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Crazy like a skull

Das Paradies hat einen Haken
von

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New home


 

1
 

Zwei weitere Tage vergehen, in denen sich Bromley angestrengt versucht daran zu erinnern, was an dem Nachmittag passiert ist, als Samantha ihn zu sich bestellt hat. Doch es will ihm einfach nicht richtig gelingen. Undeutlich erinnert er sich daran, dass sie eine Weile geredet haben. Worum es dabei genau ging, bekommt er nicht mehr hundertprozentig zusammen. Einzig die grausige Geschichte von diesem perversen Inselkönig hallt noch in seinem Kopf wieder und lässt ein unangenehmes Schaudern über seinen Rücken wandern. Dann nur noch viele Lücken, als hätte er sich die ganze Nacht betrunken und jetzt einen gewaltigen Hangover. Beim Versuch, sich an das restliche Gespräch zu erinnern, schmerzt ihm nur der Kopf, weshalb er es schnell wieder aufgibt. Wenn es wirklich wichtig war, wird er sich schon irgendwann daran erinnern oder, aber Samantha wird es ihm erneut erklären müssen. Darauf ist er allerdings nicht sonderlich scharf, denn irgendwie hat er bei ihr ein seltsam ungutes Gefühl, das er sich nicht richtig erklären kann.
 

Beim Gedanken an sie, kommt eine weitere Erinnerung in dem Weißhaarigen hoch. Er hat mit ihr geschlafen! Oh, ja. Genau das war es. Er war mit ihr im Bett und es war einfach unglaublich! So etwas hat er noch nicht erlebt und dabei hat er sich seit seiner Trennung von Kukui mehr als nur ausgetobt. Nun überkommt seinen Körper ein warmer Schauer und er beißt sich unbewusst auf die Unterlippe, versucht die Erregung zurückzudrängen, die sich an die Oberfläche zu kämpfen versucht. Allerdings gelingt ihm dies kaum. Schließlich wird dieses heiße Prickeln aber durch etwas anderes beinahe gnadenlos erstickt. Nachdem sie miteinander geschlafen haben, ist noch etwas passiert. Aber, was nur? Es ist wie ein tiefes, schwarzes Loch in seinem Geist. Verwundert versucht er es zu ergründen, doch er wird nur mit einem allzu bekannten Schmerz vertrieben. Aber, warum versucht sein Vater ihn mit diesem elenden Golfschläger daran zu hindern, sich daran zu erinnern, was passiert ist? Bromley findet keine Antwort und gibt es irgendwann dann einfach auf.
 

Gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellt, da klopft es auch schon an der Tür und die Blondine betritt sein Zimmer. Sie mustert ihn einen Moment mit einem vollkommen unergründlichen Blick, dann verschwindet er plötzlich und sie lächelt sanft, mit einem Anflug von Sorge. „Stimmt etwas nicht, mein Hübscher?“, fragt sie schließlich. Angestrengt reibt sich der Angesprochene die Schläfen, als hätte er schreckliche Kopfschmerzen, was aber komischerweise nicht der Fall ist. Mit leeren Augen erwidert er ihren Blick und erhebt sich dann schwerfällig vom Bett. „Nee, alles bestens. Musste nur grad an ‘was denken...“, bringt er mit belegter Stimme hervor. „Etwa wieder dein Ex-Freund?“, fragt ihn die Frau mitfühlend. Verwundert sieht der Käfer-Trainer sie etwas entgeistert an. Haben sie neulich etwa auch darüber geredet? Das wäre ja wirklich furchtbar! Doch anscheinend hat sie kein Problem mit dieser Vorstellung, wie es aussieht. Immerhin waren sie dennoch miteinander im Bett. Hatte sie vielleicht versucht ihn zu trösten? Ihrem Blick jetzt nach zu urteilen muss dem schon irgendwie so gewesen sein.
 

Etwas verlegen räuspert sich der junge Mann. „Nee, den versuch‘ ich zu vergessen. Aber...“, setzt er an und kommt doch nicht weiter. Sie tritt an ihn heran und streicht ihm sanft über die Wange, ehe sie ihm einen kleinen Kuss auf die Lippen haucht. „Ist schon gut. So etwas ist sehr schwer und, wenn du es erzwingst, wird es dich erst recht nicht loslassen, mein Lieber. Doch ich denke, ich habe etwas, dass dich ablenken kann. Komm mit, die Arbeit ruft!“, entgegnet sie ihm in einer Mischung aus Forderung und Ausgelassenheit, und wendet sich schon wieder der Tür zu. Irritiert sieht Bromley ihr nach. Langsam fällt ihm dann doch wieder ein, dass sie an dem fraglichen Tag auch über seine Aufgabe hier gesprochen haben und, dass das Ganze etwas mit seinen neuen Klamotten und diesem Inselkönig zu tun hat. Er gibt ein müdes Seufzen von sich. Das alles wird sich schon noch aufklären und zwar ziemlich bald, wie ihm scheint.
 


 

2
 

Wenig später erreichen die beiden die Stelle, an der Bromley die künstliche Insel das erste Mal betreten hat. Zielstrebig wandert Samantha den Anlegesteg entlang. Etwas überrascht stellt der Käfer-Trainer fest, dass hier heute gar kein so geschäftiges Treiben herrscht, wie bei seiner Ankunft. Lediglich zwei dieser weiß gekleideten Leute treten in sein Blickfeld, verschwinden aber schnell wieder, nachdem sie Samantha berichtet haben, dass alle Vorbereitungen abgeschlossen sind und das Schiff fertig zum Auslaufen ist. Die Blondine hat wohl alle anderen weggeschickt, damit nicht auffällt, was hier gespielt werden soll. Und scheinbar werden sie und Bromley zu einer anderen Insel fahren. „Und? Wie findest du es?“, ertönt dann die Stimme der Blondine und reißt ihn aus seinen Gedanken. Als er aufblickt, erhebt sich vor ihm ein Schiff. Allerdings ist es nicht die Yacht, mit der er hierhergekommen ist. Diese hier ist pechschwarz und auf den Seiten und dem Bug prangert das totenschädelähnliche Zeichen, das sich auch auf dem Rücken seiner Jacke befindet – das Logo von Team Skull. Sichtbar klappt dem Weißhaarigen der Mund auf.
 

„Geiler Scheiß! Is‘ das etwa...“, er kann den Satz gar nicht zu Ende führen, so überrascht ist er. „Ganz recht, Herzchen. Das ist deine ganz eigene Skull-Yacht.“, hilft sie ihm kurzerhand aus. Nun werden seine Augen nur noch größer und er betrachtet das Schiff, wie ein kleines Kind den reich geschmückten Weihnachtsbaum. „Danke, Mann! Das is‘ echt nich‘ wa‘...“, bringt er stockend hervor. „Oh, du musst mir nicht danken. Sieh es als eine Art Arbeitsmittel an. Immerhin muss doch dafür Sorge getragen werden, dass du deine Aufgaben auch erfüllen kannst, nicht wahr? Und mit Rumsitzen wirst du das schließlich nicht schaffen.“, lächelt sie ihm liebevoll entgegen. Es hält aber nur einen Moment, dann weicht der Ausdruck der Erkenntnis eines plötzlichen Einfalls. „Du meine Güte! Ich habe ganz vergessen zu fragen, ob du überhaupt ein Schiff steuern kannst...“, fragend sieht sie ihn an und ihr ist anzusehen, wie sehr es ihr missfällt, diese Offensichtlichkeit vergessen zu haben. Vielleicht einfach nur, weil es in Alola üblich ist, mit dem Schiff zu fahren und sie immer jemanden hat, der sie fährt?
 

Er grinst sie breit an, doch als er antwortet, vergeht ihm das Grinsen schnell wieder und er wird trübsinnig. „Yo, kein Ding! Bin schon hundert Mal mit so ‘ner Nussschale rum gefahren. Mein Freund hatte so’n mitleiderregendes Teil, das er auch noch als Yacht bezeichnet hat und da hab‘ ich – oh...“ Er bringt den Satz nicht zu Ende, sondern lässt wehmütig die Schultern hängen. Vor seinem geistigen Auge entstehen die Bilder von Kukui und ihm, wie sie zum ersten Mal allein mit seinem Boot rausgefahren sind. Manuel war zuvor schon oft mit seinen Eltern auf See gewesen und hatte daher eigentlich kein Problem, selbst mit stärkerem Wellengang. Doch Bromley hat so dermaßen Gas gegeben und ist damit halsbrecherisch durch die sich auftürmenden Wellen gebrettert, dass dem Brünetten alle Farbe aus dem gebräunten Gesicht gewichen ist und ihm noch Stunden später unglaublich schlecht war. An sich eine unheimlich lustige Geschichte, zumindest für den Weißhaarigen, der ihn damit noch ewig aufgezogen hat. Doch die Erinnerung an seine einstige große Liebe, lässt sich sein Herz schmerzhaft zusammenziehen, sodass er angestrengt das Gesicht verzieht.
 

Samantha bedenkt ihn mit einem mitfühlenden Blick, innerlich verdreht sie jedoch leicht die Augen, da ihr Bromley’s Ex-Freund langsam aber sicher doch ziemlich auf die Nerven geht, obwohl sie nicht einmal seinen Namen kennt. Dennoch gelingt es diesem miesen Kerl ständig, ihre wundervolle Marionette zu Fall zu bringen und sie damit abermals in ihrem Vorhaben zurückzuwerfen. Dennoch ist sie zuversichtlich, dass sich das rasch ändern wird, wenn er erstmal in seinem neuen Zuhause ist und seine Mitstreiter kennengelernt hat. Dann wird er gar nicht mehr die Zeit dazu haben, an diesen Trottel zu denken! Naja, sie hofft es zumindest. Ansonsten muss sie wohl härtere Saiten aufziehen...
 

„Na dann, Leinen los, Seemann!“, fordert sie ihn auf, statt ihn erneut zu bemitleiden und betritt ungerührt die schwarze Yacht. Der Käfer-Trainer kämpft noch einen Moment mit sich selbst, dann setzt er sich langsam in Bewegung und klemmt sich hinter das Steuerrad. Abwartend hat sich Samantha auf eine der Bänke gesetzt und beobachtet nun, wie Bromley den Motor des Schiffes aufheulen lässt, wie einen geschlagenen Gossenhund und dann sicher den Pier der künstlichen Insel verlässt, als hätte er nie etwas anderes getan. Schweigend nimmt der Weißhaarige Fahrt auf, übertreibt es aber nicht ganz so, da er sich keinen Ärger mit der Blondine einhandeln will, die scheinbar eh nicht mehr so eine gute Laune hat, nachdem ihm wiederholt sein Ex-Freund herausgerutscht ist. Sie akzeptiert diesen Bestandteil seines Lebens scheinbar zwar, doch sonderlich glücklich ist sie damit nicht, was er nur allzu gut nachvollziehen kann. Es ist in letzter Zeit aber auch wirklich penetrant, wie oft ihm Manuel ungewollt im Kopf herumschwirrt oder er über ihn redet, ohne es kontrollieren zu können. Mit einem Knurren schaltet er einen Gang höher.
 

„Wo soll’s ‘n eigentlich hingeh’n?“ „Nach Ula-Ula. Um genau zu sein, nach Po’u. Das ist das verlassene Dorf des Inselkönigs, von dem ich dir neulich erzählt habe. Allerdings würde ich dich bitten, nicht in Malihe City anzulegen, sondern Po’u direkt von hinten anzusteuern. Dort befindet sich ein kleiner, versteckter Pier, den nur dieses Dorf benutzt hat und den auch kaum ein anderer kennt.“ „Aye-Aye, Präsidentin...“, gibt er zurück, wendet gekonnt die schwere Yacht und steuert Richtung Ula-Ula.
 

Es ist ein herrlich sonniger Vormittag, als das schwarze Schiff am Pier von Malihe City vorbeifährt, doch je näher sie dem Dorf Po’u kommen, desto dunkler wird der Himmel. Schwere Wolken hängen bald so tief, dass man das Gefühl hat, sie berühren zu können oder sich zu fragen, ob sie einen jeden Moment auf den Kopf fallen könnten. Das Schiff dringt in die Gewässer Po’us ein und förmlich im selben Augenblick wird es von großen, eisigen Tropfen umfangen, die Bromley fast die Sicht rauben. Unter dem wolkenverhangenen, regnerischen Frühlingshimmel hat die leicht aufgewühlte See die Farbe von mattem Silber, durchzogen von sich kräuselnden, weißen Schaumstrudeln, die aussehen wie die Adern eines Androiden. Dem Käfer-Trainer wird etwas flau im Magen, doch irgendwie hat der stetige Regen auch etwas seltsam Beruhigendes an sich. Er wäscht schlechte Gedanken ebenso fort, wie Tränen und hüllt einen mit einer undurchdringlichen Zärtlichkeit ein, die der Weißhaarige noch nie erlebt hat. Bromley kann innerlich nur den Kopf schütteln, wenn er daran denkt, dass dieses Szenario eigentlich die Enttäuschung und Wut der Schutzpatrone widerspiegeln soll; auf ihn aber so viel Geborgenheit ausübt, wie er sie sein Leben lang nicht erfahren hat...
 


 

3
 

Mit etwas Mühe gelingt es Bromley das Boot doch recht sanft an den kurzen Pier heranzusteuern und dort anzulegen. Als sie von Bord gehen, spannt Samantha einen Schirm auf, um sich vor dem Regen zu schützen. Dem Weißhaarigen macht das recht deprimierende Wetter nicht wirklich etwas aus und, selbst wenn, die Blondine wirkt alles andere, als würde sie ihn mit unter ihren Schirm lassen wollen. Innerlich zuckt er mit den Schultern und betrachtet sich lieber das gewaltige Haus, auf dessen Rückseite sich der Pier befindet. Von hier aus sieht es schon recht eindrucksvoll aus, doch als sie zur Vorderseite gehen, offenbart das Gebäude seinen ganzen, einstigen Stolz. Die zweistöckige Backsteinvilla wirkt mehr als imposant. Die tiefroten Ziegel trotzen dem Regen mit stummer Eleganz, doch der Verfall des verlassenen Bauwerks ist dennoch deutlich zu sehen und wirkt in der Düsternis der Wolken beinahe unheimlich. Etliche Fenster sind eingeschlagen, einzelne Steine aus dem wohlmöglich einmal weißen Mauerwerk gebrochen, doch die Fassade ist inzwischen eher hellgrau; eine kaputte Stelle im Dach nur behelfsmäßig mit einigen Brettern ungeschickt geflickt und die Eingangstür hängt doch etwas schief in ihrem Rahmen.
 

Trotz des vielen Regens hat sich die Natur sehr weit vorgewagt. Als sich Bromley umwendet und das verlassene Dorf mit seinen vernagelten Häusern betrachtet, wird er fast von der üppigen Flora erschlagen. Dicht drängen sich hohe Palmen und üppige Büsche aneinander. Der Rasen ist an einigen Stellen kniehoch und nicht wenige Pflanzen haben die Platten der Gehwege und Straßen regelrecht gesprengt und wachsen in dicken Büscheln daraus hervor. Neben der Villa befindet sich ein Pool, bei dem viele Fliesen heraus gebrochen sind und es grenzt fast an ein Wunder, wie der Käfer-Trainer findet, dass er bei dem Regen nicht schon überläuft. Aber wahrscheinlich hat ein schlauer Mensch irgendwann den Stöpsel gezogen oder er ist schlichtweg kaputt. Undeutlich kann der Weißhaarige erkennen, dass das gesamte Dorf von einer mindestens drei Meter hohen Mauer umgeben ist, die in der Ferne in einem schweren Stahltor endet, das den gesamten Komplex wie eine Festungsstadt oder ein Gefängnis aussehen lässt. Schon während seiner Inselwanderschaft hat er sich gefragt, warum die Bewohner sich so dermaßen von der Außenwelt abschotten, doch inzwischen kennt er den Grund...
 

„Na, was sagst du?“, reißt Samantha ihn schließlich aus seinen Gedanken und er wendet sich ihr überrascht zu. „Is‘ echt heftig, aber besser kann man’s sich wohl kaum wünschen!“, erwidert er ehrlich und folgt ihr dann zur Vordertür. Im Innern wird er fast von all den Eindrücken erschlagen, weshalb er der Blondine einen fast schon eingeschüchterten Blick zuwirft, den sie erstaunlich aufmunternd erwidert. Es vermag die Leere in seinem Leben dennoch nicht zu füllen. Nicht die Lücke, die jener Mann hinterlassen hat, als er ihn vor die Tür gesetzt hat,- dennoch möchte er ihm nicht allein für diese Sache die Verantwortung zuschieben, immerhin hat Burnett ihm ja diesen Floh ins Ohr gesetzt-, sondern das Loch, das schon immer vorhanden war. Jener dunkle, verworrene Strudel, der in seinem tiefsten Innern nie zur Ruhe kommt. Samantha füllt dieses Loch – irgendwie. Sie bringt ihn zum Handeln. Sie macht ihn auf seltsame Weise zu einer imposanten Gestalt.
 

Und dies spürt er nun völlig unbewusst. Etwas sicherer wirft er einen Blick durch die Eingangshalle der Villa. Hier drinnen ist der Verfall weit deutlicher, als draußen, wie ihm sehr schnell auffällt. Überall liegen kaputte Gegenstände herum. Matratzen stapeln sich in förmlich jeder Ecke, genau wie unzählige Kisten. Ein wahres Labyrinth. Der weinrote Teppich, der sich durch die ganze Villa zu ziehen scheint, ist übersät mit undefinierbaren Flecken. Die Scheiben der Fenster sind so trüb, als wären sie noch nie geputzt worden und viele der Holztüren und Möbel sind hoffnungslos bei der hohen Luftfeuchtigkeit hier drinnen aufgequollen oder verzogen. Ein gewaltiger, goldener Kronleuchter ist auf die Treppe zum zweiten Stock gefallen und blockiert damit den Weg auf der rechten Seite völlig, sodass man nur links hinaufgehen kann. Zudem liegen überall Scherben von Scheiben, Geschirr und Vasen herum. Es riecht feucht und muffig und irgendwie nach totem Tier. Seine Käfer-Pokémon werden sich hier definitiv sehr wohl fühlen, sind Reißlaus doch dafür bekannt, gern die Müllabfuhr zu mimen und alles zu fressen, was zu Boden fällt und nur irgendwie verwertbar erscheint.
 

Etliche, teuer aussehende Gemälde hängen auch noch an den Wänden, was Bromley zu dem Schluss kommen lässt, dass die Bewohner doch ziemlich überstützt vertrieben wurden. Zwar haben sie mit dem Packen begonnen, was die vielen Kisten wohl beweisen, doch wirklich etwas mitnehmen durften sie wohl nicht, ehe sie von den Bewohnern Alolas und den Kapus verbannt wurden. Irgendwie schon traurig, doch Bromley empfindet dabei rein gar nichts, sie haben ihre gerechte Strafe bekommen. „Wie du sehen kannst, ist die Villa ein wahres Prachtstück und dürfte dir und deinem Team ausreichend Platz und Möglichkeiten bieten. Viele Dinge funktionieren zwar nicht mehr, doch darum werden wir uns bei Bedarf nach und nach kümmern, damit das Wohnen hier keinem Überlebenskampf gleicht. Strom gibt es allerdings nur noch hier in der Villa. Das rechtliche Dorf, einschließlich dem Pokémon-Center, ist völlig tot und das lässt sich auch nicht mehr ändern, fürchte ich. Das Stromnetz der Villa ist außerdem nicht unbedingt stabil, sodass es gelegentlich zu einigen Aussetzern kommt. Doch das pendelt sich für gewöhnlich nach einer Weile wieder ein.“, berichtet die Blondine mit der Stimme einer erfahrenen Maklerin, die ein völlig runtergekommenes Gebäude als Palast verkaufen will und es auch schafft.
 

Wirklich zuhören tut der Weißhaarige ihr allerdings nicht. Stattdessen versucht er sich auf ein anderes Geräusch zu konzentrieren. Es kommt direkt vom Fuß der großen Treppe und klingt nach leisem Stimmengewirr. Bromley kann zwar nicht ein einziges Wort verstehen, dennoch scheinen es mindestens drei oder vier junge Leute zu sein, Mädchen wie Jungs. Auch die Präsidentin scheint die Stimmen zu hören und merkt, wie abgelenkt ihr Streuner deswegen zu sein scheint. Sie stößt ihm nicht gerade liebevoll die Spitze ihres Schirms in den rechten Fuß und ehe er sich darüber mokieren kann, deutet sie ihm schon an mitzukommen.
 


 

4
 

Wie der Käfer-Trainer es schon richtig vermutet hat, sitzen auf der Treppe tatsächlich zwei Mädchen und zwei Jungs und unterhalten sich gedämpft miteinander. Sie bemerken die Anwesenheit der beiden Ankömmlinge gar nicht. Dies gibt Bromley die Möglichkeit, sie etwas genauer in Augenschein zu nehmen, während sich Samantha einen Moment abwendet, um zu telefonieren. Die vier Teenager wirken noch recht jung, sind kaum älter als siebzehn oder achtzehn. Die beiden Mädchen haben pink gefärbte, schulterlange Haare und gleichen sich so fast wie Zwillinge. Sie tragen ein hautenges, schwarzes Tank-Top, auf dem sich auf Höhe des Bauches zwei weiße Streife kreuzen. Dazu haben sie weiße, ausgefranste Hot-Pants an, die so dermaßen kurz und enganliegend sind, dass Mann Mühe hat, überhaupt noch eine Fantasie zu entwickeln, die einem nicht schon direkt vor die Nase gehalten wird. Unweigerlich fragt sich der Weißhaarige, ob darunter überhaupt noch Platz für ein Höschen ist und ob sie dergleichen anhaben oder nicht. Der aufreizende Anblick wird noch von einem schwarzweißen Strumpfband gekrönt, das sie um einen Oberschenkel tragen.
 

Ihr Anblick bringt einen also regelrecht um den Verstand. Vielleicht liegt darin sogar die Absicht? Bromley ist es einerlei, auch wenn ihn die Aufmachung nicht unbedingt kalt lässt. Um den Hals tragen die beiden dieselbe Kette, wie der Käfer-Trainer, nur das sie nicht goldfarben, sondern silbern ist und die Glieder aus kleinen Perlen bestehen. Ihre Köpfe sind gekrönt von einer weißen Mütze, die zwei schwarze Flecken hat. Zusammen ergibt sich hier wieder die Anlehnung an einen Totenschädel, zumindest dessen Augenhöhlen. Aber das wohl Auffälligste an dem Äußeren der Mädchen ist wohl das schwarze Tuch mit einem weißen Absatz an der oberen Kante, das Mund und Nase verdeckt. Bei genauerer Betrachtung fällt dem Weißhaarigen auf, dass das Tuch mit der Mütze harmoniert. Durch die weißen Absätze auf dem schwarzen Stoff entsteht der Anschein von Zähnen und damit würde sich der Schein des Totenschädels der Mütze vervollständigen. Eine wirklich clevere Idee, wie er zugeben muss und außerdem verschleiert die ganze Aufmachung auch noch die wahre Identität der Mädchen, da sie auf den ersten Blick vollkommen gleich aussehen.
 

Bei den zwei Jungs sieht es ganz ähnlich aus. Sie tragen dasselbe Tank-Top, wie ihre weiblichen Mitstreiter, nur das es bei ihnen weit ausladend sitzt und nicht enganliegend. Sie haben ebenfalls die gleiche Mütze und den Mundschutz, so wie die silberne Kette. Allerdings tragen sie keine weißen Hot-Pants, sondern weite, schwarze sieben-achtel Hosen, an deren Seite dasselbe weiße Zickzackmuster verläuft, wie an den Ärmeln von Bromley’s Jacke. Glücklicherweise sind ihre Haare auch nicht pink gefärbt, sondern blau und kurzgeschnitten, sodass nur ein wenig davon an den Seiten der Mütze hervorschaut. Alle vier tragen aber die gleichen weißen Turnschuhe.
 

Es dauert noch einen Augenblick, dann bemerken die vier, dass sie nicht mehr allein sind und blicken den Käfer-Trainer überrascht an, mustern ihn von oben bis unten genau. In ihren Gesichtern – so viel man davon noch sehen kann – entdeckt der Weißhaarige jedoch keine Abneigung oder ähnliches, sondern nur Neugierde und Erwartung. Gerade, als einer der Jungs zu einem halbherzigen Gruß ansetzen will, ertönt jedoch ein nachdrückliches Geräusch, das sie alle leicht zusammenzucken lässt. Samantha ist scheinbar mit ihrem Telefonat fertig und hat nun laut in die Hände geklatscht, um die Aufmerksamkeit der anderen zu bekommen. Verwundert wenden ihr die fünf jungen Leute das Gesicht zu.
 

„Schluss jetzt mit dem faulen Rumgesitze! Ich habe euch euren zukünftigen Boss mitgebracht, der ab jetzt das Team anführen wird. Also erwarte ich, dass ihr seinen Anweisungen folgt und mir keine Schande bereitet. Ich hoffe, wir haben uns da verstanden?“, mahnend betrachtet sie die vier Jugendlichen und wirft dann auch einen Blick zu Bromley hinüber. Keiner von ihnen scheint ein Problem zu haben, weshalb sie ihre Ansage fortführt. „Ok, ihr Rüpel. Macht euch mal nützlich! Die Yacht hinter der Villa ist randvoll mit Sachen für euch, also ladet alles aus. Als erstes bringt ihr davon aber das goldfarbene Motorrad auf den Platz vor die Villa. Ich will nicht länger, als nötig hier sein, also beeilt euch gefälligst!“, weist sie die Teenager streng an. Diese geben ein leises, aber missgünstiges Murmeln von sich und trollen sich dann nicht gerade eilig nach draußen, um ihrer Aufforderung nachzukommen.
 

„Mann, scheint ja so, als wärste echt fleißig gewesen...“, staunt der Weißhaarige nicht schlecht über das alles. Selbstzufrieden lächelt die Blondine. „Ich habe das Nötigste schnell erledigt, wenn man so will. Doch die Hauptarbeit liegt dennoch bei dir und deinen Rüpeln.“ „Yo, wo komm‘ die Kids eigentlich her?“, fragt er sie etwas irritiert. „Überall und nirgendwo. Ähnlich wie du, sind sie kleine Streuner, die nichts zu Stande gebracht, von zu Hause ausgerissen oder einfach aufgegeben haben, weil ihnen das Leben nicht sonderlich gut mitgespielt hat. Sie sind kleine Rebellen, die sich von den Bewohnern Alolas losgesagt haben und nach ihren eigenen Regeln handeln wollen, mit dem Zweck, möglichst viel Chaos anzurichten und ihr Missfallen auf die Gesellschaft, die sie im Stich gelassen hat, Ausdruck zu verleihen. Kurz gesagt, ganz im Sinne des ursprünglichen Team Skull. Dennoch musst du streng mit ihnen sein, damit nicht alles aus dem Ruder läuft und ihre Tölpelhaftigkeit nicht meinen ganzen Plan kaputtmacht. Das fällt sonst nämlich alles auf dich zurück und den Ärger willst du lieber nicht haben, mein Hübscher!“, erläutert sie nachdrücklich. Stumm nickt der Weißhaarige, auch wenn er sich noch nicht so sicher ist, wie er diese Teenager anleiten soll. Aber ihm wird sicher etwas einfallen...
 


 

5
 

Kurz darauf verlässt er gemeinsam mit Samantha wieder die Villa. Wie von ihr gewünscht, haben die Rüpel in der Zwischenzeit dort das Motorrad abgestellt und verdrücken sich jetzt wieder um die Hausecke, um den Rest aus der Yacht zu räumen. Der Käfer-Trainer gibt derweilen ein beeindrucktes Pfeifen von sich, als er das Bike betrachtet. Dabei handelt es sich ganz unzweifelhaft um ein Suzuka GSX-R 6000 Custom Bike. Der Hinterreifen ist hierbei mehr als doppelt so breit, wie der vordere. Links und rechts auf dem Tank und über dem vorderen Scheinwerfer prangert das Skull-Logo in blutroter Farbe und hinter dem Sitz klemmt eine kurze Fahnenstange, auf deren Stoffstück ebenfalls der Totenschädel sitzt – fast wie bei einer Piratenflagge. Das Ganze harmoniert erstaunlich gut mit der gold-schwarzen Lackierung des Bikes und lässt es irgendwie bedrohlich wirken. „Ein schönes Stück, nicht wahr?“, merkt die Blondine unter ihrem Schirm hervor an. „Auf jeden...“, ist alles, was der Weißhaarige erwidern kann.
 

In Alola gibt es zwar einige wenige Autos, sie werden aber so gut wie nie benutzt, um die Natur nicht zu zerstören, die Pokémon nicht zu belästigen oder wohlmöglich einen Unfall mit einem zu haben. Motorräder gibt es hier aber nicht, da sie oftmals viel zu laut sind und weit gefährlicher, als ein Auto. Außerdem gibt es in der ganzen Region nicht eine einzige Tankstelle, weshalb man alternative Brennstoffe heranziehen muss, wenn man unbedingt fahren will. „Hab‘ gar nich‘ gewusst, dass es hier so’ne geilen Bikes gibt...“, entkommt es dem jungen Mann dann schließlich doch, während er das Motorrad langsam zum Eingang des Dorfes schiebt. Samantha läuft neben ihm her und kichert leicht bei seiner Bemerkung. „Die gibt es hier auch nicht. Ich habe sie speziell bauen und einschiffen lassen. Diese aufgemotzten Dinger werden die Leute sicher sehr schnell aufwecken und dann weiß bald jeder, dass ihr Ärger bedeutet.“
 

„Soll das etwa heißen, das is‘ für mich?“, klappt dem Käfer-Trainer der Kiefer herunter. „Das heißt es und für jeden deiner Rüpel gibt es auch eines, mein Lieber.“ „Scheiße Mann! Für das alles kann ich mich doch unmöglich jemals revanchieren...“, bricht es etwas fassungslos aus ihm heraus. Wieder kichert sie, hell und klar, wie ein junges Schulmädchen. „Mach dir darüber mal keine Gedanken. Ich finde schon einen Weg, damit wir quitt sind.“ Bromley mustert sie aufmerksam, doch er kann beim besten Willen nicht sagen, was sie damit meinen und, was noch alles auf ihn zukommen könnte. Schweigend verlassen sie Po’u nach einer Weile und finden sich auf der Route siebzehn wieder. In der Ferne kann man zerklüftete Felsformationen erkennen, die fast bis an die Straße heranreichen und ein stufenartiges Plateau bilden. Durch den unaufhörlichen Regen wirkt die Route beinahe erdrückend und irgendwie unheimlich, so ganz im Schatten der dunklen Wolken. Es gibt zwar einige Laternen, die die Straße säumen, doch die meisten davon sind kaputt und tot.
 

Bromley stellt die Suzuka vor dem Tor des Dorfes ab und sieht Samantha dann etwas unschlüssig an. So ganz kann er das alles noch nicht begreifen. Noch vor einer Woche hat er draußen in der Wildnis Alolas geschlafen und versucht, sich und seine Pokémon ohne Geld irgendwie über Wasser zu halten. Er hatte einfach nichts und dann begegnet er dieser atemberaubenden Frau und alles ändert sich förmlich über Nacht. Jetzt steht er hier im Regen, hat eine Villa, ein Motorrad und ist der Anführer einer Truppe durchgeknallter Halbstarker. Das muss man erst einmal verdauen. Ganz hinten in seinem Kopf beginnt er sich ungewollt zu fragen, wie es Manuel wohl gerade ergeht. Ob er glücklich mit seiner Entscheidung und seiner Ehe ist oder, ob er sich manchmal vor Sehnsucht in den Schlaf weint, so wie es der Käfer-Trainer monatelange getan hat. Mit einem unterdrückten Knurren verdrängt er den Gedanken an seinen einstigen Liebhaber schnell wieder. So etwas kann er jetzt nun wirklich nicht gebrauchen, er hat wichtigere Dinge zu erledigen.
 

Abwartend mustert ihn die Blondine, doch schließlich wird es ihr zu viel und sie unterbricht seine Gedankengänge. „Wie lange lässt du mich hier eigentlich noch im Regen stehen?“, fragt sie ihn angesäuert. Überrascht blinzelt der Weißhaarige sie an. „Was’n?“ „Denkst du etwa, ich will hier den ganzen Tag so rumstehen und zusehen, wie meine Schuhe ruiniert werden, von meinen Sachen ganz zu schweigen? Also fahr mich endlich zum Pier von Malihe City, damit ich zurück nach Hause komme!“, fährt sie ihn grob an. Leicht zuckt Bromley unter ihren strengen Worten zusammen. „Dir is‘ aber schon klar, dass ich noch nie mit so ‘nem Ding gefahr’n bin, ne?“, meldet er sich dennoch etwas kleinlaut zu Wort. Sie zuckt aber nur mit den Schultern. „Das ist nicht schwer. Es ist fast wie Fahrrad fahren, also stell dich nicht so an und mach schon!“ Für einen kurzen Moment überlegt der junge Mann, ob er ihr sagen soll, dass er nicht zu den glücklichen Kindern gehörte, die ein Fahrrad hatten, verwirft es aber schnell wieder.
 

In ihren kalten, grünen Augen spiegelt sich etwas wieder, dass ihm einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagt, weshalb es wohl keine so gute Idee wäre, ihr zu widersprechen. Also atmet er tief durch und schwingt sich auf das Bike. Ein seltsames Gefühl, diesen harten Ledersitz zwischen den Schenkeln zu spüren, doch absolut nicht unangenehm. Mit einem kurzen Blick findet er den Anlasser und startet die Suzuka. Plötzlich und für ihn völlig unvermittelt, erwacht der hundertzwanzig PS starke Motor heulend zum Leben und versetzt dabei die ganze Maschine in eine immer wärmer werdende, endlose Vibration. Überrascht holt Bromley ruckartig Luft, stößt sie dann seufzend wieder aus und beißt sich anschließend erregt auf die Unterlippe. Er schluckt schwer. So etwas hat er nun wirklich nicht erwartet. Es ist einfach unglaublich und für einen Moment vergisst er alles um sich herum und taucht tiefer in dieses fremde Gefühl ein, das über ihn hinwegschwappt, wie ein endloser Orgasmus.
 

Samantha findet das aber keines Falls lustig und stößt ihm daher hart mit dem Griff ihres Schirms in den Rücken. Schlagartig befindet sich der Weißhaarige wieder in der Wirklichkeit und blickt sie ertappt, wie ein geprügelter Hund an. „Was soll denn das werden? Jetzt mach endlich!“, giftet sie ihn so harsch an, dass er sich fragt, wie sie überhaupt jemals so nett sein konnte, wie sie sich gern gibt. Allerdings sieht er nicht unbedingt ein, sich von ihr einfach alles verderben zu lassen, wo es doch ein so traumhaftes Gefühl ist. „Jetz‘ mach aber ma‘ ‘n Punkt, Püppchen und lass mir ‘ne verdammte Minute, klar?“, gibt er trotzig zurück und funkelt sie herausfordernd an. Er hat den Satz kaum beendet, da verpasst sie ihm auch schon eine schallende Ohrfeige, die seinen Kopf zur Seite wirft und ihn für einen Moment Sterne sehen lässt. „Ich hatte dir ausdrücklich untersagt, mich so zu nennen! Und jetzt ist Schluss mit diesen Spielchen! Wenn du mich nicht auf der Stelle zum Pier bringst, kannst du was erleben, Freundchen!“, faucht sie wie eine Wildkatze und ihre Augen scheinen dabei regelrecht Funken zu sprühen.
 

Ganz unbewusst gleitet Bromley’s Hand hinauf zu seiner Wange und betastet dort die heiße, pochende Stelle. Für eine Sekunde bleibt noch der trotzige Ausdruck in seinem Gesicht, verstärkt sich sogar noch, und am liebsten würde er sie jetzt erwürgen, weil sie ihn hier so vorführt, als wäre er noch ein unartiger Fünfjähriger und kein erwachsener Mann von einundzwanzig. Dann jedoch schlägt er schuldbewusst und kindlich die Augen nieder und murmelt eine Entschuldigung, während sich seine warme Erregung so schlagartig verflüchtigt, als hätte sie sie eigenhändig umgebracht. Er weiß selbst nicht so genau, warum er sich jetzt so schlecht fühlt. Die Wut in ihm ist verschwunden und irgendwie kommt ihm der Gedanke, dass Samantha entfernt Ähnlichkeit mit seinem Vater hat, herrisch und dominant, und das schüchtert ihn auf merkwürdige Weise ein, ganz ohne, dass er sich dagegen zu Wehr setzen kann. Also rückt er auf dem Sitz ein Stück nach vorn, damit sie ausreichend Platz hat und wartet dann, dass sie sich hinsetzt.
 

Das macht sie auch wortlos und legt dabei eine Hand um seine Brust, damit sie sich festhalten kann. In der anderen hält sie weiterhin den Schirm. „Ähm, willste nich‘ ‘n Helm aufsetzen?“, fragt er sie etwas vorsichtig. Plötzlich spürt er jedoch ihre Nägel, die sich in seine Haut graben, bis es schmerzt. „Oh nein! Der ruiniert mir nur die Frisur. Also fahr gefälligst vernünftig, damit der Schirm nicht umschlägt!“, weist sie ihn nachdrücklich an. Grimmig verzieht der Käfer-Trainer das Gesicht, sagt jedoch nichts. Stattdessen kickt er den Ständer der Suzuka hoch, lässt den Motor noch einmal ohrenbetäubend aufheulen, betätigt dann die Kupplung und gibt vorsichtig Gas. Das Bike schwankt einen Augenblick bedenklich, doch es fängt sich wieder, ehe Samantha abermals ihre Fingernägel in sein Fleisch drücken kann.
 

Erleichtert atmet Bromley durch und bahnt sich unter lautem Röhren des Motors einen Weg die Route siebzehn entlang. Kurz nachdem sie das Dorf hinter sich gelassen haben, taucht ein Haus am Straßenrand auf. Dabei handelt es sich aber nicht um ein Wohnhaus, wie der Weißhaarige schnell feststellt, sondern um eine alte Polizeiwache. Sie wirkt fast genauso mitgenommen, wie die Villa von Po’u. Die Tür steht offen und ein ältlicher Mann sitzt auf einem Stuhl unter der Zarge, um nicht nass zu werden. Auf seinem Schoß liegt schlafend ein Mauzi, dem er bedächtig über den Rücken streicht, wie ein Ganove in einem schlechten Agentenfilm. Dabei mustert er Bromley und Samantha ganz genau, als sie an ihm vorbeifahren, sagt jedoch kein Wort. Er wirkt müde und abgeschlafft, trägt allerdings auch keine Uniform, wohl aber das Polizeiabzeichen am Ärmel seiner Weste.
 

„Wer is‘ ‘n das?“, fragt Bromley die Blondine. „Mach dir darüber mal keine Gedanken. Das ist nur der alte Yasu.“, meint sie schulterzuckend. „Is‘ er ‘n Bulle?“ „Das war er früher mal, doch jetzt ist er seit ein paar Jahren im Ruhestand und nur noch bei größeren Notfällen zu Gange. Dennoch hat er es sich zur Aufgabe gemacht, über Po’u zu wachen, damit sich dort niemand unbefugt Zugang verschafft. Aber er wird euch keine Schwierigkeiten machen, solange ihr ihm nicht auf die Nerven geht. Er ist ziemlich gleichgültig, weil er zudem auch noch der Inselkönig von Ula-Ula ist, worauf er überhaupt keine Lust hat. Doch der Schutzpatron hat ihn dazu gezwungen, nachdem die Bewohner von Po’u vertrieben worden sind und dem kann er sich nicht widersetzen. Was aber nicht heißt, dass er sich sonderlich dafür angegiert. Er sitzt eigentlich nur hier rum und vertreibt sich die Zeit mit seinen Mauzis. Ziemlich wunderlicher Kerl, wenn du mich fragst.“, erläutert sie ihm und wirkt dabei ganz so, als hätte sie sich überhaupt nicht über Bromley aufregen müssen. Unweigerlich fragt sich der junge Mann, wie wunderlich dieser Yasu sein muss, wenn diese ausgeflippt Blondine ihn schon so bezeichnet. Doch vorstellen will er es sich beim besten Willen nicht...
 


 

6
 

Nachdem der Weißhaarige Samantha am Pier von Malihe City abgesetzt hat, fährt er wieder zurück nach Po’u. Als er in die beständigen Regenwolken der Route siebzehn eintaucht und von der nahezu erdrückenden Melancholie der verlassenen Umgebung eingenommen wird, bemerkt er, dass Yasu noch immer auf seinem Platz sitzt. Obwohl Bromley gut zwei Stunden unterwegs war, sich inzwischen langsam der Abend neigt und es um einige Grad kühler geworden ist, die den Regen nahezu penetrant machen, hat sich der ehemalige Polizist nicht einen Zentimeter bewegt und auch das Mauzi auf seinem Schoß schläft noch immer ungerührt. Der leere, fast schon teilnahmslose Blick des Grauhaarigen beschert ihm einen unangenehmen Schauer, der seinen Rücken hinabkriecht und den kalten Regen dabei wie eine sanfte Dusche wirken lässt. Unweigerlich schüttelt sich der Käfer-Trainer, was Yasu immerhin dazu bewegt, fragend eine Augenbraue zu heben, als die laute Maschine an ihm vorbeifährt.
 

„Was glotzte denn so blöd, Alter?“, giftet der Größere ihn scharf über den Motorenlärm hinweg an, doch der Angesprochene blinzelt nicht einmal. Er wirkt wie eine überdimensionale, gruselige Puppe – die Art von Puppe, die aufsteht und dich umbringt, wenn du ihr den Rücken zukehrst... Dieser Gedanke beschert Bromley einen erneuten eiskalten Schauer und so beschleunigt er das Bike noch etwas, um möglichst schnell von diesem unheimlichen Typen wegzukommen. Yasu blickt ihm müde und desinteressiert hinterher. Das Mauzi auf seinem Schoss ist allerdings vom Lärm der Suzuka wach geworden und sieht sich etwas verwirrt um. Langsam, beinahe mechanisch streicht der alte Mann ihm durchs graue Fell. „Mit der Ruhe ist es jetzt wohl vorbei, denke ich...“, teilt er dem Pokémon tief seufzend mit. Dieses gähnt herzhaft und rollt sich wieder auf seinem Platz zusammen. Der ehemalige Polizist lässt den Blick Richtung Po’u schweifen, wo Bromley gerade hinter dem großen Tor verschwindet. „Mal sehen, was daraus wird...“, gibt Yasu nach einer längeren Pause von sich. Sein Gesicht ist immer noch vollkommen ausdruckslos und gelangweilt, doch durch seine Augen huscht ein wilder Funke, der seine einstige Begeisterung für seinen früheren Job widerspiegelt und ihn auf seltsame Weise bedrohlich aussehen lässt... Einmal Polizist, immer Polizist, wie es so schön heißt.
 


 

7
 

Der Käfer-Trainer ist jedoch heilfroh, den alten Knacker nicht mehr sehen zu müssen. Allerdings gestaltet sich der Anblick in der Villa auch nicht so viel besser. Etwas verwundert bleibt er im Foyer stehen und betrachtet die vier Teenager, die nun seine sogenannten Rüpel sind. Sowohl die zwei Jungs, als auch die beiden Mädchen wirken betrübt und müde. Zudem hat jeder von ihnen eine Flasche Bier in der Hand. Auf dem Boden liegen auch schon einige leere Flaschen und die Bande wirkt daher etwas angetrunken. „Was’n hier los?“, fragt er sie also. Überrascht sehen sie auf und ein Lächeln gleitet über ihre Gesichter hinweg. Ihr Mundschutz hängt nun ungeachtet um ihren Hals und lässt sie so ein bisschen wie Gauner in einem alten Western aussehen. „Yo, der Boss is‘ wieder da!“, flötet der eine Junge begeistert und die anderen grüßen ihn ebenfalls und heben ihre Flaschen.
 

Leicht verlegen kratzt sich der Weißhaarige am Hinterkopf. „Könnt ihr mich nich‘ Bromley nenn‘?“, gibt er etwas überfordert zurück. So angesprochen zu werden, ist er einfach nicht gewöhnt. „Geht nich‘. Man spricht seinen Boss nich‘ mit’m Vornamen an. Das is‘ respektlos.“, entgegnet ihm eines der Mädchen ziemlich ernst. Innerlich fängt der Ältere an zu lachen. Schon witzig ausgerechnet von so einem dahergelaufenen Haufen Halbstarker eine Belehrung in Sachen Respekt zu bekommen, obwohl er schwören könnte, dass die vier das Wort nicht einmal fehlerfrei schreiben können. Äußerlich grinst er leicht schief und zuckt die Schultern. „Wenn’s sein muss. – Aber vielleicht könnt ihr mir ja eure Namen sagen, dann muss ich euch nich‘ Rüpel nenn‘, so wie die Präsidentin?“, versucht es Bromley erneut.
 

„Die meinte, wa‘ soll’n uns nur mit ‘nem Anfangsbuchstaben oder so anreden, damit es keiner mitkriegt.“, meint der zweite Junge. „Yo, genau. Irgendwann sind wa‘ eh zu viele. So was kann sich ja keiner merken.“, ergänzt das erste Mädchen. „Also sind die Jungs A und B und wa‘ sind R und S.“, setzt das zweite Mädchen fort. Bromley seufzt tief und kratzt sich wieder am Kopf. „Oh Mann, ok. – Noch sind wa‘ aber nur fünf, also kann’s wohl kaum so schwer sein, sich eure Namen zu merken. Auf der Straße könn‘ wa‘ das ja dann anders machen. Also?“, versucht es der Käfer-Trainer etwas nachdrücklicher. Die vier sehen sich etwas unschlüssig an und zucken dann mit den Schultern. „Yo, von mir aus. Dann sind wa‘ halt Aaron, Bryan, Rose und Sonja.“, kommt es vom Jungen auf der rechten Seite, der sich als Aaron vorstellt. „Na, seht ihr. So schwer war’s doch nich‘. Und, warum sitzt ihr hier so rum und betrinkt euch?“, will der frisch ernannte Boss nun wissen.
 

„Weil wa‘ Hunger ham und nichts zu essen da is‘...“, kommt es niedergeschlagen von Sonja. Verwundert legt Bromley die Stirn in Falten. „Wie jetz‘? Die Yacht wa‘ doch bis unters Dach voll mit Essen und so ‘nem Zeugs, oder nich‘?“ „Schon, aber das sind alles nur so Dosen mit Gemüse und so’n Zeug und nichts fertiges, checkstes?“, erwidert Bryan seufzend, als wäre das ein wirklich unlösbares Problem, vor dem sie stehen würden. „Is‘ doch klar, weil’s hier noch keinen Kühlschrank gibt. Aber, warum kocht ihr euch denn dann nichts?“ Fast schon entgeistert blicken ihn die vier an. „Weil wir’s nich‘ könn‘...“, meint Rose, ganz so, als wäre es offensichtlich. „Echt nich‘?“ Bromley versteht gar nichts mehr. „Ich hab‘ ma‘ versucht gebratenen Reis zu machen, aber das ging gründlich in die Hose...“, gesteht Aaron kleinlaut. „Ich kann nur Spiegeleier machen, aber wa‘ ham keine Eier...“, setzt Bryan die Reihe fort.
 

„Ich kann nur Tee kochen, dass dafür aber ganz gut.“, meint Rose weiter. „Und ich kann’s überhaupt nich‘...“, endet Sonja. „Was bisten du für’n Mädchen, wenn du nich‘ ma‘ deinem Stecher ‘was kochen kannst?“, fährt Bryan sie plötzlich an, ehe Bromley etwas sagen kann. „Eins, das nich‘ auf Typen steht, du Arschloch!“, kommt es beleidigt von ihr zurück. Dem Blauhaarigen entgleiten die Gesichtszüge. „Du bist ‘ne verdammte Lesbe? Nich‘ dein Ernst? Reicht’s denn nich‘ schon, dass ich mit der Schwuchtel hier hausen darf? Is‘ denn hier niemand normal, verflucht?“ Bryan hat den Satz kaum beendet, da rammt ihm Aaron auch schon hart den Ellenbogen in die Rippen. „Nu langt’s aber! Ich bin keine Schwuchtel, sondern bi und das hat dich die ganze Zeit noch nich‘ gestört, also spiel dich jetz‘ nich‘ so auf, als müssten wa‘ uns ein Bett teilen!“, pikiert sich Aaron und verschränkt wütend die Arme vor der Brust.
 

„Yo Mann! Stört mich doch auch nich‘, solang ich da noch ‘n Ausgleich hab‘, wenn du mir ständig auf den Hintern starrst.“, versucht sich Bryan zu verteidigen. „Ich starr dir ganz sicher nich‘ auf den Hintern. So toll is‘ der nämlich nich‘ und Sonja hat ganz recht, du bist ‘n homophobes Arschloch!“, schmollend dreht sich Aaron von ihm weg. Bryan verdreht nur die Augen. „Is‘ doch nich‘ wa‘. – Yo Rose, was’n mit dir?“, fragt er stattdessen, mit einem kleinen Anflug von Hoffnung. „Ich bin normal, wie du’s so toll ausdrückst. Doch ich steh nich‘ auf so Typen wie dich, Arschloch!“, erwidert sie keck und streckt ihm die Zunge raus. Angefressen wendet sich der Blauhaarige ab und nippt lieber an seinem Bier. Belustigt hat Bromley das ganze Spektakel betrachtet und versucht sich jetzt das Lachen zu verkneifen. Diese Kids haben echt Probleme, wirklich süß. Doch irgendwie ist er ganz froh, dass er nicht der Einzige ist, der das andere Ufer betreten hat. Auch, wenn es ihm etwas Sorgen bereitet, dass Bryan so eine Abneigung dagegen zu haben scheint, selbst wenn er es nicht so ganz offen zugeben will.
 

Mit dieser Erkenntnis kommt auch gleich wieder eine Erinnerung an sein früheres Leben zum Tragen und er verdrängt sie nachdrücklich, ehe sich ein Bild seines einstigen Geliebten völlig ausformen kann. „Yo Leute! Beruhigt euch ma‘ wieder. Wir finden ‘ne Lösung. Ich koch uns ‘was, ok?“, wirft der Käfer-Trainer schließlich ein. Erneut blicken ihn die vier vollkommen entgeistert an. „Sag bloß, du kannst so was?“, stammelt Aaron. „Und ob ich’s kann. Meine Mutter hat’s nich‘ so mit dem Kochen gehabt. Hatte andere Sorgen. Also hab‘ ich’s mir selbst irgendwie beigebracht. Und, als ich dann mit meinem...“, er bringt den Satz nicht zu Ende, sondern stockt kurz. Nach der hitzigen Diskussion der Rüpel über die Vorlieben eines jeden, will Bromley ihnen nicht gleich auf die Nase binden, dass er mit einem Kerl zusammengelebt hat. „Was haste denn, Boss?“, fragt Rose leicht besorgt. „Nichts! Ich meinte nur, ich hab‘ ‘nen paar Jahre mit jemandem zusammengelebt und hab‘ da auch immer gekocht, weil die Person das so überhaupt nich‘ konnt‘, weiter nichts. Also kommt jetz‘ mit in die Küche, wenn ‘ner nich‘ verhungern wollt.“, rettet er sich noch mal und wendet sich um. Noch etwas verwundert erheben sich die Teenager und folgen ihm dann.
 


 

8
 

Gekonnt wirft der Weißhaarige einen Blick in die gut gefüllte Speisekammer. Ein wenig überrascht es ihn dabei schon, wie ordentlich und nahezu gewissenhaft die Rüpel die Unmengen an Konservendosen, Flaschen, Schachteln und andere Sachen in die Regale eingeräumt haben. Alles ist nach dem Inhalt sortiert und fein säuberlich aufgereiht. Er selbst hätte es wohl kaum besser machen können. Im Geiste spricht er den vieren daher ein Lob aus, doch es dringt nicht nach außen, da er viel zu sehr damit beschäftigt ist, die unterschiedlichen Sachen zu etwas Sinnvollem zu verbinden. Die Auswahl ist jedoch beachtlich, sodass es ihm ziemlich schwerfällt, sich für ein Gericht zu entscheiden. Dann fällt ihm allerdings wieder ein, dass er hier der Einzige ist, der richtig kochen kann. Folglich wäre etwas Einfaches die beste Lösung, um die vier auch mit einzubeziehen und so eine Art Bindung zu ihnen aufzubauen. Nach dieser Erkenntnis überfliegt er noch einmal die bunten Etiketten und greift dann nach den entsprechenden Sachen, die er den Rüpeln wortlos in die Hände drückt. Diese wirken mit alledem immer noch ziemlich überfordert und scheinen sich beim besten Willen keinen Reim auf das machen zu können, was ihr Boss ihnen dort gibt.
 

Kurz darauf betreten sie alle die Küche. Sie ist ziemlich geräumig, allerdings herrscht auch das reinste Chaos und die jahrelange Vernachlässigung ist mehr als deutlich. Überall liegen Töpfe, Pfannen, Geschirr und Bestecke verstreut. Teilweise hoffnungslos verrostet, in tausende Scherben zerbrochen oder buntschillernd mit Schimmel überzogen. Zentimeterdicker Staub türmt sich auf den Arbeitsflächen und dem Elektroherd. Die zwei Fenster im Raum sind so dick mit Schmutz und Fett verschmiert, dass man nicht einmal ohne den stetigen Regen sagen könnte, ob jetzt Tag oder Nacht herrscht. Dem Boden geht es nicht viel besser, weshalb die Schuhe der fünf bei jedem Schritt eine Art schmatzendes Geräusch erzeugen, wenn sie sich widerwillig vom klebrigen Grund lösen. Ein kurzer Tisch liegt seitlich auf dem Boden, doch immerhin hat er noch alle vier Beine. Ein kleines Lächeln huscht über das blasse Gesicht des Käfer-Trainers. Es ist schon so lange her, dass er das letzte Mal in einer Küche gestanden und gekocht hat, da kümmert ihn der Schmutz und die Unordnung kein bisschen. Außerdem war er noch nie von der ordentlichen Sorte, weshalb es ihn erst recht nicht kümmert. Nur wo Chaos herrscht, sieht man, dass gearbeitet wird, ist da das Motto. Den Rüpeln scheint es ähnlich zu gehen, rümpfen sie bei dem Anblick doch nicht einmal die Nase.
 

Hoch motiviert ergreift Bromley den Tisch und stellt ihn wieder auf die Füße. Kurz testet er, wie stabil das Ganze noch ist und deutet den Teenagern dann an, die ganzen Sachen darauf abzustellen. Erwartungsvoll blicken ihn die vier an. „Ich denk‘, wa‘ fangen mit ‘was Einfachem an und mach’n Chili. Da müssen wa‘ eigentlich nur alles in ‘nen Topf werfen und kochen.“, erläutert er ihnen, doch die Überforderung steht den Jüngeren buchstäblich ins Gesicht geschrieben, können sie sich wohl nicht vorstellen, dass es wirklich so einfach ist. Und natürlich gehört noch ein wenig mehr dazu, aber das muss er ihnen ja nicht sagen. In einem Schrank findet Bromley immerhin zwei große Töpfe, die nicht verrostet und doch ziemlich sauber sind und stellt sie auf den Herd. Mit etwas, das wohl mal ein Handtuch gewesen sein mag, wischt er sie einmal aus und putzt auch kurz über die Kochfelder. Er will die ganze Bude hier schließlich nicht in Brand stecken, weil das Zeug darauf Feuer fängt, wenn er die Flammen einschaltet – falls sie überhaupt noch funktionieren.
 

Während er versucht den Herd zur Arbeit zu überreden, öffnen die Rüpel die verschiedenen Dosen und lassen das Gemüse über dem Spülbecken abtropfen. „Ähm, Boss? Macht man Chili nich‘ eigentlich mit Fleisch?“, fragt Bryan nach einer Weile unschlüssig. Er ist sich nicht sicher, ob der Weißhaarige ihn überhaupt gehört hat, scheint er doch ganz mit dem Herd zu Gange zu sein. Mit einem nachdrücklichen Knurren in der Kehle schlägt der Käfer-Trainer plötzlich mit der Faust auf die Schaltfläche des unwilligen Gerätes und erschreckt die vier damit ziemlich. Für einen Moment sind sie sich unschlüssig, ob das ein Zeichen seines Missfallens ihnen gegenüber war oder tatsächlich dazu diente, den Herd in Gang zu bekommen. Irritiert beobachten sie dann auch noch, wie Bromley die flache Hand auf eine der Platten legt und dann wieder mit der Faust auf die Schaltfläche schlägt. „Verdammtes Miststück!“, knurrt er vor sich hin und drückt wieder die flache Hand auf die Platte.
 

„Boss...?“, fragt Rose nun vorsichtig. Jetzt wendet ihr der Weißhaarige das Gesicht zu. Einen Moment später verzieht er es jedoch schmerzlich, da seine Hand noch auf der Kochplatte liegt und diese sich nun doch dazu entscheidet, heiß zu werden. „Oh fuck...!“, gibt er erschrocken von sich und entfernt sich ein Stück vom Herd. „Boss!“, entkommt es Sonja entsetzt, doch er hält sie auf Abstand. „Schon gut, alles prima...“, versichert er ihr und betrachtet seine Hand, die er gerade noch rechtzeitig wegziehen konnte. „Ja, Chili macht man normalerweise mit Fleisch. Doch das, was wa‘ hier ham, is‘ dafür echt nich‘ zu gebrauchen. Also mach’n wa‘ es halt ohne. Kein Problem.“, beantwortet Bromley dann sogar noch Bryans Frage, der ihn nun verdutzt ansieht, weil er so gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hat.
 

Die Zeit vergeht, während die Rüpel versuchen den Anweisungen ihres neuen Anführers zu folgen. Nebenbei unterhalten sie sich über alles, was ihnen so durch den Kopf geht. Zwischendurch ist aber der Herd der Meinung, die Nase voll zu haben, doch irgendwie bekommt der Käfer-Trainer ihn immer wieder in Gang. Das lässt die Unterhaltung jedes Mal stocken, da die vier zusammenzucken und einzuordnen versuchen, wie lange die Geduld des großgewachsenen, doch ziemlich schwer einzuschätzenden Mannes das noch mitmacht. An seinem Verhalten ist sowieso etwas ziemlich komisch, wie es ihnen auffällt. Er regt sich ständig aus heiterem Himmel über etwas auf und schon im nächsten Augenblick wirkt es so, als hätte es diesen Zwischenfall nie gegeben und er wieder lammfromm. Fast so, als wäre er gar nicht immer er selbst. Zudem scheint es so, als würde er Selbstgespräche führen. Aber, wenn sie alle normal wären, wären sie auch gar nicht hier, oder?
 

Erneut nehmen sie ihr Gespräch wieder auf, während das Chili auf dem Herd vor sich hin blubbert, sie langsam den Müll zusammensammeln und in einen Sack stopfen. Sie haben vielleicht nicht unbedingt Lust, den ganzen Dreck wegzumachen, den andere hier hinterlassen haben, aber den eigenen kann man zumindest halbwegs wegräumen, ehe der Geruch noch irgendwelche wilden Pokémon ins Haus lockt, die dann die Vorräte auffressen. „Meine Ma hat mich allein aufgezogen und wa‘ deshalb auch ziemlich streng. Deswegen bin ich irgendwann abgehau’n und schließlich hier gelandet.“, berichtet Rose gerade und wendet sich zu Bromley. „Wie sind deine Eltern so?“, fragt sie ihn, da er sich als Einziger noch nicht dazu geäußert hat. „Darüber will ich nich‘ reden...“, erwidert er aber knapp. Allerdings ist die Stimmung inzwischen so gelockert, dass sich die vier mit dieser Antwort nicht gerade zufriedengeben. „Nun sei kein Spielverderber, Boss! Kann doch auch nich‘ schlimmer sein, als bei uns!“, drängt ihn Sonja nun.
 

Eine Weile sieht er die vier einfach nur schweigend an. Dabei können sie deutlich beobachten, wie etwas in ihm vorgeht. Seine schiefergrauen Augen werden plötzlich ganz glasig und dunkel, als hätte er starkes Fiber. Sie scheinen ins Nichts zu blicken, die Teenager gar nicht mehr wahrzunehmen. Seine Lippen pressen sich zu einer strengen, schmalen Linie zusammen und kurz kann man sogar hören, wie er vor Anstrengung mit den Zähnen knirscht. Seine Hände ballen sich zu Fäusten, sodass seine kurzgeschnittenen Nägel tiefe Furchen auf den Innenseiten hinterlassen und die Haut an seinen Knöcheln noch weißer wird. Alles zusammen wirkt, als würde er jeden Moment ausrasten und auf das Erstbeste einschlagen, dass das Pech hat, ihm in die Finger zu fallen. Sonja öffnet den Mund, um ihre Aussage zurückzunehmen, sich sogar dafür zu entschuldigen, doch Bromley fällt ihr schon ins Wort.
 

„Mein – mein Alter war’n mieses Arschloch. – Er hatt‘ nichts Besseres zu tun gehabt, als mir immer wieder den Schädel mit ‘nem dreckigen Golfschläger einzuschlagen und dass, schon seit ich ‘n kleiner Bengel wa‘! – Oh, er hatt‘ so richtig Freude dran gehabt, kann ich euch sagen. Sah mich gern am Boden in mei’m eignen Blut liegen. – Lachte mich aus und sagte mir immer wieder, was für ‘ne Enttäuschung ich doch für ihn bin. – Dabei hab‘ ich alles versucht, um seinem Willen gerecht zu werden. – Es hat mich verändert. – Mein Denken und Handeln, einfach alles. – Nur ‘n einziges Mal hat er auch meine Mutter mit’m verdammten Schläger erwischt, weil sie mir helfen wollt‘. – Danach wa‘ sie nich‘ mehr sie selbst. – Vergisst immer wieder, wer vor ihr steht oder was sie grad mach’n wollt‘. – Doch sie is‘ trotzdem so unglaublich lieb, dass ich diesem Schwein dafür am liebsten den Hals umdrehen will und eines Tages werd‘ ich das auch!“, bringt er vor Zorn stockend hervor.
 

Erschrocken blicken ihn die vier wieder an und wissen nicht, was sie darauf erwidern sollen ober, ob schweigen nicht eine bessere Idee wäre. Und plötzlich klären sich Bromley’s Augen wieder und er wirkt so normal wie vorher. „Was’n los?“, fragt er die Rüpel etwas verwundert und rührt dann das Chili um. „Au Backe! Scheint ‘n ganz heißes Eisen beim Boss zu sein...“, meint Aaron leise zu den anderen. „Yo, da sollten wa‘ uns lieber ‘n andres Thema suchen.“, stimmt Rose ihm zu. Nach einer kurzen Pause des Sammelns und Nachdenkens beginnen sie ein neues Gespräch und lassen sich nun über ihre ehemaligen Partner und Bettgeschichten aus. „Mann wa‘ das ‘ne dämliche Kuh, kann ich euch sagen. Die wa‘ auch nur froh, wenn sie an mir rumnörgeln konnt‘...“, pikiert sich Bryan, während er den zweiten Topf mit Wasser füllt, damit sie darin Reis kochen können. Seine Geschichte löst heiteres Gelächter bei den anderen aus, an dem sich sogar Bromley beteiligt.
 

„Hey, Boss! Erzähl du ma‘ was!“, fordert ihn der Blauhaarige dann auf und stellt den vollen Topf auf dem Herd ab. „Da gibt’s nich‘ viel zu erzählen. – Wa‘ nur einmal mit jemandem zusamm‘ und er hat mich für ‘ne andre sitzen lassen...“, gibt der Käfer-Trainer betrübt zurück, während er das Gewürzregal in Augenschein nimmt. Bryan legt verwundert die Stirn in Falten und sieht seine Kollegen an. „Yo, hat er grad gesagt, dass er mit ‘nem Kerl zusamm‘ wa‘?“ Die anderen schweigen jedoch, da sie nicht wollen, dass die Situation wohlmöglich wieder ausartet, wenn sie jetzt nachbohren. „Und, wenn schon! Geht dich doch nichts an!“, erwidert ihm Aaron streng, in der Hoffnung, dass sein Mitstreiter es dabei bewenden lässt, anstatt seiner unterbrückten Homophobie wieder freien Lauf zu lassen. „Geht mich vielleicht nichts an, will’s aber trotzdem wissen! Also Boss, warste echt mit ‘nem Kerl zusamm‘ in ‘ner Kiste und hast ihn dir dann auch noch von so ‘ner Tusse ausspannen lassen?“ Innerlich wie äußerlich können sich die drei anderen nur mit der Hand gegen die Stirn schlagen.
 

„Checkstes echt nich‘? Lass ihn in Ruhe, verdammt!“, faucht Aaron nun nachdrücklicher, doch es ist schon zu spät. Er hat den Satz gerade mal zu Ende gesprochen, da verfinstern sich die Augen des Weißhaarigen erneut und er streckt so schnell die Hand aus, dass Bryan nicht mehr reagieren kann. Eine Sekunde später knallt der vorlaute Rüpel hart mit dem Rücken auf die Platte des kleinen Tisches. Einige Schachteln und Dosen fallen dabei zu Boden und der überwältigte Junge sieht einen Moment nur noch Sterne. Völlig erstarrt weichen die drei anderen ein gutes Stück zurück, ist der Zorn im Gesicht ihres temperamentvollen Anführers doch förmlich greifbar. „Ah, scheiße Mann, das hat gesessen...“, bringt Bryan schwerfällig hervor, nachdem er den ersten Schock überwunden hat. Doch damit hat es sich noch längst nicht erledigt. Grob packt Bromley ihn an seinem Tank-Top und presst ihn fester auf den Tisch. Seine schiefergrauen Augen sprühen regelrecht Funken und er scheint weit jenseits seiner selbst zu sein.
 

In seinen Gedanken existiert nur noch Kukui und wie sehr er ihm doch wehgetan hat. Der Käfer-Trainer fühlt sich an diesen schicksalhaften Tag zurückversetzt. In seinem Geist befindet er sich nicht in einer alten, verlassenen Villa, sondern im Haus am Strand. Vor ihm liegt kein überforderter Rüpel auf einem Tisch, sondern Manuel. Sein Blick für die Wirklichkeit ist verschwunden und er durchlebt den Augenblick seiner Trennung noch einmal, aber in einer Version, die er damals nicht durchführen konnte, weil Machomei ihn zurückgehalten hat. „Du! Du mieses, kleines Miststück wagst es mich vor die Tür zu setzen?“, faucht er Bryan an, der überhaupt nicht versteht, was eigentlich los ist. Außer Stande sich zu wehren, verharrt er daher regungslos im festen Griff des Größeren und starrt ihn nur entsetzt und etwas ängstlich an. Von seiner großen Klappe und all den hochtrabenden, herablassenden Worten ist nichts mehr geblieben. Doch dieser Tag wird ihn nachhaltig prägen, sodass er nie wieder etwas Schlechtes über einen seiner Kollegen sagt, der nicht am selben Ufer angelegt hat, wie es von der Gesellschaft eigentlich gewünscht ist.
 

„Boss...“, presst er unterwürfig hervor, doch Bromley hört das Wort gar nicht. Stattdessen holt er aus und schlägt dem wehrlosen Jungen kräftig mit der Faust ins Gesicht. Hart knallt Bryans Kopf dabei auf die Tischplatte und er sieht wieder nur Sterne. Blut rinnt ihm aus Mund und Nase und er gibt ein ersticktes Husten von sich. „Fuck...“, kommt es leise und fassungslos von Aaron. „Das hat er jetz‘ von seiner großen Klappe...“, erwidert Sonja nicht minder erschrocken. „Das war’s für ihn...“, beendet Rose die kurze Unterhaltung mit atemloser Endgültigkeit. Dann starren sie alle wieder gebannt auf die unwirkliche Szene.
 

„Was bildeste dir eigentlich ein, wer du bist? Hab‘ ich nich‘ alles für dich geopfert? Meinen Traum Captain zu werden, nur damit du studieren konntest? Hab‘ ich nich‘ alles für dich getan, damit sich dein verdammter Wunsch erfüllt? Hab‘ ich mich nich‘ sogar für dich gefreut, als du mir erzählt hast, dass du ‘n Mädel kennengelernt hast? Ich hab‘ mich nich‘ mal beschwert, als du mit ihr ins Bett gestiegen bist, obwohl du mit mir zusamm‘ warst! Und das alles, weil ich wusst‘, dass wir nich‘ für die Ewigkeit zusamm‘ sein könn‘. Das jeder irgendwann sein‘ eignen Weg geh’n muss. Aber ich hab’s nich‘ verdient von dir vor die Tür gesetzt zu werden, weil dein Flittchen mich nich‘ leiden kann! Also, was um Himmels willen kann sie dir geben, was ich dir nich‘ auch gegeben hätt‘?“ Erneut holt Bromley mit der Faust aus, während Bryan noch irgendwie in den Kopf zu bekommen versucht, was sein Boss ihm da alles unfreiwillig gesagt hat. „Antworte, du mieser Schweinehund!“, befiehlt ihm der Käfer-Trainer drohend und gibt dabei ein dunkles Knurren von sich, gleich einem wilden Tier, das einem jeden Augenblick ins Gesicht beißt, weil man ihm zu nahe gekommen ist.
 

Bryan ist völlig hilflos und weiß nicht, was er tun soll. Hinter seinen aufgerissenen Augen brennen heiße Tränen der Angst und er beginnt am ganzen Leib zu zittern. Nie in seinem ganzen Leben hätte er auch nur vermutet, dass es jemanden geben könnte, der ihm so eine Blöße verschafft und dem er sich widerstandslos unterwerfen würde, doch nun hat er ihn wahrhaftig gefunden und kann es einfach nicht glauben. Die anderen Rüpel sind nicht minder überfordert mit alledem. Ihr Boss scheint Schreckliches durchgemacht zu haben, das ihn immer noch nicht loslässt. Zudem scheint er dadurch vollkommen den Blick für die Realität verloren zu haben und wer weiß schon, wo das enden könnte? Im schlimmsten Fall ist Prügel wohl noch Bryans kleinste Sorge...
 

Sie müssen ihm also irgendwie helfen. Allerdings kann es keiner von ihnen auch nur ansatzweise mit Bromley aufnehmen. Doch, wenn Kraft nicht hilft, dann vielleicht Worte? Plötzlich kommt Sonja die rettende Idee. „Kinder!“, ruft sie laut aus. Aaron, Rose und auch Bryan sehen sie nur perplex an. Der Weißhaarige reagiert jedoch nicht auf sie, sondern fixiert den Rüpel fester auf dem Tisch und holt zum Schlag aus. „Verstehstes nich‘? Es sind Kinder, die sie ihm geben kann, der Boss aber nich‘!“ Verständnislos blickt der machohafte Junge sie an. „Biste bekloppt? ‘n Mädel könnt‘ ihm doch wohl was viel Besseres, als so’n paar nervige Bälger geben!“, erwidert er der Pinkhaarigen keck, obwohl seine Situation das gar nicht zulässt. „Wie blöd biste eigentlich, wenn du das nich‘ siehst, Bryan? Sag’s einfach, bevor er die Scheiße aus dir rausprügelt!“, beharrt sie zornig.
 

Nur Millimeter, bevor Bromley’s Faust wieder in seinem Gesicht landen kann, besinnt sich der Junge dann doch, wenn auch widerwillig. „Kinder! Es sind Kinder, die sie mir geben kann. Du aber nich‘. Checkstes?“, bringt er atemlos hervor und presst angespannt die Augen zusammen, in Anbetracht des nahenden Schlages. Plötzlich hält der Ältere jedoch inne. „Was? Kinder? – Fuck...“ Langsam huscht die Erkenntnis über das Gesicht des Anführers hinweg, doch sein Blick für die Wirklichkeit ist weiterhin getrübt. „Ich hatt‘ ja keine Ahnung, dass du dir so was wünschst...“, setzt er verstehend hinterher und lockert seinen Griff um Bryans Top. Für eine Sekunde wirft der Blauhaarige einen Blick zu Sonja hinüber, der so etwas wie Dankbarkeit beinhaltet, dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf den großen Mann, der immer noch über ihn gebeugt dasteht. „Sorry, Boss...“, teilt er dem Älteren ganz ehrlich mit. Dieser kämpft noch damit, dass alles zu begreifen. „Schon gut. – Vergib mir. Ich wollt‘ dir nich‘ wehtun...“
 

„Kein Ding...“, erwidert Bryan und hofft inständig, dass es jetzt vorbei ist. Bromley ist aber anderer Ansicht, lässt ihn noch nicht gehen. „Ich – ich lieb‘ dich so sehr, Manuel!“, langsam rinnt eine einzelne Träne seine Wange hinab und dieser Anblick verschlägt allen Rüpeln kurzzeitig die Sprache. Ganz plötzlich begreift Bryan, was für eine Rolle er hier gezwungen wird zu spielen. Zu sehen, wie sein Boss anfängt zu weinen, zeigt ihm, wie wahr seine Worte doch sind und das er ihm irgendwie helfen muss, das Ganze zu überwinden, indem er nun die Rolle dieses Idioten übernimmt, der Bromley einst so wehgetan hat. „Ich werd‘ dich auch immer lieben!“, verkündet er daher kurzerhand und überrascht damit seine drei Kollegen noch mehr, als die Tränen ihres Anführers es schon tun. Nun ist es der Käfer-Trainer, der zu zittern beginnt. Seine Unterlippe ebbt und weitere Tränen bahnen sich ihren Weg ins Freie. „Danke. – Du hast gewonn‘. Ich werd‘ geh’n. – Ich hoff‘, du wirst glücklich mit ihr. – Ich will nur noch einmal...“
 

Er beendet den Satz nicht, sondern beugt sich tief zu dem Jungen hinab, den er auf den Tisch gedrückt hält. Für einen Moment treffen sich ihre Blicke. Bryan hält unbewusst die Luft an. Das Ganze hat irgendwie etwas Magisches, anders kann er es nicht beschreiben. Noch ehe er ein Wort herausbringen kann, überwindet der Weißhaarige den kurzen Abstand zu ihm und zieht ihn zu einem innigen Kuss heran! Der Rüpel ist völlig außer Stande etwas zu tun. Sein ganzer Körper versteift sich im nackten Entsetzen dieser ungewollten und gedanklich so verhassten Berührung. „Du heilige Scheiße...“, gibt Sonja perplex von sich. „Das glaub‘ ich jetz‘ echt nich‘...“, erwidert Rose mit leichtem Kopfschütteln. „Mann, hat der ‘n Glück...“, schnaubt Aaron mit einem leichten Anflug von Eifersucht, doch die Mädchen überhören seine Worte.
 

Bromley hingegen bekommt nichts von alledem mit. Seine Aufmerksamkeit gilt einzig und allein Manuel, auch wenn dieser überhaupt nicht hier ist – es niemals war. Verlangend vertieft er den Kuss daher noch und drückt sich mehr als deutlich gegen seinen Partner. Bryan hingeben weiß beim besten Willen nicht, was er tun soll. Er hat nicht die Kraft, um sich gegen den Größeren zu wehren und selbst, wenn er sie hätte, ist er viel zu überrumpelt, um dem etwas entgegenzusetzen. Hilflos zittert er am ganzen Körper, während sich ein seltsam warmes Gefühl in ihm ausbreitet, das sonst nur Mädchen in ihm auslösen können. Die heißen Tränen, die er bis jetzt erfolgreich zurückgehalten hat, treten nun über die Ufer und rinnen ungehalten seine Wangen hinab. Ein stummer Ausdruck seiner Angst und Verwirrung. Kraftlos hebt er die Hände, presst sie gegen Bromley’s Schultern und versucht den anderen so von sich zu drücken. Doch es gelingt ihm nicht. Stattdessen handelt er vollkommen gegen seinen Willen und öffnen den Mund, als der Größere überraschend sanft um Einlass bittet.
 

Die warme, neugierige Zunge des Käfer-Trainers löst nur noch mehr Angst in dem überforderten Teenager aus. Entgegen seines versucht starken Auftretens, fängt er an kläglich in den Kuss hinein zu wimmern. Doch anstatt einen weiteren Versuch zu unternehmen, den anderen von sich zu drücken, klammert er sich nun wie ein Ertrinkender an der Jacke des Größeren fest und ermutigt diesen dadurch unbewusst sogar noch. So drückt sich der Ältere noch fester gegen ihn. Dabei kann Bryan überdeutlich dessen Erregung spüren, was ihm noch mehr Verzweiflung verschafft, da er nicht einordnen kann, wie weit das alles noch gehen könnte. Und, als würden sich seine Befürchtungen bestätigen, merkt er nur einem Moment später, wie sich Bromley’s Hand zielstrebig in seine Hose schiebt und dort nach seiner empfindlichsten Stelle tastet.
 

Noch perplexer, als ohnehin schon, betrachten die drei anderen das irgendwie bizarre Schauspiel. „Denkt ihr, der Boss wird ihn...“, setzt Rose an, doch sie kann es einfach nicht aussprechen. „Ja, irgendwie schon...“, entgegnet ihr Sonja schwer schluckend. „Scheiße Mann! Das wär‘ doch...“, meldet sich auch Aaron, doch das Wort, das ihm im Kopf herumschwirrt, kann er nicht aussprechen. Denn, obwohl er in gewisser Hinsicht eifersüchtig ist, tut Bryan ihm jetzt doch ziemlich leid, auch wenn es sich das Ganze selbst zu zuschreiben hat. Dennoch macht er das Ganze ja nicht freiwillig mit und das ist schon echt heftig. Wohl möglich macht ihn dieses Erlebnis vielleicht sogar noch richtig homophob?
 

Langsam löst Bromley den Kuss und setzt seine Lippen an den Hals des anderen Jungen, während sich seine fordernde Hand fest um Bryans Männlichkeit schließt. Der Blauhaarige gibt einen erstickten Laut von sich und zieht scharf die Luft ein. Seine Nägel graben sich tief in die Schultern seines Partners ein. Das hilflose Wimmern des Rüpels wird immer lauter, bis es schon einem Schluchzen gleicht. Weinend drückt er sein Gesicht gegen die Brust des Mannes über ihm, vergisst all seinen Stolz und die Tatsache, dass sie gar nicht allein sind. „Boss, bitte! – Ich – ich kann das nich‘...“bringt er tränenerstickt hervor. „Bitte, hör auf...!“ Die Worte dringen nicht wirklich zu dem Weißhaarigen durch, dennoch ist etwas anders. Manuel hat sich immer sehr schnell von ihm erregen lassen. Manchmal hat schon eine einzige Berührung oder auch nur ein Kuss ausgereicht und er war ihm hilflos erlegen. Doch jetzt? Nichts! Keine noch so kleine Regung.
 

Verwundert trennt sich der Käfer-Trainer von seinem Gegenüber und blickt ihn an. „Manu, was...“, setzt er an, doch, was er vor sich sieht, ist nicht Kukui. Nein, ganz und gar nicht! Es ist Bryan, einer seiner Untergebenen. Völlig verwirrt schaut sich Bromley in dem Raum um. Es ist eine große Küche, doch ganz sicher nicht die, im Strandhaus. Und da sind auch noch die anderen drei Rüpel und wirken ziemlich verstört. „Boss...?“, fragt Aaron ihn hilflos. Die Augen des Weißhaarigen klären sich wieder und er sieht erneut zu Bryan. Der vollkommen verstörte Junge hat sich auf den Tisch zurücksinken lassen und blickt ihn durch die dicken Tränen hindurch an, die unaufhaltsam an seinen geröteten Wangen hinab laufen. Er zittert am ganzen Körper und wimmert. „Boss, bitte tu’s nich‘...“, kommt es halb im Schluchzen erstickt von ihm. Erst jetzt bemerkt der Weißhaarige, dass er die Hand in der Hose des Liegenden hat und er begreift, dass das alles eben nur seiner verzweifelten Fantasie entsprungen ist. Bryan nur das Pech hatte, ihr zum Opfer zu fallen. Hastig entfernt er sich von dem Teenager und atmet hektisch ein und aus.
 

„Was – was hab‘ ich nur gemacht?“, stellt er sich selbst die unausweichliche Frage, während die vier Rüpel wieder zusammenfinden. Plötzlich hört Bromley jedoch eine Stimme in seinem Kopf und erstarrt in jeglicher Bewegung. „Bromley? Was treibst du denn da?“, jagen die altbekannten, zornigen Worte lautstark durch einen Kopf, sodass er dieses verhasste Mantra, die nicht zu unterdrückende Stimme seines Vaters, im selben Augenblick laut ausspricht. Doch sein Erzeuger ist noch lange nicht fertig mit ihm. „Was bist du nur für ein widerliches Schwein? Erst fickst du diesen dämlichen Professor, vögelst dich dann durch halb Alola, rennst dieser blonden Hure hinterher und jetzt das? Du bist wirklich die reinste Enttäuschung. Aber ich werde dir schon zeigen, wie es richtig geht, verlass dich drauf!“, tönt der ältere Mann voller Abscheu und Hass. Kraftlos sinkt Bromley auf die Knie, Tränen rinnen seinen Wangen hinab und er zittert am ganzen Leib.
 

„Nein, bitte nich‘!“, bringt er noch hervor, da holt sein Erzeuger auch schon mit dem Golfschläger aus. Der Schmerz bleibt verständlicherweise aus, dennoch explodiert ihm fast der Kopf. Er gibt einen heiseren Schrei von sich, rauft sich die Haare und blickt sich dann suchend um. Die vier Rüpel verstehen mittlerweile überhaupt nichts mehr. Als ihr aufgelöster Boss jedoch nach einem der Messer greift, wird ihnen der Ernst der Lage schlagartig klar. Vergessen ist alles, was eben zwischen ihm und Bryan vorgefallen ist. Hastig stürzen die vier auf ihn zu, doch es ist schon zu spät. Der scharf geschliffene Stahl dringt schon ungehalten in die weiche Haut seines linken Unterarms ein, verfehlt die Pulsader zum Glück aber um einige Millimeter. Dennoch scheißt das dünne Blut regelrecht aus der tiefen Wunde hervor und tropft auf den schmutzigen Fußboden.
 

„Um Himmels willen, Boss! Mach das nich‘!“, ruft Sonja ihm noch entgegen, da setzt er schon zu einem neuen Schnitt an. „Er hört dich nich‘! Nehmt ihm schnell das Messer ab!“, geht Rose dazwischen. Fest entschlossen nähert sich ihm Bryan und mit etwas Mühe gelingt es ihm tatsächlich, dem Älteren das Messer zu entreißen. Völlig in seiner eigenen Welt gefangen, versucht Bromley es jedoch wieder zu bekommen und geht erneut auf den Blauhaarigen los. Diesmal ist Aaron aber schnell genug. Er schafft es zwischen die beiden und verpasst dem Käfer-Trainer dann eine schallende Ohrfeige. „Jetz‘ reiß dich ma‘ zusamm‘, Boss und lass die Scheiße! Bitte...“ Das letzte Wort ist schon fast in seiner Verzweiflung erstickt und kaum mehr als ein Flüstern, doch es zeigt Wirkung. Die Stimme seines Vaters ist weg und er wieder Herr über seinen Geist.
 

Unverständlich sieht der Ältere erst zu Aaron auf und dann auf seinen Arm hinunter. Unaufhörlich fließt das Blut daraus hervor. „Fuck...“, flüstert er kaum hörbar, während sich die Rüpel langsam entspannen. Die beiden Mädchen stehen auf und verlassen die Küche, um Verbandszeug zu suchen, während die Jungs sicherstellen, dass Bromley wieder er selbst ist. „Yo, Boss? Sorry, dass ich dich geschlagen hab‘...“, kommt es nun kleinlaut von Aaron. Im ersten Moment versteht der Größere nicht, was er damit meint, dann spürt er die Hitze auf seiner Wange und beginnt kraftlos zu schmunzeln. „Kein Problem. Das hab‘ ich echt gebraucht! Danke, Mann.“
 


 

9
 

Wenig später ist die Blutung gestoppt und ein dicker Verband an Bromley’s Arm angebracht. Schweigend sitzen die fünf auf dem klebrigen Küchenboden und versuchen die Geschehnisse irgendwie zu verarbeiten. Ihnen ist mittlerweile ziemlich gut klar geworden, warum sie alle hier zusammen sind. Sie teilen ganz ähnliche Schicksale und jeder von ihnen hat Schlimmes durchgemacht, das sie jetzt verbindet. Dem Käfer-Trainer hat das Leben dennoch weit mehr mitgespielt, als den anderen zusammen, weshalb sie es ziemlich bewundern, dass er sich dennoch darum bemüht, sich um sie zu kümmern. Aber jetzt wissen die Teenager immerhin, dass bestimmte Themen in seiner Gegenwart eher tabu sind, oder vielmehr, dass man nicht nachbohren sollte, wenn er nicht darüber reden will. Aber das kann wohl kaum so schwer sein, also Augen zu und weitermachen!
 

Das Schweigen wird schließlich ungewollt davon durchbrochen, dass Bryan laut der Magen zu knurren beginnt. Überrascht sehen ihn die anderen an. „Was glotzter denn so? Nach dem ganzen Scheiß hab‘ ich halt trotzdem Hunger, na und?“, giftet er sie an und verschränkt bockig die Arme vor der Brust. Erst jetzt bemerken die anderen den durchdringenden Duft des Chilis in der Küche, der sich heiß und köstlich über sie legt, wie eine kuschlige Decke in einer kalten Winternacht. „Yo, Leute! Habt ihr immer noch Hunger? Das Chili müsst‘ jetz‘ fertig sein und das Wasser kocht schon seit ‘ner Ewigkeit, also sollt‘ der Reis da bald ma‘ rein.“, merkt Bromley an und wie aufs Stichwort hin, fängt auch sein Magen laut zu knurren an. Die Rüpel unterdrücken ein zaghaftes Kichern und stimmen dann zu. Die ganze Aufregung hat ihren Hunger zwar für den Moment gehemmt, jetzt jedoch sind sie förmlich am Verhungern.
 

Während sich der Weißhaarige mit dem Reis beschäftigt, betreten die Rüpel den angrenzenden Speisesaal, oder zumindest das, was davon noch geblieben ist. Eigentlich deuten nur ein paar kaputte Stühle daraufhin. Schulterzuckend räumen sie die Bruchstücke etwas zur Seite und schleppen ein paar der Matratzen hinein, die in der ganzen Villa verstreut zu liegen scheinen. Ein paar alte Decken und Kissen gesellen sich ebenfalls dazu und schon ist es ziemlich gemütlich geworden. Als sie fertig sind, linst der Weißhaarige durch die Tür, da das Essen auch so weit ist. „Hey, das sieht ja klasse aus hier!“, verkündet er grinsend und schleppt dann die beiden Töpfe hinein.
 

Teils mit den Händen und teils mit etwas Besteck stürzen sich die fünf auf das Essen, bis kaum noch etwas davon übrig ist. Dabei setzen sie blauäugig wieder zu einer Unterhaltung an. Allerdings reden sie jetzt über ihre Pokémon, die inzwischen ebenfalls neben ihnen sitzen und sich über die Reste in den Töpfen hermachen. Dieses Thema scheint Bromley nicht aufzuregen, auch wenn er an einigen Stellen seiner Erzählungen kurzzeitig stockt, weil ihm Kukui wieder einfällt. Allerdings drängt ihn diesmal keiner zu Weiterreden und er tut es aus freien Stücken. Doch er verdrängt Manuel vehement. Und so nimmt das Ganze doch noch ein gutes Ende. Pappsatt lassen sich alle anschließend auf die Matratzen fallen und es dauert auch gar nicht lange, da sind die Pokémon und das wiederauferstandene Team Skull tief und fest eingeschlafen.



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