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Havoc

Die Rückkehr der Digimon
von

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Kapitel 2: Helpless

Helpless

Englisch, Adjektiv

1. Hilflos

2. Ratlos
 


 

Leises Flüstern drang durch den Raum, gefolgt von verschiedenen Schritten, die in den Gängen auf und ab liefen. Mavis trat ein Stück zur Seite, als eine Gruppe Kinder sich an ihr vorbei drängelte, um das Regal mit den Hörbüchern genauer bestaunen zu können.

Sie selbst sollte eigentlich im hinteren Teil der Bibliothek sein und sich ein paar wissenschaftliche Fachbücher zum Thema Märchen und Märchenentwicklung suchen.

Mit ihren 17 Jahren kamen nun langsam ihre letzten Schuljahre auf sie zu. Eigentlich wurde sie zuhause unterrichtet, aber die Abschlussprüfungen waren kantonal festgelegt, weswegen sie dieselben Prüfungen ablegen musste wie alle anderen auch. Ihr Privatlehrer hatte ihr deshalb geraten sich mit verschiedenen Textsorten auseinanderzusetzen, um eine geeignete Analyse schreiben zu können. Ihr erster Versuch war eine Dramenanalyse gewesen, die Herrn Steiner zwar gefallen hatte, jedoch noch verbesserungsfähig war. Diesmal wollte sie sich einem Erzähltext widmen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass in ihrer Abschlussprüfung ein Märchen drankommen würde, doch da gewann wohl ihr Interesse die Überhand.

Den groben Aufbau hatte sie bereits. Ihr Thema war die Entwicklung von Märchen und Märchengestalten im Laufe der Jahrhunderte. Alte Fabelwesen und Grimms Märchen hatte sie bereits zusammengefasst; nun wollte sie sich einem modernen Phänomen widmen: Den Digimon.

Das Thema interessierte nicht viele Menschen. Die meisten hatten die Ereignisse von 2002 längst vergessen oder dachten nicht weiter darüber nach. Alles in allem war es nur eine Promoaktion für ein Videospiel gewesen, das im Nachhinein nie erschienen war. Die Bevölkerung hatte die kämpfenden Monster in den Straßen definitiv nicht so gut aufgenommen, wie die Firma es gerne gehabt hätte. Für Mavis jedoch waren die Digimon mehr als eine verworfene Idee eines Spieleentwicklers. Seit sie klein war hatten die Digimon sie fasziniert und sie hatte stets aufmerksam gelauscht, wenn ihre Mutter ihr eine Geschichte über sie erzählte. Und wie so viele Märchen hatten die Digimon sie augenblicklich in ihren Bann gezogen.

Dieser Zauber war es, der sie davon überzeugte, dass sie die Digimon in ihrer Arbeit zumindest erwähnen musste. Doch in all den Regalen gab es nirgends ein einziges Buch über diese eigenartigen Wesen. Zumindest keins, das sie gebrauchen könnte. Wenn sie irgendwelche Theorien oder Argumentationen lesen wollte, warum genau die Digimon nie existiert hatten und welche Techniken Bandei damals angewendet hatte, hätte sie ganze Lastwägen voller Bücher mit nach Hause nehmen können.

Wegen diesem Computervirus, der seit neustem in der Digiwelt sein Unwesen trieb, konnte sie das digitale Suchsystem der Bücherei nicht nutzen und schlenderte nun durch das Regal für Kinder- und Jugendliteratur. Wenn die Digimon-Märchen hier nicht waren, wusste sie auch nicht mehr weiter…
 

Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie enttäuscht fest, dass sie allmählich los musste. Um sechs musste sie in der Arbeit sein und sie wollte vorher nochmal kurz zuhause vorbeischauen…
 

Doch gerade als sie ihr Handy auspackte, um ihrem Chauffeur Bescheid zu geben, fiel ein staubiges, dickes Buch in ihr Blickfeld. Der Einband war ein wenig zerfetzt und wirkte abgenutzt, trotzdem weckte es Mavis‘ Neugier.

Ein paar Minuten würden schon nicht schaden…

Vorsichtig entstaubte sie das Buch und nahm es aus dem Regal, um es sich näher anzusehen. Es war ein dicker Wälzer mit dünnen Seiten und schmaler Schrift. Doch der Einband zauberte ein kleines Lächeln auf ihre Lippen.

„Fabelhafte Digiwelt“ von „Takeru Takaishi“. Darunter fand sie eine niedliche Zeichnung von mehreren Kindern und einem bunten Haufen kleiner Wesen, darunter einem kleinen, gelben Dinosaurier, der sofort ihr Herz gewann. Mavis kannte die meisten ihrer Namen von alten Geschichten, aber weil sie sich schon immer mehr für die etwas düsteren Wesen unter ihnen interessiert hatte, konnte sie nicht alle identifizieren. Ihr Lächeln wurde jedoch nur breiter, als sie das liebevoll gestaltete Kinderbuch öffnete und feststellte, dass es sich tatsächlich um eine einfache Geschichte handelte. Keine Analysen. Kein wissenschaftlicher Schnickschnack. Einfach nur etwas zum Lesen. Perfekt!
 

Mit eiligen Schritten lief sie zur Rezeption am Eingang und gab einen Leihauftrag ab. So viele Bibliothekare hatte sie schon lange nicht mehr auf einen Haufen gesehen. Normalerweise konnte man die Bücher selbstständig an einem Automaten ausleihen, aber wegen dem Virus spielte der zurzeit verrückt.

Mavis überreichte der Frau am Schalter ihren Ausweis.

„Ungültig“, piepte eine mechanische Stimme, als die Karte durch einen Scanner gezogen wurde, „Ausweis abgelehnt.“

Die Bibliothekarin seufzte. „Die Technik, was?“, sagte sie, an Mavis gewandt, und schüttelte mit einem Augenrollen den Kopf. Mavis war schon so oft hier gewesen, dass man sie mittlerweile kannte. „Keine Sorge, Kindchen. Das regeln wir auf die altmodische Art“, die Dame zwinkerte ihr zu und zog einen uralten Stempel hervor.

„Vielen lieben Dank“, sagte Mavis fröhlich, nahm das Buch entgegen und verließ die Bibliothek.
 

An der Straße wartete bereits Thomas, ihr Chauffeur, auf sie. Er war ein Mann Mitte dreißig, der nun schon seit einigen Jahren für ihre Familie arbeitete. Auf seinem kantigen Gesicht erschien ein freundliches Lächeln, als er Mavis näherkommen sah.

„Hast du alles gefunden, was du brauchst?“, fragte er sie und öffnete die Beifahrertür.

„Ja, habe ich“, bestätigte Mavis gut gelaunt und setzte sich.

Thomas begann auf dem Heimweg ein gelassenes Gespräch mit ihr, behielt die Straße aber im Blickfeld. Seit es die Digiwelt gab konnten Autos zwar problemlos ohne Fahrer auskommen, aber im Gegensatz zu Bussen konnten sie noch nicht feststellen, wenn etwas nicht passte. Sollte ihnen beispielsweise ein Kind vors Auto laufen, würde ein Bus sofort automatisch bremsen, im Auto würde Thomas eingreifen müssen.

Thomas wirkte auf den ersten Blick nicht so, als würde er seinen Job sonderlich ernst nehmen. Im Grunde machte er ständig Witze darüber und beschwerte sich künstlich über Genesis, weil sie immer noch kein Update für die Autos herausgebracht hatten. Mavis wusste allerdings, dass er gut aufpasste. Er hatte mehrfach bewiesen, dass er diesen Job nicht auf die leichte Schulter nahm, wie er so gern behauptete.
 

Sie erreichten ihr Haus und Mavis beeilte sich, um in ihr Zimmer zu kommen. Sie hatte eigentlich noch relativ viel Zeit, aber es war ihr lieber schnell fertig zu werden, damit sie sich nachher nicht zu hetzen brauchte.

Auf dem Weg begegnete sie Mirella, dem Hausmädchen, die ihr zuwinkte, ehe sie den Putzrobotern ihre nächste Aufgabe zuteilte.

„In der Küche stehen ein paar Muffins“, rief sie noch, bevor Mavis in ihrem Zimmer verschwand.

„Danke!“

Im Zimmer angekommen steuerte sie direkt ihren Schreibtisch an, wo sie ihre Arbeitsuniform und ihre Tasche bereits zur Seite gelegt hatte.

Sie war gerade dabei sich die Bluse zurecht zu zupfen, als es an der Tür klopfte.

„Herein!“, rief sie geistesabwesend und zog einen Kamm und ein Haargummi hervor, weil sie auf der Arbeit nicht mit offenen Haaren erscheinen durfte – obwohl sie schon recht kurze Haare hatte.

Die Tür öffnete sich nur sehr langsam. Mavis entdeckte im Spiegel eine zierliche Hand, die einen Reifen durch die Tür quetschte und ließ Haare Haare sein, um ihrer Schwester zu helfen.

„Dankeschön“, sagte Lidoway, während sie in ihr Zimmer kam – mit einem Teller Muffins auf dem Schoß.

Mavis schüttelte den Kopf und schloss die Tür hinter ihnen, ehe sie sich wieder ihren Haaren widmete.

„Hast du dich wieder ein bisschen in den Büchern verloren?“, lachte Lidoway mit einem Blick auf die Uhr. Mavis schürzte verlegen die Lippen. „Ein klein wenig…“

„Stress dich nicht so, du hast noch Zeit“, erwiderte ihre Schwester und fuhr an ihre Seite, um ihr mit den Rock zu helfen, der sich ein wenig verheddert hatte. Mavis sah prüfend auf ihre Armbanduhr. Es war gerade mal halb sechs. Sie hatte also noch gut eine halbe Stunde, um im Café zu erscheinen und mit dem Auto war sie in etwa zehn Minuten dort.

Sie atmete erleichtert durch. Ihr Chef mochte es nicht, wenn sie zu spät kam – was nie geschah, weil Mavis Unpünktlichkeit selbst nicht leiden konnte. Aber sie hatte oft genug gesehen wie er ein paar von ihren Kollegen deswegen heruntergeputzt hatte und sie war nicht wirklich versessen darauf es am eigenen Leib erfahren zu dürfen.
 

„Du bist du so hübsch“, meinte Lidoway sehnsüchtig, als Mavis die kleinen Fransen ihrer Haare zu einem Zöpfchen gebunden hatte. Augenblicklich lief sie rosa an.

„Quatsch“, erwiderte Mavis und verdeckte demonstrativ ihre großen Ohren, für die sie sich schon so oft geschämt hatte.

„Oh doch!“, beharrte ihre Schwester und zupfte noch ein bissen an ihrer Uniform, bis sie richtig saß. Sie lächelte vergnügt.

Zögerlich warf Mavis einen Blick in den Spiegel.

Vor sich sah sie eine junge Frau mit recht durchschnittlicher Figur und einem runden Gesicht, das von mausgrauem Haar umrahmt wurde. Die Strähnen vorne waren lang, der relativ kurze Rest war zu einem stummeligen kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein Paar hellblauer Augen sahen sie zweifelnd an, wohingegen ein dunkelblaues Paar ihr freundlich zulächelte.

Lidoway war eine wahre Schönheit mit ihrem langen braunen Haar, dem spitzen Gesicht und ihrer niedlichen Stupsnase. Doch seit dem Unfall vor zehn Jahren hatte sie all ihr Selbstvertrauen verloren. Vielleicht würde sie etwas anderes sagen, wenn sie nicht im Rollstuhl sitzen und zu ihrer kleinen Schwester hinaufschauen müsste. Sie wäre mit Sicherheit größer als Mavis. Außerdem waren ihre Ohren klein und niedlich…

„Mach dir um mich keine Sorgen“, sagte Lidoway dann, weil sie die Sorge in Mavis‘ Augen sofort entdecken konnte und schloss ihre Schwester in die Arme, „Mir geht es gut. Du musst jetzt aber los, sonst kommst du wirklich noch zu spät.“

Mavis nickte, umarmte Lidoway zum Abschluss jedoch nochmal so fest sie konnte.

„Ich hab dich lieb…“

Und mit diesen Worten schnappte sie sich ihre Tasche, winkte ihrer Schwester zum Abschied und verschwand durch die Tür.
 

Thomas brachte sie noch bis zum Café und fuhr dann schließlich weiter.

Kurz bevor Mavis jedoch die Tür öffnete, ging ihr Handy los und verdutzt holte sie es aus ihrer Tasche. Sie hatte eine Nachricht bekommen.

Es war ein eigenartiger Zahlencode. Eine seltsame Folge von lauter Einsen und Zweien, die in ihren Augen absolut keinen Sinn machte. Es war eine Bilddatei angehängt, aber sie kannte diese Strategie von Hackern, Viren auf ein Telefon zu laden und deshalb entschied sie sich die Nachricht zu ignorieren. Während HAVOC sein Unwesen trieb war es klüger, keine Risiken einzugehen. In ein paar Tagen würden die Profis das Problem schon wieder in den Griff bekommen.

Sie schaltete das Handy auf lautlos und betrat das Café.

Eine kleine Glocke schellte kurz, doch es war niemand da. Im ganzen Raum war es dunkel. Und das obwohl das Licht für gewöhnlich automatisch bei jeder Bewegung anging…

Mavis hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend, aber sie ging trotzdem weiter in das Café und sah sich um. Die Tür wäre ja abgesperrt gewesen, wenn das Café geschlossen hätte. Außerdem hätte der Chef ihr sicher Bescheid gegeben…

Vielleicht gab es ein Problem mit dem Strom und alle waren gerade unten oder in der Küche und überlegten, wie sie es wieder lösen konnten.

„Hallo?“, fragte sie laut, „Melanie? Leander? Matteo?“

Sie sah hinter der Theke und in der Küche nach, aber nirgends war auch nur eine Menschenseele zu finden. Selbst die Roboter, die in der Küche und am Empfang arbeiteten waren abgeschaltet und reagierten auch nicht, wenn Mavis versuchte sie wieder einzuschalten. Matteo, der Besitzer des Cafés, hätte ihr doch sicher eine Nachricht geschickt, wenn etwas vorgefallen wäre… Zumindest Melanie hätte sich bei ihr gemeldet.
 

Mavis schluckte. Sie mochte es gar nicht allein zu sein. Ständig hatte sie das Gefühl hinter der Wand könnte jemand lauern und ihr etwas antun. Ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihren Brustkorb und eine eiskalte Gänsehaut lief ihren Rücken hinab.

Sie holte ihr Handy heraus. Am besten rief sie Matte einfach an. Der konnte ihr bestimmt sagen, was hier vor sich ging.

Mit zitternden Händen wählte sie seinen Namen bei den Kontakten aus und hielt den Hörer an ihr Ohr.

Es tutete einmal, zweimal… doch plötzlich ertönte ein Rauschen, ein Störgeräusch, wie man es von alten Radios gewöhnt war, die nicht länger funktionierten. Verwirrt nahm sie das Handy von ihrem Ohr und stellte schockiert fest, dass ihr Bildschirm komplett weiß geworden war. Nur vereinzelt konnte sie ein paar schwarze Symbole erkennen, die jedoch nicht so aussahen, als würden sie irgendetwas bedeuten.

Mavis schluckte noch einmal und begann panisch irgendwelche Tasten zu drücken, in der Hoffnung das Bild würde verschwinden und sie konnte wieder ganz normal telefonieren, doch nichts geschah.

War das wegen der seltsamen Nachricht? Dabei hatte sie das Bild doch gar nicht heruntergeladen. Sie hatte eine enorm hohe Privatsphäre-Einstellungen in der Digiwelt, es konnte also niemand einfach so mir nichts dir nichts auf ihren Account zugreifen. Wie also hatte sich dieser Fehler eingeschlichen?

Sie hielt das Rauschen nicht länger aus, also öffnete sie ihr Smartphone und nahm den Akku heraus, bevor Schlimmeres geschah.

Mit klopfendem Herzen verließ sie das Café. Um sechs Uhr abends war es zum Glück noch nicht dunkel und überall waren Leute, doch trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte.

Sie würde sich einfach ein Taxi nehmen und nach Hause fahren. Morgen würde sie das mit Matteo klären. Vielleicht hatte er einfach vergessen ihr zu sagen, dass er sich heute einen Tag frei nahm. Und ihr Handy hatte vielleicht einfach nur einen Kurzschluss gehabt. Sie hatte es vorhin erst zum Laden angesteckt und ein Glas Wasser stand daneben, vielleicht hatte jemand etwas draufgeschüttet. Genau. Ein Kurzschluss.

Mavis wusste genau, dass sie nur versuchte sich etwas einzureden, aber trotzdem beruhigten diese Gedanken sie ein wenig. Schon nach ein paar Minuten lief sie ganz normal neben den anderen Leuten auf dem Gehweg und erreichte schließlich den Taxi-Parkplatz.

Seit 2034 hatte man überall in der Stadt solche Parkplätze gebaut, da Taxis durch die Digiwelt ganz anders funktionierten. Sie hatten keine Fahrer mehr, stattdessen saß man selbst am Steuer und gab für eine bestimmte Geldsumme sein Ziel ein. Während der Fahrt musste man selbst nichts tun, konnte jedoch die Notbremse ziehen, wenn wider Erwartens ein Unfall passierte oder man sich vertippt hatte. Obwohl man sich so um seine eigenen Angelegenheiten kümmern konnte, wurde man jedoch von der Polizei angehalten, wenn man nicht beide Augen auf der Straße hatte. Im Gegensatz zu den Autos reagierten die meisten Taxis zwar bereits auf Komplikationen, aber es war sicherer für alle Beteiligten, wenn der Fahrer selbst noch etwas Macht über das Auto hatte. Das Programm für Busse war anscheinend deutlich präziser.

Sobald sie die Tür des Taxis geschlossen hatte und sich in den weichen Sessel fallen ließ, atmete sie erleichtert aus. Es war doch überhaupt nichts passiert. Sie hatte sich mal wieder umsonst so aufgeregt.

Unwirsch fuhr sie sich durch die Haare und kramte schließlich in ihrem Geldbeutel nach einem 20€ Schein. Das Auto akzeptierte ihr Geld und somit konnte sie ihre Adresse eintippen. Kurz darauf ging das Lämpchen für die Türöffnung aus, da sich die automatische Abriegelung aktivierte – es hatte tatsächlich schon Fälle gegeben, in denen Leute während der Fahrt die Tür geöffnet hatten. Der Motor begann zu brummen und das Taxi setzte sich in Bewegung.

Mavis atmete erleichtert durch und entschied sich, ihr Buch hervorzuholen, während das Auto sie nach Hause brachte. Sie warf noch einen letzten Blick auf die Straße und widmete sich der Geschichte, als ihr etwas auffiel.

Hätten sie an dieser Kreuzung nicht gerade links abbiegen müssen?

Stirnrunzelnd beugte sie sich über das Navigationssystem. Die Adresse war richtig, die Route, die das Taxi berechnet hatte, war jedoch völlig sinnlos und endete schließlich mitten auf einer Landstraße. „Wie seltsam“, murmelte Mavis. Heute war wohl der Tag der kaputten Elektronik.

Sie betätigte die Notbremse und schaltete das Warnblinklicht ein, damit der Autofahrer hinter ihr wusste, dass sie gleich zum Stehen kommen würde.

Doch nichts geschah…

Erneut legte sie den Schalter für die Notbremse um, diesmal ein wenig fester, doch auch diesmal tat sich absolut nichts.

„Hey!“, schrie sie das Auto an, in der Hoffnung es würde auf Geräusche reagieren, und versuchte während der Fahrt die Adresse zu ändern, „Falsche Richtung!“

Das Taxi ignorierte sie und fuhr einfach weiter, als ob nichts geschehen wäre.

Angst kroch in jede noch so kleine Zelle ihres Körpers und Mavis spürte, wie die Tränen ihr in die Augen stiegen. „Komm schon“, jammerte sie, probierte mehrere Knöpfe aus und betätigte mehrfach die Bremse.

Als alles nichts half, zog sie ein weiteres Mal ihr Handy zur Hand und legte den Akku wieder ein, doch direkt nachdem sie den Pin eingegeben hatte, wurde der Bildschirm wieder weiß.

Inmitten des Bildschirms erkannte sie diesmal jedoch eine Art Hand, eine Klaue, die nach ihr zu greifen schien. Völlig verstört warf sie das Handy auf den Boden und versuchte sich auf das Auto zu konzentrieren. Sie machte doch zurzeit ihren Führerschein. Vielleicht konnte sie die automatische Steuerung irgendwie abschalten und selbst fahren.

Noch nie in ihrem Leben hatte Mavis den technischen Fortschritt so sehr verflucht wie heute.
 

Irgendwann gab sie auf und lehnte sich in den Sitz zurück. Unruhig kaute sie auf ihrer Lippe, während sie gedanklich damit beschäftigt war nicht zu weinen. Sie konnte die Adresse ändern, wenn das Auto zum Stilstand kam. Derselbe Fehler würde schließlich nicht noch einmal passieren – und selbst wenn. Dann würde sie wenigstens in einer Stadt landen und nicht mitten im Nirgendwo.

Das war der einzige Gedanke, der sie davon abhielt, komplett durchzudrehen. Sie hatte noch Geld dabei, denn anders als die meisten Leute, hatte sie zur Not immer ein bisschen Bargeld in der Tasche. Sie konnte die Adresse einfach neu eingeben und nach Hause fahren…

Es war dunkel, als das Auto endlich zum Stehen kam. Mavis wollte nicht aussteigen, sondern schob direkt ihre 40€ in den Geldschlitz. Die Maschine surrte unruhig, glättete die Scheine wieder und wieder und spuckte sie schließlich mit einer Art Knurren aus. Mavis presste die Lippen zusammen. Sie versuchte es nochmal. Und dann nochmal. Mit einem anderen Schein, dann nachdem sie ihn nochmal glatt gestrichen hatte. Sie benutzte ihre Bankkarte, doch auch die wurde jedes Mal ausgeworfen. Angeblich, weil sie ungültig war.

Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Mavis raufte sich die Haare. Ihre Lippe hatte sie mittlerweile schon blutig gebissen und heiße Tränen schlichen sich aus ihren Augenwinkeln.

Was sollte sie denn jetzt tun? Sie war irgendwo in der Pampa gelandet. Mitten auf einer von den Landstraßen, auf denen sowieso nie einer fuhr. Die Schweiz hatte mehr als genug davon… Sie konnte sonst wo sein!

Sie stieg schließlich recht widerwillig aus. Es hatte keinen Sinn mehr in dem kaputten Auto zu bleiben. Irgendwie musste sie ja nach Hause kommen. Sollte sie per Anhalter fahren?

Allzu weit von Bürglen waren sie noch nicht entfernt. Tatsächlich kam ihr die Strecke sogar ein wenig bekannt vor und würde vielleicht zu Fuß zurück nach Hause finden, aber die Dunkelheit und die Einsamkeit machte sie psychisch komplett fertig. Sie wusste nicht, ob sie das schaffen konnte…

„Okay, Mavis“, versuchte sie sich selbst Mut zuzusprechen und wischte sich die Tränen aus den Augen, „Du schaffst das…“

Sie musste es zumindest versuchen.

Mit zitternden Knien machte sie sich langsam auf den Weg, jedoch nicht ohne das stetige Gefühl von Angst in ihrer Brust. Was, wenn das alles geplant war? Wenn jemand sie hierher locken wollte, wo niemand sehen konnte, wie sie überfallen wurde. Schließlich hatte ihre Familie viel Geld… Oh Gott, was wenn sie gekidnappt wurde? Hinter jedem Busch könnte gleich der Täter hervorspringen und sie mitschleppen. Jedes Auto könnte plötzlich anhalten, sie hineinzerren und weiterfahren.

„Ganz ruhig, Mavis“, flüsterte sie und versuchte die Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie würde das schaffen. Es war gar nicht weit bis nach Hause…
 

Sie hatte eine gute Strecke hinter sich gelassen und konnte schon den Kirchturm sehen, als ein weiteres Auto über die Landstraße fuhr, neben ihr jedoch allmählich langsamer wurde.

Mavis, die nur das Geräusch des Motors hinter sich hörte, spürte, wie ihr Herz für einen Moment aussetze. Es war soweit… Da war tatsächlich jemand, der wegen ihr hier anhielt. Würden sie gleich schießen? Waren sie überhaupt bewaffnet?

Vielleicht konnte sie noch entkommen…

Ohne sich umzudrehen nahm sie die Beine in die Hand und begann zu rennen. Ihre Ausdauer war zwar eine absolute Katastrophe, weil sie kaum Sport machte, aber jetzt durfte sie nicht schlapp machen. Sie musste rennen, einfach weg. Zurück nach Hause!

„Warte, bitte!“, rief eine Stimme hinter ihr, doch Mavis dachte überhaupt nicht daran zu warten. Sie spürte ein Ziehen in ihren Beinen und ein Brennen in ihrer Lunge, weil sie kaum noch Luft bekam. Das Auto setzte sich wieder in Bewegung und hatte sie bald eingeholt. Wie hatte sie denn auch glauben können, schneller als ein Auto zu sein?

Doch ohne weiter zu Zögern lief sie weg von der Straße, in die Büsche am Wegesrand und lief über die Wiesen und Felder. Die Gegend hier war hügelig und machte es somit unmöglich, dass man sie mit dem Auto verfolgen konnte. Sie musste nur schnell genug sein… Am Horizont sah sie einen Fluss. Das musste die Reuss sein! Perfekt! Jetzt wusste sie ganz genau, wo sie war!

Mavis versuchte die letzten Meter noch einmal ihre letzten Kräfte aus sich heraus zu holen. Wenn sie den Fluss erreicht hatte, könnte sie diese Leute bestimmt ganz einfach abhängen!

Sie spürte wie ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde, Seitenstechen machte sich bemerkbar, aber sie konnte jetzt nicht aufgeben.

Dann ging alles ganz schnell.

Da war ein Felsen. Ein dummer, alter Felsen, den sie nicht rechtzeitig gesehen hatte. Sie stolperte.

Der Länge nach fiel sie auf den Boden und blieb für einen kurzen Moment liegen. Mavis war wie gelähmt. Das wars. Bis sie aufgestanden und losgerannt war, hatten diese Leute sie erreicht. Sie war am Ende.
 

„Ganz ruhig“, eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter und sie spürte, wie sich jemand über sie beugte. „Wir tun dir nichts. Geht es dir gut?“

Mavis richtete sich vorsichtig auf. Sie traute diesen Leuten zwar immer noch nicht, aber es hatte keinen Sinn auf dem Boden rumzuliegen…

Ein Mann in einem schwarzen Anzug war neben ihr in die Hocke gegangen und half ihr hoch – soweit sie es zuließ.

Eine blonde Frau, ebenso gekleidet, trat zu ihnen. Sie schenkte Mavis ein entschuldigendes Lächeln.

„Wir wollten disch nischt erschrecken“, sagte sie in einem sehr gebrochenen Deutsch.

Mavis wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Ihr Herz klopfte ihr immer noch bis zum Hals…

„Wer seid ihr?“, fragte sie leise, „Was wollt ihr von mir?“

„Hier“, die Frau reichte ihr ein Taschentuch, „Wir sind hier, um su helfen.“

„Wir haben einen Notruf von der Zentrale erhalten und gehen der Sache deswegen auf den Grund“, erklärte der Mann mit den freundlichen grünen Augen und holte einen Ausweis aus seiner Jackentasche, „Lucas Brenner. Ich bin der Sicherheitschef von Genesis Europa.“

Genesis Europa… Ein riesiger Stein fiel Mavis vom Herzen, sie nahm das Taschentuch dankend an und schniefte noch einmal. Genesis war die Firma, die die Digiwelt erschaffen hatte. Vielleicht hatte einer der Knöpfe im Taxi ja ein Warnsignal an die Firma gesendet…

„Seit etwa einer Woche hat die Digiwelt angefangen Daten zu löschen. Bisher hat sich das hier bei uns auf Fahrpläne und vielleicht das Telefon beschränkt, aber seit heute Morgen spielt auch bei uns die komplette Elektronik verrückt. Wir haben Nachrichten an alle Firmen und Einzelpersonen geschickt, damit die Leute gewarnt sind“, erzählte Herr Brenner, „Leider war der Besitzer dieser Taxis wohl nicht schnell genug.“ Er nickte mit dem Kopf nach hinten, wo sich irgendwo noch das gelbe Auto befinden musste, das sie überhaupt erst in diesen Schlamassel gebracht hatte.

„Das hier drüben ist Hazel Abbot“, stellte er die blonde Dame vor, „Sie ist extra aus Amerika hier angereist, weil sie dort ein seltsames Phänomen beobachten konnten. Du bist doch Mavis Werlen, oder?“

Sie nickte, ganz wohl fühlte sie sich dabei aber nicht.

Ihr Blick richtete sich auf die blonde Frau neben ihr, die nun ein Tablet aus ihrer Tasche holte.

„Seit kursem beginnt der Virus sogar die Daten von Menschen su löschen“, erklärte Mrs Abbot, „Der erste war ein Junge aus Amerika. Seit gestern hat sich das aber auf den gansen Globus ausgeweitet. Leider sind deine Daten ebenfalls betroffen…“

„Meine Daten?“, wiederholte Mavis verwirrt, „Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, dass die Digiwelt alles gelöscht hat, was mit Ihrer Person zu tun hat“, sagte Herr Brenner, „Kreditkarten, Zeugnisse, Ausweise, Bescheinigungen. Selbst Profile auf sozialen Netzwerken oder der Browserverlauf bei Suchmaschinen.“

„Für den Staat existierst du offisiell nischt mehr“, fügte Mrs Abbot hinzu.

Mavis runzelte die Stirn. Das konnten die doch nicht ernst meinen. Sie existierte nicht mehr? Was war das denn für ein Fehler, der das Leben einer Person komplett… löschen konnte?

„Das kann nicht sein“, sagte sie und schüttelte den Kopf, „Nein, ich war doch heute Morgen erst einkaufen und in der Bibliothek und…“

„Wir haben Ihren Vater bereits über das Problem aufgeklärt“, sagte Herr Brenner, „Nachdem wir Sie gefunden haben, hat Mrs Abbot ihn sofort angerufen. Er sollte in ein paar Minuten hier sein.“

Mavis nickte. Ihr Vater würde sie holen kommen. Das war gut, denn obwohl die beiden ihr ihre Marken gezeigt hatten, würde sie nicht einfach so in ihr Auto steigen.

Diese ganze Geschichte war völlig absurd. Vielleicht war das ja nur ein schlechter Witz… Es konnte einfach nicht stimmen.

Die beiden Erwachsenen erklärten ihr noch für einen Moment, worum es ging und welche Auswirkungen das jetzt für sie hatte, aber Mavis hörte nur noch mit einem Ohr zu. Im Moment wollte sie einfach nur nach Hause. Sie wollte einfach nur, dass es vorbei war…



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