffte. Aber ich nahm die Frage nicht zurück, sondern schwieg. Es war nur ein Teil der Schmerzen, die sie mir zugefügt hatten. Dieser Glaube, dass ich zu all diesen Dingen fähig gewesen wäre.
 

Wir schwiegen. Unendlich lange und auch Alexy hielt seinen Kopf gesenkt. Ich spürte, dass sie beide sprachlos waren. Etwas, was wohl eher selten passierte, doch für alles gab es ein erstes Mal. Manchmal war es nur leider auch gleichzeitig das letzte Mal. Ich seufzte und erhob mich. Es hatte keinen Sinn weiter hier zu sein.
 

„Ich muss los. Mein Zug kommt bald und die anderen werden dich bestimmt auch schon vermissen, Tayaka. Mach es gut, okay?“ Ich zwang mich erneut zu einem Lächeln und hob die Hand zum Abschied. Sie konnten nur meine Geste erwidern und ich sah im Augenwinkel, wie Alexy nach dem Arm seines Bruders griff, um mit ihm das Gebäude zu verlassen.
 

Es war nicht sonderlich angenehm gewesen, doch ich spürte, dass es mir den endgültigen Schlussstrich ermöglicht hatte. Sie waren nicht mehr Teil meines Lebens. Es würde ohne sie irgendwie weitergehen. Aber dennoch war ich ihnen dankbar. Dankbar für eine Zeit, die mir vielleicht die Kraft gegeben hat, um auch noch die letzten Jahre überstehen zu können...

„Nathan?! Du glaubst wirklich, dass deine Flucht unbemerkt geblieben ist, oder?“ Mein Vater begrüßte mich zornig kaum dass ich das Gartentor hinter mir schloss. Ich wusste, dass ich Angst haben sollte oder mich zumindest erschrecken, doch schon die ganze Fahrt über fühlte sich mein Kopf wie in Watte gepackt an. Ich konnte nicht mehr denken und wollte nur noch dass es irgendwie aufhörte. Dieses Gefühl gänzlich allein zu sein sollte nur verschwinden.
 

„Was willst du jetzt tun, Vater?“ Meine Stimme war viel zu nüchtern und diese Tatsache überraschte mich genauso sehr wie meinen Vater, wodurch erst einige Herzschläge vergingen, bevor er seine Sprache wiederfand. „So, brauchst du mir nicht kommen! Dein Hausarrest wird verlängert!“
 

Ich lächelte kurz künstlich, bevor ich dann an ihm vorbeiging. Sollte es wirklich so sein und ich mal ohne Schläge davon kommen? Das könnte ich ja direkt rot im Kalender anstreichen. Ich wünschte mir, dass alles anders wäre. Dass ich noch mit den Leuten spielen konnte. Dass ich den Mut gefunden hätte zu ihnen zu gehen. Ich könnte jetzt bei ihnen auf der Decke sitzen. Lachen. Etwas essen. Mich gut fühlen. Aber es sollte nicht sein. Nicht heute. Nicht morgen. Nie wieder.
 

Mein Vater folgte mir und schien immer noch zu überlegen, was er jetzt tun wollte. Ich konnte die Wut in seinem Körper direkt spüren, doch es war mir immer noch egal. Gerade herrschten andere Probleme für mich und so ging ich weiter. Hoch in mein Zimmer und knallte ihm die Tür vor der Nase zu, bevor ich die Kette sofort vorlegte.
 

Er wollte mir nachkommen, doch sofort wurde er von meiner Sicherheitsvorkehrung gestoppt. Ich konnte in sein fassungsloses Gesicht sehen, dass dann sofort von Zorn gestürmt wurde. „Du?! Du wagst es mich auszusperren! Wir waren noch nicht fertig! Mach sofort die Tür auf!“
 

„Das hatten wir schon und nein werde ich nicht tun. Ich will noch ein wenig lernen und du störst.“ Warum war ich so ruhig? Woher nahm ich diese Ruhe und die Kraft ihm so zu begegnen? Von der Kette oder weil mir jeder Gedanke immer noch unsagbar schwer fiel?
 

Warum bin ich dorthin gegangen? Wollte ich Luzifer noch einmal sehen? Mir sicher sein, dass dies keine Zukunft hatte? Oder hatte ich gehofft, dass sie mich vermissen würden? Ihre Leben ohne mich nicht mehr zum Lachen waren? Hatte ich gehofft, dass ich irgendwie abgehen würde? Töricht.

Ich ließ mich auf meinem Stuhl nieder und griff wahllos nach einem Buch. Neben mir rüttelte immer noch mein Vater an der Tür und drängt um Einlass, doch ich ignorierte ihn. Seine Worte kamen nur gedämpft zu mir durch. Ich wollte kein Teil mehr dieses Lebens sein. Ausbrechen und irgendwo anders existieren, dennoch blieb ich sitzen. Blätterte die Seite um. Überflog die Zeilen ohne zu wissen, ob ich gerade Buchstaben oder Zahlen las. Es war unbedeutend.
 

Mit einem lauten Knall schloss mein Vater endgültig die Tür und riss mich dadurch kurz aus meinen Gedanken, doch als ich erkannte dass ich alleine war, versuchte ich mich wieder auf das Buch zu konzentrieren. Die Schule beenden. Gute Noten schreiben. Dann ganz weit weg von hier. Nur weg von hier.
 

Ich blätterte erneut um. Erfasste nichts, sondern konnte nur an eine Frage denken: „Warum war Luzifer nicht gekommen?“ Ich musste an sein Lächeln denken. An sein neckisches Verhalten. An seine Berührungen und ohne es zu wollen schleckte ich mir kurz über meine Lippen.
 

Es war vorbei! Ich musste endlich los lassen! Nur los lassen! Verdammt nochmal! Er wollte mich nicht, sondern hatte sich für sie entschieden. Nie stand er hinter mir. Niemals stand er zu mir. Es war nur ein Spiel. Ein bescheuertes Spiel für ihn! Gott, ich musste endlich los lassen! Die Zukunft existierte für mich. Es gab Menschen, die mich wollten und begehrten.
 

Kurz erschien Viktor vor meinem geistigen Auge, als ich daran dachte und das Gefühl benutzt worden zu sein kam zurück. Es war lächerlich. Ich wollte es und es hatte mir ja auch irgendwie gefallen. Warum? Das war so lächerlich! So unendlich lächerlich!
 

Ich atmete tief durch und hoffte, dass dieses beklemmende Gefühl damit verschwand, doch es funktionierte nicht so gut, wie ich gerne wollte. Klar, fühlte ich mich ein wenig besser, aber das war auch schon alles.
 

Erneut versuchte ich mich auf das Geschriebene vor mir zu konzentrieren, doch es klappte nicht. Die Buchstaben verschwammen vor meinem Auge zu kryptischen Symbolen. Es war hoffnungslos, aber ich wusste, dass ich es endlich in Griff bekommen musste und so stand ich auf. Ohne groß nachzudenken nahm ich die zwei Ein-Kilo-Hanteln von meinem Schreibtisch und atmete noch einmal tief durch.
 

Im nächsten Moment begann ich in die Luft zu schlagen. Links. Rechts. Ein Tritt. Links. Links. Rechts. Von unten. Von oben. Ich ließ all meinen Frust in meine Bewegungen fließen. Spürte wie sich meine Muskeln anspannten und so langsam dieses dumpfe Gefühl aus meinem Kopf vertrieben. Ich konzentrierte mich nur noch auf meine Bewegungen. Darauf, dass ich gleichmäßig im Rhythmus meiner Atmung schlug und nichts beschädigte.
 

Für mich existierten nur die Gewichte in meiner Hand und der Schweiß, er langsam auszubrechen begann. Ich wollte mich lebendig fühlen. Würdig und wertvoll fühlen. Immer wieder musste ich an Luzifer denken. Sein Lächeln und seine netten Worte. Sein Duft, der mir in die Nase stieg und mich betörte. Die sanften Berührungen, die mir zeigten, dass ich es doch eigentlich wert war, dass man mich vernünftig behandelte. Doch dann das!
 

Zorn brach in mir aus, als ich mich an seine Erklärung zurück erinnerte. Sie wollte eine Wahl. Er hatte sich entschieden! Nicht für mich! Sondern für sie! Das Weib, das mich vertrieb! Lügen über mich erzählte und versuchte mich fertig zu machen! Diesem verlogenem Miststück hatte er geglaubt! Sie soll schmoren!
 

Plötzlich durchzuckte meine rechte Hand ein erneuter Schmerz. Erst dann begriff ich, dass ich gewandert war und ich meinen Kleiderschrank getroffen hatte. Der dumpfe Knall hallte noch in meinen Ohren nach und ich schluckte trocken. Er hatte meine Gedanken zerrissen und die Wut aus meinem Körper gefegt.
 

Plötzlich war dort nichts mehr. Nur eine angenehme Leere, die sich Stück für Stück mit sanften Glücksgefühlen füllte. Der Schmerz in meiner Hand pochte nur leicht und erhoffte sich so ein wenig Aufmerksamkeit während ich weiter auf die Stelle sah an der ich das Möbelstück getroffen hatte.
 

Es war nur eine leichte Delle zu sehen, doch wenn man nicht wusste, dass sie existierte, dann war sie kaum zu erkennen. Gut, dann würde mein Vater es nicht merken. Obwohl... aktuell würde es wohl eh nur mehr Hausarrest bekommen. Scheinbar schien es doch langsam bergauf zu gehen. Luzifer hatte also Unrecht. Es konnte von selbst aufhören.
 

Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich ein paar Schlücke aus meiner Wasserflasche nahm und mir dann neue Kleidung heraussuchte um duschen zu gehen. Denn es fühlte sich unangenehm an, wie sie langsam unter dem Schweiß an meiner Haut zu kleben begann. So gut wie sich Sport auch anfühlte, so ekelhaft war dieses Gefühl danach und so war ich ganz froh, dass unser Badezimmer aktuell frei war.
 

Ich stieg unter die Dusche und ließ das warme Wasser über meine Haut laufen. Die Duschkabine war nur zwei Tage nach meinem Anfall ausgetauscht wurden und so war nur die Wunde an meiner eigenen Hand der Beweis für meine ungestüme Handlung. Ich wusste nicht, ob ich stolz darauf sein sollte, doch mir war klar, dass ich sie gebraucht hatte. Irgendwann mussten all die Frustrationen mal an die frische Luft gelassen werden sonst wurde man darunter nur verrückt.
 

Ich musste kurz lächeln und lehnte meinen Kopf gegen die Wand. Genoss diese sanfte Berührung des angenehmen Nasses und die Ruhe, die nur durch dessen Plätschern durchbrochen wurde. Vielleicht war dies wirklich ein Neuanfang. Konnte es endlich bergauf gehen? Hatte ich es überstanden? Das wäre zu traumhaft um wahr zu sein.
 

Ich wusch mich und ging dann auch schon wieder aus der Kabine. Trocknete mich ab und zog mich an, bevor ich dann das Zimmer verließ. Doch was ich dort sah, ergab keinen Sinn für mich. Amber stand mitten im Flur und starrte mich mit verweinten Augen an.
 

„Amber?“ Ich verstand es nicht, doch sie zischte nur und schnaubte verachtend. „Was ist passiert?“ Sie starrte mich an. Unendlich lang hob sich nur erregt ihr Brustkorb und ihr Körper spannte sich an. Bevor sie dann ruckartig in die Richtung ihres Zimmers davon eilte. Erst in ihrem Türrahmen drehte sie sich um, damit sie mir noch einen letzten Satz ins Gesicht werfen konnte, bevor sie ihre Tür zuknallte: „Du hast alles kaputt gemacht!“

„Amber?! Was meinst du damit?! Ich hab doch gar nichts getan!“ Ich klopfte an ihre Tür, doch es kam keine Reaktion. „Amber?!“ Nichts. Ich hörte nur ein leises Schluchzen und spürte, wie mein Herz dadurch schwerer wurde. Was war geschehen?
 

Kurz wanderte mein Blick zu der Treppe. Sollte ich runtergehen? Ich wusste schließlich, dass dort unten meine Eltern waren. Es war doch zu schön um wahr zu sein, dass ich seinen Schlägen entkommen war. Sollten sie mich jetzt schon wieder einholen? Aber ich wollte wissen, was diese Anschuldigung sollte. Amber gab mir zwar sehr gerne die Schuld an allem. Selbst am schlechten Wetter, doch noch nie hatte ich sie so aufgewühlt erlebt.
 

Ich atmete tief durch und machte mich dann an den Abstieg. Es war ein seltsames Gefühl, das sich mit jeder Stufe tiefer in meine Seele bohrte. Eiskalt, hart und grausam legte es sich um mein Herz und drückte langsam zu. Das Blut, das durch meine Adern gepumpt wurde, fühlte sich wie zähflüssiger Gummi an. Mein ganzer Körper begann taub zu werden und ich schluckte trocken, während ich weiterging.
 

Nicht stehen bleiben. Ich wusste, dass ich umkehren würde, wenn ich jetzt meine Bewegung stoppte. Ich musste vorwärts gehen und durfte nicht zurück sehen. Nicht an mein Zimmer denken und vor allem nicht daran, was mich dort unten erwarten konnte.
 

Mein Gott, ich war ein Mann! Ich sollte diese Angst nicht haben, die sich immer weiter in Panik verwandelte und kalten Schweiß auf meinen Handinnenflächen ausbrechen ließ! All das sollte so nicht sein! Ich sollte mich wehren! Stolz da stehen und mich nicht vor einem alten Mann fürchten! Er konnte mir doch nichts tun!
 

So aufbauend wie meine Gedanken auch waren, so merkte ich, wie ich mit jedem Schritt kleiner wurde. Meine Schultern sanken ein und ich begann leicht zu zittern. Zögernd ging ich weiter. Jede Bewegung fiel mir unglaublich schwer, doch ich zwang mich, obwohl alles in mir nach Flucht schrie. Ich hatte doch diesen Sieg! Wieso verlieh er mir keine Kraft?
 

Schließlich kam ich am Wohnzimmer an. Meine Mutter saß auf der Couch und von meinem Vater fehlte jede Spur. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und war kurz davor wieder umzudrehen, doch dann bemerkte ich das leichte Beben ihrer Schultern. Erneut musste ich trocken schlucken, bevor ich dann weiterging.
 

Ganz vorsichtig näherte ich mich ihr. Streckte meine Hand aus und berührte sie zögerlich an der Schulter. Sofort zuckte sie unter der Berührung zusammen und sah mich panisch an. Als sie aber erkannte, wer ich war, entspannte sie sich und ihre Gesichtszüge wurden wieder zu Stein. Ich konnte sehen, wie eines ihrer Augen blau wurde und auch eine Wange sich umfärbte. Ihre Hände zitterten leicht, doch sie streckte ihren Rücken durch. Versuchte Stärke zu zeigen, wo keine Stärke mehr war.
 

„Was willst du, Nathan? Solltest du nicht lernen oder im Bett sein? Es ist schon spät.“ Sie starrte wieder nach vorne in das Feuer des Kamins. Versuchte mit aller Macht zu verhindern in mein Gesicht zu sehen und ich wollte ihr diese Stärke wirklich glauben, doch ich spürte das leichte Beben ihres Körpers und sah die Verletzungen.
 

„War das Vater?“ Ich sprach nicht aus, was ich meinte. Wir beide wussten es auch so, doch es dauerte lange und das Zittern ihres Körpers nahm zu. „Das ist nicht von Bedeutung.“ Sie blieb so kalt und distanziert wie immer. Versuchte perfekt zu sein, obwohl ihre heile Welt immer mehr zerbrach. Warum versuchte sie diese mit aller Kraft irgendwie zusammen zu halten? Sah sie nicht, dass es sinnlos war?
 

„Nur weil ich nicht...“ Ich stoppte und spürte, wie ich mich plötzlich schuldig fühlte. Dieses Gefühl legte sich schwer über meine Schultern und machte mir kurz das Atmen schwer. Ich wusste, dass es kein Recht hatte zu existieren, dennoch war es da und begann mich langsam zu zerfressen.
 

„Es ist nicht von Bedeutung.“ Ihre Stimme war scharf und sie sah mich ermahnend schon fast drohend von der Seite an. Glaubte sie wirklich, dass es Sinn machte das Ganze zu verschweigen? Hatte sie denn nicht gesehen, dass es nichts brachte?
 

„Wo ist Vater jetzt?“ Ich versuchte einen Themenwechsel und sie wandte sich wieder dem Feuer zu. „Er ist raus gegangen.“ Irgendwie erleichterte mich diese Antwort ein wenig. Zumindest konnte er jetzt nicht auch noch auf mich losgehen. Es reichte wenn einer von uns litt, oder?
 

„Was wirst du jetzt tun?“ Ich fühlte mich immer noch schuldig und hoffte, dass ich ihr irgendwie helfen konnte. Auch wenn sie nie für mich da war. „Ich bleibe hier sitzen.“
 

Erneut trat Stille zwischen uns und ich holte tief Luft, bevor ich dann meine Hand von ihrer Schulter nahm. Sie sah nicht zu mir herüber, sondern starrte weiter in das Feuer und ich verstand es nicht. Warum sah sie nicht, dass dies alles falsch ist? Wieso blieb sie so ruhig, obwohl ihr Körper immer noch leicht zitterte? Woher nahm sie dieses Vertrauen?
 

Unschlüssig steckte ich meine Hände in die Hosentasche und folgte ihrem Blick eine Weile, doch es berührte mich nicht. Für mich war das nur ein Feuer. Ich erkannte nicht das, was sie dort zu sehen glaubte. Aber ich wusste jetzt, warum Amber so aufgelöst war und ich wusste nicht, ob ich wirklich etwas kaputt gemacht hatte. Vielleicht würde sich endlich etwas ändern?
 

Ich wandte mich ab und ging wieder nach oben. Kaum betrat ich die erste Treppenstufe öffnete sich die Haustür und fiel kurz darauf wieder zu. Schuhe wurden auf den Boden geschmissen und mein Blick begegnete dem meines Vaters. Sofort verfinsterte sich seiner und ich stürmte ohne wirklich den Grund zu begreifen los. Ich musste nur mein Zimmer erreichen, dann würde alles gut werden. In mein Zimmer und den Riegel vorlegen. Zimmer und Riegel. Sicherheit.
 

Die Stufen flogen an mir vorbei. Meine Hand glitt über das Geländer um mich vor einem Sturz zu bewahren. Zog mich höher und versuchte mich so noch mehr zu beschleunigen. Oben angekommen. Nur nach links. Dort war die Tür. Ich streckte meine Hand aus. Die Klinke. Ich musste sie berühren. Drücken und hindurch schlüpfen. Nur noch wenige Zentimeter. Spürte das kalte Metall und wollte es umschließen.
 

Der Aufprall war hart und riss mich von den Füßen. Ich rutschte kurz über den Boden. Schmerz durchzog meinen Körper. Ich spürte sein Gewicht auf mir. Hob schützend die Arme. Wollte ihm entkommen. Doch es ging nicht. Ich konnte nur mein Gesicht schützen. Spürte die Schläge. Versuchte die Worte nicht zu hören.
 

„Du Versager! Nie wieder sollst du es wagen dich gegen meine Worte zu erheben! Du bist es nicht wert! Ich habe das Sagen und du musst gehorchen!“ Ich roch den Alkohol, der mich leicht würgen ließ. Noch nie war dies passiert. Mein Vater hatte vorher noch nie getrunken, doch jetzt legte sich dieser Gestank schwer auf meine Lunge. Begleitete jeden Satz und jeden Schlag von ihm. Trieb die Übelkeit durch meinen ganzen Körper, doch sie wurde von dem Schmerz überdeckt.
 

Ich wusste nicht wann es aufhörte. Irgendwann bestand mein Körper nur noch aus Schmerzen und ich rollte mich so gut es ging zusammen sobald er sich erhob. Ich spürte, wie er sich über mich erhob und fühlte mich nur noch klein und unbedeutend. Traute mich nicht ihn anzusehen, sondern versteckte mein Gesicht weiter hinter meinen Armen. Ich wollte ihn nicht sehen. Nicht erkennen, dass alles vorher nur eine falsche Hoffnung war. Es würde nicht aufhören. Nicht solange ich hier blieb und er auch da war.
 

„Ich hoffe, dass du es endlich begriffen hast. Du hast zu gehorchen und dankbar für meine Weisung zu sein. So etwas wie heute will ich nie wieder erleben.“ Seine schweren Schritte entfernten sich und ich blieb liegen. Ließ die Machtlosigkeit in mein Herz und spürte, wie jegliche Hoffnung in mir starb. All die Höhenflüge, die ich vorhin hatte, waren zu einem grausamen Absturz geworden. Es würde niemals enden. Nicht solange ich hier war. Mit jedem schmerzhaften Atemzug wurde mir dies bewusster. Dieser Ort war kein Zuhause mehr für mich. Er war meine Hölle aus der ich entkommen musste. Irgendwie entkommen. Durchhalten und entkommen. Denn nur wenn ich jetzt aufgab, dann würde ich endgültig untergehen und das wollte ich nicht.
 

Ich wollte standhaft bleiben, um irgendwann von hier zu fliehen. Weiterzuziehen und endlich zu leben beginnen...

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (13)
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Von:  mor
2024-01-16T19:16:07+00:00 16.01.2024 20:16
An sich finde ich die ff echt gut, nur der ständige wechsel zwichen vergangenheit und gegenwart war auf dauer echt ansträngend. Es währe besser gewesen wenn man zuerst die vergangenheit und dann die gegenwart gezeigt hätte.

Insgeheim hätte ich mich etwas mehr über Viktor&Nath gefreut (Dank dir ist das jetzt mein neues lieblingspairring) ^^.

Und was der Lemon am Schluss angeht so kann ich mich mit Nath als Seme einfach nicht anfreunden...ich habs versucht wirklich aber es hat nicht geklappt.

Es würde mich freuen wenn es zur einer Fortsetzung kommen würde.
Antwort von:  Shino-Tenshi
18.01.2024 20:54
Hallo,

Danke für dein Kommentar. Das freut mich, dass es dir im Großen und Ganzen doch gefallen hat. Vor allem, dass du dich über eine Fortsetzung freust, die aber aktuell definitiv nicht geplant ist. Wenn dir aber mein Schreibstil gefällt, dann kannst du ja gerne mal bei meinen Originalwerken vorbeischauen ;)

Grüße Shino Tenshi
Von:  Onlyknow3
2018-11-03T15:58:42+00:00 03.11.2018 16:58
So schön, die beiden haben hart dafür gekämpft.
Jetzt haben sie ihr Ziel, sich zu haben erreicht.
Mir hat es gefallen.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Shino-Tenshi
03.11.2018 18:27
Das freut mich ^^ und ja, sie haben ihr Happy End bekommen ^^

Grüße Shino Tenshi
Von:  Onlyknow3
2018-11-03T15:28:57+00:00 03.11.2018 16:28
Wieso hat er alles Kaputt gemacht? Sein Vater ist doch der Terrorist in der Familie.
Warum sieht das seine Schwester nicht, und das auch noch als sein Zwilling?
Nathy macht es schon richtig, er wird es lernen sich zu wehren, das muss er.
Weiter so, freue mich auf das Happy End.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Shino-Tenshi
03.11.2018 18:28
Normales Denken von Kindern. Geben sich dann die Schuld und na ja... manche sehen die Wirklichkeit nicht. Beziehungsweise zeigt diese Reaktion von Amber wie "normal" dieser Zustand schon ist.
Ja, manchmal muss das sein ^^ sich zu wehren ;)

Grüße Shino Tenshi
Von:  Onlyknow3
2018-11-03T14:38:00+00:00 03.11.2018 15:38
Dann hat es sich für Nathy, und Castiel gelohnt auf einander zu warten.
Jetzt hat er sich seine Lieb endlich geholt, und Nathy ist erst mal sicher bei ihm.
Super tolle Geschichte, auch wenn es am Anfang etwas schwer war rein zu kommen.
Mir gefällt sie sehr gut, mach weiter so. Da diese Story ja schon abgeschlossen ist, freue mich
auf was neues von dir.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Shino-Tenshi
03.11.2018 18:30
Du findest viele schöne Sachen auf meinem fanfiktion.de Account. Heiße dort "Shino Tenshi". Hier darf man ja kein Leerzeichen setzen ;) und da darf man überall auch anonym Reviews schreiben bei mir ^^

Ja, auch wenn sie vorher nicht gewusst haben, dass sie an sich aufeinander warten XD

Grüße Shino Tenshi
Von:  Onlyknow3
2018-11-03T11:14:57+00:00 03.11.2018 12:14
Dann sollte sein nächstes Ziel sein, eine Therapie zu machen, um all das was sich da angestaut hat wieder los zu werden.
Sonst könnte das auch mal ausbrechen und den falschen treffen.
Nathaniel tut mir leid, anderer seits könnte er aus diesem Kreislauf raus sein, wer er auf das Angebot von Castiel damals eingegangen. Weiter so, freue mich auf die anderen Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Shino-Tenshi
03.11.2018 18:31
Hinterher ist man immer schlauer ;) und ja, Therapie ist manchmal sinnvoll. Kommt aber auf die Art Mensch an. Ich bin eher jemand, der es mit sich selbst klärt und von solchen Therapien nichts halte ^^"

Grüße Shino Tenshi
Von:  Onlyknow3
2018-11-03T10:07:46+00:00 03.11.2018 11:07
Das ist auch so nicht mehr möglich Nathaniel. Luzifer ist hier zu bedauern, aber wer weiß vielleicht, kommen sie ja doch noch zusammen. Super Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2018-11-02T21:50:59+00:00 02.11.2018 22:50
Du machst das richtig super, wie du zwischen den Zeiten hin und her wanderst.
Mir gefällt dein schreib stil. Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2018-11-01T21:28:48+00:00 01.11.2018 22:28
Nathy pass auf Alexy frist dich mit Haut und Haaren. Der ist genau wie Castiel Schwul.
Ist das vielleicht der Grund warum er so negativ auf Kentin und Alex reagiert hat?
Wegen der Abfuhr von Nathaniel? Möglich, wäre aber schön wenn sie sich trotzdem finden würden.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Shino-Tenshi
02.11.2018 09:17
Alexy ist wirklich schwul. Der Rest eigentlich nicht ^^" aber na ja ;) was tut man nicht alles fürs Shipping.

Na ja... das weiß ich nicht. Ich kenne die andere Geschichte nicht und die gehören an sich auch nicht zusammen XD und hier reagiert er ja nicht negativ auf sie.

Viel Spaß noch beim Lesen ;)
Von:  Onlyknow3
2018-11-01T21:03:12+00:00 01.11.2018 22:03
Also Alexy, Armin, Castiel Natahiel kenne ich aus dieser FF: Heart-shaped glasses, wo es auch noch einen Kentin gibt.
Wenn du mir jetzt sagst das es die selben sind, dann ist es ein super Ergänzung dazu.
Mir gefällt die Story. Freue mich auf die anderen Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Shino-Tenshi
02.11.2018 09:13
An sich sind es die Selben. Weil es beide FFs zu Sweet Amoris sind (schätze ich mal). Kentin taucht an sich auch auf. Jedoch wird er nie als Kentin betitelt.

Es freut mich, dass es dir gefällt ^^
Von:  Onlyknow3
2018-11-01T19:08:55+00:00 01.11.2018 20:08
Aber das ist dann wohl der Grund für Luzifers reaktion auf das wiedersehen mit Gabriel.
Oder das er ihn im Park treffen will. Bin gespannt was da noch alles kommt.

LG
Onlyknow3


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