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Umleitung

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Disclaimer: Die nun folgenden Personen und Firmen, wie auch der Fall dieser Geschichte sind komplett erfunden. Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder lebendigen Personen sind zufällig und wurden nicht von mir beabsichtigt.
Ebenso mit fiktiven. Komplett anzeigen

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Umleitung

15. März 2018, 10:35 Uhr, Polizeipräsidium Schwaben Süd/West, Besprechungszimmer „Zugspitze“

 

„In Ordnung, Müller, kümmern Sie sich noch heute um die weiteren Zeugenaussagen, damit wir auch in diesem Fall vorankommen. Bei den beiden Zeugen aus Spanien werden wir einen Übersetzer benötigen, welchen wir heute bereits wegen einem anderen Fall im Haus haben.“

Kollege Müller nickte, ordnete seine Papiere neu und rückte seinen Stuhl zurecht. Unser Vorgesetzter, Einsatzleiter Hübner, machte sich ein paar kurze Notizen, bevor er sich ein weiteres Mal aufrichtete. Zwar saßen wir hier erst seit einer halben Stunde, doch das Treffen schien an diesem Tag kein Ende zu nehmen. So war ich erleichtert, als er uns schließlich erwähnte. Die besonders umständlichen Fälle besprach er immer am Ende, da er sonst Gefahr laufen würde, die restliche Zeit unschuldige Kollegen aus seiner schlechten Laune heraus anzubellen. Hübner räusperte sich.

„Kommen wir nun zum letzten Fall, den wir hier heute besprechen. Es ist die Angelegenheit MN-18-15-M. Bitte schildern Sie uns kurz den Verlauf des Falls ab, Ihre bisherigen Ergebnisse und wie Ihre nächsten Schritte sein werden.“

Ein kurzer Schluck Kaffee, anschließend ein großes, kräftiges Schnäuzen in ein geblümtes Taschentuch. Wir alle wussten, was dieses Verhalten zu bedeuten hatte, doch wir ignorierten es. Hübner nutzte jede Gelegenheit, die sich ihm ergab, die unangenehmen Fälle so lange wie möglich hinauszuzögern. Je später er davon erfuhr, desto besser für ihn und sein Seelenheil.

Seitdem er Serien wie NGIS oder Die Tatortschrubber für sich entdeckt hatte, sah er es nicht mehr so gerne, wenn sich die Lösung eines Falles nicht so schnell ereignete wie in seinen bevorzugten Abendprogrammen. Dabei müsste gerade er es nach so vielen Dienstjahren besser wissen.

Dennoch wäre es ihm lieber, wir würden wie das Ermittlerteam aus der amerikanischen Fernsehserie den Täter mithilfe von modernster Technologie auf der Stelle ermitteln. Vollkommener Unsinn, wenn man mich fragen würde. Wir besaßen keine Geräte, die einen 2000-fachen Zoom auf ein Foto machen können, nur damit wir den Täter in einer winzigen Spiegelreflexion erkennen. Zwar waren wir als Polizisten längst nicht mehr von vorgestern, Patzer wie zum Beispiel den Kollegen von 1922 würden uns heute nicht mehr passieren. Dennoch bestand die heutige Polizeiarbeit aus Befragen, Spurensichern und dem Folgen der eigenen Intuition, mit den Geräten und Mitteln, die uns heutzutage dabei zur Verfügung standen.

Kaum hatte Einsatzleiter Hübner sein Nasenkonzert beendet, richtete ich mich auf. „Guten Morgen, die Herren Kollegen“, grüßte ich in die Runde. Mittlerweile wirkte der Kaffee und sie sahen bereits viel wacher aus, als am Anfang der Besprechungsrunde, als wir uns alle noch den Schlaf aus den Augen gerieben hatten.

„Wir beschäftigen uns mit dem Fall MN-18-15-M. Wie Sie bereits aus dem Aktenzeichen erkennen können, handelt es sich dabei um einen Mordfall.“

An dieser Stelle muss ich das Aktenzeichen kurz erläutern. Eine ziemlich unsinnige Sache, die der Herr Einsatzleiter aus München mitgenommen hat, aber wer will sich schon wegen einer solchen Kleinigkeit für mehrere Wochen vom Polizeidienst suspendieren lassen? Ich mit Sicherheit nicht.

Nun, das Aktenzeichen ist eigentlich recht einfach zu verstehen, wenn man es nur zu lesen weiß. MN steht für das Autokennzeichen von Mindelheim, der Ort, an dem das Verbrechen geschehen war. Wäre es hier in unserem schönen Kempten passiert, würde stattdessen KE den Anfang des Aktenkürzels schmücken. Die 18 kommt von der Jahreszahl, die 15 ist dagegen eine Aufzählung der gemeldeten Verbrechen in diesem Jahr. Bisher war es in Mindelheim recht ruhig, daher sind es bisher nur 15 Vorfälle. Ich muss aber auch dazu erwähnen, dass nicht jedes Verbrechen, das uns die Bürger melden, auch am Ende in diese Zählung mitaufgenommen wird. So werden Kleinigkeiten wie ein Streit unter Nachbarn oder Diebstahl von Jugendlichen nur in der Gesamtwertung beachtet, jedoch nicht, wenn es darum geht, die dicken Fische aufzuzählen. Sollte es aber zu einem Unfall, einer Entführung oder gar einem Mord kommen, dann macht unser Einsatzleiter einen weiteren Strich auf seiner Liste. Wie auch bei diesem Fall. Der letzte Buchstabe M ist einfach nur unsere interne Abkürzung für Mord. Damit auch jeder Kollege, der mit uns zusammenarbeitet, gleich weiß, was Sache ist. Bei externen Kollegen sieht es natürlich anders aus, aber da wir nur in sehr seltenen Fällen einen regen Austausch mit anderen Dienststellen haben, gleicht sich das wieder aus.

„Bei dem Mordopfer handelt es sich um einen 41-jährigen Mann. 1,85 Meter hoch, normalschlank. Laut der Autopsie wurde er am Abend des 21. Februar zwischen 20 und 22 Uhr in seinem eigenen Bad ermordet. Er hatte wohl gerade vor, sich zu duschen und im Anschluss einen frischen Schlafanzug anzuziehen. Wie sie hier sehen können …“, mein Kollege und Partner deutete dabei auf eines von mehreren Fotos, die an die Wand projiziert wurden.

„Das Opfer wurde zunächst mit einem dünnen Seil stranguliert, wir gehen von einer Angelschnur oder ähnlichem aus.“, fuhr ich fort und sah ihn dabei für einen Moment an, was er mit einem kurzen Kopfnicken bestätigte. „Dabei kam es wohl zu einem Kampf, wie man an den herumliegenden Gegenständen erkennen kann. Entweder hatte der Täter keine Zeit mehr, ein wenig für Ordnung zu sorgen oder er wollte nicht noch mehr Spuren hinterlassen. Bei dem Gerangel, bei dem das Opfer wohl die Oberhand gewinnen konnte, wurde es mit einem 17 cm langen, scharfen Gegenstand erstochen. Insgesamt wurden dem Opfer zehn Messerstiche beigebracht. Todesursache des Opfers ist schlussendlich ein hypovolämischer Schock, verursacht durch den hohen Blutverlust. Möglicherweise hätte es für das Opfer noch Chancen zur Rettung geben können, doch dafür wurde es zu spät aufgefunden.

Unser Opfer war verheiratet und hatte mit seiner Frau zwei gemeinsame Kinder. Aber laut diversen Zeugenaussagen, die wir bereits aufnehmen konnten, lebten die beiden seit einer Weile getrennt. Während der Vater in der gemeinsamen Wohnung blieb, hatte sich die Frau mitsamt den Kindern im Ausland abgesetzt. Nach Italien, um genau zu sein. Dort hält sie sich bereits seit Ende Oktober des vergangenen Jahres auf, die beiden planten, nach dem Trennungsjahr die Scheidung einzureichen.

Zeugen der Tat gibt es leider keine, das Opfer hielt sich alleine in der Wohnung auf. Da er oft in verschiedenen Schichten arbeitete und kaum Kontakt zu den Nachbarn hatte, fiel seine Abwesenheit nicht auf. So wurde seine Leiche erst nach eineinhalb Wochen von der Zugehfrau entdeckt, die dort allen zwei Wochen ihren Tätigkeiten nachgeht.

Selbstverständlich haben wir sie verhört, sie sagte aus, dass die Haustüre verschlossen war und sie sonst keine auffälligen Zeichen entdeckt hatte. Erst im Bad fand sie das Opfer auf, woraufhin sie umgehend die Kollegen aus der Notdienststelle informierte.“

Eine kurze Atempause, ein kleiner Blick in die Runde. Noch hatte ich die Aufmerksamkeit der Anderen, was mir ein gutes Zeichen war. Denn das bedeutete, dass mir auch der Einsatzleiter noch zuhörte.

Ich blickte meinen Kollegen an, er verstand augenblicklich. So stand nun er anstelle von mir und blickte noch selbst in unsere illustre Runde, bevor er unseren Fallbericht fortsetzte.

„Dadurch, dass das Opfer erst so spät aufgefunden wurde, können wir ein mögliches weiteres Einwirken durch den Täter nicht komplett ausschließen. Das Messer konnten wir in der Küche des Opfers sicherstellen, es befand sich in der Spüle. Zwar wurde es grob abgewischt, aber die Jungs aus der Spusi waren immer noch in der Lage, ein paar Blutspuren sicherzustellen, die eindeutig dem Opfer zuzuordnen waren. Bedauerlicherweise konnte die dünne Drahtschnur noch nicht gefunden werden, aber wir suchen noch danach. Wir gehen davon aus, dass das Opfer den Täter kannte oder dass sich der Täter eine Kopie vom Hausschlüssel angefertigt hat, wir konnten keine Spuren eines gewaltsamen Eintretens erkennen. Sprich, entweder hat das Opfer den Täter zu sich gelassen oder er hat sich selbst eingeladen. Angesichts der Tatsache, dass das Opfer das Bad vorbereitet hat, schließen wir eine freiwillige Einladung seitens des Opfers aus.

Was wir bisher vom Opfer wissen, ist, dass es als Lagerist in einem großen Logistikunternehmen in Mindelheim tätig war, dort war es größtenteils unauffällig. Überhaupt ist aus polizeilicher Sicht nichts über das Opfer bekannt, das höchste der Gefühle ist eine Geschwindigkeitsübertretung vor drei Jahren.

Wir ermitteln bereits in alle möglichen Richtungen, überprüfen jedes Alibi der Personen, die infrage kommen würden und sammeln Informationen über das Opfer. Aber auch über sein Umfeld, möglicherweise erfahren wir über Ecken etwas, was uns bei der Fallaufklärung helfen würde. Wir müssen nur noch die Schnur, den Täter und ein festes Tatmotiv finden, dann sollte es kein Problem sein, den Mörder hinter Gitter zu bringen.“

Er räusperte sich ein wenig. Dass ihn der Einsatzleiter so direkt ansah, machte ihn wohl nervös. Egal, wie oft er nun diese Ansprachen halten würde, seine Hände waren jedes Mal hinterher stark verschwitzt. Auch jetzt konnte ich den feuchten Glanz auf seinen Handinnenflächen sehen. Wenigstens hatte er genug Anstand und wischte sich diese nicht an der Hose ab.

„Heute wollen wir ein weiteres Mal bei der Arbeitsstelle des Opfers vorbeisehen und mit seinem Vorgesetzten sprechen. Wie wir erfahren haben, hatte er angeblich die letzten Wochen mehrere Auslandstermine und sei erst heute wieder zu sprechen. Wir erhoffen, dass wir etwas Neues von ihm zu hören bekommen. Wir werden uns gleich im Anschluss nach der Besprechung auf den Weg machen. Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.“

Mehrfaches bestätigendes Nicken in unsere Richtung, dann setzte sich auch mein Kollege wieder hin. Hübner ließ sich das Ganze durch den Kopf gehen, man konnte es ihm direkt ansehen. Schließlich leerte er seine Tasse und ließ sie am Tisch stehen.

„In Ordnung, dann beenden wir diese Besprechung für heute und gehen unseren Aufgaben nach. Metzger und Polanski, ich würde Sie beide gerne noch wegen einer Angelegenheit in Ihrem Fall unter sechs Augen in meinem Büro besprechen.“

Für uns jedoch war das monatliche Treffen beendet und somit auch unsere Aufenthaltspflicht. Mit einem freundlichen letzten Nicken schnappten wir unsere leeren Plastikbecher und verließen die Zugspitze.

 

~

 

15. März 2018, 11:55 Uhr, A96 Richtung München, rund 900 Meter von der Abfahrt Mindelheim entfernt

 

„Da haben wir uns ja ganz schön was eingebrockt, findest du nicht auch, Franz?“

Gemütlich biss sich mein Kollege ein großes Stück seiner belegten Semmel ab, dann blickte er zu mir herüber, eine Reaktion abwartend.

„Wie meinst du das denn jetzt?“, fragte ich ihn, obwohl ich mir die Antwort bereits denken konnte. Dazu kannte ich ihn zu lange, dazu habe ich viel zu viele Jahre mit ihm zusammen gearbeitet. Bereits als kleine Lausbuben haben wir schon die gleiche Sitzbank in der Schule gedrückt. Und nun saßen wir beide im gleichen Auto auf dem Weg nach Mindelheim.

„Naja, ist doch mal was anderes, als immer nur Verkehrssünder von der Straße zu ziehen oder Nachbarn daran zu hindern, sich gegenseitig die Gesichter aufzukratzen. Wir haben jetzt eine so richtig kniffelige Abwechslung. Außerdem gibt es nichts, was wir beide nicht schaffen würden, nicht wahr?“

Ich begann zu seufzen.

„Dir ist aber schon klar, dass das nicht eines deiner Wimmelbildspiele ist, mit denen du dir deine Zeit so vertreibst. Nein, Richard, das ist ein richtiger, ernsthafter Fall und der sollte auch so behandelt werden. Ernsthaft und mit gutem Gewissen.“

Jetzt schaut er mich an, als hätte ich ihm gerade erzählt, dass ich die nächsten Überstunden unserer Kollegen übernommen hätte.

„Aber Franz, du musst doch zugeben, dass das doch wirklich etwas vollkommen anderes ist. Hier können wir unsere Qualitäten als Ermittler zeigen!“

Schade, vorhin im Besprechungszimmer hatte er sich noch viel seriöser angehört, als er an meinem Part angeknüpft und seinen eigenen Teil zum Besten gegeben hat. Offensichtlich hat er beim Verlassen des Raums sein seriöses Ich an einen Kleiderständer gehängt und gegen sein normales Ich eingetauscht. Welches ich nun gut gebrauchen könnte, kurz vor der Befragung eines möglichen Hauptverdächtigen. Wie gesagt, schade. Aber sei es drum, ich weiß, er hat keinen schlechten Hintergedanken, wenn er sich so äußert. Auch wenn mich solche Momente daran zweifeln lassen, ob der Polizistenjob überhaupt der Richtige für den guten Richard ist.

„Wir sind schon gut genug, das müssen wir ihnen nicht beweisen, Richy.“

Ich wusste, er mag diesen Spitznamen nicht, nicht einmal von mir, doch gerade deshalb verwendete ich ihn nun. Auch jetzt sah er mich wieder mit diesen spitzen Augen an. Ich rudere zurück.

„Auf der anderen Seite hast du Recht, es ist etwas anderes. Wobei mir das Opfer schon richtig Leid tut, so, wie es zugerichtet wurde. Zehn Messerstiche quer über den Torso verteilt, da muss schon viel Hass dahintergesteckt haben. Dann noch der Angriff von hinten … ja, da wollte jemand den guten Familienvater unter allen Umständen tot sehen. Wäre nur noch schön, wenn die Schnur auftauchen würde. Wenn wir endlich ein Motiv finden würden oder einen Hinweis auf den Täter. Bisher haben wir uns wohl zu sehr auf die Frau des Opfers konzentriert, das hat uns leider überhaupt nicht weitergebracht. Ehepartner sind ja immer eine recht heiße Spur, vor allem, wenn sie sich scheiden lassen wollen. Hätte ja sein können, dass ihr das Trennungsjahr zu lange dauert und sie die ganze Prozedur beschleunigen wollte?“

Zustimmendes Brummen seitens meines Kollegen, auch er hatte bereits etwas in der Richtung vermutet.

„Wenn man allerdings so schaut, ist die Entfernung zwischen Mindelheim und Neapel ist jetzt nicht gerade ein Katzensprung. Da bist du schon einen halben Tag unterwegs, mindestens. Aber wenn ich meinem Bruder Glauben schenken darf, dann dauert die ganze Gaudi mit dem Auto schon viel länger, besonders kurz nach der Grenze zu Italien soll es immer mal wieder Baustellen geben. Italiener lieben langanhaltende Baustellen, da sind die unseren in den Sommerferien wohl eine Kurzveranstaltung dagegen. Stau in beiden Richtungen, sagt er immer. Sobald man das sieht, vergeht einem jede Hoffnung auf einen anständigen Sommerurlaub. Jetzt haben wir zwar keinen Sommer, sondern Frühlingsanfang, aber die Italiener stört das nicht. Wenn es um Baustellen geht, kennen die nur eine Jahreszeit. Gebaut wird da immer.“

Ich rieb mir die Augen, dann legte ich den Blinker ein, bereit, die Autobahn zu verlassen. Ein Blick in den Rückspiegel sagte mir: Freie Fahrt zum Ausfahrtsstreifen.

„Jedenfalls, erinnere mich doch bitte daran, dass wir auf dem Rückweg kurz noch zu Frau Dr. Sommer in Memmingen vorbeischauen.“

Richard begann auf sein Smartphone einzuhämmern. Wie immer, wenn ich ihn darum bat, sich etwas für mich zu merken.

„Meinst du zu der freundlichen Pathologin mit den hübschen Sommersprossen?“

Was dem so alles auffällt.

„Ja, genau die meine ich. Ich hätte da noch ein paar Fragen zur Leiche, die sie mir hoffentlich beantworten kann. Außerdem habe ich neulich etwas in ihrem Büro zurückgelassen, da muss sie mir noch ein paar Spuren identifizieren. Erinnerst du dich diese seltsamen Flecken, die das Opfer auf seinem Rücken hatte? Die Spusi hielt es nicht für wichtig, aber ich denke, dass es eine Rolle spielt. Möglicherweise könnte das ein Hinweis auf den Täter sein, insbesondere die Frage: Hat er das Opfer vor oder nach dem Mord mit dem stumpfen Gegenstand bearbeitet? Wenn du mich fragst, war es hinterher. Spricht auch für ein Verbrechen aus Hass, immerhin hat er das Opfer nicht gerade zimperlich behandelt. Der Täter wollte, dass sein Opfer noch leidet. Möglicherweise lebte es in diesem Moment noch, Frau Dr. Sommer geht ebenfalls davon aus. Und das möchte ich nun eben von ihr klären lassen. Die Kollegen von der Spusi meinen, dass es vom Todeskampf kommt, ich aber denke, dass ihm die Flecken hinterher mit dem Nudelholz beigebracht wurden. Würde auch gleichzeitig erklären, warum es halbwegs abgewischt im Spülschränkchen lag.“

„Wird erledigt“, bestätigte mein Kollege und sah wieder vom Display hoch.

„Aber könnte es nicht sein, dass das Opfer von einem Mittäter oder jemand anderen verprügelt wurde?“

Ich sah Richard an. Gar nicht mal so schlecht der Gedanke, dachte ich mir, bevor ich mich wieder auf die Straße vor mir konzentrierte.

„Das wäre auch eine Möglichkeit. Wir haben bisher noch zu wenige Anhaltspunkte, um einen weiteren Mittäter oder einen weiteren Zeugen auszuschließen. Stellt sich nur die Frage: Was hatte die zweite Person dann überhaupt im Haus zu suchen? Wie kam sie dort hinein? War die Türe noch offen, und sie hat sie dann beim Verlassen verschlossen? Warum hat sie die Polizei nicht informiert? War es ein Einbrecher, der mehr fand, als er eigentlich sehen wollte? Das müssen wir noch alles herausfinden.“

Wir passierten gerade die Ortseinfahrt, als mir noch ein weiterer Punkt einfiel.

„Achja, Richard, wenn wir nachher in der Pathologie fertig sind, willst du dann in Memmingen einen kurzen Abstecher bei unserem Lieblingslokal machen?“

Er ließ nicht lange mit einer Antwort auf sich warten.

„Du meinst Neben dem Fluss? Natürlich, ich bin da immer dabei. Aber dieses Mal rufst du an, die letzten paar Male hab ich das für dich übernommen.“

„Geht klar“, widerspreche ich ihm nicht und fahre in die Richtung unseres Ziels.

 

Welches wir nach rund fünfzehn Minuten und zwei Baustellenumfahrungen endlich erreicht hatten. Würde man mich nach einem Spitznamen von Mindelheim befragen, würde ich es als „Mini-Italien“ bezeichnen. Möglicherweise saßen Italiener im Mindelheimer Baurat, anders kann ich mir diese Umbau- und Sanierungswut in dieser Stadt nicht erklären. Nun gut, zurück zur Arbeit.

Der Gebäudekomplex war größer, als ich es mir vorgestellt hatte und doch konnte man es nur schlecht von der Stadt aus sehen, dank der vielen Baukräne. Lieferwägen, wohin man nur sieht und auch zahllose Parkplätze vor dem Komplex zeigten uns, wie viele Menschen dort überhaupt arbeiteten. Von wegen ein kleiner, örtlicher Lieferant aus der Gegend. Das war diese Spedition vielleicht mal vor Jahrzehnten, aber heute war das schon ein ernstzunehmender Gegner für Fuchser und Konsorten.

Kaum hatten wir unsere Dienstausweise an der Pforte vorgezeigt, wurde das Verhalten des Wachmannes freundlicher. Wir konnten gerade unseren Wagen vor dem Hauptgebäude abstellen, da kam uns schon die Sekretärin entgegengestöckelt. Mit Schuhen, dass einem die Augen ausfallen. Doch sie lief zielsicher, trotz ihrer acht Zentimeter hohen Absätze.

„Wenn ich die Herren nun zu unserem Vorgesetzten bringen darf“, begrüßte sie uns und händigte zugleich die Besucherausweise aus. Umständliche Dinger, die sich mal wieder nicht so leicht an der Uniform befestigen ließen. Normal verzichteten wir auf die Uniform, doch an diesem Tag nicht. Wollten Eindruck schinden. Wir wussten bereits, dass solche Personen viel lieber auspackten, wenn sie gefühlt zwei Klone der bayerischen Polizei vor sich sitzen hatten, da saß erfahrungsgemäß die Zunge lockerer. Trat man dagegen in einem privaten Look bei ihnen auf, konnte man das gleich wieder vergessen. Entweder nahmen einen diese Anzugmenschen überhaupt nicht mehr ernst, oder sie sahen in einem die Bedrohung des Jahrhunderts. Als könnten wir ihnen sämtliche Verbrechen, welche das auch immer sein mochten, von der Stirn ablesen und gleich gegen sie verwenden, um sie einzubuchten. Nein, hier musste man mit der Psyche des Menschen spielen, dann spielten diese Menschen auch das eigene Spiel mit.

„Herr Dietrich ist ein sehr beschäftigter Mann und er kann es nur selten einrichten, sich nicht um die Belange dieses Unternehmens zu kümmern. Halten Sie sich daher bitte kurz, wenn es geht, wir haben noch drei weitere Termine an diesem Vormittag und ich möchte nicht diejenige sein, an der sie scheitern“, sagte sie uns, während sie uns durch das Gebäude führte. Hatte ich noch in den ersten Augenblicken versucht, einen Blick auf ihren Mitarbeiterausweis zu erhaschen, war es mir mittlerweile gleich, wie der Name der Dame lautete. Viel mehr wünschte ich mir, der endlose Gang würde endlich ein Ende nehmen. So langsam wurden mir die Lobhudeleien bezüglich ihres „unglaublich beschäftigten Chefs“ doch ein wenig zu viel.

„Herr Dietrich organisiert dies … Herr Dietrich ist verantwortlich für das … Herr Dietrich hier, Herr Dietrich da…“

Mir rauchte bereits der Kopf und mein Kollege gab sich wenig Mühe, den gleichen Zustand vor mir zu verstecken. Ihren Worten zu folgen, gelang mir immer weniger und so gab ich es auf. Schließlich verstummte ihre Stimme und damit ihre Flut an Lobeshymnen. Augenblicklich kehrte Leben in meine müden Knochen zurück, der Kaffeekonsum der letzten zwei Stunden gehörte nun endgültig zur Vergangenheit. Richard musste sich ein Gähnen unterdrücken.

„Hier sind wir nun, meine Herren. Bitte halten sie sich wie gesagt kurz, Herr Dietrich ist ein sehr beschäftigter Mann“, dabei dehnte sie das Wörtchen „sehr“ unnötig lang.

„Ich denke, das wird sich einrichten lassen“, sagte ich noch zu ihr, bevor wir den Raum betraten und die Türe hinter uns beiden verschlossen. Glücklicherweise fand die Befragung nicht in Anwesenheit der Empfangsdame statt, das hätte uns jetzt doch noch den letzten Nerv geraubt.

„Guten Tag, meine Herren“, begrüßte uns der Chef dieses Unternehmens ein wenig freundlicher. Ich verkniff mir jeden Spruch bezüglich seiner Angestellten und entschied, gleich zum Thema zu kommen. Auch ich wollte nicht unnötig Zeit mit diversen Floskeln verschwenden.

„Ebenfalls guten Tag, Herr Dietrich. Mein Name ist Kommissar Franz Jäger und das hier ist mein Kollege Richard Wolf. Wir kommen direkt vom Polizeipräsidium Schwaben Süd/West.“

Gleichzeitig zeigten wir ihm unsere Dienstmarken, wie um die Richtigkeit unserer Namen und auch unserer polizeilichen Zugehörigkeit zu unterstreichen. Mir entging nicht, dass sich kleine Fältchen um Mund und Stirn unseres Gegenüber bildeten, doch das davon ließ ich mich nicht aus der Fassung bringen.

„Wie Sie vermutlich wissen, ermitteln wir in der Sache zu einem Ihrer Angestellten, einem Herrn Weber. Soweit wir informiert sind, arbeitete er bis vor kurzem in Ihrem Unternehmen. Dazu hätten wir ein paar Fragen an Sie.“

Unser Gegenüber sah uns ruhig an, als könnte ihn kein Wässerchen trüben. „Ja, der Name sagt mir was. Fleißiger Mann, ist eine echte Schande, was ihm da angetan wurde“, sagte er und begann, sich eine Zigarre anzuzünden. Kaum hatte ich die Zigarre erblickt, meldete sich augenblicklich mein Hustenreiz. Wie erwartet breitete sich ein unangenehmer Geruch nach Pfefferminze aus, kannte ich diese merkwürdige Zigarrenart bereits von meinem Bruder. Stumm beneidete ich Richard um seinen kaputten Riecher, der ihn in seinem Beruf glücklicherweise kaum behinderte. Wenigstens einer von uns blieb vom Geruch verschont.

„Was können Sie uns über Herrn Weber sagen?“, begann Richard zu fragen. Dietrich dagegen blieb ihm erst einmal eine Antwort schuldig, für ein paar weitere Zigarrenzüge. Offenbar brauchte er das zur Sortierung seiner Gedanken. Kaum hatte sich der braune Stecken in einen halben Stummel verwandelt, wurde sein Besitzer redseliger.

„Nun, als Geschäftsführer habe ich hier natürlich nicht sehr viel Kontakt zu meinen Mitarbeitern, aber man bekommt ja trotzdem mit, wer gute Arbeit leistet und wer nicht. Wir haben unsere kleinen Vierermannschaften, die alle für sich zusammen arbeiten. Weber und seine Kollegen gehören … verzeihen Sie, gehörten zu den besseren Teams hier in unserem Unternehmen. Er hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, nur wenige Verspätungen zu vermelden und war in seiner Abteilung sehr beliebt. Zumindest gab es wenig Beschwerden seitens des Abteilungsleiters, das ist alles, was ich weiß.“

Wir beide notierten, Dietrich dagegen aschte in seinen Glasbecher. Wenige Minuten später drückte er die Zigarre dort aus. Offenbar ein nervöser Raucher.

„Können Sie uns auch etwas zu ihrem Mitarbeiter als Person sagen?“, fragte Richard nach. Misstrauisch hob unser Gegenüber seinen Kopf.

„Was wird das hier, ein Verhör? Wollen Sie damit sagen, dass Sie mich verdächtigen? Das ist doch lächerlich!“

Richard schüttelte dezent den Kopf.

„Nein, wir wollen gar nichts damit sagen. Beantworten Sie bitte einfach nur meine Frage, damit wir Ihre Zeit nicht noch mehr beanspruchen als geplant. Ihre Empfangsdame sagte uns bereits, dass Sie eine sehr beschäftigte Person wären.“

Dietrich begann zu lachen, ließ es jedoch schnell wieder bleiben. Wir dagegen blieben ruhig, wie zwei professionelle Pokerspieler. Richtig professionell.

„Was auch immer Sie Nachts einschlafen lässt“, meinte Dietrich.

„Wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich nicht viel mit den Mitarbeitern zu tun. Meistens nur, wenn etwas im Argen liegt oder beim Vorstellungsgespräch. Ansonsten würde ich Ihnen raten, sich bei seinen Kollegen umzuhören. Aber warten Sie …“, stoppte er und begann auf seiner Tastatur herum zu klopfen. Mich würde es nicht wundern, wenn er sich regelmäßig eine Neue leisten müsste.

„Das einzige, was ich Ihnen noch sagen kann, ist der Dienstplan der Vier. Soweit ich es hier sehen kann, hat er bis zum 19. Februar hier bei uns gearbeitet und sich danach mehrere Tage im direkten Anschluss frei genommen. Sein Antrag ging bis … bis zum 23. Februar. Leider konnte ich ihm den Antrag nicht komplett gewähren, da wir gegen Ende des Monats einen Großauftrag erwarteten und jeden verfügbaren Mann gebrauchen konnten. Von daher ging sein Urlaub nur bis zum 22. Februar. Es ist wirklich eine Schande, aber es lässt sich nun auch nicht mehr ändern. Jetzt muss ich wohl nach einem Ersatz suchen. Gar nicht so einfach, die meisten Menschen sind nicht an einer Schichtarbeit im Lager interessiert.“

Die zweite Zigarre wurde entfacht, wieder verteilte sich der Pfefferminzgeruch im Raum. Nur mühsam unterdrückte ich das Bedürfnis, sämtliche Fenster aufzureißen und tiefe Atemzüge bis in den unteren Lungenlappen zu nehmen.

„Was das Privatleben meiner Mitarbeiter angeht, bin ich nun wirklich nicht informiert, da muss ich Sie wohl enttäuschen“, kam er meinem Kollegen zuvor. Dieser war noch immer mit seinen Notizen beschäftigt, wie immer schrieb er dabei ganze Romane, während ich es bei kurzen, prägnanten Stichworten beließ.

„Seine Kollegen werden sich damit wohl viel mehr auskennen, immerhin sind die Mitarbeiter hier sehr gesprächig. Ich lass sie das durchgehen, solange sie gute Arbeit dort unten in den Hallen leisten. Die Lieferware kommt rein, wird zu meiner Zufriedenheit verteilt und geht rechtzeitig an den Kunden hinaus. Von mir aus können die ruhig ganze Kaffeekränzchen dort unten halten, solange es sie nicht von ihrer Arbeit abhält.“

Er lachte ein wenig, als hätte er einen Witz erzählt. Richard und ich kamen uns recht humorlos dagegen vor, was uns nicht sonderlich störte.

„Da würde ich Ihnen empfehlen, dass Sie bei seinen Kollegen direkt nachfragen, wenn Sie mehr über den Weber erfahren wollen. Leider haben sie heute keine Schicht, aber ich kann Ihnen die Adressen der Herren ausdrucken. Ob Sie die dann auch antreffen, kann ich nicht garantieren. Haben sich zwecks der Beerdigungsfeier die Tage freigenommen. Ansonsten können Sie hier jederzeit ab der nächsten Woche vorbeikommen, Frau Barbieri wird Sie dann sicherlich freundlicher empfangen und zu den Herren führen. Ich … werde mal mit ihr reden.“, sagte er bedeutungsschwanger. Schließlich klopfte er zum Leidwesen seiner Tastatur erneut auf ihr herum, bis sich der Drucker hinter ihm zu Wort meldete. Was das fleißige Gerät ihm ausspuckte, schob er auf dem Tisch in meine Richtung. Ich konnte drei Adressen erkennen, welche mühselig aus einer Tabelle herauskopiert worden waren. Man sah dem Blatt sofort an, dass derartige Büroarbeiten sonst jemand anderes für ihn übernahm.

„Vielen Dank für Ihre Mühen, das ist bereits sehr hilfreich“, sagte ich und studierte die Liste.

„Brandt, Nguyen und Zalewski. Das klingt nach einer bunt gemischten Truppe“, scherzte ich ein wenig herum. Dietrich nickte stolz.

„All unsere Teams sind so bunt gemischt, wie Sie es nennen. So entstehen keine Ghettos innerhalb unserer Firma und die Kollegen können etwas voneinander lernen. Ist besser für die Teamarbeit, das hat so eine Studie irgendwann mal vor ein paar Jahren herausgefunden. Wie gesagt, die Jungs leisten dort unten gute Arbeit, es gibt nur sehr selten Grund zur Beschwerde.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Wie kommt es, dass dort unten keine Frauen arbeiten? Wäre das zu bunt für die Mischung?“, frage ich so, ohne einen bestimmten Hintergedanken. Nicht, dass die Antwort darauf auch nur irgendeine Hilfe für unseren aktuellen Fall wäre, aber irgendwie würde es mich dann doch interessieren. Wieder musste Dietrich lachen und ich begann mich zu fragen, ob er nur einfach nicht die Zigarren vertrug.

„Nun, ich hätte an sich nichts dagegen, wenn eine Frau bei uns im Lager arbeiten würde. Allerdings bewirbt sich hier so gut wie keine und wenn, dann meist für irgendeinen Verwaltungsjob. Im Lager will keine arbeiten und zwingen kann ich die guten Damen ja schlecht.“

Die zweite Zigarre fand ihr Ende in dem Aschenbecher aus Glas.

„Ich hoffe, das beantwortet Ihre Frage. Möchten Sie sonst noch etwas von mir wissen, oder war es das? Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber ich erwarte noch mindestens drei weitere Gäste und Sie kennen doch das Sprichwort: Zeit ist Geld. Ich habe beides, aber meinen Gästen mangelt es doch daran sehr, weswegen ich mich ganz und gar nach deren Zeitplänen richte.“

Und wir uns nach deinem, fuhr mir durch den Kopf, doch ich verbiss es mir. Bisher hatte er sich erstaunlich kooperativ gezeigt, da wollte ich die Situation nicht durch einen unseriösen Kommentar ruinieren.

„Nein, das war es erstmal von unserer Seite aus. Aber wir werden gerne Ihr Angebot wahrnehmen, sollten wir die Herren Brandt, Nguyen oder Zalewski nicht an Ihren Privatadressen erreichen können.“

In der Zwischenzeit hatte Dietrich seinen massiven Tisch aus dunklem Holz umrundet und streckte uns die Hand entgegen. „Nun, wie gesagt, solange Sie meine Mitarbeiter nicht großartig an ihrer Arbeit stören, können Sie sie ruhig befragen, auch bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen.“ Wieder dieses Lachen, das mir von Mal zu Mal unsympathischer wurde. Mittlerweile wünschte ich mir, ich könnte diese ganze Verabschiedungsfarce überspringen und würde mit Richard im Wagen sitzen, auf dem Weg nach Memmingen, zur pathologischen Abteilung der Klinik. Beim Gedanken an das anschließende Sushi lief mir das Wasser im Mund zusammen. Doch da ich mich noch direkt gegenüber eines Verdächtigen befand, riss ich mich so gut es mir möglich war zusammen.

„Vielen Dank für Ihre Zusammenarbeit und dass Sie sich für uns extra die Zeit genommen haben“, erwiderte ich förmlich. Dietrich nickte nur. „Der Polizei, unserem täglichen Freund und Helfer unterstütze ich doch gerne. Besonders, wenn es um einen meiner Männer geht. Was für eine Schande, er war eine gute Seele und so fleißig … wie dem auch sei, ich wünsche den Herren Polizisten einen angenehmen Tag. Frau Barbieri wird Sie beide auch wieder hinausbegleiten“, erwiderte unser Gastgeber und informierte seine Angestellte per Knopfdruck darüber, dass sie uns doch bitte abholen möge. Kaum hatten wir den Raum hinter uns gelassen, atmete ich tief ein und aus. Dass wir das Gespräch endgültig hinter uns hatten, darüber war jeder der Beteiligten mehr als erleichtert.

 

~

 

15. März 2018, 12:45 Uhr, A96 Richtung Lindau, kurz nach der Autobahnauffahrt bei Mindelheim

 

„Prima, das hat uns ja nicht wirklich vorangebracht. Die Infos mit den Mitarbeitern hätte uns auch diese Sekretärin nennen können, dazu brauchten wir den Geschäftsführer nun wirklich nicht.“, beschwerte sich Richard. Ich dagegen schüttelte nur den Kopf und öffnete die Seitenfenster ein wenig. Wollte nach der doppelten Zigarrenwolke so viel frische Luft einatmen wie möglich.

„Nun, möglicherweise wusste sie nicht, mit wem der Verstorbene so alles in der Firma zusammenarbeitet. Könnte aber auch gut möglich sein, dass sie gar nicht die Freigabe dazu hatte. Oder sie durfte es uns schlicht nicht sagen, aus Datenschutzgründen. Firmen sind da recht schnell dabei, wenn es um das „Need-to-know“-Prinzip geht. Wobei manche der hiesigen Firmen dabei übertreiben und selbst aus dem Namen des Putzpersonals ein Staatsgeheimnis machen. Völliger Schwachsinn, wenn du mich fragst, Richard, aber so ist unsere Welt nun einmal. Eine Welt voller Geheimnissen und Wichtigtuern.“

Für einen kurzen Moment genoss ich die warmen Strahlen der Sonne auf meiner Haut. Nach einem langen und kalten Winter hatte ich bereits wieder vergessen, wie es sich anfühlen würde.

„Auf jeden Fall haben wir nun drei weitere Namen, die wir über unser Opfer aushorchen können und das ist schon mal ein Fortschritt. Dennoch würde ich den Dietrich weiter im Auge behalten, so ganz koscher scheint der mir aber auch nicht zu sein.“

Richard schüttelt den Kopf.

„Nein, der hat bestimmt auch irgendeinen Dreck am Stecken, das sagt mir meine Intuition. Ist nur die Frage, wie groß dieser Drecksbatzen ist und inwiefern er mit unserem Fall zu tun hat. Was denkst du, sollen wie die Kollegen unseres Opfers heute noch befragen oder lieber morgen?“

Ich sah kurz zu ihm hinüber, bevor ich begann, einen älteren PKW zu überholen.

„Nein, heute nicht mehr“, antwortete ich ihm, kaum war ich auf die rechte Spur zurückgefahren. „Würde jetzt nicht mehr viel bringen, außerdem weiß ich nicht, wie lange wir noch in Memmingen brauchen werden. Mal vom Essen abgesehen. Morgen ist auch noch ein Tag und da müssen wir zu keiner Besprechung gehen. Da können wir gleich in der Früh zur ersten Person fahren. Dann werden wir sehen, was die uns noch alles an neuen Informationen mitteilen können.“

Richard wollte gerade etwas erwidern, doch er sollte nie dazu kommen. Genau in diesem Moment begann sich unser wageninternes Funkgerät zu melden. Glücklicherweise konnte man dieses auch komplett vom Steuer aus bedienen, eines der wenigen gelungenen Updates unserer Streifenwägen.

„Hier ist die Zentrale, Wagen 13, befindet ihr euch noch in Mindelheim?“, konnte ich die bezaubernde Stimme unserer Notdienststelle hören.

„Hier ist Wagen 13, Jäger und Wolf. Wir haben Mindelheim bereits wieder verlassen und sind auf dem Weg Richtung Memmingen auf der A96. Im Augenblick haben wir nichts zu erledigen. Was können wir tun?“, sagte ich, während ich versuchte professionell zu wirken. Ein Wort von ihr und mein Herz tanzte zusammen mit meinen Nerven Samba.

„Das trifft sich gut, ihr beiden, sehr sogar. Auf der Richtung, in der unterwegs seid, gibt es auf Höhe der Abfahrt Holzgünz in Richtung Memmingen einen Auffahrunfall. Es sind wohl drei Personenwägen daran beteiligt, keiner der Insassen wurde ernsthaft verletzt. Ein RTW ist bereits unterwegs zu euch, ich werde auch noch ein paar Kollegen zur Unterstützung zu euch rüberschicken. Bitte sichert die Unfallstelle ab und nehmt schon mal die ersten Personalien ab. Wenn sich noch etwas ergeben sollte, melde ich mich wieder.“

Ich hing an jedem ihrer Worte. Am liebsten hätte ich ihr ein „Gerne, alles was du sagst, mein Schatz“ ins Ohr gesungen, doch das konnte ich allein schon wegen dem Richard kaum machen. Damit wäre ich das Gespräch des Monats, wenn nicht sogar des Jahres. Und das war ein Titel, auf den ich gut und gerne verzichten konnte.

„Verstanden und bestätige. Wir werden zusammen zur Unfallstelle fahren, diese absichern und die ersten Personalien aufnehmen. Bis gleich, Maria!“, erwiderte ich und startete Sirene mitsamt Blaulicht. Sofort begannen die ersten Fahrzeuge vor uns eine Rettungsgasse zu bilden. Immer wieder vorbildlich, die Allgäuer. Die wissen noch, wie man eine anständige Rettungsgasse aus dem Nichts entstehen lassen kann.

„Sieht so aus, als müsste unser Mordfall erstmal warten“, sagte Richard, während er den großzügigen Abstand der Autos links und rechts voneinander bestaunte. Auch das ist eine Angewohnheit, die sich niemals ändern wird: Richard, der die Rettungsgassen der Allgäuer betrachtet. Selbst die Tatsache, dass er selbst sein ganzes Leben hier unten bei uns in Süddeutschland verbracht hatte, machte keinen Unterschied.

„Ja, sieht wohl so aus. Aber gut, wir sind nun mal die einzigen Kollegen vor Ort, wie es scheint und wir wollen ja nicht riskieren, dass sich eine Person auf die Fahrbahn begibt. Dann wäre das Chaos perfekt, vorbildliches Autofahrerverhalten hin und her. Ärgert mich zwar schon ein wenig, aber so läuft es nun mal bei uns ab.“

Richard nickte. „Bei uns ist immer mal wieder was los. Aber dafür sind wir doch Polizisten geworden, oder nicht?“

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Seit der Begegnung mit dem Zigarrenverrückten hatte ich das von mir verabschiedet wie meine Seele vom frühen Sushigenuss.

„Ja, genau deswegen sind wir Polizisten geworden. Und jetzt, lass uns die Unfallstelle sichern, es wartet ein Mordfall auf uns, der noch geklärt werden möchte.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Man merkt vielleicht, dass ich zu der Zeit rum ein paar Romane von Rita Falk gelesen habe, denn irgendwie wurde dadurch sowohl zur Ich-Perspektive, wie auch unabsichtlich zum Vornamen des Polizisten inspiriert. Der Franz hier allerdings ist keine Kopie vom Eberhofer Franz^^°
Mit "Patzer wie zum Beispiel den Kollegen von 1922" ist übrigens das hier gemeint: Hinterkaifeck
Zu der Zeit hatte ich auch das Buch "Tannöd" hinter mir, weshalb ich das wohl irgendwo auch im Hinterkopf gehabt haben muss. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Sternengaukler
2020-06-17T06:07:56+00:00 17.06.2020 08:07
Dein Schreibstil ist gut und ich fand die Geschichte soweit ganz fesselnd, soweit wie ich bisher kam. Zeitlich bin ich leider eingeschränkt. Detailreich geschrieben, Grammatik kann sich sehen lassen und ich finde meine heiß geliebten Satzzeichen, wo sie hin sollen. Das ist leider nicht mehr selbstverständlich heute....
Ich wüsste nichts, was ich da kritisieren sollte. Mach mal ruhig weiter so. Ist ein gutes Stück Arbeit, aber hat sich gelohnt.
Antwort von:  KiraNear
24.12.2020 17:06
Danke schön für deinen Kommentar und auch für deine lieben Worte :3
Ja, das mit den Satzzeichen ist leider oft so, dass sie viel zu oft weggelassen werden und dann wird der Satz gleich mal viel anstrengender zu lesen.
Danke, das werde ich mir heute und auch in Zukunft zu Herzen nehmen ~
Von:  Vegetasan
2020-06-12T16:59:34+00:00 12.06.2020 18:59
Eine interessante Story.
Einen Krimi zu schreiben, stell ich mir gar nicht so einfach vor.

Bei der Andeutung der TV Serien musste ich schmunzeln 😄

Bei Den Patzern hätte ich eher an was anderes Denken müssen, eher so in Richtung Görde-Morde, auch wenn die noch nicht so alt sind wie der Fall Hinterkaifeck.
Aber bei den Fällen hängt es vermutlich auch eher damit zusammen aus welcher Region man kommt, die Fälle sind da dann doch anders in Erinnerung.

Schade das der Täter fehlt.

LG Vegetasan
Antwort von:  KiraNear
14.06.2020 00:33
Erstmal danke dir für deinen Kommi, das hat mich wirklich gefreut :-)
Tut mir leid, dass ich dir erst jetzt antworte, aber bei mir ist privat grad ziemlich das Chaos los.
Dass ich den Fall von Hinterkaifeck da noch im Hinterkopf hatte, lag daran, dass wir zu der Zeit (oder kurz davor) den Roman Tannöd im Deutschunterricht behandelt, wie auch den Film dazu gesehen hatten. Die Görde-Morde kannte ich ehrlich gesagt noch nicht, zumindest damals nicht.

Ja, das ist wirklich schade, aber das musste leider sein, dass er fehlt ;-)

Vielen lieben Dank nochmal für deinen Kommentar, und ja, es ist nicht wirklich einfach, aber dafür auch ziemlich interessant.

Lg,
Kira


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