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DEAN CORVIN: 02. Brennpunkt Mars

von

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Gefangen auf dem Mars


 

2.
 

Gefangen auf dem Mars
 

Ein gequälter Schrei entfuhr Rian Onoro, als sie die Faust ihrer Peinigerin, zum wiederholten Mal, hart im Gesicht traf.

Gefesselt an einen unbequemen Stuhl aus Metall starrte Rian die Asiatin, die dicht vor ihr stand, aus blutunterlaufenen Augen, an. Im nächsten Moment glaubte sie, dass etwas in ihrem Gesicht explodieren würde, und ihr Kopf flog zur Seite, als Kim Tae Yeon sie erneut schlug. Die Verräterin, die den Truppen der Konföderation Deneb dabei geholfen hatte, das Sol-System zu überrennen, funkelte ihrerseits ihre Gefangene mit hasserfülltem Blick an. Sie quälte nun seit bereits einer Stunde die dunkelhäutige Technikerin, die Dean Corvin dabei geholfen hatte, sich ihrem Zugriff zu entziehen.

Dementsprechend mitgenommen sah die Technikerin des Terranischen Imperiums aus. Eine Blutfahne rann aus ihrer Nase und ihre Unterlippe war aufgeplatzt. Zudem spürte sie schmerzhaft, wie ihr rechtes Auge langsam zuschwoll. Als beinahe schlimmer noch empfand sie die Schmerzen verursacht durch die Fesseln an Händen und Füßen, die ihr langsam das Blut abschnürten. Dazu peinigte sie ein ziehender Schmerz im Rückenbereich, wegen der verkrampften, unnatürlichen Haltung. Tausender winziger Nadeln schienen in ihre Wirbelsäule, Arme und Beine zu stechen.

Die seit Monaten andauernde Folter und die Folgen der Mangelernährung hatten ihre Schmerzgrenze empfindlich herabgesetzt. So dass es Rian Onoro so vorkam als würde ihr jeder Schlag mindestens dreimal so weh tun. Doch trotzdem erwies sie sich als ziemlich zäh. Zäher als die meisten anderen Gefangenen, die bisher hier verhört worden waren.

Der Widerstand der Gefangenen brachte Kim Tae Yeon, seit dem Verrat am Terranischen Imperium im Rang eines Majors der Konföderation Deneb, nur noch mehr in Rage. Die Asiatin mit dem feingeschnittenen Gesichtszügen, die nun die perlnachtblaue Uniform der Konföderation trug, ohrfeigte Rian Onoro mehrmals kräftig rechts und links, bevor sie die Gefesselte anschrie: „Glaubst du, ich würde dich nicht brechen! Ich werde dich brechen, du verdammtes Miststück! Rede endlich! Was ist mit den Konstruktionsplänen der NOVA SOLARIS passiert? Wo sind sie? Sprich, ich werde es ja doch erfahren!“

Kraftlos spuckte Rian Onoro ihrer Peinigerin Blut auf die Schuhe. Dann hob sie mühsam den Kopf an und sah Kim Tae Yeon, von unten herauf, geradezu mörderisch an.

„Niemals!“, krächzte die Dunkelhäutige fast heiser.

Kims Hand zuckte nach der Kehle der Gefangenen. Wütend drückte sie immer fester zu, bis der Kopf der Gefesselten vornüber sank.

Schnell legte die Asiatin zwei Finger an die Halsschlagader der Bewusstlosen. Beruhigt stellte sie fest, dass Rian Onoro noch lebte. So schnell sollte sie sich nicht davonstehlen, denn sie war mit dieser Gefangenen noch nicht fertig.

Zwei Unteroffiziere der Konföderation, die wie sie selbst die violetten Bein- Schulter- und Ärmelstreifen des Geheimdienstes an den Uniformen trugen, näherten sich, als Kim ihnen einen Wink gab.

„Bringt dieses Miststück zurück in ihre Zelle. In vier Stunden setzen wir das Verhör fort.“ Damit wandte sie sich ab und verließ den Verhörraum, den sie sich im ehemaligen Strategischen Hauptquartier der Terranischen Raumflotte eingerichtet hatte. Bis zum Überfall der Armada von Deneb waren von hier aus alle militärischen Operationen der Terranischen Raumflotte geleitet worden. Nun lag ein Großteil des Komplexes in Schutt und Asche, denn die Angreifer waren kompromisslos gegen dieses Bollwerk vorgegangen, bis seine Verteidiger, nach hartem Kampf, schließlich kapitulierten.

Ebenfalls in Schutt und Asche lagen mehr als dreißig Prozent der nahegelegenen Stadt Red Sands. Ein unvermeidbarer Kollateralschaden, wie Kim befand. Eilig schritt sie durch die verlassen wirkenden Korridore des Komplexes zu einem der Aufzüge, der sie zu ihrem Büro bringen würde, dass sie sich im oberen Stockwerk eingerichtet hatte.

Kurz nachdem die Truppen der Konföderation die letzten Widerstandsnester auf der Erde, der Venus, dem Mars, und auf Titan zerschlagen hatten, war sie vom derzeitigen Militärgouverneur des Sol-Systems in den Flottendienst der Konföderation aufgenommen worden, so wie es abgemacht gewesen war. Sie hatte dabei auf eine Übernahme im Rang eines Majors bestanden, und so trug sie nun die entsprechenden Insignien am Kragen ihrer neuen, perlnachtblauen Uniform.

Als die Asiatin die Aufzugkabine betrat, rief sie sich ins Gedächtnis, dass die Frau, die sie eben gefoltert hatte, dabei half, den Experimentalkreuzer, NOVA SOLARIS, dem Zugriff der Truppen des Deneb zu entziehen. Sie trug gleichfalls dazu dabei, dass Dean Corvin die Flucht aus dem Sonnensystem hatte glücken können, an Bord des besagten Experimentalkreuzers.

Bei dem Gedanken an den Kanadier trat Kim Tae Yeon wütend, mit dem rechten Fuß, gegen eine der Kabinenwände. Ihre Hoffnung, ihn in die Finger zu kriegen, und im Anschluss daran ebenso foltern zu können wie diese närrische Technikerin, die seit drei Monaten verzweifelt versuchte sich ihr zu widersetzen, war nicht erfüllt worden. Lange aber würde zumindest diese kleine Närrin, die sich in ihren Händen befand, das nicht mehr durchhalten. Ihre Gedanken kehrten unwillkürlich zu dem Geflohenen zurück.

Dean Everett Corvin.

Die Überzeugung, ihn vernichten zu müssen, war bei Kim Tae Yeon, seit er ihre Liebe zurückgewiesen hatte, zu einer fixen Idee geworden. Dabei waren sie, ein Jahr nach dieser Schmach, doch noch zusammengekommen. Allerdings war dieses Zusammensein mit Corvin, zu diesem Zeitpunkt, bereits Teil eines umfassenden Rachefeldzuges gegen ihn gewesen, denn echte Liebe hatte sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr für ihn empfunden. Obwohl es damals einen kurzen Moment der Schwäche gegeben hatte, in dem sie sich ernsthaft fragen musste, ob sie nicht zufrieden mit der Entwicklung sein, und auf die Rache, die sie ihm ein Jahr zuvor geschworen hatte, verzichten sollte.

Diesen Moment hätte sie am liebsten aus ihrer Erinnerung verbannt, doch das konnte sie nicht, worüber sie noch mehr in Wut geriet.

„Ich hasse dich, Dean Everett Corvin!“, schrie sie unbeherrscht. Doch tief in ihrem Herzen wusste sie nur zu gut, dass das nicht die volle Wahrheit war. Tief in ihrem Innern, an einem Ort, an den sie nicht schauen wollte, regten sich auch andere Gefühle, wenn sie an Dean Corvin dachte. Und sie dachte sehr oft an ihn. Viel öfter, als es ihr lieb war.

Als sie der Lift im obersten Stockwerk entließ stürmte sie durch den Gang zum Schott ihres Büros, legte die Rechte auf den Öffnungskontakt und trat eilig ein, kaum dass sich die beiden Hälften vor ihr geteilt hatten. Leise zischend schloss es sich hinter ihr, doch darauf achtete die Asiatin nicht. Sie schritt eilig hinüber in ihren Arbeitsraum, warf sich in den Sessel, der hinter dem Schreibtisch stand und legte die Arme auf die Tischplatte. Dabei sah sie zum Fenster hinaus.

Draußen erstreckte sich ein teil jener roten Wüste, der diese Stadt ihren Namen verdankte. Sie war das letzte Relikt jener Zeit, als der Mars noch unwirtlich gewesen war. Vor dem Terraformen und der groß angelegten Besiedlung.

Ohne es zu bemerken, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nach einer Weile legte sie die Stirn auf ihre Arme. Rohe, helle Töne drangen aus ihrem Mund, und ihre Schultern zuckte merklich, als sie ihren unterdrückten Gefühlen nachgab.

Dabei jagten sich ihre Gedanken. Nach einem Ausweg aus diesem Gefühlschaos suchend, von dem sie wusste, dass es ihn nicht gab. Dean Corvin würde ihr niemals den Verrat an seiner Heimat verzeihen, dessen war sie sich völlig sicher. Ebenfalls nicht den Verrat an ihm selbst, nachdem sie ihn gezielt verführt und mit ihm geschlafen hatte. Nur um kurz darauf seine Karriere an der Akademie der Terranischen Raumflotte zu torpedieren und empfindlich zu beeinträchtigen. Zumindest bis zum Angriff auf das Sol-System.

Sich etwas zurück beugend, schlang sie Arme um ihren Körper. Ihr Schluchzen wurde eine Spur intensiver dabei, und ihr Oberkörper wiegte sich leicht vor und zurück. Nein, Dean würde ihr niemals verzeihen, und sie ihrerseits würde ihn nicht aus ihren Gedanken bannen können, solange er lebte. Deshalb gab es nur eine einzige Möglichkeit. Sie würde ihn aufspüren und töten müssen. Doch das war einfacher gedacht, als getan. Sie wusste ja nicht einmal, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte.

Gemeinsam mit seinen Freunden und einer Gruppe von Angehörigen der Terranischen Flotte war ihm die Flucht aus dem Sonnensystem gelungen. An Bord eines Experimentalkreuzers. Es gab zwar Hinweise darauf, dass er die NOVA SOLARIS, unter dem Schutz mehrerer terranischer Kreuzer, zum Wega-System gebracht hatte, doch das war bisher nicht vom Geheimdienst der Konföderation bestätigt worden. Er konnte sonst wo sein. Indes glaubte Kim auch nicht recht daran, dass das Imperium dumm genug war, den wertvollen Kreuzer in unmittelbarer Nähe des Sol-Systems zu belassen.

Bei diesem Gedanken straffte sich die Haltung der Asiatin etwas. Sich über die tränennassen Wangen wischend, überlegte sie, dass nach dem Wega-System, das Delta-Cephei-System das am stärksten befestigte terranische System war. Und es lag weitab. Sowohl von Sol, als auch von der Einflusssphäre der Konföderation.

Dort könntest du stecken, überlegte Kim nachdenklich. Sie fingerte dabei nach dem Taschentuch, in der Hosentasche ihrer Uniform, und trocknete ihr Gesicht ab. Danach schnäuzte sie sich und stopfte das Taschentuch wieder in ihre Hosentasche.

Sie besaß nicht genug Macht, Agenten der Föderation dorthin zu beordern.

Noch nicht.

Gedankenverloren spielten die Finger ihrer linken Hand mit dem Rangabzeichen an der linken Seite ihres Kragens. Ein nach innen zeigender, goldener Winkel mit einer kleinen, silbernen Raute im Innern des Winkels. Ein identisch aussehendes, spiegelverkehrtes Pendant prangte auf der rechten Seite des Uniformkragens.

Dabei fiel ihr ein, dass sie einen Mann kannte, der genug Macht besaß, das zu tun, was sie nicht tun konnte. Bei diesem Gedanken hellte sich ihr hübsches Gesicht, dessen glatte Haut an Porzellan erinnerte, zusehends auf. Ein zartes Lächeln huschte über die naturroten Lippen der Koreanerin. Dabei dachte sie: Ich sollte Larenan Farralen, so schnell es geht, einen Besuch abstatten.
 

* * *
 

Mit angezogenen Beinen lag Rian Onoro auf der Seite und betastete vorsichtig ihr Gesicht, wobei sie gelegentlich ein heiseres Seufzen von sich gab. Die Pritsche, auf der ihr geschundener Körper ruhte, war hart und unbequem. Doch das war gegenwärtig ihre geringste Sorge. Ihr gesamter Körper schien eine einzige Schmerzzone zu sein und in ihren Augen war es nur eine Frage der Zeit, bis Kim sie endgültig umbrachte.

Seit nun mehr ungefähr vier Monaten befand sie sich auf dem Mars. Zwar hatte sie längst, bedingt durch die permanente Folter durch diese koreanische Höllenbraut, jegliches Zeitgefühl verloren, doch als Frau besaß sie eine relativ zuverlässige Körperfunktion, durch die sie zumindest die ungefähre Länge eines Monats bestimmen konnte.

Um sich von ihren Schmerzen etwas abzulenken, versuchte sie an etwas zu denken, das sie ablenkte. Wie fast immer bei solchen Ablenkungen richteten sich ihre Gedanken auf Dean Corvin. Jener Offizier der Flotte, mit dem sie, unmittelbar nach ihrem ersten Zusammentreffen, heftig aneinander geraten war. Wie immer an dieser Stelle ihrer Überlegungen korrigierte sie sich in Gedanken. Denn sie waren sich nicht während der gemeinsamen Flucht, an Bord des Frachters KIROV, zum ersten Mal begegnet, sondern bereits über zwei Jahre früher. Beim Akademie-Ball, im Sommer 3218, in Casablanca.

Auf der großen Freitreppe der Festhalle hatte er sie versehentlich angerempelt und bevor er sich dafür bei ihr hatte entschuldigen können, war ein Trottel von Kamerad aus ihrer Einheit dazwischen gefahren. Sie hatte ihn später in einem Saal der Festhalle gefunden, in dem Moment, als eine andere Frau ihn zum Tanzen aufforderte und mit sich auf die Tanzfläche zog. Vermutlich wusste Dean Corvin bis heute nicht, dass sie genau dasselbe vorgehabt hatte. Vielleicht hatte er sie sogar bereits vergessen.

Dieser Gedanke beschäftigte sie, seit ihm und den übrigen Flüchtigen, an Bord der NOVA SOLARIS, die Flucht von Luna geglückt war. Sie hatte zurückbleiben müssen, um diese Flucht möglich machen zu können. Noch wichtiger: Um den Experimentalkreuzer dem Zugriff des Feindes zu entziehen. Dabei hatte sie Dean Corvin geradezu dazu zwingen müssen sie zurückzulassen.

In der Erinnerung an seinen brennenden Blick und an die Berührung seiner Hand an ihrem Oberarm, bevor er sich abwandte und davon eilte, traten Tränen in ihre Augen. Seit diesem Moment tobten widerstreitende Gefühle in ihrem Innern; jedesmal erneut und intensiver, wenn sie an Dean Corvin dachte.

„Dean Corvin, du verdammter Mistkerl!“, krächzte sie wütend, ohne zu wissen warum sie plötzlich diese namenlose Wut auf ihn empfand.

Aus der gegenüber liegenden Zelle, in der ein Techniker mittleren Alters eingesperrt war, kam die ironische Frage: „Ist heute wieder einmal das Verfluchen dieses ominösen Dean Corvin dran? War bereits überfällig, wenn du mich fragst, Rian.“

„Oh ja, dein unqualifizierter Kommentar dazu ist gerade das Letzte, was ich dazu brauche, Karambalos Papadopoulos“, schimpfte Rian Onoro erbost zurück. Im Grunde mochte sie den griechischen Hünen von fast zwei Metern Körpergröße. Während der letzten Wochen und Monate hatten sie sich, Im Zuge ihrer gemeinsamen Gefangenschaft, angefreundet. Was nicht so leicht gewesen war, denn wenn sie sich unterhielten beließen sie es bei Smalltalk oder rein persönlichen Dingen. Ihnen beiden war nämlich klar, dass diese Zellen rund um die Uhr abgehört wurden, und dem Feind irgendwelche Informationen zuzuspielen war das Letzte, was ihnen eingefallen wäre. Darum hatte Papadopoulos nie weitergehende Fragen zu ihrem emotionalen Verhältnis, in Bezug auf Corvin, oder ihre Familie, gestellt. So wenig, wie sie sich ihrerseits erkundigt hatte, ob er Familie besaß.

Auf diese Weise so etwas wie Vertrauen aufzubauen war schwierig. Doch dabei half es, sich auf den Klang der Stimme seines Gegenübers zu konzentrieren. Aus der Wortwahl und dem Tonfall konnte man eine ganze Menge ableiten, auch wenn man sein Gegenüber nicht sah. Vielleicht auch gerade deshalb. Zumindest bildete sich Rian Onoro ein, dass sich in dieser Hinsicht, während der Zeit ihrer Gefangenschaft, eine besondere Begabung dafür bei ihr herausgebildet hatte.

Sie war Karambalos Papadopoulos bisher dreimal kurz auf dem Gang begegnet, wenn man sie zum Verhör abgeholt, oder vom Verhör zurückgebracht hatte. Während ihrer Dienstzeit auf Luna hingegen war sie ihm nie begegnet, soweit sie sich erinnern konnte. Zu Beginn waren mehrere Mitgefangene in den umliegenden Zellen verteilt gewesen. Mit der Zeit waren immer weniger von ihnen zurückgekehrt.

Rian vermutete, dass sie selbst wohl auch längst nicht mehr da gewesen wäre, wenn ihr Körper nicht, aus einem Grund, den sie selbst nicht kannte, stark allergisch auf sämtliche Verhör-Drogen der Konföderierten reagiert hätte.

Beim ersten Verhör hatte man ihr welche verabreicht, und fast wäre sie elendig daran verreckt. Es hatte mehrere Tage gedauert, bis sie außer Lebensgefahr gewesen, und wieder einigermaßen genesen war. Seitdem wurde sie von Kim Tae Yeon täglich gefoltert.

Major Kim Tae Yeon – die Überläuferin. Die Verräterin am Imperium.

Dean Corvin hatte, in der kurzen Zeit in der sie gemeinsam auf der Flucht vor den Truppen der Konföderation gewesen waren, von Kim gesprochen. Er hatte ihr verraten, dass er kurzzeitig mit der Koreanerin zusammen gewesen war. Während seiner Zeit an der Akademie der Terranischen Raumflotte. Eine Vorstellung die Rian umso mehr anwiderte, je öfter sie darüber nachdachte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ihre Gefühle in Bezug auf Dean Corvin immer wieder auf einen wilden Überlichtflug, mit unberechenbarem Kurs, mit ihr gingen. Sie fragte sich, ob sie ihm möglicherweise insgeheim die Schuld an der gesamten Misere gab, in der sie steckte. War sie vielleicht der Ansicht, dass das Alles nicht passiert wäre, wenn Dean sich Kim gegenüber seinerzeit anders verhalten hätte?

Wie immer an diesem Punkt ihrer Überlegungen verneinte sie. Dean Corvin die Schuld daran zu geben, dass die Konföderation Deneb, zu Beginn des Jahres 3221, in das Sol-System eingefallen war, wäre ziemlich schräg gewesen. Nein, Corvin war, so wie sie selbst, nur ein kleines Rädchen, in der Maschine der Geschichte dieses Universums.

Die dunkelhäutige Frau mit den kurzen Haaren, die jetzt allerdings etwas länger waren als üblich, gab ein leises Stöhnen von sich, als sie sich auf die andere Seite drehte. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, die Gedanken an Corvin zu verbannen. Dabei stellte sie einmal mehr fest, dass sie stank. Und ihre Kleidung, die sie seit ihrer Gefangennahme nicht mehr hatte wechseln können, starrte vor Dreck. Man hielt sie wie ein Tier.

Zu Beginn ihrer Gefangenschaft waren Rian Onoro die Tränen gekommen und sie hatte sich jedesmal selbst bemitleidet, wenn sie diese Feststellung hatte treffen müssen. Mittlerweile war sie diesbezüglich weitgehend abgestumpft. Nichtsdestotrotz erschauderte sie bei dem Gedanken, dass sie vielleicht auf dem besten Wege war, diesen erniedrigenden Zustand als normal wahrzunehmen. Noch wehrte sie sich dagegen, doch sie hegte insgeheim die Befürchtung, dass sich das irgendwann änderte.

Tief durchatmend zwang die junge Frau ihre Gedanken in eine andere Richtung. Seit ihrer Gefangennahme hatte Kim Tae Yeon immer wieder von ihr erfahren wollen, was mit den Konstruktionsplänen der NOVA SOLARIS passiert war. Die Koreanerin hätte vermutlich Tränen gelacht, oder vielleicht eher getobt, wenn sie gewusst hätte, dass sie dem Verhör nur deshalb seit Monaten standgehalten hatte, weil sie die Antwort darauf wirklich nicht kannte. In diesem Fall wäre ihr Leben keinen Credit mehr wert gewesen weshalb sie Kim in dem Glauben ließ, sie wüsste es doch.

Rian Onoro wurde abgelenkt, als die Stimme des Griechen wieder über den Korridor hallte. „Schläfst du, oder hast du nur keine Lust auf ein Gespräch?“

„Dir ist schon klar, dass der erste Teil deiner Frage ziemlich blöd ist, weil du keine Antwort darauf bekämst, wenn es der Fall wäre?“

Ein langgezogenes Seufzen des Griechen war die Antwort. „Was mich wirklich brennend interessieren würde, Rian: Wer ist dieser Dean Corvin eigentlich, den du da regelmäßig verfluchst? Den hast du echt gefressen, wie es scheint?“

In ihrer Zelle runzelte Rian Onoro unwillig die Stirn. Karambalos musste doch klar sein, dass sie abgehört wurden. Auf gar keinen Fall würde sie ihm die Wahrheit sagen.

Nach einem Moment rief sie zurück: „Dieser Mistkerl ist die Wurzel allen Übels. Er war der Pilot des Frachters, der mir und einigen Anderen die Flucht aus dem Sol-System ermöglichen sollte. Doch zuerst hat der Kerl mit dem Hobel eine Bruchlandung der Oberfläche von Luna gemacht, und danach ließ er mich einfach zurück, als er mit den anderen floh. Kannst du dir so einen Scheißkerl vorstellen?“

In Gedanken bei Dean Corvin Abbitte leistend, ob dieser wilden Flunkerei, hoffte sie, in einem Anfall von schrägem Humor, seine Ohren würden nicht allzu sehr klingeln, in diesem Moment. Aber viel wahrscheinlicher schien es ihr, dass er stattdessen einen irreparablen Tinnitus bekommen würde.

„Scheint ein richtiger Gewinn für das Imperium zu sein!“, kam die giftige Antwort des Griechen. „Dem würde ich gerne mal im Dunkeln begegnen. Dann würde es aber mal Zack-Wumm gehen, sage ich dir.“

„Ja, das wünsche ich mir auch jeden Tag!“, gab Rian zurück, wobei sie in Gedanken hinzufügte: Aber wohl ganz anders, als du dir das jetzt ausmalst, Karambalos. Doch davon darf ich dir nichts erzählen, denn ich werde Kim ganz bestimmt keine Munition gegen mich in die Hände spielen.

Laut sagte Rian nach einer Weile, in der es still geblieben war: „Es heißt, dass man sich immer zweimal im Leben begegnet. Wenn das stimmt, dann werde ich meine Chance vielleicht noch erhalten, ihm in den Arsch zu treten.“

„Ich halte ihn fest“, versprach Karambalos Papadopoulos und Rian Onoro hielt sich die Hände vor das Gesicht, unter denen sie schmerzhaft das Gesicht verzog. Nicht auszudenken, dass sie das hier vielleicht nicht überlebte und Karambalos eines Tages zufällig auf Dean Corvin traf. Hoffentlich hatte sie da nichts angerichtet, was am Ende einen Unschuldigen traf.

„Du bist ein wahrer Freund“, gab sie schließlich ironisch zurück. „Aber meine Kämpfe erledige ich schon selbst. Du hältst dich da mal ganz raus. Und jetzt gib endlich mal Ruhe, ich will schlafen.“

„Melde mich ab“, spöttelte Karambalos und Rian glaubte so etwas, wie Bedauern, in der Stimme des Mitgefangenen herauszuhören. Aber vielleicht täuschte sie sich auch.

Dabei war gegenwärtig gar nicht an Schlaf zu denken. Einerseits hatte sie noch Schmerzen, die sie davon abhielten und andererseits hatte sie mit Dean Corvin ein Thema angefangen, das ihr für mindestens eine halbe Stunde nicht mehr aus dem Kopf gehen würde. Sie wollte die Gedanken an ihn auch gar nicht wegschieben, sondern mit ihnen für sich sein.

Anfangs, als sie in ihrer Zelle, nach den ersten paar Verhören, an den dunkelblonden Offizier gedacht hatte, da war es jedesmal nur für einen flüchtigen Moment gewesen. Doch je länger sie hier gefangengehalten wurde, desto mehr Einzelheiten an ihn waren in ihr Gedächtnis zurückgekehrt. Plötzlich hatte sie sich wieder an den traurigen Blick seiner blau-grauen Augen erinnert, als er sie zurücklassen musste. Sie hatte die Tränen darin bemerkt, als sie ihn fast hatte anschreien müssen, damit er endlich verschwand, um die übrigen Flüchtigen zu retten und einen Experimentalkreuzer der Terranischen Flotte dem Feind zu entziehen.

Sie hatte sich gleichfalls wieder an seine Sommersprossen erinnert, die sich von den Partien unter seinen Augen über seine markante Nase hinweg zogen. An die blutverkrustete Narbe, einen Finger breit unter seinem rechten Auge, die er sich beim Absturz des Frachters zugezogen hatte, und die ihn recht verwegen hatte erscheinen lassen.

Er war im Grunde, und das seit geraumer Zeit schon, immer bei ihr. In ihren Gedanken – in ihrem Herzen. Dabei waren sie beide, unmittelbar nach dem Absturz der KIROV, ziemlich heftig aneinandergeraten.

Eine Kameradin von Dean war bei dem Absturz gestorben. Sie ihrerseits hatte ihn dennoch, aufgrund der Dringlichkeit ihres Weiterkommens, zur Eile gemahnt. Wenig taktvoll, wie sie im Nachhinein zugeben musste. Doch es war notwendig gewesen.

Im weiteren Verlauf war es dann erneut zu einem kurzen Wortgefecht zwischen ihnen gekommen, jedoch gehörte Dean Corvin nicht zu den Personen, die Anderen lange etwas nachtrugen. Also hatten sie kurz darauf einen Waffenstillstand geschlossen.

Vielleicht hatte sie sein emotionaler Abschied von ihr deshalb so überrascht. Mindestens ebenso sehr überraschte es sie seitdem, dass sie selbst innerlich jedesmal förmlich vibrierte, wenn sie an Dean Corvin dachte.

Er ging ihr mittlerweile nicht mehr aus dem Kopf, und mehr noch: Diese Gedanken an den Kanadier hielten sie aufrecht. Die Gedanken an ihn gaben ihr die Kraft weiterzumachen. Darum versuchte sie schon längst nicht mehr, wie es zu Beginn ihrer Gefangenschaft der Fall gewesen war, die Gedanken an ihn zur Seite zu schieben. Im Gegenteil, sie versuchte sie, so wie in diesem Moment, sehr oft, geradezu krampfhaft, festzuhalten.

Was ihr dabei gleichzeitig jedesmal einen kleinen Stich versetzte war die Überlegung, dass Corvin sie möglicherweise längst aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte. Das konnte, nein das wollte, sie sich zwar nicht vorstelle, doch es wäre immerhin möglich gewesen. Darum kamen manche Flüche auf ihn auch aus tiefstem Herzen. In jenen schwachen Momenten, in denen sie fast verzweifelte, bei diesem Gedanken.

Doch bisher hatte dann die Erinnerung an seinen letzten Blick und an seine sanfte Berührung, bevor er in der hoch geheimen Luna-Werft fort gerannt war, ausgereicht, um diese dunklen Überlegungen in ihr nicht zu stark werden zu lassen.

Er hatte ihr vor vier Monaten versprochen wiederzukommen und sie abzuholen. Doch wie wollte er das bewerkstelligen? Er war nur ein kleiner Oberleutnant im Dienst der Flotte und er gehörte nicht einmal zum Fliegenden Personal. An Wunder glaubte sie nicht – und dennoch war da etwas in seinen Worten gewesen; eine Überzeugung, das was er ihr in dieser verzweifelten Situation versprochen hatte, einhalten zu können. Etwas, das sie unbedingt glauben wollte. Auch wenn sie wusste wie gering die Wahrscheinlichkeit dafür war. Viel wahrscheinlicher war es, dass sie einander niemals wiedersehen würden.

Dieser Gedanke schmerzte sie beinahe mehr, als die vorangegangene Folter.

Rian Onoro drehte sich wieder herum und biss die Zähne zusammen um das wehe Gefühl in ihrem Magen nicht nach oben steigen zu lassen. Die Beine leicht angezogen umschlang sie mit den Armen ihren Unterleib. Sie schloss ihre Augen und versuchte, an gar nichts zu denken. Bald schon würde man sie erneut zum Verhör abholen, so viel war sicher. Dabei galten ihre letzten bewussten Gedanken Dean Corvin, der sich momentan sicherlich viele hundert Lichtjahre von diesem Ort entfernt in Sicherheit befand, und zum ersten Mal seit Wochen rannen wieder heiße Tränen über ihre Wangen.

Sie wäre vermutlich ziemlich erstaunt gewesen, hätte sie gewusst, dass Dean Everett Corvin, in exakt diesem Moment, weniger als zwei Lichtjahr vom Sol-Systems entfernt war.



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