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Haus ohne Fenster - eine Wintergeschichte

Geschichte einer Beziehung
von

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im Schnee

Es war seltsam, aber an diesem Abend nahm ich das Haus zum ersten Mal richtig wahr – zuvor war ich ja nur durch die Räume gelaufen und hatte die Fensterläden geschlossen. Doch nun stand ich im holzgetäfelten Flur, hinter mir die Haustür, links von mir die Küche, in der sich eine winzige Sitzecke unter dem Fenster befand. Heute Morgen hatte ich dort mein Frühstück verzehrt, ohne mitzubekommen, dass der Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, kippelte. Erst jetzt, als ich mir nach Reviers Weggang eine Mahlzeit bereitet hatte, wurde mir das bewusst. Schuld waren die unebenen Holzdielen. Und unwillkürlich fragte ich mich, ob meine Mutter auch auf diesem Stuhl gesessen hatte oder am Fenster. Erzählt hatte sie mir davon nicht. Warum auch? Es war nicht ihre Art, solche Nebensächlichkeiten zu erwähnen. So hatte sie mir auch nie gesagt, in welchem Zimmer sie gewohnt hatte. Gut, ich hatte auch nie gefragt. Es gab im Obergeschoss drei Räume. Das Gästezimmer und zwei Weitere – beide vollkommen leer. In einem, so vermutete ich, hatten ihre Eltern, von denen sie mir ebenfalls nie etwas erzählt hatte, geschlafen, im anderen wohl sie. Vielleicht in dem mit dem großen Fenster? Hatte sie manchmal an dem gelehnt und hinaus auf die Berge gesehen? Und wo hatte ihr Bett gestanden? Ihr Kleiderschrank? Ihr Schreibtisch und Bücherregal? Dass sie bereits als Mädchen viele Bücher gehabt haben musste, war mir klar. Auch wenn sie darüber nie ein Wort verloren hatte, so ahnte ich doch, dass sich in ihrem Regal kaum sogenannte Mädchenromane wie Hanni und Nanni befunden hatten. Auch keine Geschichten über stolze Araberhengste und deren Besitzerinnen. Ich vermutete eher Jules Vernes und Sir Arthur Conan Doyle darin. Und hatte sie ihre Bücher unter der Bettdecke gelesen – so, wie ich die Biographien von Derek Jeter und Richard P. Feynman, meinem anderen Idol. Wen mochte meine Mutter, als sie Mädchen und Jugendliche war? Dass sie sich für Jungs ihres Alters interessierte, glaubte ich nicht. Eher waren es Größen Robert Koch oder Rudolf Virchow? Wir hatten auch darüber nie gesprochen. Ich wusste nur, dass sie in neuerer Zeit neben ihrer Fachlektüre, die sie ständig in sich hineinfressen musste, wie sie es einst genannt hatte, am liebsten Krimis von Frédérique Audoin-Rouzeau alias Fred Vergas las, einer Autorin nach ihrem Geschmack: unkonventionell, fantasiereich und unglaublich intelligent. Mit einem Buch von ihr konnte sie stundenlang auf der Couch zubringen. Ich vermutete, dass sie auch hier im Wohnzimmer, auf der Couch gesessen und gelesen hatte. Gelesen, gelesen, gelesen – das ganze Wochenende hindurch, bis es zu dunkel wurde und sie das Licht hatte anmachen müssen. Oder hatte sie sich vielleicht den Kamin angezündet? Vielleicht? Das Bücherregal an der Wand gleich neben der Tür hatte sicher einst vielen Büchern Platz geboten. Doch außer einigen Klassik-CDs, die da fast wahllos herumlagen, war es nun leer. Wer mochte ihre Bücher an sich genommen haben? Oder erlag ich einem Irrtum? War meine Mutter seit ihrer Jugend nie wieder hier gewesen? Aber dafür war das Haus in einem zu ordentlichen Zustand. Ich sah mich weiter um in diesem Wohnzimmer. Einen Fernseher gab es hier nicht. Wie auch? Meine Mutter mochte diese Flimmerkiste, wie sie es nannte, nicht. Dafür stand ein Radio auf einer Kommode und ich überlegte kurz, ob ich es sich anmachen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Auch verzichtete ich darauf, mir eine der Klassik-CDs einzulegen. Stattdessen setzte ich mich auf die Couch vor den Kamin, schloss die Augen und spürte, wie müde ich doch war. Klar, die Nacht zuvor hatte ich nicht geschlafen. Und ob ich es wagen konnte, diese Nacht ein Auge zuzutun? Konnte ich diesem Revier tatsächlich trauen? Einen Moment lang lauschte ich in die Stille hinein, dann nickte ich. Ich musste einfach, es blieb mir keine andere Wahl, denn noch so eine Nacht – nein. Ich würde meinen Baseball-Schläger wieder mit ins Bett nehmen und beim kleinsten Geräusch … es würde eine herrliche Nacht werden! Aber was nützte es, mir darüber Gedanken zu machen? Ich hatte anderes zu tun! Ich war mitten im Semester hierher gefahren: die Prüfungen standen noch bevor und ich musste lernen. Besser: mich irgendwie dazu bringen. Denn bereits in Paris hatte ich gespürt, wie ich in meinen Leistungen nachgelassen hatte. Also schlug ich mit der flachen Hand auf die Couchlehne, gab mir einen Ruck, erhob mich und holte mir mein Lehrbuch über Muskelverletzungen. Nicht mein Thema, wohl aber das des Professor, der mich prüfen würde. Doch statt es aufzuschlagen, fragte ich mich, wie so oft in letzter Zeit, warum ich dem Weg meiner Mutter gefolgt war und nicht meinen Interessen? Warum Medizin, dieses Fach, das mich im Grunde nur langweilte und mir, wie ich zugeben musste, auch schwerfiel? Wieder schloss ich die Augen, spürte das Buch auf meinen Knien – es war dick und schwer. Ich wollte nicht daraus lernen. Viel angenehmer war es da, mich neuerlich der Stille hinzugeben. Einfach in sie hineinzulauschen. Schon als Kind hatte ich gern so dagesessen. Und mein Vater hatte dann immer gesagt: „Hörst du wieder den Atomen beim Atmen zu?“ Und ich daraufhin: „Nein, ich gehe die Spielzüge für das nächste Baseball-Spiel durch …“ Mein Vater hatte gegrinst. Seine Art war es nicht, so ruhig dazusitzen. Er hatte immer Hummeln im Hinter.
 

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, denn tatsächlich spürte ich die Müdigkeit sehr heftig und ich befürchtete, dem Drang nicht länger standhalten zu können und mich hier auf dieser Couch hinzulegen. Doch wenn ich das täte, würde ich sofort einschlafen. Und was, wenn ich in der Nacht von einem Geräusch geweckt würde und dieser Revier plötzlich vor mir stünde? Wo war dann mein Baseball-Schläger? Ich öffnete die Augen, sprang auf und sah mich im Raum um, fand ihn aber nicht. Verdammt! So etwas durfte mir nicht wieder passieren! Ich hatte ihn immer bei mir zu haben und auf alles vorbereitet zu sein. Zumal ich – und das fiel mir erst jetzt ein – keinen Schlosser kontaktiert hatte. Verdammt nochmal! Das Haus war ungesichert und ich hockte hier herum und erging mich in Träumereien. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ich ging in die Küche: dort lag der Schläger noch auf dem Esstisch. Ich nahm ihn an mich und holte tief Luft. Niemals mehr durfte ich ohne ihn sein! Das hatte mir mein Vater gesagt. Er hatte Recht!
 

Ich versuchte mich zu beruhigen, was mir diesmal nicht gelang. Ich konnte nicht einfach hier stehenbleiben und den Ärger wegatmen. Also schulterte ich meinen Schläger, trat auf den Flur hinaus und öffnete die Haustür. Sofort schlug mir die eiskalte Luft entgegen und ließ mich frösteln, doch ich zwang mich, einen Schritt hinaus zu tun und dann noch einen. Ich hörte den Schnee unter meinen Hausschuhen knirschen. Dann stellte ich mich in Positur, so wie ich es einst vom Trainer gelernt hatte, schloss kurz die Augen und spannte meinen Körper an: da war es wieder, unser Spielfeld auf dem Sportgelände der Highschool … Ich mit dem Schläger in den Händen, den Pitcher genau fixierend. Ich kannte den Typen: er hieß Ronald, war so alt wie ich, und richtig gut. Er hatte die Gabe, die Bälle so zu werfen, dass die Flugbahn nicht gleich ersichtlich wurde. Und sein letzter Wurf war entscheidend. Er wusste das, ich wusste das. Wir beide sahen uns über eine Entfernung von 18 Metern genau ins Auge, während ich den Pitcher in meinem Rücken wusste, der Ronald Zeichen hab, wie er den Ball zu werfen hatte. Ich sah, wie er ansetze. Und ich spannte meinen Körper an und spürte das Holz in meinen Händen. Dann holte er aus und der Ball war in der Luft. „Home Run“, schoss es mir durch den Kopf. Ich musste einen Home Run schaffen! Alles andere zählte nicht!
 

„Jetzt“, rief ich und ließ den Schläger so wie damals niedersausen und so wie damals meinte ich auch jetzt die Wucht zu spüren, mit der das Holz den Ball traf. Und allein aufgrund dieser Kraft wusste ich, dass der Ball weit, weit ins Feld fliegen würde. Unerreichbar für die gegnerischen Spieler. Es war tatsächlich ein Home Run. Ich hatte es geschafft, aber ich wusste auch, dass es diesmal reiner Zufall war, den Ball getroffen zu haben. Genauso gut hätte ich bei meinem letzten Spiel danebenhauen können und wir hätten verloren. Denn dieses eine Mal hatte ich meine Augen kurz vorm Schlag geschlossen. Warum, das wusste ich bis heute nicht. Wollte ich ausprobieren, ob ich auch blind schlagen könne? Dann wäre ich ziemlich übermütig gewesen.
 

Wieder ließ ich den Schläger der die Luft sausen, wieder und wieder, solange, bis mein Herz zu rasen begann und ich mich die kalte Luft der Kehle schmerzte. Erst dann hockte ich mich hin und nahm etwas Schnee auf und drückte ihn mir ins Gesicht. Ich spürte die eisige Kälte. Es schüttelte mich. Dennoch lehnte ich meinen Schläger an die Hauswand, griff mit beiden Händen in den pulvrigen Schnee und formte ich einen Schneeball. Dann richtete ich mich auf. Zwar war ich kein Pitcher, aber ich liebte den Bewegungsablauf. Diese Eleganz beim Werfen – Ronald hatte die besonders gut zeigen können. Ich weiß nicht, was das zwischen uns gewesen war. Aber immer, wenn wir uns in den Spielen gegenüber gestanden hatten … Na ja, er war vielleicht der einzige gewesen, mit dem ich mir ein Gespräch hätte vorstellen können. Nun war er bei den LA Dodgers tatsächlich Pitcher geworden. Und wieder formte ich einen Ball und warf ihn in die Dunkelheit hinein. Vielleicht hätte ich Ronald einmal bitten sollen, mir zu zeigen, wie er es anstellte, dass seine Bälle immer unberechenbar kamen? Vielleicht. Und vielleicht hätte er es mir tatsächlich gezeigt? Fakt war – und ich formte noch einen Ball –, dass ich ihn in unserem allerletzten Spiel besiegt hatte, auch wenn nur durch Zufall. Nun, vielleicht hatte ich ihn auch einfach provozieren wollen, indem ich ihm zeigte, wie sehr ich seine Tricks durchschauen konnte?
 

Als ich da jetzt so stand, vor dem Haus meiner Mutter, und mit Schnee in den Händen kam mir all das so seltsam und fremd vor und doch wünschte ich mir, endlich wieder auf einem Spielfeld zu stehen. Ich würde mir, sobald ich wieder in Paris war, eine Mannschaft suchen.



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