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Glücksverfluchte

Die Champions von Asteria
von

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Der schönste Tag

Luren Bearoux nahm seinen Helm ab, lehnte sich erschöpft an das Außengelände und atmete tief durch, während er in den wolkenlosen Nachthimmel starrte. Der Kartograph, Leitstern des Grand Patron, war in Shinju nicht zu sehen und nicht wenige Cher Enfanter hielten dies für den Beweis, dass der Schutz ihres Gottes nicht in dieses Gebiet hervordrang, in dem man noch in heidnischer Unwissenheit den alten Göttern diente. Doch der Oberst der Stadtwache, seines Zeichens selbst gebürtiger Enfanter, wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, beachtete man, dass er ja auch nicht im Cheváviertel zu sehen war. Warum dem so war, das konnte er nicht beantworten, aber sicherlich hatte es etwas damit zu tun, dass man im Allgemeinen nicht viele Sterne am Shinjuer Himmel sah.

Und es war ihm eigentlich auch ziemlich gleich, er hatte schon genug um die spitzen Ohren. Die Tage wurden immer länger, je näher die Heirat kam und obwohl er sich darauf freute, machte es ihm vor allen Dingen eines: Eine ganze Menge Arbeit. Er hielt seine Leute doppelt und dreifach an, die Sicherheit zu verstärken, jeden Besucher und Lieferanten bis auf die Unterwäsche zu kontrollieren und ordnete noch zusätzliche Trainingseinheiten an, wo es notwendig war.

Der Hofmagier war schon seit Tagen damit beschäftigt, die dritte Mauer – die Magische Barriere zwischen den beiden physischen Mauern des Schlosses – auf Schwachstellen zu prüfen und die Wagenladung neuer Waffen für die Leibgarde der Gouverneursfamilie verzögerte sich, aufgrund von Schäden an der Shinju-Enfant-Linie. Das waren seine Sorgen als Sicherheitschef des Schlosses, aber auch seine als Bräutigam. Immerhin war es nicht irgendeine Hochzeit, sondern seine eigene.

Als erster Prinz ohne Adelsstamm und noch dazu Ausländer wurde er von den hohen Tieren der Stadt misstrauisch beäugt und auch sein zukünftiger Schwiegervater – der Gouverneur persönlich – musste noch immer von seinem Wert überzeugt werden... nicht als Oberst oder Soldat, aber als Ehemann seiner einzigen Tochter.

Für Luren waren Etiquette und Hofspiel Dinge, die ihm nichts sagten und mit denen er sich noch nie zuvor auseinandergesetzt hatte. Wie denn auch? Sah man mal von seiner ehemaligen Colonel, Celeste de Lacour ab, so hatte er vorher nie mit Adeligen zu tun gehabt und hätte es auch gern dabei belassen, aber mit seiner Liebe für Nomizon kam doch alles anders.

Nun war ihr erstes Kind geboren und er konnte definitiv nicht mehr zurück. Er wollte es auch nicht. Aber etwas weniger Arbeit würde ihm schon ganz guttun.

Aber immerhin würde es nicht mehr lang dauern, nur noch eine Nacht, bis zum schönsten Tag seines Lebens, bis er endlich auch offiziell mit der Frau seiner Träume liiert war.
 

„Du siehst müde aus“, meinte eine wohlbekannte, glockenhelle Stimme und seine Aufmerksamkeit wich vom Himmel zurück zum Flur.

„Ja, durchaus. Es wird auch Zeit, dass ich ins Bett komme. Aber was ist mit dir? Solltest du dich nicht auch mal so langsam hinlegen?“, fragte er mit müdem Lächeln, konnte sich die Antwort aber schon denken. Nomizon trug bereits ihr Schlafgewand, aus dessen Schlitzen nackte Haut hervorlugte. Das lange, silberne Haar war offen, einige Strähnen standen undamenhaft in alle Richtungen ab. Die golden glänzenden Augen schmückten dunkle Ringe der Übermüdung und der Grund dafür lag in ihrem Arm und schnarchte leise.

„Entschuldige...“, meinte der Elf demütig, während er der Prinzessin einen spitzen Kuss gab und sanft den fast haarlosen Kopf des in Decken eingewickelten Bündels streichelte. „Ich sollte mich wirklich mehr um euch kümmern und dich nicht mit den elterlichen Pflichten so allein lassen.“

„Nicht doch. Du hast gerade mehr als genug zu tun, da könnte ich dir nicht auch noch aufbürden noch den letzten Rest Schlaf aufzugeben. Dafür haben wir genug Zofen, die mir unter die Arme greifen können, wenn nötig“, antwortete die Gouverneurstochter und zeigte ein schwaches Grinsen. Zwar stimmte das mit den Zofen, doch Luren wusste ganz genau, dass seine Zukünftige wahrscheinlich niemals deren Hilfe annehmen würde. Das Mutterdasein war für Nomizon das größte Geschenk, das sie sich in ihrem Leben je erhofft hatte und wollte auf keinen Fall auch nur eine Sekunde davon verpassen. Vielleicht war es aber auch nur ihre Befürchtung, eines Tages, wenn sie einen Jungen gebähren würde, nicht mehr so für sie da sein zu dürfen...

So sehr sie auch Cariléy liebte, sie hatte die Enttäuschung bei der Geburt nicht verbergen können, dass sie nicht als Junge zur Welt kam, denn einen Stammeshalter hatte sich der Gouverneur mehr als alles andere gewünscht, nachdem er nur mit einer Tochter von seiner verblichenen Frau beschenkt wurde.

Und Luren kam nicht umhin zu glauben, dass auch er damit im Ansehen seines zukünftigen Schwiegervaters gesunken war... umso mehr durfte es bei den Feierlichkeiten keine Zwischenfälle geben!

„Komm. Lass uns gemeinsam zu Bett gehen“, meinte er schließlich und bot seinen linken Arm zum Einhaken an, während er mit dem rechten Cariléy nahm, sodass Nomizon sich etwas entspannen konnte.

„Musst du denn nicht mehr arbeiten?“, fragte sie verwundert, nahm aber zugleich dankend das Angebot ihres Mannes an.

„Nein, ich war gerade fertig geworden und wollte sowieso zu euch stoßen.“ Da bemerkte er auch etwas auf Distanz die Wache, die sie wahrscheinlich während des Spaziergangs begleitet hat und bedeute ihm mit einem kurzen Nicken, dass sie zurück auf seinen Posten könnte. Ochako, Nomizons Leibwächterin war eine Menschendame von fast 50 Jahren, die aber erst vor kurzem diesen Posten bezogen hatte. Sie zögerte kurz, drehte sich dann aber um und ließ die beiden allein.

Dass er sich hinlegen würde, das war zwar eine Lüge und er würde wohl zumindest noch die Nachtposten kontrollieren, nachdem sie wieder eingeschlafen war, aber er wollte jede Sekunde mit den beiden genießen. Cariléy gab einen seligen Seufzer von sich, als sie in seinen Arm glitt, räkelte sich kurz und schlief dann weiter.

In Asteria hieß es, dass die Kinder, die in der Abenddämmerung geboren wurden, wenn die ersten Sterne aufwachen und am Himmel blitzen, ein Stück des endlos langen Schleiers von Lunariko, der Hüterin der Nacht, abreißen und sich im Traum daran kuschelten, was für einen besonders tiefen und erholsamen Schlummer sorgte. Als Cher Enfanter gab er nicht viel auf diese Erzählungen, war im Allgemeinen nicht sonderlich gläubig und da seine Tochter genauso wach wurde wie jedes andere Kind, waren das sicherlich auch nur Mythen, aber dennoch gab ihm dieser Anblick ein tiefes Wohlbefinden und innere Ruhe.

„Sie ist so friedlich“, meinte er, so leise es nur ging.

„Sie merkt, dass du da bist, um uns zu beschützen. Natürlich schläft sie gut.“

„Das sagst du so leicht. Manchmal fürchte ich, dass sie mich gar nicht richtig kennenlernen wird...“

„So ein Unsinn“, beruhigte Nomizon ihn und klammerte sich noch fester an seinen Arm, kuschelte ihr Gesicht daran, was sein Herz fast schon zerfließen ließ. „Sieh doch nur, wie wohl sie sich bei dir fühlt. Mindestens genau so sehr wie ich.“

Oberst Beauroux lächelte mild während sie durch die fast schon ausgestorbenen Gänge des Schlosses schritten, langsam, gemütlich, denn eilig hatten sie es wohl wirklich nicht. Wenn ihnen wenige Wachen oder Bedienstete noch begegneten, dann verbeugten sich diese kurz oder standen stramm und salutierten, aber niemand sprach sie an, jeder blieb weit genug auf Distanz, um sie in diesem gemeinsamen Moment nicht zu stören. So fühlte sich Luren wie einst damals, als er Nomizon kennengelernt hatte, als er noch ein einfacher Soldat war und nichts über ihren Stammbaum wusste.

Ein wenig vermisste er die wohlige Einsamkeit und das Abenteuer, als die beiden nach einer Entgleisung den Fußmarsch aus der grünen Einöde bis nach Shinju unternommen hatten. Trotz aller Gefahren, die auf dieser Reise auf sie gewartet hatten. Und trotz dessen, welches Schicksal die alten Götter für seine Geliebte bereit gehalten hatten.

Er schaute sie an, erkannte Teile des Mals von Shika'Res, dem Todesgott, dessen langer, schwarzer Körper sich um ihr rechtes Bein schlängelte und bei jedem Schritt nach vorn aus dem Gewand hervorlugte. Der Tod... allein der Gedanke an die letzten Vorfälle bereitete ihm Magenschmerzen.
 

„Du solltest nicht so lüstern in meinen Ausschnitt starren, was sollen denn die Diener denken?“, meinte Nomizon da schnippisch und Luren schreckte hoch, konzentrierte sich wieder auf den Weg vor ihm. Er war wohl etwas zu tief in Gedanken versunken gewesen.

„Hat das irgendwer gesehen?“

„Hast du denn nichts mitbekommen? Also wirklich, du solltest aufpassen, wohin du läufst, zumindest mit Cari im Arm.“

„Mach dir mal keine Sorgen, ein Soldat stolpert nicht einfach so“, antwortete Luren souverän, lehnte sich dann aber etwas unsicher vor. „Ernsthaft, hat es jemand gesehen, oder nicht?“

Nomizon schnippte ihm kurz mit einem süßen, zugleich aber äußerst hämischen Kichern gegen die Stirn, wurde dann aber ernster.

„Du dachtest wieder an diese Nacht, nicht wahr?“

Ein kurzer, tonloser Laut der Bestätigung war alles was sie als Antwort bekam. Diese Nacht war der Moment an dem er dem Tod so nah war wie noch nie zuvor. Die Nacht in der er der schwarzen Witwe begegnet war – und ihr beängstigendes Geheimnis erkannte, eine einzigartige Macht, hervorgeholt durch das Mal auf ihrem Bauch.

Fast hätte es auch so funktioniert, fast wäre er dem dämonischen Zauber erlegen, wenn Nomizon nicht zur Stelle gekommen wäre, denn so konnte die Farce durchschaut werden. Ein beschämendes Gefühl, das ihn bis heute noch begleitete – auch wenn er nichts dafür konnte.

Dennoch hielten die beiden die Umstände der Ergreifung von einer der gefährlichsten Frauen Asterias geheim. So wollte es Nomizon, um keinen Skandal auszulösen. Und ganz nebenbei hatte sie ihm damit wieder das Leben gerettet.

„Weißt du was mir wirklich zu denken gibt?“, fing er schließlich an, um sein schlechtes Gewissen zu verdrängen. „Die schwarze Witwe tötet nicht zum Spaß, sondern weil es ihr Beruf ist. Das macht es nicht besser, aber sie hegt keinen persönlichen Groll gegen mich.“

„Hast du einen Verdacht?“, fragte die Prinzessin, schaute ihrem Mann tief in die Augen.

„Keinen einzigen... deswegen möchte ich aktuell mit so vielen Leuten der hohen Gesellschaft sprechen, jedem, dem ich auf die Füße getreten war. Und umso mehr stört es mich, dass ausgerechnet Lord Hangyaku der Meinung war, sich kurz vor unserer Hochzeit auf Geschäftsreise abzusetzen.“

„Aber macht ihn das nicht verdächtig?“

„Nein, dem traue ich so etwas nun wirklich nicht zu. Seinem Vater vielleicht, aber er selbst will nur nicht mit mir über die Sanierung der ISE sprechen.“

Nomizon gefiel die Antwort nicht, aber die gesamte Situation an sich machte ihr zu schaffen und auch Luren selbst war es lieber, wenn all dies nie passiert wäre... Es war nicht auszudenken, hätte Mirabelle nur eine Sekunde sich nicht auf ihn konzentriert, wäre sie auch nur einen Moment von ihrem eigentlichen Ziel abgekehrt, dann hätte sich ihre Klinge in Nomizons Brust versenkt...

Mehr noch umfing ihn die Angst, dass es jederzeit zu einem zweiten Angriff kommen könnte. Vielleicht nicht heute, vielleicht auch nicht morgen, aber was wäre, wenn er doch auf der Hochzeitsfeier passieren würde, wenn alle ungeschützt sind? Er wollte die schwarze Witwe am liebsten ausquetschen, doch kein Angebot der Welt wollte sie dazu überreden, die Person hinter den Kulissen zu erkennen zu geben.

Wenig verwunderlich: Wenn sie das tat, war sie wahrscheinlich schneller tot, als wenn sie hier und jetzt die Klappe hielt und auf ihre Hinrichtung wartete.

Die Frau war – bei allem Blutdurst und Wahnsinn, den sie ausstrahlte – eine durch und durch professionelle Auftragsmörderin und wie das mit den besten in dieser Branche so war, war sie alles andere als dumm. Und er wollte es ungern zugeben, aber selbst in magischen Ketten all ihrer Championsmacht beraubt, strahlte die Kitzune etwas ganz und gar Furchteinflößendes aus.

Wahrscheinlich plante sie sogar schon einen Ausbruch, oder suchte nach einer Fluchtmöglichkeit bei der Hinrichtung... weswegen es ihm lieber war, das Spektaktel aufzuschieben, so weit es auch nur ging, zumindest bis alle Feierlichkeiten abgeschlossen waren und man wusste, wer der Verräter war. Warum musste der Gouverneur auch darauf bestehen, das ganze öffentlich zu machen, nur um ein Exempel zu statuieren? Das brachte alle wahrscheinlich mehr in Gefahr als notwendig. Aber er würde ganz sicher nicht seinem Schwiegervater widersprechen, insbesondere nicht in der jetzigen Lage.

Hinzu kam der Bericht aus Cher Enfant, die Flucht des Mädchens in Scharlachrot gen Osten. Luren glaubte zwar nicht, dass die meistgesuchte Frau des ganzen Kontinents ausgerechnet in der größten Stadt der Welt untertauchen würde, aber... bei den Durchgeknallten konnte man sich nie ganz sicher sein.
 

Versunken in seinen Gedanken, hatte er kaum bemerkt, wie Nomizon den Blick gesengt hatte und sich angespannt auf den Lippen kaute, der Blick glasig verschwommen, als müsste sie gleich in Tränen ausbrechen.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte er schließlich und strich ihr durch das samtige Haar, das so sanft durch die Finger glitt, als wäre es ein Luftstrom. „Ich glaube nicht, dass man nach dem Fehlschlag so schnell einen zweiten Attentat versuchen will.“

„Ich will überhaupt nicht, dass es noch einen Attentat auf dich gibt! Weder jetzt noch später!“, rief sie erzürnt und klammerte sich fest an ihn, wollte ihn gar wachrütteln, was sie aber schnell bereute, denn Cariléy wurde von dem Aufruhr wach und gab ein gequältes Klagen von sich.

Einige Entschuldigungen murmelnd nahm sie ihr Kind wieder an sich und wiegte es zurück in den Schlaf, bevor sie Cari wieder in Lurens Arme übergab.
 

„Geht es mit den Vorbereitungen denn voran?“, versuchte sie das Thema wieder auf etwas Angenehmeres umzulenken.

„Darf ich nicht sagen, das weißt du doch.“ Es hatte in ganz Asteria Tradition, dass ausschließlich die Familie des Gatten die Hochzeit plante. Die Ehefrau durfte bis zuletzt nichts davon erfahren, nicht einmal ihr Hochzeitsgewand wurde ihr vorher gezeigt, lediglich Maß nehmen durfte der Schneider.

Da Luren keine Familie besaß – oder zumindest keine, mit der er noch zu tun hatte – blieb die Planung damit an ihm hängen, nebst seinen beruflichen Verpflichtungen.

„Komm schon, nur ein bisschen! Was hast du vor? Nur einen Tipp!“

„Na schön...“, seufzte er und grinste verschlagen, denn Nomizon nervte ihn schon eine ganze Weile damit. „Es gibt ein Bankett.“

„Schon klar, aber was für eines?“

„Ein gutes.“

„... Idiot...“, meinte sie nur und blies beleidigt die Backen auf.

„Hey, es ist nicht gelogen“, verteidigte sich Luren, hatte vielleicht sogar etwas untertrieben. Auf der Liste der Lieferanten standen hochkarätige Gaststätten aus ganz Shinju mit unzähligen Geschmacksrichtungen, die ihr bestes gaben, um die Hochzeit zu der Feier des Jahres zu machen, einer zukünftigen Herscherrin angemessen.

Gerade noch war er unter anderem dem Chefkoch des Rose Blanche, Enzo Le Gourmet, über den Weg gelaufen, der einige Kisten mit Speisen persönlich in das Vorratslager brachte. Doch nebst dessen fanden sich noch viele andere Köche auf der Lieferantenliste um dem Thema der Vereinigung zwischen Asterias Osten und Westen in Form des Buffets Gestalt zu geben.

Er hoffte, dass auch Colonel de la Cour pünktlich erscheinen würde. Ein Eilbrief war heute angekommen, in welchem sie ihre Anwesenheit bestätigte, doch auf der dreitägigen Reise durch die grüne Einöde konnte so viel Unvorhergesehenes passieren, selbst auf den Schienen der ISE.

Gemessen daran, wie lang die Anreise war, hätte sie eigentlich direkt bleiben können, aber sie hatte darauf bestanden, nach dem Treffen mit dem Rat wieder abzureisen. Fast war ihm jeder Gast auf der Liste einerlei, aber den Segen seiner früheren Vorgesetzten stellte er auf fast die gleiche Stufe wie die Anerkennung seines künftigen Schwiegervaters.
 

So oder so würde es aber der schönste Tag seines Lebens, selbst wenn die beiden mutterseelenallein wären...
 

Die drei hielten vor einer breiten Doppeltür aus dünnem Holz, auf die eine große Kirschblüte gemalt war. Die Wache, die die Prinzessin begleitet hatte, war bereits wieder auf ihren Posten zurückgegangen und stand umgehend stramm, als die beiden vor sie traten.

Nomizon schob die Tür beiseite, auf dass sie das Schlafzimmer betreten konnten. Ihr Futon am Boden lag noch komplett verwuschelt dar, so wie sie es verlassen hatte, nicht einmal die Laterne hatte sie ausgemacht. Ansonsten blieb das Zimmer leer, sah man mal von einem Tisch und einigen übergroßen Vasen ab, aus denen eine Reihe schlohweißer Orchideen krochen und sich ihren Weg zum Boden bahnten, einem Shamisen in der Ecke und einiger Kinderspielzeuge aus Bambus, die wie Stolperfallen auf dem Boden verteilt worden waren. Alles andere wurde sorgfältig in den großen, grasgrünen Schrankwänden verstaut, denn in Shinju schätzte man traditionell einen gewissen Grad an bescheidenem Minimalismus, auch wenn er in einem Schloss wie diesem fast deplaziert wirkte.

Nomizon legte Cariléy in die Krippe, streichelte noch einmal über ihre geröteten Wangen und gab ihr einen spitzen Kuss. Aus der geöffneten Balkontür wehte ein kühler Abendwind, der ihr Nachtgewand zum Flattern brachte und mehr ihrer Haut darunter entblößte.

Luren hätte sich des Anblicks nicht einmal erwehren können, wenn er es versucht hätte, und so betrachtete er ganz ungeniert die nackten Kurven seiner Angebeteten, trat an sie und umschlang ihren weichen Körper, vergrub das Gesicht in ihrem silbernem Haar, nahm den sanften Duft von Vanille und Lavendel wahr. Langsam rutschte er zu ihrem schlanken Hals und gab ihm einen spitzen Kuss, der sie erschaudern ließ und sie sich kichernd aus seinem Griff befreite, als seine Hand zu ihre Brust rutschte.
 

„Nicht jetzt, Luren“, meinte sie, krallte sich aber zugleich in seinem Rücken fest und ließ ein kurzes, halb unterdrücktes Stöhnen heraus, als er weiter ihren Rücken entlangfuhr und die entblößte Schulter mit Küssen bedeckte. Er wollte mehr, wollte sie besitzen und er spürte, dass sie ähnlich fühlte. Ganz gleich, wie sehr sie versuchte, ihn zurückzuhalten. Die Distanz und die wenige gemeinsame Zeit in den letzten Tagen war für beide zu einer Qual geworden. Nur einen Moment inniger Zweisamkeit, das war alles was er verlangte...
 

Es war ein plötzliches, langgezogenes Quietschen, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag und etwas, das an Flügelschläge erinnerte, was ihn aufschrecken und die Küsse unterbrechen ließ. Cariléy indes hatte glücklicherweise nichts mitbekommen und schlief tief und fest weiter.

„Was ist los?“, fragte Nomizon, noch etwas benommen vom Überfall ihres Gatten, doch eine Antwort bekam sie nicht. Geistesgegenwärtig schob Luren sie hinter sich und marschierte – die eine Hand an den Griff seines Schwerts gelegt – zum Balkon und lauschte in die Finsternis, versuchte schemenhaft etwas zu erkennen, das außerhalb des kleinen beleuchteten Radius der Papierlaternen lag, doch so konnte er nichts erkennen.

Auf dem Hof sah er ein paar leuchtende Punkte, die sich um etwas zu versammeln schienen.

„Ist alles in Ordnung?“ Nomizon war hinter ihn getreten und legte beide Hände auf seine Schultern.

„Ich weiß nicht... vielleicht waren es nur ein paar Vögel, die sich auf eine verrostete Dachrinne gesetzt hatten, aber wir wollen kein Risiko eingehen. Die Tür bleibt verschlossen und deine Leibwache wird die Nacht bei dir bleiben“, meinte er nur, verschloss die Balkontür sicher, schritt durch den Raum und winkte Ochako herein.

„Luren...“, wollte die Prinzessin anfangen, wurde aber sofort durch einen Kuss auf ihren Mund unterbrochen.

„Mach dir keine Sorgen, vermutlich ist es nichts. Bleib einfach hier und ruh dich aus. Dir passiert nichts und ich werde nur in Begleitung meiner Männer auf dem Hof unterwegs sein.“

Einen Moment überlegte sie etwas zu erwidern, dann jedoch nickte sie nur kurz und flüsterte ein „Komm schnell zurück...“

Luren verließ das Zimmer schnellen Schrittes, zog die nächstbeste Wache, die er traf, als seine Begleitung ab und machte sich auf den Weg in den Innenhof. Er hatte es auch so gemeint, als er sagte, dass es vermutlich nichts wäre, aber so kurz vor der Hochzeit wollte er einfach sichergehen.

Dennoch konnte er nicht verstecken, dass mit jedem Schritt seine Furcht, es würde vielleicht doch zu einem Angriff kommen, immer weiter wuchs. Vielleicht sollte er doch noch mehr Leute im Hungerkäfig stationieren...
 

Arisa senkte das Fernglas, das auf die Traube aus Papierlaternen, die sich gut 200 Fuß unter ihnen gebildet hatte, gerichtet war und knirschte wütend mit den Zähnen. Verdammte Dachrinne, was musste die auch ausgerechnet dann wegbrechen, als sie sich daran hangelte um möglichst leise die unzähligen Etagen nach unten zu gelangen? Nun saßen sie hier erstmal auf dem Dach fest, bis sich der Aufruhr gelegt hatte.

„Hast du ja gut hingekriegt“, murmelte Teeza und gab sich nicht einmal den Hauch einer Mühe, ihren Sarkasmus zu verschleiern.

„Ich warne dich, Schwesterherz, mach mich nicht böse!“

„Was? Ich soll dich böse machen? Wegen wem sitzen wir denn gerade hier oben fest?!“

Es war ein seltenes Phänomen, aber Teeza hatte schon recht: Es war Arisas mangelnder Vorsicht geschuldet, dass ihr Plan ins Leere gelaufen war... Sie wollte einfach nur ins Schlafzimmer eindringen, wenn alle schliefen und das Kind entwenden. Ganz heimlich still und leise, was ja eigentlich nicht die Art der Harpyien war und Teeza nur umso wütender gemacht hatte. Jetzt würde sie es ihr wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit vorhalten, dass der Plan Mist gewesen war – auch wenn sie wohl kaum einen eigenen, geschweige denn einen besseren, gehabt hatte.
 

„Es ist der Süßkram...“, murmelte die Jüngere da und nickte kurz, als müsste sie sich für diese Erkenntnis selbst bestätigen.

„Wie bitte?!“

„Du isst zu viel Süßkram, seit wir hier sind und du bewegst dich kaum. Du gehst schon komplett aus dem Leim.“

„Dir geht’s wohl zu gut!“

„Ich mein das ernst, guck doch mal an dir runter!“

„Pass auf, was du sagst, sonst stopfe ich dir deinen Süßkram so tief in dein Maul, dass du ihn aus den Ohren pflücken kannst“, drohte Arisa und schlug ihrer kleinen Schwester mit der Rückhand in die Magengrube, dass diese mit einem Aufstoßen kurz nach vorne sackte. Doch zugleich schaute sie an sich herunter, ob sie nicht doch irgendwo schon Fettpolster entdeckte. Einige Zeit saßen die beiden nur mit missmutigem Ausdruck nebeneinander und gaben ein abwertendes Grunzen von sich, sobald sich ihre Blicke kreuzten.

„Hast du im Übrigen gehört, wie sie sie genannt haben? Cariléy... was für ein dämlicher Name. Die Federlosen haben einfach keinen Geschmack.“

Es würde Arisa doch sehr wundern, wenn überhaupt irgendjemand auf der Welt Teezas Geschmack für irgendwas teilte, aber sie gab zu, dass sie den Namen ebenso schrecklich fand. Mutter wüsste schon etwas Besseres für sie, aber dafür mussten sie es erst einmal bis zu ihr schaffen. In ihrem Kopf arbeitete es unablässig, doch eine Lösung für das Problem wollte ihr beim besten Willen nicht einfallen. Vor allen Dingen wusste sie nicht, wie schnell sie handeln musste.

Die ersten eindeutigen Mutationen traten in der Regel erst nach etwa einem Jahr auf, doch da Celica ihr Harpyienblut schon vor ihrer Geburt gespürt hatte, konnte es gut möglich sein, dass sich die kleine Cariléy schon viel früher verwandelte.

Einmal konnte Arisa in den letzten Tagen einen flüchtigen Blick auf das Kind werfen, aber das reichte schon aus, dass sie ihr das Herz gestohlen hatte. Diese großen, goldenen Augen, wissbegierig die Welt begreifend, der selige Gesichtsausdruck... Sie konnte sich Cari sehr gut als kleine Schwester vorstellen. Wenn ihr was passieren würde, könnte sie sich das niemals verzeihen – aber wahrscheinlich wäre ihr Schicksal dann sowieso schon besiegelt.
 

„Und was machen wir jetzt?“, fragte da Teeza, während sie ihr Federkleid richtete.

„Erstmal warten wir ab, bis die Luft rein ist, damit wir von hier verschwinden können.“

„Und wenn das den ganzen Tag dauert? Hattest du nicht mitbekommen, dass die beiden morgen irgendein Fest feiern?“

„Ihre Hochzeit“, bestätigte Arisa. Eigentlich wollte sie den Angriff noch während der Vorbereitungen durchführen und heute Nacht hätte ein guter Tag sein können. Ihr war es auch schon durch den Kopf gegangen, dass die Möglichkeit zur Flucht im schlimmsten Fall frühestens am Höhepunkt der Feierlichkeiten bestand, was bedeutete, sie müssten sich über den Tag hinweg einen Unterschlupf im Schloss suchen. Eine gefährliche Situation.

„Aber vielleicht auch eine Chance...“, murmelte sie, was Teeza aufhorchen ließ.

„Wenn du einen Plan hast, dann hoffe ich doch, er ist besser als... das hier.“

„Zur Abwechslung könntest du dir ja auch einen ausdenken.“

„Ich hatte einen. Wir spielen das alte Rein-und-Raus-Spiel. Aber das wolltest du ja nicht!“

„Weil es dumm ist! Wir können nicht einfach uns den Eltern entgegenstellen und ihr Kind einfordern, dann ist direkt eine Hundertschaft auf uns angesetzt und wir gefährden die Unversehrtheit unserer neuen Schwester!“

„Wer sagt denn, dass wir kämpfen müssen? Wir ziehen beiden eines über die Mütze und verschwinden, bevor die Krawalle anreitet.“

„Die Kavallerie! Aber vielleicht ist die Idee gar nicht mal so schlecht...“

„Was?!“

„Was 'was'?!“

„Was hast du da grade gesagt?“, fragte Teeza erstaunt, was ihre große Schwester aus dem Konzept brachte. Einen Moment musste Arisa über ihre Wortwahl nachdenken und meinte dann:

„Ich sagte, die Idee sei vielleicht gar nicht so schlecht.“

„Ach so... kannst du das nochmal wiederholen?“

Zur Antwort knallte Arisas Handfläche gegen den Hinterkopf der Jüngeren, die direkt mit einem Faustschlag antworten wollte; doch nach einem kurzen Handgemenge drehte Arisa Teezas Arm auf den Rücken und rammte ihr Knie in ihr Steißbein, was ihr einen unterdrücktes Quieken hervorlockte, während sie so auf das Dach gepresst wurde.

„Wo war ich? Ah richtig: Herzlichen Glückwunsch Teeza, wir werden deinen Plan zumindest in Teilen durchsetzen. Am Höhepunkt der Feierlichkeiten werden wir nicht nur von hier verschwinden, sondern im Zuge dessen auch das Kind mitnehmen.“

„Was? Vor versammelter Mannschaft?“, presste Teeza knurrend heraus, denn in dieser Position fiel ihr das Atmen ein ganzes Stück schwerer.

„Nicht doch. Du kannst das nicht wissen, denn wir kennen derlei Bräuche nicht, aber bei der Hochzeit geht es um die offizielle Vermählung zweier Seelen, „Bis dass der Tod sie scheidet“... oder einer durchbrennt.“

„Und warum sollten mich derlei sinnfreie Bräuche dann interessieren?“

„Weil dies bedeutet, dass das ganze Schloss nur auf den Oberst und die Prinzessin achten wird. Außerdem scheint es so, als sei der Bräutigam Ziel eines Anschlags gewesen und so werden die Wachen an jenem Tag ihn ganz besonders im Blickfeld haben. Wenn dann niemand auf die süße kleine Tochter aufpasst...“

„Dann schnappen wir sie uns, ohne Rücksicht auf Verluste“, beendete Teeza den Satz. Auf ihre Lippen spielte sich ein sadistisches Lächeln, bei dem Gedanken, dass sie nun doch noch ihren Kampf bekommen könnte.

Am Horizont schimmerten die ersten noch weit entfernten Flecken der Sonne. Es würde ein verdammt langer, aushungernder Tag werden, das war den beiden Waffenschwestern bewusst.
 

Vielleicht aber auch der schönste ihres noch so jungen Lebens.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Phinxie
2019-07-11T10:09:14+00:00 11.07.2019 12:09
Hui, so langsam scheint es los zu gehen mit der Entführung! Da bin ich mal gespannt, wie das so werden wird :D
Das Kapitel habe ich gerne gelesen - ich habe es auch recht fix durchgelesen, dein Schreibstil war schön flüssig ^^
Besonders gefallen haben mir die Szenen zwischen Luren und Nomizon (BTW, ein fantastischer Name, wie ich finde!)
Nomizon mit ihrer lieben, zärtlichen Art hat sich irgendwie auf Platz 1 deiner Charaktere in meinem Herzen geschlichen... Anfangs dachte ich, sie sei ein verwöhntes Gör, aber ich bin froh, dass du sie ganz anders dargestellt hast ^-^
Und ich finde es schön, dass es anscheinend wahre Liebe in deinen Geschichten gibt :P Bei mir gibt es das irgendwie ja viel zu selten und es erfrischt mich, so etwas mal zu lesen :3
Gleichzeitig macht es mich traurig, dieses selige Familienglück bald zerstört zu wissen... aber naja~

Und Hochzeiten!
Ich LIEBE Hochzeiten! <3
Du musst sie gaaaanz genau beschreiben, und wenn es nur für mich ist :3
Hochzeiten sind so toll und so schön und hach~
Du weißt ja, wie sehr ich es liebe, schöne, romantische Szenen zu lesen... :D
Also, wenn du die Hochzeit versaust, dann bin ich böse und lese nicht weiter >-<

...Du weißt, dass das ein Scherz ist :P
Ich werde natürlich weiterlesen, dir die verbaute Hochzeit aber immer vorhalten!

Aber gut, genug geschwafelt.. Tatsächlich fällt mir zu dem Kapitel nicht mehr ein D: Aber gut, du hast dich ja beschwert, dass dir meine Kommis zu lang sind :P
Also hier mal ein kurzen ^_^

Freue mich schon aufs nächste Kapitel! <3


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