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Verliebtsein macht kurzsichtig

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Liebe außer Sichtweite

 

Als die sechzehnjährige Charlotte Fetzer still und heimlich Tassilos Namen auf ihren Block kritzelte, ahnte sie nicht, welche Konsequenzen diese Offenbarung der Gefühle nach sich ziehen würde. Nämlich viele. Blöde. Blöd war auch, dass sie jetzt von der Seite angetippt wurde: Ihre beste Freundin Eileen hatte leider entziffern können, wessen Name auf dem karierten Papier prangte. »Na na, keine feuchten Träume im Unterricht!«, witzelte die Blondine und grinste verschmitzt, woraufhin Charlotte so rot wie eine Ampel anlief. Ja, sie hätte vielleicht besser aufpassen sollen – sowohl auf den Unterricht, als auch darauf, sich nicht von ihrer Freundin beim Tagträumen erwischen zu lassen. Denn: Eileen war dafür bekannt, kein Geheimnis für sich behalten zu können. »Höhöö! Da wird aber jemand rot!«, kommentierte sie zu allem Überfluss Charlottes Gesichtsfarbe.

»N-nein! Das ist nur ... Ach lass mich in Ruhe!«, quetschte diese hektisch hervor.

»Na schön. Aber dann verrate mir, seit wann du auf unseren Schulschwarm stehst!«

Verlegen sah Charlotte zur Seite, nach links unten auf den Boden. Dahin, wo ihre gestreifte Schultertasche an dem Tischpfosten lehnte. Sie liebte diese Tasche, es war eines der wenigen Markenteile, das sie besaß. June, so hieß das Label. Die machten wirklich schöne Sachen. »Erde an Charlotte!«, nervte Eileen weiter, die sich mittlerweile mit dem Oberkörper über den Tisch gelegt hatte. Dank ihres Stufenschnitts zerteilte sich ihr hochgebundener Pferdeschwanz in mehrere Abschnitte, wie bei einem Palmenstrauch. Dieser wippte lustig hin und her, als Eileen den Kopf hob, um Charlotte direkt anzusehen.

»Okay, also ... es war Liebe auf den ersten Schluck!«, verriet sie ihr endlich, immer noch knallrot im Gesicht.

 

-o-o-

 

 

»BITTE WAS?!«

»Ich ... stand gerade vor der Bibliothek und habe mir die Neuerscheinungen von Jugendbüchern angeschaut, als Tassilo kam ... und dann ... dann ... «

»Jetzt mach es doch nicht so spannend!«

» ... dann hat er mir seine Cola geschenkt!«

»Bist du sicher, dass du dir das nicht eingebildet hast ... ?«, flüsterte Eileen leise, was Charlotte jedoch getrost ignorierte.

» ... mein Herz klopfte wie wild!«, fuhr sie unbeirrt fort. »Mir hat noch nie ein Junge ein Getränk geschenkt! Oder sonst irgendwas!«

»Ach ja?« Mega skeptisch zog Eileen eine Augenbraue hoch.

Charlotte schwärmte weiter: »Tassilo ist groß, sportlich, kann singen und ist beliebt! Er ist mein Traumprinz!«

»Klar ist Tassilo beliebt, er ist der Schulschwarm ... «, erwähnte Eileen und beschloss, ihrer blind verliebten Freundin den Kopf zu waschen. »Charlotte, du hast dir da den Falschen ausgesucht!«

»Wieso?«

»Weil alle Weiber hinter Tassilo her sind.«

»Na und?« Charlotte funkelte sie trotzig an, so viel Mut hatte Eileen ihrer Freundin gar nie zugetraut. Es war ihr einfach mal egal, dass es schwer war, an Tassilo, den Schulschwarm, heranzukommen. Oder sie hatte einfach noch nicht realisiert, was da auf sie zukommen würde ... das wäre eher typisch Charlotte.

»Und außerdem ist Tassilo ein Abbild von Finn!«, dudelte die Voll-Verliebte weiter.

»Die sehen sich überhaupt nicht ähnlich!«, konterte Eileen, doch das hielt ihre Freundin nicht vom Schwärmen ab: »Die beiden haben so viel gemeinsam!«

Finn war ein Musical-Star aus einer Fernsehserie, die Charlotte vergötterte wie keine andere.

»Schluss jetzt!«, versuchte Eileen dem ganzen Geglitzer um den Schulschwarm ein Ende zu setzen. »Das alles ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe. Du solltest dir Tassilo aus dem Kopf schlagen.« Sie legte ihre rechte Hand an die Stirn, unterstrich damit ihre Bestürzung.

Da schwieg die Frischverliebte kurz, bevor sie noch einmal das Wort ergriff: »Eileen.«

Diese sah sie mit offenen Augen an.

»Ich habe mich wirklich verliebt ... «, gestand Charlotte und driftete selbst mit ihren Gedanken ab, in die Vergangenheit.

 

-o-o-

 

»Na Wischmopp, schau mal was wir hier haben ... ?« Ein paar Jungen hatten die achtjährige Charlotte umkreist. Wie Monster drängten sie sich dem kleinen, zarten Mädchen auf, grenzten sie ein. Ihre wilden, kupferfarbenen Locken standen zerzaust in alle Richtungen ab. In den Armen hielt sie ein Mathebuch, das sie eigentlich gerade in ihrem magentafarbenen Rucksack verstauen wollte. Die Kinder standen vor der Grundschule, es war Unterrichtsschluss. Zeit, nachhause zu gehen. Aber heute scheinbar nicht für Charlotte.

Einer der Jungen trug eine dicke, rechteckige Brille. Er grinste hämisch. Urplötzlich stürmte er direkt auf Charlotte zu, riss ihr das Buch aus den Händen. So grob, wie er das tat, kratzte er sie versehentlich am Arm – aber es tat weh, als wäre es Absicht gewesen. »Komm und hol dir dein Scheiß-Buch, Streberin!«, brüllte er.

Sie warfen ihr Mathebuch im Dreieck herum, Charlotte jagte von einer Ecke zur anderen, konnte das Buch nicht in die Finger kriegen. Sie waren zu groß. Sie waren zu schnell. Sie waren zu stark.

Tränen flossen. Viele.

Warum nur waren alle Jungs so gemein zu Charlotte?

Warum konnten sie sie nicht in Ruhe lassen?

Warum?

 

-o-o-

 

Die gegenwärtige Charlotte trug einen großen, runden Haarknödel auf dem Kopf. Das schräge Pony fiel ihr in die Stirn, doch kein einziges Haar stand ab. Dafür sorgte sie jeden Morgen mit ihrem Glätteisen. Wischmopp-Charlotte, die gab es schon lange nicht mehr.

»Möchtest du eine Cola?«

Tassilo blitzte in ihren Gedanken auf. Wie er sie mit sanften Augen ansah, die Coladose in der Hand. Seine schwarzen, glatten Haare waren leicht zerzaust – aber nicht unordentlich. Sie hatten eher etwas Wildes, Rebellisches. Etwas Liebenswertes. Er war nicht so, wie die anderen, das wusste Charlotte. Nein. Tassilo war ein Gentleman, ein Retter, ein Prinz. Er war der erste Junge, der Charlotte angesprochen und respektiert hatte. Und der erste, in den sich verliebt hatte.

 

-o-o-

 

 

»Charlotte!«, rief Herr Özdemir in der Gegenwart aus heiterem Himmel. »Wer ratschen kann, der kann auch antworten!« Der für seinen trockenen Humor bekannte Deutsch-, Geschichts- und Sportlehrer war so gut gelaunt wie eh und je. »Also?«

»Ähm ... also ... der erste Weltkrieg begann ... 1890?«, brachte Charlotte stammelnd hervor. Noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, fing Herr Özdemir an den Kopf zu schütteln.

Hinter ihr streckte der bebrillte Klassen-Oberstreber Klaus seinen Arm hoch in die Luft, sodass Charlotte sich wünschte, er würde ihn überdehnen oder sich eine fiese Zerrung davon holen.

»Ja, Klaus.«

Der Geschichtslehrer winkte dem Jungen zu, er solle die Klasse aufklären. Dieser holte tief Luft, bevor er losschmetterte: »Der erste Weltkrieg begann am 28. Juli 1914 aufgrund der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Auslöser dafür war das Attentat von Sarajevo vom 28. Juni 1914 und die damit ausgelöste Julikrise. Beendet wurde der erste Weltkrieg durch den Waffenstillstand von Compiégne, der einen Sieg aus der Triple-Entete bedeutete, einer Kriegskoalition. Beteiligte Länder waren Deutschland, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, Bulgarien, Frankreich, Großbritannien, Russland, Serbien, Belgien, Italien, Rumänien ... «

Klaus laberte noch weiter, es kam Charlotte wie eine Stunde vor. Tatsächlich verstrichen nicht gerade wenige Minuten während seines Vortrags.

Am Ende grinste der Klassenstreber frech vor sich hin und meinte nur noch: »Stimmt's?« Dabei lehnte er sich mit dem Stuhl nach hinten, kippelte. Offensichtlich hatte Klaus nur angeben wollen, was Gott sei Dank Herr Özdemir auf den Senkel ging: »Hervorragend Klaus. Jetzt wissen wir sogar über den ersten Weltkrieg, was wir nicht wissen wollten.«

Charlotte feierte ihren Geschichtslehrer, der sich jetzt der gesamten, verschlafenen Klasse zuwandte: »Ihr dürft wieder aufwachen, Schnarchnasen. Klaus ist endlich fertig.«

Da streckte der Brillenstreber schon wieder den Zeigefinger nach oben und protestierte: »Nicht ganz, Herr Özdemir!«

Eileen, die mit verschränkten Armen auf ihrem Pult kauerte, beugte sich zu Charlotte vor. »Ich will ihn töten«, äußerte sie ihre aktuelle Mordlust.

»Nicht nur du.« Wenn es etwas gab, was Charlotte wirklich hasste, dann waren es Streber. Aber wer tat das nicht.

In diesem Moment machte Klaus den Fehler, sich zu sehr auf seine Balancierkünste zu verlassen. Der Stuhl glitt ins Nichts und der Junge kippte mit ihm um.

Fatz! So lag der Klassenstreber mit einem Mal rücklings auf dem Boden, seine lockigen blonden Haare küssten die Dielen. Das war Anlass genug, um dem Gelächter seiner Mitschüler ausgesetzt zu werden.

»HAHAHAHAHA!«, giggelte der Schülerpulk.

»Und raus ist Klaus!«, kommentierte einer von ihnen.

Im selben Moment bimmelte es, die Stunde war endlich vorüber. Ein schöner Schlussakt, fand Charlotte.

Als Eileen und sie sich erhoben, verkündete ihre Freundin: »Ich geh dann mal zum Training, wir sehen uns morgen.« Und verließ das Klassenzimmer.

Klaus, der immer noch scheinbar besinnungslos am Boden lag, wurde von seinem Sitznachbarn Theo aufgelesen: »Hey Kumpel, es hat geklingelt. Steh auf!« Er tippte ihn mit dem Fuß an, als wäre Klaus ein Karton mit übelriechendem Inhalt.

Charlotte konnte darüber nur den Kopf schütteln.

Das geschah dem Streber recht.

Gerade, als auch sie das Klassenzimmer verlassen wollte, erhaschte sie allerdings ein paar Worte. Worte von Mitschülerinnen, die sie an Ort und Stelle erstarren ließen, die sie binnen einer Sekunde fesselten.

»Hast du schon gehört? Tassilo soll ... «

Sie sprachen über Tassilo! Heimlich stellte Charlotte sich in die Nähe der zwei Mädchen und tat so, als würde sie die Pinnwand studieren.

»Nee, oder?«

»Doch.«

»Neiiiin ... «

»Doch.«

Worüber redeten die beiden? Charlotte bückte sich, als wäre ihr etwas heruntergefallen, um ihre Klassenkameradinnen genauer zu verstehen.

»Es ist wahr. Tassilo hat heute einer seine Liebe gestanden.«

»Hör auf! Ich will das nicht hören!«

Charlotte ... wollte das auch nicht hören.

 

-o-o-

 

 

Benebelt von der neuen Nachricht torkelte Charlotte auf den Schulhof hinaus.

Tassilo hatte einem Mädchen seine Liebe gestanden. Ihr Tassilo! »Wieso? Wieso, wieso, wieso, wieso nicht ich?«, ärgerte sie sich, mit beiden Händen an den Kopf greifend. Sollte der tollste Junge der Schule wirklich bald nicht mehr zu haben sein?

»Was geht mit der denn heute«, kommentierte Klaus von weitem Charlottes seltsame Verrenkungen. Sein Freund Theo und er hatten gerade das Schulgebäude verlassen.

»Keine Ahnung. Aber ich muss los, wir sehen uns morgen.« Theo, der schwarzhaarige Asiate, rückte sich die Brille zurecht und ging in die entgegengesetzte Richtung. Nicht so Klaus, der heimwegbedingt hinter Charlotte herspazierte.

Das Mädchen trug die Haare zu einem kupferfarbenen Wollknäuel zusammengebunden. Wie jeden Tag. Klaus ärgerte sich oft darüber, da ihm der Dutt die Sicht auf die Tafel erschwerte. Doch weil er sich noch im Wachstum befand und die letzten sechs Monate bereits stolze fünf Zentimeter aufgeholt hatte, war er sich sicher, dass Charlottes Frisur ihn nicht mehr allzu lange nerven würde.

Wrumm!

Aus der Ferne raste ein Auto die Straße herunter. Die Ampel blinkte rot, was Charlotte gekonnt ignorierte, indem sie den ersten Fuß auf den Straßenasphalt setzte. Der Wind trug ein paar Kirschblüten über die Gegend, denn alles blühte an diesem Tag.

Auch Charlotte würde gleich etwas blühen, wenn er nichts unternahm.

Ohne groß nachzudenken spurtete Klaus los. Er griff nach ihrem Arm, zog sie nach hinten.

Das Auto war bereits da. Angekommen, um Charlotte mit ins Jenseits fahren. Reifen quietschten in einem unerträglich hohen Ton.

Sie fielen und fielen.

Der Bruchteil einer Sekunde kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Dann landeten sie beide auf dem harten Beton. Der Autofahrer drückte auf das Gaspedal, fuhr davon. Mit röhrendem Motor. Und ließ die Oberschüler auf dem Gehweg liegend, zurück. Die kleine Ewigkeit war vorüber, die Stille des Schockes verflüchtigte sich und der Lärm von Schaulustigen erreichte sie wieder.

Charlotte war auf Klaus gefallen, mit dem Rücken zu seiner Brust. Ihn hatte der Aufprall total erwischt, seine Knochen schmerzten. Außerdem presste ihm das Mädchen mit seinem Gewicht die Luft ab.

»Charlotte.«

»Unter die Räder ... ich wäre beinahe ... «, brachte Charlotte nur hervor, ohne eine Absicht sich zu rühren.

»Charlotte!«, wiederholte sich Klaus.

Das Bild von dem Wagen, der sie beinahe überfahren hätte, hatte sich wohl in ihren Kopf gebrannt und ließ sie nicht mehr los.

»HEY, CHARLOTTE!«, motzte Klaus deshalb noch lauter.

»Was?!« Sie reagierte dezent zickig.

»Geh von mir runter ... «, stöhnte er.

»Oh!« Endlich verstand sie und erhob sich, sodass Klaus wieder einatmen konnte. Als die beiden sich schließlich aufrichteten und direkt gegenüber standen, warf der bebrillte Streber dem Mädchen einen strengen Blick zu.

»Was guckst du so?« Mehr fiel Charlotte in dem Moment wohl nicht dazu ein.

Das brachte ihn auf hundertachtzig. Klaus räusperte sich, bevor er ausbrach wie ein Vulkan: »Hast du keine Augen im Kopf?! Wie kann man nur diese knallrote Ampel übersehen!«

So wütend hatte Charlotte ihn bestimmt noch nie erlebt, doch sein Gezeter schien sie nicht wirklich zu interessieren. Genervt wandte sie den Blick ab und betrachtete die Kirschblütenbäume rings um den Schulhof.

Oh nein, mit Ignoranz würde sie ihm nicht davonkommen.

»Was, wenn dich Kinder nachahmen? Du bist ein schlechtes Vorbild!« Die letzten beiden Wörter schrie er fast. Einige der Schüler blieben kurz stehen, bis sie merkten, dass da nichts weiter Aufregendes passierte. Außer, dass Klaus eben seine Mitschülerin zur Schnecke machte, die weniger einsichtig und mehr gestresst wirkte.

»Hm ... meinetwegen: Sorry! Kann ich jetzt gehen?« Charlotte zeigte sich unbeeindruckt und verschränkte die Arme.

»Wie wär's noch mit: Danke, dass du mir das Leben gerettet hast?«, schlug Klaus vor.

Charlotte verzog das Gesicht. »Nee, lass mal.« Damit ließ sie den blonden Lockenkopf einfach so stehen. Mit seinem zerknitterten Gesicht, das vor Zorn rot angelaufen war.

»Ciao Glasauge!«, warf sie ihm noch hinterher, bevor sie komplett aus seinem Blickfeld verschwand. Die Zicke.

 

-o-o-

 

 

Abends saß Charlotte in ihrem Zimmer und schmollte. Mit einer Tasse Kaba bewaffnet, gegen den Kummer. Ihr Zimmer war nicht besonders groß, neben Schrank, Schreibtisch, Bett und Kommode passte nicht allzu viel hinein – dafür schmückten umso mehr Pferdeposter die Wände. Sie hatte diese Mädchenphase niemals überwunden.

»Vielleicht bin ich nicht dafür bestimmt ... mit Tassilo zusammen zu sein.« Mit gesenktem Kopf starrte sie in ihre heiße Schokolade. »Aber wozu dann?« Der Fast-Unfall kam ihr wieder in den Sinn, das Bild des blauen BMWs, der sie um ein Haar ins Jenseits befördert hätte wenn ... »Ist das etwa mein Schicksal? Zumindest wäre es das gewesen, wenn Glasauge nicht gewesen wäre ... « Sie hob die Tasse, pustete die Hitze weg und trank einen Schluck. »So oder so, muss ich damit leben, dass Tassilo mich nicht liebt.« Wehmütig ließ sie das Getränk wieder in ihren Schoß gleiten, mit beiden Händen fest umklammert. »Ich werde nie wieder glücklich sein.«

Tock, tock! Ein Klopfen unterbrach ihre Gedankengänge.

Es war ihre Mutter Jolinde. »Charlotte, Glee fängt gleich an!«, rief sie durch die Tür.

Sofort begannen die rehbraunen Augen des Mädchens zu glitzern. »Komme sofort, Mama!«

Wie ausgewechselt pflanzte Charlotte sich neben Jolinde auf die Couch im Wohnzimmer. Ihre Mutter hatte sogar eine Schüssel Chips auf dem gläsernen Wohnzimmertisch abgestellt, über die sie sich nun freudig hermachten.

Wenn es eines gab, was sie gerade jetzt, in ihrem Liebeskummer, aufheitern konnte, dann war es ihre Lieblingsserie Glee. Eine Musical-High-School-Serie aus Amerika. Von der ersten Episode an war Charlotte hin und weg gewesen, und vor allem: abhängig. Sie war ein stolzer Serien-Suchti. Für ihre Mutter war das in Ordnung, da sie die Fernsehserie auch mochte, wenn auch nicht so sehr wie ihre Tochter.

»Du Mama ... würdest du mich diese Woche krankschreiben«, fragte Charlotte in der Werbepause. »Wir schreiben bald einen Englischtest und ich möchte lieber mehr lernen als mir Mathe anzutun.«

Das war glatt gelogen, Charlotte wollte einfach nicht Tassilo in der Schule begegnen. Ihr Herz würde zerspringen.

»Englisch, hm? Wann schreibt ihr den?«, erwiderte Jolinde daraufhin, mit kritischem Blick.

»Die Woche darauf«

Das war nicht gelogen.

Jolinde fackelte nicht lange. »Aber nur, wenn du die Lernhilfen benutzt, die ich dir gekauft habe.«

»Yay, Mama du bist die Beste!« Charlotte fiel ihr glatt um den Hals. Sie hatte wirkliche die beste Mutter der Welt! Aber vielleicht hatten die ja alle Scheidungskinder. Wer wusste das schon.

 

-o-o-

 

Nach diesem Beschluss verbrachte Charlotte die Tage allerdings weniger mit Lernen, als mit Fernsehen. Eingemummelt in ihrem dunklen Stern-Hoodie, von morgens bis abends – während niemand zuhause war, weil Charlotte allein mit ihrer Mutter lebte – kauerte sie auf der roten Ledercouch und starrte in das Viereck. Wenn ihre Mutter heimkehrte, tat das Mädchen dann so, als würde es lernen. Die perfekte Masche war das natürlich nicht, spätestens am Wochenende entlarvte Jolinde sie.

»Charlotte, du weißt, ich schreibe dich immer krank, wenn du damit besser lernen kannst ... solange du akzeptable Noten heimbringst! Aber unter Lernen verstehe ich etwas anderes!«

Ihre Mutter starrte sie an. Sie, Charlotte, deren Augen bereits tiefe, blutunterlaufene Ringe kennzeichneten, was natürlich vom vielen Fernsehen kam.

»Mama! Meine Augen brennen!«, heulte sie.

»Schluss jetzt! Morgen geht es wieder in die Schule! Und du hast Fernsehverbot!«, bestimmte Jolinde wütend. Charlotte jedoch war noch völlig abgelenkt von dem Schmerz ihrer Augen, den sie jetzt erst wahrnahm. »Ich sehe nur ... weißes Licht! Waaas? Fernsehverbot?!«

Die Realität traf sie hart.

 

-o-o-

 

Schließlich musste Charlotte nach dieser Woche wieder zu ihrer liebsten Bildungsanstalt – der Kopernikus-Gesamtschule. Mettlingen, die Kleinstadt, in der sie lebte, verfügte über genau zwei Schulen: Die Kopernikus und eine Zicken-Zucht-Anstalt, die St. Sophia Mädchenschule. Letztere lag etwas außerhalb der Stadt und hätte die Familie monatlich um ein Busticket ärmer gemacht, insofern Charlotte sich geweigert hätte, täglich eine halbe Stunde hin und zurück zu radeln.

»Wir haben kein Geld für Monatsfahrkarten! Du gehst auf die Kopernikus!«, hatte ihre Mutter damals beschlossen. Und daraufhin hatte Charlotte nur: »Ja, Mama!« erwidert.

Und so kam es, dass Charlotte die Kopernikus-Gesamtschule besuchte – eine Bruchbude mit Konfliktpotenzial. Die Außenwände rissen bereits ein, die Einrichtung lebte schon länger als Charlottes Uroma. Schlägereien waren hier nicht selten, dafür gab es viel zu viele Raudis. Neulich hatten die Lehrer sogar Haschisch bei einem Schüler gefunden – das Theater darum war lange Zeit Gesprächsthema Nummer Eins in den Klassenzimmern gewesen.

An diesem Montagmorgen musste Charlotte nur zur Seite schielen, um mitzubekommen, wie sich zwei Schüler schon wieder einmal gegenseitig anmuckten.

»Was glotzt du?!«

»Ich glotz nicht, Alter!«

»Ich hab's genau gesehen, lüg nicht!«

»Ich lüg nicht!«

»Du willst Stress, oder?«

Bevor die zwei aufeinander losgingen, machte sie sich lieber schnell vom Acker – und marschierte direkt zum Klassenzimmer. Die Wahrscheinlichkeit, Tassilo dort anzutreffen, hielt sich sehr gering, da dieser die Parallelklasse besuchte.

Das Einzige hier, was Charlotte schlimmer als die Raudis fand, waren die Streber.

Beispiel A saß gerade auf dem Tisch hinter ihrem Sitzplatz, mit den Füßen auf ihrer Stuhllehne. Mit ein paar kuschenden Handbewegungen scheuchte Charlotte sie weg und starrte Klaus böse an.

»Guten Morgen, Charlotte!«, begrüßte dieser sie genauso begeistert.

»Morgen, Glasauge.«

»Zicke.«

»Spießer.«

Ja, Charlotte und Klaus würden sich wohl nie mögen.

Da betrat ihr Lieblingsdeutschlehrer Herr Özdemir das Klassenzimmer. »Morgen, ihr Schnarchnasen! Freut euch auf eine schöne Bescherung! Denn heute gibt's die Klausur zurück!«

Alle stöhnten.

»Was, wir kriegen Deutsch raus!? Das heißt ... Mama bringt mich um ... « Charlottes Gedanken liefen Amok.

»Heute bin ich ganz besonders enttäuscht von euch!«, verkündete der Deutschlehrer mit dem südländischen Teint. »Es gibt unter euch tatsächlich ein paar Spezialisten, die es schaffen, jegliches Wort, das ich sage, zu ignorieren!«

»Bitte, lieber Gott ... «, betete sie. Ihre Nebensitzerin Eileen blieb im Gegensatz zu ihr vollkommen cool – aber sie war ja auch ziemlich gut in Deutsch. Nicht so Charlotte, deren einziges gutes Fach tatsächlich Mathe war.

Unheilvoll stapfte der Özdemir durch die Reihen, legte den Schülern jeweils eine umgedrehte Klausur an den Platz. Als er fertig war, befahl er: »Aufdecken!«

Charlotte kniff ein Auge zu, als sie das Blatt mit den Fingerspitzen anhob.

»Waaas?! Wie ist das möglich?!«, riefen sie und ihr Hintermann Klaus gleichzeitig aus.

Moment – gleichzeitig? Charlotte drehte sich um und erkannte, dass auch der Streber diesmal eine Sechs abgesahnt hat. Grund: Themaverfehlung der Gedichtinterpretation.

Bevor sie ein wenig Schadenfreude verspüren konnte, fuhr ihr eine Eiseskälte in Mark und Knochen – es stand nämlich jemand hinter ihr, direkt vor ihrem Tisch.

»Wollt ihr da eine ehrliche Antwort drauf? Die könnt ihr haben ... «, erwiderte Herr Özdemir auf ihren Ausruf von eben und hob eine seiner schwarzen, dicken Augenbrauen. Dann verschränkte er die Arme und begann mit der Schulaufgabenbesprechung.

 

-o-o-

 

»Ab in die Pause mit euch!« Als der Deutschlehrer endlich die erlösenden Worte von sich gab, war Charlotte durch mit der Welt. Es fehlte nur noch, dass sie Tassilo begegnete, damit das Chaos komplett war.

Doch das konnte sie nicht zulassen. Darum schritt sie nach dem Pausenklingeln so schnell wie möglich zu den Toiletten, schloss sich in eine der Kabinen ein.

»Ich werde hier solange warten, bis die Pause vorbei ist!« Natürlich blieb sie nicht lange alleine, andere Mädchen kamen und gingen mit der Zeit. Zwei der Stimmen kannte Charlotte gut. Es waren die der beiden Mädchen aus ihrer Klasse, die sie vor gut einer Woche schon belauscht hatte. Die beiden, die erzählt hatten, dass Tassilo ... ihr Tassilo ... in eine andere ...

»Haha, echt jetzt?«

»Ich hab's auch erst nicht geglaubt, aber es stimmt wirklich, wenn es sogar Bente bestätigt!«

»Das ist schon eine göttliche Fügung ... «

Ihre Schritte bewegten sich auf die Kabinen zu, sodass Charlotte die Mädchen laut und deutlich sprechen hören konnte. Worten lauschen konnte, die ihre Welt komplett umwälzten.

» ... dass Tassilo einen Korb bekommen hat!«

Und so begann Charlottes Geschichte.

 

 



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