Schlagzeilen
Sechs Jahre war es nun her. Sechs lange Jahre seit der ersten gewonnenen Weltmeisterschaft der BBA Revolution und des darauffolgenden, für die Medienwelt völlig unerwarteten Rücktritts aller Blade Breakers der ersten Stunde.
Alle vier hatten sie ihren ganz persönlichen Zenit im wohl populärsten Sport ihrer Jugendzeit erreicht und waren zu diesem Zeitpunkt die unangefochtene Elite im Beyblade, auch wenn sie an ihrer letzten Meisterschaft nicht als Team angetreten waren. Jeder von ihnen war hochtalentiert, nahezu unbezwingbar und zeigte immer ein Höchstmass an Respekt vor den Gegner.
Ihre Spielweise hatte sie zu einem Phänomen gemacht, weshalb sie für den Sport bereits in kürzester Zeit unentbehrlich geworden waren. Die Entscheidung aufzuhören, war ihnen alles andere als leicht gefallen und doch hatten sie sich einstimmig zu ihrem gemeinsamen Rücktritt entschieden – ganz zu Mister Dickensons Missfallen.
«Schade, schade …» waren die wenigen Worte gewesen, welche die unsägliche Trauer über den definitiven Rücktritt seiner Jungs hatte vermitteln sollen. Zu mehr war der ältere Herr einfach nicht im Stande gewesen. Auch andere wie die PPB All Starz und die White Tigers verstanden die Entscheidung ihrer wohl wertvollsten Spieler nicht gänzlich, andere wiederum folgten ihrem Beispiel. So löste sich unmittelbar nach der Verkündigung der Blade Breakers auch das russische Team der Blitzkriegboys auf.
Der Sport veränderte sich von einem Tag auf den anderen und schuf Raum für neue Talente. Doch auch nach sechs verstrichenen Jahren, schien der Sport nie mehr solch eine Popularität und Klasse erlangt zu haben, welche diese talentierten Spieler ihm einmal eingehaucht hatten.
Sie waren als Freunde, sehr gute Freunde mit dem Versprechen, ihre Verbindungen zueinander zu pflegen, auseinandergegangen. Doch wie sehr sie ihre Freundschaft in den ersten beiden Jahren auch unterhielten, so abrupt versandete der Kontakt als das reale Leben anklopfte und neue Zeiten anbrachen.
Sportprofi hin oder her, nach einer dreijährigen Lebensphase als Star, waren Studien- und Berufswahl weit schwieriger als erwartet. Jeder sah sich seinen eigenen, neuen Problemen gestellt, und das diesmal ohne unterstützendes Team. Auch ihre zeitweise lange Schulabwesenheit zahlte ihren Tribut, wodurch es manche von ihnen bedeutend schwieriger hatten, mit dem verlangten Niveau des Unterrichtstoffs mitzuhalten.
Ihr letztes Treffen lag nun schon rund vier Jahre zurück. Es war die letzte Zusammenkunft gewesen, an welcher sich alle Teammitglieder an ein und demselben Ort eingefunden hatten. Alle waren sie der Einladung Reis gefolgt und hatten ihn für eine Woche inmitten der wunderschönen Berglandschaften seines Heimatdorfs in China besucht.
Ein Jahr zuvor hatte es sie in die Südstaaten der USA verschlagen, wo Max, seit der Beendigung ihrer Profisportkarriere, sein Medizinstudium im Sonnenstaat Florida begonnen hatte. Ein halbes Jahr davor hatten sie einige Tage bei Takao verbracht und wie in alten Zeiten im Dojo seines Grossvater logiert. Doch nie, wirklich nie hatten sie es zu Stande gebracht, der Einladung Kais nachzukommen und ihn im dritten Jahr ihres sportlichen Ruhestands in Russland zu besuchen.
Pläne wurden stetig aufs neue verschoben und ganz andere Dinge wie Semesterprüfungen, ein neuer Job oder eine frische Beziehung genossen ihren Vorrang. Selbst die einfachste Kommunikation des digitalen Zeitalters wurde durch Zeitverschiebungen und private Privilegien zu einer Unmöglichkeit, und aus Freundschaft wurde schlussendlich Selbstverständlichkeit.
Aus den Augen, aus dem Leben. Sie vergassen sich, vergassen den Wert ihrer Freundschaft und die Probleme mit denen die jeweils anderen sich herumschlugen. Kein Dialog, nur noch Monolog. Ihrem kläglichen Versagen wurden die ehemaligen Blade Breakers jedoch erst bewusst, als eine furchtbare und zutiefst erschütternde Schlagzeile die internationale Sportwelt aufrüttelte und sie realisieren liess, dass die neu gewonnene Einsicht über ihr Versagen wohlmöglich viel zu spät gekommen war.
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Dreifacher Beyblade Vize-Weltmeister und ehem. Kapitän der Blade Breakers Kai Hiwatari (24) bei tragischem Unfall schwer verletzt. Aktueller Gesundheitszustand unklar. Fremdeinwirkung der Polizei zufolge auszuschliessen.
Sport, Seite 11
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Vor Entsetzen hielt Manabu die Luft an und liess seinen Coffee-To-Go auf dem belebten Bürgersteig vor dem Kiosk fallen, als seine Augen vollkommen beiläufig an besagter Schlagzeile auf der Frontseite der Tageszeitung Yomiuri Shimbun hängen blieben. Gleich darüber ein Porträt von Kai, welcher ihm mit arrogantem Blick entgegensah.
«Passen Sie doch auf!» empörte sich eine Frau im Businesslook, deren hohe Stilettos er unweigerlich mit seinem Kaffee besudelt hatte. Der Schock über das gerade Gelesene sass ihm so tief in den Knochen, dass seine sonst so guten Manieren kurzerhand auf der Strecke blieben. Er riss die Zeitung förmlich aus dem Zeitschriftenständer und schubste die schimpfende Frau im Vorbeigehen, wohl eher aus Zerstreutheit als mit Absicht, zur Seite und trat zielstrebig an den Tresen des warm eingekleideten Verkäufers heran. Auch Manabu klebte seine Hose, dank der verschütteten, brauen Plörre, an den Beinen.
«Wollen Sie vielleicht noch einen Kaffee?» erkundigte sich der bärtige Mann hinter der Theke, wobei sein Atem durch die frühwinterliche Kälte als weisse Wolke in den grauen Himmel Tokios empor stieg.
Kommentarlos klatschte Manabu die Zeitung auf den Verkaufstresen und grub dabei mit tiefsitzender Brille in der Innentasche seines olivgrünen Mantels. Klimpernd fiel die Hälfte seines Kleingelds auf den Boden, während er dem Verkäufer die andere Hälfte in die Hand drückte. «Den Rest behalten Sie.» überging er die Frage des Verkäufers, klemmte sich die Zeitung unter den Arm und marschierte mit grossen Schritten weg vom Kiosk, weg von der angrenzenden Bushaltestelle von wo aus er zur Arbeit hatte fahren wollen und weg von der zeternden Frau und ihren hohen Stilettos.
Er überquerte die belebte Hauptstrasse, zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und führte es zu seinem Ohr. «Dizzy, bitte ruf für mich im Büro an und sag für heute alle Kundentermine ab, es ist etwas schreckliches passiert.» sprach er mit matter, abwesender Stimme. «Wird sofort erledigt Chef.»
Gerade noch so wich er einem herannahenden Radfahrer aus, welcher ihn im Vorbeifahren energisch und laut fluchend zurechtwies. Auf der anderen Strassenseite angelangt, rückte er seine Brille zurecht und strich sich, mit dem Blick starr gegen Himmel gerichtet, fahrig durch die wilden, brauen Haare. Einen Moment lang hielt er inne, griff erneut zu seinem Mobiltelefon und stöberte zielstrebig in den Kontaktdaten. Er wählte und zögerte ein allerletztes Mal, ehe er das Mobiltelefon erneut zu seinem Ohr führte. Mit der freien Hand entfaltete er derweil die Titelseite der Yomiuri Shimbun und musterte Kais Porträt ein weiteres Mal voller Unglauben.
«Takao, ja, ich bin’s. Ich weiss, es ist viel zu lange her. … Hör zu, ich möchte dich nicht überrumpeln aber wir müssen reden, dringend. … Am besten sofort. …»