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Sünde

von

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Gregor

Irgendwo in einem der Bäume neben mir saß ein kleines Käuzchen und rief in die Nacht hinaus. Gänsehaut kroch mir das Rückgrad hinauf, als mir wieder einfiel, dass die Menschen früher geglaubt hatten, dass der Ruf eines Käuzchens den Tod eines Menschen ankündigt. Es war paradox, dass mein Körper auf solche Schauergeschichten reagierte, obwohl ich nicht an sie glaubte. Wozu auch? Ich lebte meine eigene Horrorstory.

Ich verlagerte mein Gewicht auf das rechte Bein und betrachtete gedankenverloren das kleine Häuschen, das so still und dunkel auf der anderen Straßenseite lag. Die unterschiedlichen Rot-Töne des Ziegelwerks fielen zu dieser Uhrzeit gar nicht mehr auf. Es war als hätte das fahle Mondlicht allem um mich herum die Farben entzogen. Alles wirkte schwarzgrau, mit einer dünnen Schicht Silberpuder.

Ich warf einen Blick auf die Uhr in meinem Handy. Inzwischen stand ich schon fast drei Stunden hier, gut versteckt im Schatten einer großen Linde. Ich hatte das Haus und seine Bewohner beobachtet, wie sie langsam ein Licht nach dem anderen gelöscht hatten. Zu meiner Schande musste ich gestehen, dass meine Aufmerksamkeit ganz besonders einem Fenster und der sich manchmal darin zeigenden, zierlichen, dunklen Silhouette gegolten hatte.

Mit einem Seufzer legte ich den Kopf schief und warf erneut einen Blick auf Mels Fenster. Hinter den wie so oft schlampig zugezogenen, dünnen Vorhängen war noch immer ein sanfter Lichtschimmer zu erkennen. Vermutlich lag meine Schwester im Bett und las noch oder war über einem Buch eingeschlafen – es wäre nicht das erste Mal gewesen.

Am nächsten Tag sollte mein erster Tag auf dem Internat sein, mein erster Tag von meinem neuen Leben. Deswegen stand ich nun schon seit Stunden in der Dunkelheit und beobachtete die Geschehnisse rund um mein Elternhaus. Ich versuchte, mit meinem alten Leben abzuschließen. Denn wenn ich wieder kam, dann wollte ich ein neuer Greg sein. Einer, der sich nicht nach seiner Schwester verzehrte.

Ich hoffte, dass der Abstand zu Mel mir helfen würde, meine widernatürlichen Gefühle zu überwinden, und ich nicht dem anderen Impuls nachgab, den ich in den letzten Tagen all zu oft verspürt hatte: das plötzliche Bestreben, einfach alles hin zu werfen und damit zu leben, dass ich ein schlechter Mensch, nein, ein Monster war – und mich auch dementsprechend zu verhalten: saufen, rauchen, rumhuren und die ganze verhasste Existenz einfach wegwerfen.

Doch wann immer ich mit diesem Gedanken spielte, kam mir Mel wieder in den Sinn. Dann musste ich mir jedes Mal vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn sie von diesem Lebenswandel erfahren würde. Sie wäre enttäuscht und angeekelt. Vielleicht würde sie mich sogar hassen, weil ich all die Chancen, die ich gehabt hätte, einfach weggeworfen hätte.

Die Vorstellung, meine Schwester könnte mich abstoßend finden – sei es wegen meiner Gefühle für sie oder weil ich mich aufgab – schnürte mir die Kehle zu. Ich konnte mit vielem leben. Ich würde irgendwie verkraften, dass ich ein Monstrum war, und ich würde es überstehen, dass ich meine Familie nicht mehr sehen konnte. Doch ich würde niemals damit leben können, wenn Mel mich mit Ekel in den Augen ansehen würde.

Das Licht hinter den Vorhängen erlosch. Anscheinend hatte sich meine Schwester endlich dazu entschlossen, sich schlafen zu legen. Ich murmelte einen leisen Gute-Nacht-Gruß und schickte ihr einen Kuss hoch, bevor ich mich abwandte und zurück auf den Weg zu Markus machte.

Morgen war mein erster Tag vom neuen Leben. Ich würde diese Chance nutzen, das nahm ich mir ganz fest vor. Ich würde meine Gefühle überwinden und dann hierher zurückkehren – so wie ich es Paps versprochen hatte. Ja, es schien fast als hätte ich den ersten Schritt zum neuen Greg mit der Anmeldung am Internat bereits getan.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  May_Be
2018-01-24T19:21:12+00:00 24.01.2018 20:21
Hallöchen!

Ein neuer Greg will er also werden. Na bin mal gespannt, ob das so einfach wird :D
Auch wenn ich es traurig finde, dass er einfach geht. Aber was bleibt ihm sonst übrig.
Allerdings hätte er sich ruhig von Mel verabschieden können T_T

LG
May
Antwort von:  Labrynna
24.01.2018 21:51
Hey, schön, mal wieder was von dir zu lesen. :)
Ich hatte schon gedacht, du hättest aufgehört zu lesen.

Das ist eine gute Frage. Sich zu ändern, ist immer ein steiniger Weg. Aber vielleicht gelingt es Greg ja?


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