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Lichtspiele I - Mitternachtsblau

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Lichtspiele I

Mitternachtsblau


 

Es gab Momente in seinem Leben, in denen Uruha einfach nur schreien wollte.

Jetzt, wo er sich seit gefühlten Ewigkeiten schlaflos in seinem Bett hin und her wälzte, war einer dieser Momente. Tief in ihm wuchs das Bedürfnis zu schreien, oder alternativ seinen Kopf gegen die nächste verfügbare Wand zu schlagen. Einfach, weil ihm die Welt in Situationen wie dieser schrecklich ungerecht erschien und er damit nicht mehr klarkam, es aber dennoch übertrieben war schlichtweg in Tränen auszubrechen.

Statt aber eine dieser drei Varianten in die Tat umzusetzen, starrte er im Moment regungslos auf die nur schemenhaft erkennbaren Umrisse seines Schlafzimmerfensters und lamentierte still vor sich hin. Dafür das, zumindest objektiv betrachtet, eigentlich alles in Ordnung war, waren ihm seine eigenen Gedanken gerade ein wenig zu fatalistisch. Aber dass er zumindest das noch erkannte, war doch vielleicht auch schon ein Pluspunkt?
 

Mit einem schweren Seufzen und nach einem kleinen Kampf mit der erstaunlich wehrhaften Bettdecke drehte er sich auf seine andere Seite; statt dem verdunkelten Schlafzimmerfenster konnte er jetzt die Wand vor sich anstarren.

Ganz großes Kino.

Er rollte gedanklich über sich selbst mit den Augen und kniff eben diese dann ärgerlich zusammen. So als könne er die orange gestrichene Raumbegrenzung allein dadurch dazu bewegen, ihn wundersamerweise endlich schlafen zu lassen. Leider war die Schlafzimmerwand allem Anschein nach sowohl gegen seinen Charme als auch seine bedrohlichen Blicke immun und tat ihm auch nicht den Gefallen ihn einfach unter sich zu begraben. Das wäre zwar so gesehen auch nicht ideal, aber bewusstlos sein war ja irgendwie auch fast so wie schlafen, oder?

Und im Moment war er, wenn er ehrlich war, bereit nach jedem Strohhalm zu greifen, den er irgendwie finden konnte.
 

Uruha unterdrückte ein erneutes Seufzen.

Wieso eigentlich immer er?

Wieso war er es, der in dieser viel zu warmen, klebrig-schwülen Sommernacht bis in die Morgenstunden wach lag, obwohl er doch im Moment quasi alles dafür geben würde, einfach nur schlafen zu können? Wenigstens ein bisschen. Ein paar Stunden. Irgendwie.

Wieso schien Aoi hingegen so gar keine Probleme damit zu haben Schlaf zu finden, obwohl er selbst doch eigentlich derjenige war, der mit Hitze besser klarkam?

Wieso war es unter der Bettdecke vor Wärme nicht auszuhalten, aber ohne seltsamerweise trotzdem so unangenehm kühl, dass er sofort Gänsehaut bekam?

Und wieso, wieso hatte er seinem Freund eigentlich in einem Zustand vollkommener geistiger Umnachtung erlaubt diese beschissene Wand so furchtbar orange zu streichen?
 

Er widerstand einmal mehr dem Drang seinem Ärger lautstark Luft zu machen und sich die Haare zu raufen. Stattdessen zog er die Augenbrauen mürrisch zusammen – dummerweise hatte er nur eine sehr vage Erinnerung an die Ereignisse, die zu dieser innenarchitektonischen Entgleisung geführt hatten.

Wenn er sich recht entsann, war es Weihnachten gewesen, kurz nachdem Aoi und er zusammen in dieses Apartment eingezogen waren. Es war ihre erste gemeinsame Wohnung und das hatten sie natürlich gebührend feiern müssen. Uruha erinnerte sich noch an viel Champagner, Sake und diverse Versprechungen, was das Einweihen ihres neuen Schlafzimmers betraf. Aber Großteile der Nacht waren zu seinem Leidwesen in einem schwarzen Loch verschwunden und bis heute nicht mehr daraus aufgetaucht. Dabei hätte ihn ja durchaus interessiert, was aus einigen dieser Versprechen eigentlich geworden war.

Sein kleiner Filmriss war dann auch der Grund gewesen, warum er mehr als nur ein wenig pikiert reagiert hatte, als seine so genannte bessere Hälfte keine zwei Wochen später mit einem Eimer der wohl orangesten Wandfarbe angerückt war, die er in seinem bisherigen Leben je gesehen hatte. Oder besser: hatte sehen müssen. Und ab diesem Moment hatte er keine Chance mehr gehabt das Übel noch aufzuhalten.
 

Er atmete noch einmal betont tief durch und drehte sich dann auf den Rücken, versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass sich selbst das Bettlaken klamm unter seiner Haut anfühlte.

Immerhin war die Zimmerdecke weiterhin weiß.

Man sollte sich ja immer auf die positiven Dinge im Leben konzentrieren, hatte er zumindest mal irgendwo gelesen. Und gut für den Blutdruck sollte ein optimistischer Ausblick ins Leben ja ebenfalls sein. Oder vielleicht war das auch nur einer von Kais vielen weisen Sprüchen. So oder so, beim Einschlafen half es ihm leider momentan nicht im Geringsten, da brachte alles positive Denken nichts.

Es war wirklich zum Schreien – auf der einen Seite war er vollkommen übermüdet und flehte innerlich beinahe nach Schlaf, aber andererseits schien sein Hirn im Moment auf Hochtouren zu laufen. Ganz so als hätte es nie einen besseren Zeitpunkt als diesen gegeben, um über jeden unmöglichen Schwachsinn nachzudenken, der ihm gerade zwischen die Synapsen purzelte. Er und dieses hoch seltsame Organ hatten wirklich sehr verschiedene Ansichten davon, was ein gesunder Schlafrhythmus war.
 

Der Verunstalter seines Schlafzimmers ließ ein leises, irgendwie zufrieden klingendes Schmatzen hören und zog so seine Aufmerksamkeit auf sich. Für einen Moment sah er Aoi an, halb in der Hoffnung, dass er vielleicht aufwachen würde. Das schien der Ältere jedoch leider nicht vorzuhaben, stattdessen rieb er, auch weiterhin tief und fest schlafend, kurz seine Nase an Uruhas Schulter, ganz so als wolle er ihn beruhigen.

Uruha dachte, dass der andere wirklich süß aussah, wie er sich da gerade an ihn kuschelte. Wäre er selbst nicht so furchtbar müde, hätte er beinahe Lust ihm einfach ein bisschen beim Schlafen zuzuschauen. Er war gerade dabei die Hand zu heben, um Aoi eine wirre Strähne seines schwarzen Haars aus dem Gesicht zu streichen, als dieser sich ohne Vorwarnung auf die andere Seite drehte und die gemeinsame Bettdecke einfach mit sich zog.

Der Sack.

Er sah den Entführer seiner Bettwäsche noch ungläubig an, als er auch schon spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seinem gesamten Körper ausbreitete.

Zugegeben, langsam sah die Variante mit dem Losheulen doch immer verlockender aus.

Einige halblaute Flüche unterdrückend setzte Uruha sich auf und fuhr sich mit beiden Händen unwirsch durchs Gesicht. Das war doch wirklich nicht zum Aushalten. Wenn das so weiterging würde er heute überhaupt nicht mehr schlafen.

Widerwillig warf er einen Blick auf das LED-Display seines Weckers.
 

02:49
 

Wann genau musste er aufstehen? Kurz vor Sechs?

Den Tag konnte er wohl jetzt schon abhaken und würde ihn definitiv nur mit viel zu viel Koffein, Concealer und einer dunklen Sonnenbrille überstehen.

Mit diesem Gedanken und einem ergebenen Seufzen gab er sich seiner Schlaflosigkeit vorerst geschlagen. Er warf noch einen Blick auf seinen, weiterhin selig schlafenden, Freund, der sich mittlerweile einen kleinen Kokon aus der Decke gebaut hatte, und verließ dann leise das Schlafzimmer.
 

Das kalte Laminat im Flur jagte erneut einen Schauer über seinen Rücken und er verzog das Gesicht, widerstand aber gerade noch der Versuchung auf Zehenspitzen zu gehen. Das hätte bei seinem aktuellen Glück ja doch nicht gut geendet. Und wenn irgendwie möglich, würde er heute Nacht einen Ausflug ins Krankenhaus ganz gern vermeiden.

Die Fliesen in der Küche waren ebenfalls nicht gerade warm unter seinen bloßen Fußsohlen und verleiteten ihn zu dem Gedanken, dass sie vielleicht doch in Fußbodenheizung hätten investieren sollen. Und sei es nur um nächtliche Ausflüge angenehmer zu gestalten. Einen Moment lang blieb er unschlüssig stehen, die Arme um sich geschlungen und die Augen nachdenklich auf den Boden gerichtet.

Zurück ins Schlafzimmer wollte er nicht gehen, um sich etwas zum Überziehen zu holen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass er Aoi dadurch wecken würde, aber riskieren musste er es ja auch nicht. Mit einem unschlüssigen Schulterzucken drehte er sich letztlich aber dennoch um und ging zumindest bis in den Flur.

Zum ersten Mal in den letzten Stunden huschte ihm der Ansatz eines Lächelns über die Lippen. Aoi hatte, wie gehofft, diese furchtbare Strickjacke, die er tatsächlich als stylisch erachtete, an der Garderobe hängen lassen. Vorsichtig, um mit dem Kleiderbügel keinen Lärm zu verursachen, griff er danach und wickelte sich, fast mit ein bisschen Genugtuung, darin ein. Immerhin gemütlich war das Ding, wenn schon hässlich wie die Nacht, auch wenn es an Aoi ganz passabel aussah. Das wiederum lag vermutlich eher an seinem Freund und der Tatsache, dass Uruha ihn immer als ziemlich hinreißend wahrnahm, egal was er gerade anhatte, als an dem Kleidungsstück selbst.
 

So mit etwas Wärme ausgestattet unternahm Uruha Versuch Nummer zwei die Küche zu erobern. Und wie immer dachte er natürlich erst an das Licht im Kühlschrank, als er die Tür zu selbigem bereits geöffnet hatte. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er gegen die wirklich unnötig grelle Helligkeit. Wie sollte man da bitte irgendwas finden, ohne sein Augenlicht zu verlieren?

Und nein, er war wirklich keineswegs theatralisch, das Leben hasste ihn im Moment nur und er war müde und musste mit einer orangen Schlafzimmerwand leben.

Und da sagten die Leute immer, er hätte einen furchtbaren Geschmack.

Wenn die mal wüssten.

Eine ganze Weile starrte Uruha nur stumpf vor sich hin und musste sich schließlich bewusst zusammenreißen, um nicht wieder in Gedanken abzudriften, die doch zu nichts führen würden. So griff er schließlich nach einem Glas Umeboshi, das schon eine Weile ein recht einsames Dasein in ihrem Kühlschrank fristete und trat den Rückzug zum Küchentisch an. Im Vorbeigehen schaltete er noch eine der Lampen unter den Hängeschränken an. Hier komplett im Dunkeln zu sitzen wäre selbst für seine Maßstäbe irgendwie zu armselig.
 

Uruha stellte das Glas möglichst leise auf dem Küchentisch ab, machte dann aber noch einen kurzen Abstecher in Richtung Besteckschublade, bevor er sich mit einer Gabel bewaffnet auf einem der Küchenstühle niederließ. Seine mittlerweile kalten Füße legte er übereinander gekreuzt auf einem der anderen Stühle ab und beugte sich dann etwas nach vorn, um das Glas aufzuschrauben.

Als das geschafft war, erstach er zielsicher – und mit einer gewissen Genugtuung – eine der eingelegten Köstlichkeiten und begann daran herumzuknabbern.

Umeboshi waren ein Geschenk der Götter, da gab es einfach nichts dran zu rütteln. Und eigentlich half das Zeug doch quasi gegen alles, zumindest hatte ihm das seine Mutter immer sehr glaubhaft versichert – vielleicht also auch gegen Schlaflosigkeit, die von übereifrigen Gehirnzellen verursacht wurde. Man konnte ja nie wissen.

Für eine Sekunde kam ihm der Gedanke, dass er auch eine rauchen könnte, aber die Idee verwarf er gleich wieder.

Zum einen erinnerte er sich daran, dass er gerade keine Zigaretten hier hatte; die letzte hatte er irgendwann am Abend geraucht und er würde sich hüten, jetzt noch einmal seine Wohnung zu verlassen; so weit war es mit seiner Nikotinsucht dann glücklicherweise doch noch nicht. Außerdem würde ihn dieses Unterfangen wieder vor sein Bekleidungsdilemma stellen – wenn er draußen in Shorts und Strickjacke herumlief, würde er definitiv auf Fans treffen und- Nein. Einfach nein. Das wollte er ihrem Management dann wirklich nicht erklären müssen.

Zum anderen musste er definitiv davon ausgehen, dass Aoi wissen würde, dass er in der Küche geraucht hatte. Er könnte Lüften oder Raumspray benutzen oder sich auf den Kopf stellen und Kinderlieder singen, aber Aoi würde es wissen, sobald er das Schlafzimmer verließ. Es war, als ob der andere eine Art sechsten Sinn für Uruhas schlechte Angewohnheiten hatte. Ganz davon abgesehen, dass sie eigentlich ausgemacht hatten, nur noch auf dem Balkon und nicht in der Wohnung selbst zu rauchen.

Ein weiterer Beweis dafür, dass er viel zu gutherzig und das Leben viel zu grausam war, wenn man ihn fragte. Aber das tat natürlich niemand.

Also angelte er statt nach Zigaretten lieber nach einer weiteren eingelegten Pflaume und legte dann kauend den Kopf in den Nacken, um das Ziffernblatt der Wanduhr erkennen zu können.
 

03:05
 

Müsste er morgen früh nicht zusammen mit Ruki bei einer dieser komischen Guten-Morgen-Fernsehshows antanzen, würde er es sich glatt überlegen einfach durchzumachen und gar nicht erst zu versuchen jetzt noch Schlaf zu finden. So konnte ihn nur in der Tatsache trösten, dass Make-up sein Lebensretter sein würde und er mit etwas Glück das Reden dem Sänger überlassen könnte. Tat der Kurze doch sowieso am liebsten, da überließ Uruha ihm gern das Feld.

Aber immerhin fühlte er sich im Moment nicht mehr ganz so fürchterlich frustriert, was so gesehen auch schon mal ein kleiner Fortschritt war.

Mit seiner freien Hand fuhr er sich durch die Haare und schloss für einen Moment die Augen.

Er hasste diese Phasen, in denen er permanent erschöpft und überanstrengt war und trotzdem nicht schlafen konnte. Nicht weil er Besseres zu tun hätte oder weil er ein ausgesprochener Nachtmensch war. Nein, einfach weil sein dämliches Hirn ihn nicht ließ. Aber das war eben gar nicht so einfach zu erklären, wenn es der anderen Person nicht genauso ging. Reita verstand sein Problem zumindest ungefähr, aber sie kannten sich eben auch schon seit quasi immer und hatten oft genug beim jeweils anderen übernachtet, um dieser Situation das ein oder andere Mal begegnet zu sein. Mit ihm zu reden wäre jetzt vielleicht nicht schlecht, nur leider eben auch ziemlich egoistisch. Es war schließlich nicht so, als ob sein bester Freund nicht auch ein bisschen Ruhe verdient hätte.

Er fischte nach der letzten Umeboshi im Glas und erhob sich dann langsam. Immer noch kauend ging Uruha ins Wohnzimmer, blieb kurz unschlüssig stehen und ließ sich dann halbherzig auf der Seitenlehne des Sofas nieder.

Er musste irgendetwas tun das ihn beruhigte.

Irgendetwas monotones, damit er diese Unruhe in sich etwas betäuben konnte. Sein Blick fiel auf die beiden Gitarren, die neben der Fensterfront in ihren Haltern standen; die einzigen beiden, die sich nicht in seinem und Aois Arbeitszimmer oder im Studio befanden.
 

Mit einem ergebenen Seufzen erhob er sich, schlurfte zu den beiden Instrumenten und setzte sich schließlich im Schneidersitz auf den Fußboden vor ihnen, auch wenn der helle Teppich etwas an seinen nackten Beinen kratzte. Für einige Augenblicke ließ er seine müden Augen über die Konturen der Gitarren schweifen, bevor er nach dem Mikrofasertuch griff, das über einem der Gitarrenständer hing. Er schloss seine Hand darum, fühlte allein in dieser Bewegung einmal mehr die bleierne Müdigkeit, die von seinem Körper schon lange Besitz ergriffen hatte. Die weiche Textur des Stoffs tat seltsam gut und er musste dem plötzlichen Verlangen widerstehen, sein Gesicht darin zu vergraben. Bei seinem Glück würde Aoi ihn dann so hier finden und auch das gehörte zu den Situationen, die er nicht unbedingt erklären müssen wollte.

Stattdessen nahm er vorsichtig dessen schwarzes Instrument von seinem Platz und legte es sacht auf seinem Schoß ab. Uruha nahm einen tiefen Atemzug und versuchte – nicht das erste Mal in dieser Nacht – sich bewusst zu entspannen. Aber wie bei seinen bisherigen Versuchen ließ das Ergebnis auch weiterhin zu wünschen übrig. Also lenkte er seine Gedanken stattdessen auf das, was nun im wahrsten Sinne des Wortes vor ihm lag.

Beinahe liebevoll strich er mit dem weichen Tuch über den schwarz glänzenden Lack der ESP, bemüht jedes Staubkorn von seiner Oberfläche zu entfernen, während er sich vorstellte, wie Aois Finger sonst in geübten Bewegungen über die Saiten tanzten. Mit einem versonnenen Lächeln schlug er das Instrument sacht an, entlockte ihm nur einige leise Laute, um die nächtliche Stille nicht zu zerbrechen.

Ein bisschen war er heute noch der Überzeugung, dass dem Älteren nicht gänzlich bewusst war, was für eine Ausstrahlung er hatte, wenn er spielte. Nicht nur auf der Bühne, selbst wenn sie hier nur zu zweit ein bisschen für sich herumklimperten oder an neuen Liedern arbeiteten. Hin und wieder erwischte er sich dabei ihm einfach nur zusehen zu wollen, um die Zufriedenheit in sich aufzusaugen, die Aoi in solchen Momenten zu umgeben schien.

Beinahe von selbst ließen Uruhas Finger den weichen Stoff fallen und bewegten sich stattdessen weiter über die Saiten der schwarzen Gitarre. Seine Griffe wurden langsam sicherer, seine Hände schienen so etwas wie eine Melodie zu finden, der sie weiter folgten, während seine Gedanken sich weiterhin um anderes drehten.
 

Manchmal zweifelte er an seinen Entscheidungen, eine Eigenschaft, die er nie hatte ablegen können und mit der er sich öfter als ihm lieb war selbst im Weg stand. Mit Aoi zusammenzuziehen war so eine Entscheidung gewesen. Es hatte mit Sicherheit nicht daran gelegen, dass er es nicht wollte – er konnte sich nichts Besseres vorstellen als ein Leben mit dem Mann, den er liebte, zu teilen. Aber es war eine große Veränderung gewesen und die fielen ihm einfach schwer. Er brauchte seine Routinen, um nicht ständig zu viel nachzudenken und er war sich dessen bewusst, wie ironisch seine Berufswahl als Gegensatz dazu wirkte. In den Anfangstagen der Band hatte ihm Reita oft geholfen die Stabilität zu finden, die für ihn nötig war, um mit dem Stress, den die Band mit sich brachte, fertig zu werden. Und später, nachdem sie zu einer gewissen Einheit zusammengewachsen waren, natürlich auch die anderen. Mittlerweile hatten sie ihr zehnjähriges Bandjubiläum hinter sich und funktionierten als eingespielte Einheit, die die Schwächen ihrer einzelnen Teile automatisch ausglich.

Aoi hatte er von Anfang an bewundert, selbst bevor ihm klar geworden war, dass hinter dieser Bewunderung noch viel mehr steckte als nur das. Der Dunkelhaarige war ebenfalls oft nachdenklich und konnte an sich zweifeln, aber sobald er sich für einen Weg entschieden hatte, folgte er ihm und nahm die Konsequenzen hin, die sein Handeln hatte. Er selbst hingegen zögerte oftmals bei jedem Schritt und fragte sich, ob eine andere Entscheidung vielleicht doch besser gewesen wäre.

Am Ende war es genau so auch zu dieser furchtbar orangen Wand in seinem Schlafzimmer gekommen. Er hatte sich nicht entscheiden können, wie sie den Raum farblich gestalten sollten, also hatte Aoi das in die Hand genommen.

Konsequenzen egal. Oder katastrophal, je nach dem, wen man da fragte.

Uruha erwischte sich dabei die Gitarre in seinem Schoß schief anzugrinsen. Es würde ihn nicht mal wundern, wenn das pure Berechnung von Seiten des Älteren gewesen wäre. Könnte er sich besser an diesen Abend erinnern, würde er vielleicht des Rätsels Lösung kennen, so konnte er weiterhin nur mutmaßen.
 

Vielleicht sollte er seinen Freund einmal danach fragen, vielleicht nächste Weihnachten, sollte die Wand ihn dann immer noch so aufregen. Oder ihm einfach einen Eimer einer etwas weniger aufdringlichen Farbe schenken. Weiß oder hellgrau oder so.

Er ließ die diffuse Melodie, der seine Finger noch immer gefolgt waren, langsam ausklingen, und schloss die Augen. Er hatte das Gefühl als würde er jeden Moment zur Seite kippen und auf der Stelle einschlafen; sein übereifriges Gedankenkarussell schien sich tatsächlich zumindest ein bisschen beruhigt zu haben.

Wie so oft waren Gedanken an Aoi ein guter Fokus.

Allerdings war ihm mittlerweile doch wieder unangenehm warm, woran die Jacke mit Sicherheit nicht unschuldig war, jetzt wo er nicht mehr mit kalten Böden zu kämpfen hatte.

Mit größter Vorsicht stellte er Aois Gitarre wieder in die Halterung zurück, legte das Reinigungstuch ebenfalls wieder an seinen Platz und richtete sich langsam auf. Sein Gesicht verzog sich als seine Wirbelsäule bei dieser Bewegung ein unschönes Knacken von sich gab. Uruha legte eine Hand an sein Kreuz und rieb gedankenverloren über die Stelle, während er an die Fensterfront des Wohnzimmers trat. Er zögerte kurz, bevor er leise die Tür auf ihren Balkon öffnete und in die Nacht hinaus trat.

Erneut schlossen sich seine Augen für ein paar Sekunden und er sog die Luft tief ein. Nicht, dass sie sonderlich erfrischend war, denn die typische Augustschwüle lag auch nachts wie eine Decke über Tokyo. Aber alles war besser als immer nur das zu atmen, was die Klimaanlage ausspuckte.

Mit einem Blick nach oben stellte er fest, dass der Himmel sich zugezogen hatte und die Wolken nun sämtliche Sterne verdeckten. Bei seinem Glück würde es aber vermutlich erst morgen früh anfangen zu regnen, wenn er zu dieser dummen Fernsehsendung hetzen musste.

Aber immerhin war ein leichter Wind zu spüren, der ihn ein wenig abkühlte und sogar unter der Strickjacke etwas frösteln ließ. Vermutlich war er einfach total überhitzt. Oder übermüdet. Oder beides. Da konnte sein Körper ja mit Reaktionen gar nicht mehr hinterherkommen. Uruha fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht und vergrub sie kurz in seinen spätestens jetzt vollkommen zerzausten Haaren.
 

Morgen würde ein furchtbarer Tag werden, aber zumindest fühlte er sich im Moment etwas besser – auch wenn er vermutlich lieber keinen Blick auf eine Uhr werfen sollte, wenn er nicht wollte, dass seine Frustration mit voller Kraft zurückkam.

Stattdessen ließ er seine Blicke über das nächtliche Stadtpanorama vor sich wandern und sog die verhältnismäßige Stille in sich auf. Das besorgte Ziehen in seinem Magen war einem unterschwelligen Unwohlsein gewichen; nicht ideal aber wesentlich besser auszuhalten.

Vielleicht würde er nun sogar noch ein bisschen Schlaf finden oder abbekommen können.
 

Er nickte sich für diesen Gedanken selbst zu, streckte sich noch einmal kurz und kehrte dann zurück ins Wohnzimmer, wo er sich noch einmal kurz umsah, jedoch nichts entdeckte, was für den Moment seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit einem unterdrückten Gähnen ging er weiter in die Küche, wo er zumindest noch das nun verwaiste Umeboshi-Glas und seine Gabel in die Spüle stellte, bevor er weiter ins Schlafzimmer schlich.

Dort herrschte noch immer fast vollständige Dunkelheit und Stille, die nur vom monotonen Surren der Klimaanlage unterbrochen wurde. Mehr als die schemenhaften Umrisse von Aois Körper konnte er nicht erkennen, als er sich der Jacke entledigte. Möglichst vorsichtig kletterte er nur mit Shorts bekleidet wieder ins Bett und machte es sich unter dem Stück Bettdecke bequem, das Aoi gnädigerweise wieder aus seinem Klammergriff entlassen hatte.
 

Uruha schloss bewusst seine Augen und atmete einige Male gleichmäßig aus und ein. Nach der, zumindest relativ gesehen, kühlen Luft auf dem Balkon umgab die Bettdecke ihn mit einer angenehmen Wärme, die nun zum ersten Mal in dieser Nacht nicht erdrückend, sondern beinahe entspannend wirkte. Er wollte es sich gerade noch etwas bequemer machen, als sich von hinten ein Arm um seinen Oberkörper schlang. Mit einem nicht näher zu benennenden Grummel-Laut rutschte Aoi näher an ihn heran, bis zwischen sie nicht einmal mehr ein Blatt Papier gepasst hätte und schickte damit eine Gänsehaut der ganz anderen Art über Uruhas Körper.

„Wo warst du?“, hörte er die verschlafene Stimme des Älteren dicht an seinem Ohr. Er könnte wetten, dass Aoi so tief im Halbschlaf steckte, dass er sich morgen nicht an diese Situation erinnern würde.

„Ich konnte nicht schlafen“, erwiderte er dennoch leise. „Wieso ist die Wand so orange?“, wollte er dann wissen, konnte ein kleines Grinsen nicht unterdrücken, als ihm die Frage vollkommen ungeplant herausrutschte.

Hinter ihm war es erst einmal still und er hätte vermutet, dass Aoi bereits wieder schlief, hätte dessen Hand nicht sacht aber bestimmt am Bund seiner Shorts entlang über seinen Bauch gestrichen.

„Ich dachte es wäre irgendwie motivierend, wenn man morgens aufwacht“, kam die genuschelte Antwort dann aber doch noch und er war sich beinahe sicher, dass der Schwarzhaarige ebenfalls lächelte.

„...es ist furchtbar.“

„Ich weiß.“ Er hörte Aoi tatsächlich leise lachen, bevor er ihn, so unmöglich es schien, noch näher an sich zog und sein Gesicht irgendwo in Uruhas Haaren vergrub. „Du solltest schlafen, oder kein Concealer der Welt kann dich morgen noch retten“, hörte er ihn dann noch halb ins Kopfkissen genuschelt sagen, worauf Uruha nur ein liebevolles „du mich auch“ erwidern konnte, bevor er erneut die Augen schloss.
 

Aller guten Dinge waren ja bekanntlich drei – vielleicht stimmte das ja heute auch für seine Versuche endlich einschlafen zu können. Aois Körperwärme schien ihn beinahe zu durchdringen und seinen angespannten Körper zu beruhigen. Wäre ihm vorhin jede unnötige körperliche Nähe noch zu viel gewesen, genoss er es jetzt seinen Partner so nah bei sich zu spüren. Und so lange Aoi sich nicht im Schlaf ruckartig von ihm wegdrehte, würde er sogar ausnahmsweise etwas von ihrer Bettdecke haben.

Immerhin ein Anfang.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Und das war's auch schon. Ich hoffe euch hat's ein bisschen gefallen, über Favoriten oder Kommentare aller Art würde ich mich natürlich freuen <3

Alles Liebe und einen schönen zweiten Advent

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  QueenLuna
2019-10-10T17:18:43+00:00 10.10.2019 19:18
Oh man, da kommentiere ich den 3. Teil der Story und ignoriere kommentarmäßig die ersten beiden... Schande u.u
Naja ich hols ja jetzt nach xD

Schon allein die ersten zwei Sätze sind ein toller Einstieg rein von der Formulierung her.. Irgendwie ging mir das Herz dabei auf <3
Und falls ich es dir gegenüber noch nicht erwähnt habe, ich liebe selten verwendete Wörter und bei den Wörtern 'fatalistisch', 'pikiert' hab ich innerlich gejubelt xD

Bei 'Ganz großes Kino.' musste ich lachen, da uch richtig den sarkastischen Unterton dabei im Ohr hatte.

Und ich liebe den Satz '... Wieso hatte er seinem Freund eigentlich in einem Zustand völliger, geistiger Umnachtung erlaubt diese beschissene Wand so furchtbar orange zustreichen'... Was für ein geiler Satz.. Man merkt richtig den Frust... Armer Uruha, aber hey es sorgt für Amüsement auf meiner Seite xD

Prinzipiell schlaf ich immer recht gut, aber deine Beschreibung von Uruhas Schlaflosigkeit ist super und absolut nachvollziehbar. Gerade dieses "auf der einen Seite war er vollkommen übermüdet [...], andererseits schien sein Hirn im Moment auf Hochtouren zu laufen." ist eine perfekte Beschreibung und hat sich jeder schon mal erlebt.

Hach ich könnte hier gerade alles mögliche zitieren, weils mir formulierungstechnisch so gut gefällt <3

Hab gerade gemerkt, dass ich noch nie Umeboshi probiert habe, aber weil die sue im der Story so herausragend toll beschrieben hadt, muss ich das mal nachholen xD


Und warum, um Himmels Willen, dachte Aoi, dass eine orangefarbene Wand motivierend wäre xD ich glaub eher motivierend, schnell den Raum zu verlassen...

Also dafür, dass eigentlich in der Geschichte nichts super spektakuläres passiert und es mehr eine Situationsbeschreibung ist, ist sie so schön detailverliebt und umfangreich, dass es mir total viel Spaß gemacht hat, mich in diese Situation zu begeben und Uruha bei seiner Schlaflosigkeit zu begleiten.
Danke ^^

Sorry dafür dass ich das hier so ausführlich kommentiert und in die Länge gezogen habe, aber gab immer während des Lesens kommentiert und wollte alle tollen Details festhalten ^^`` ich glaub ich werde das auch so bei behalten xD also wenns mal wieder länger dauert...

Liebe Grüße :*
Luna
Antwort von:  -Red-Karasu
11.10.2019 17:45
Naja, das Gute an den Lichtspielen ist, dass man sie eigentlich auch vollkommen unabhängig voneinander lesen kann, von daher ist das nicht schlimm ^^

Ich freu mich auf jeden Fall, dass dir Uruhas ein bisschen überdrehte Art hier gefällt, ich gebe gern zu, dass ich beim Schreiben einen Heidenspaß hatte, auch wenn dieses Nicht-Schlafen-Können in der Realität ja alles andere als lustig ist ^^° Aber joa, frustriert sein kann Uruha gut xD

Das mit der orangen Wand...schieben wir es mal darauf, dass Uruha angetrunken und sehr verliebt war und deswegen Aois rekordverdächtig schlechtem Geschmack nichts entgegenzusetzen hatte xD (und hey, wenn sie einen motiviert schnell den Raum zu verlassen, kommt man immerhin morgens schnell aus dem Bett, also Ziel auch irgendwie erreicht ^^°)

...für das mit den Umeboshi übernehm ich aber keine Gewähr, ne xD Also, dass die wirklich gegen alles helfen xD Aber wie immer freue ich mich super darüber, dass du meine Charaktere bei ihren verqueren Erlebnissen begleitet hast – und wie gesagt, du musst dich nie, nie dafür entschuldigen, wenn ein Kommi ausführlich ist. Sowas wie zu lange Kommentare gibt es quasi nicht <3 <3 <3
Antwort von:  QueenLuna
11.10.2019 18:11
Na da warte ich mal ungeduldig auf die hoffentlich nächste Lichtspiele FF <3

Musste gerade sehr lachen über 'Aois rekordverdächtig schlechtem Geschmack' XD das erinnert mich an dieses eine Konzert, wo er pinke Haare, so einen ich glaub Pinkorangen langen Rock, eine komisch super buntes leicht glitzerndes Oberteil und ne schwarze Strickjacke mit ich glaub so Puschelbesatz anhatte... Also eigentlich entstellt Aoi ja nix, aber das war mir dann doch zu viel des Guten xDDD

Hab mir jetzt noch einige deiner anderen FFs geladen und arbeite demnächst mal wieder an langen Kommis ;) :*
Antwort von:  -Red-Karasu
11.10.2019 18:21
Äh ja...Geduld kann da nicht schaden xD

Oh Gott...das Outfit hatte ich total verdrängt, aber es bestätigt meine Meinung nur wieder xD Ich musste vor allem an diese potthässliche Jacke denken, die in der 13er World Tour Doku kauft, denken. Da hat man sich ja auch schon so ein bisschen gefragt xDDD

Mach dir mit dem Lesen/Kommentieren keinen Stress, aber ich werd mich auch dann wieder freuen <3
Von:  Kanoe
2018-04-24T10:52:58+00:00 24.04.2018 12:52
wunderbar .. das nicht schlafen können ist echt so eine sache .. aber umeboshi *schüttel* ne...
aber ich finde es sehr niedlich
Antwort von:  -Red-Karasu
24.04.2018 21:19
Au ja, das ist immer wieder einfach nur furstrierend - ich kann mit Umeboshi auch nix anfangen, aber zu ihm schien es mir irgendwie zu passen :) Und niedlich passt hier, glaube ich gut. Danke für den Kommi <3


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