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Nimbus Magnus

von

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Diluculum

Wenn das Tropfen lauter klingt als dein Herzschlag, ist der Albtraum vorbei. Zumindest für den Moment.

Diese Worte waren ebenso wahr wie gelogen und hatten sich vor unzähligen Jahren in Joshuas Verstand eingebrannt. Mit jedem Tropfen Blut, den er von seinem Kinn in die Pfütze zu seinen Füßen fallen hörte, schien sein Herz leiser, ruhiger zu schlagen. Sein Atem ging flach und gleichmäßig, als säße er gemütlich im Bett und läse ein nur mäßig spannendes Buch.

Vor langer Zeit hätte sich dies bei dem Anblick, der sich ihm bot, schlagartig geändert. Nun jedoch war es nur ein weiterer lebloser, noch lauwarmer Körper, der bald eins mit dem Müll und den Abgasen der industriellen Landschaft werden würde.

Mit Abklingen des Halluzinationen setzten unerträgliche Kopfschmerzen ein, die er einen Moment lang nur allzu gern damit gestillt hätte, sein eigenes Leben zu nehmen. Für einen Augenblick stand er reglos da, versuchte, sich wieder an seine Umwelt zu gewöhnen. „Wo bin ich?“ war eine der Fragen, die er sich schon lange nicht mehr stellte. Egal, wie lange es dauerte, irgendwann kam er immer wieder an dem Ort an, den er Heimat nennen musste.

Die Straßenlaternen flackerten entlang seines Weges, der ihn in Richtung der hell erleuchteten Stadtmitte führte. Die Namensgebung hatte etwas Makaberes, klang der Term doch wie ein Zentrum von Leben. Was sich in Wahrheit dort sammelte, waren nichts weiter als verwirrte, seelisch und körperlich geschändete Menschen, die alle, genau wie er selbst, einen Anhaltspunkt brauchten, um nach Hause zu finden.

Zu seiner eigenen Verwunderung war der Weg für ihn heute eigenartig kurz, und es befanden sich auch noch unzählige Menschen am Brunnenplatz. Für gewöhnlich fand er sich spät hier wieder, weil er sich nur selten in derartiger Nähe der Stadtmitte aufhielt.

Seine Hoffnung, gegen die unkontrolliert ausgelösten Halluzinationen, den geistigen Wahn eine Resistenz zu entwickeln, war im Laufe der Jahre geschrumpft, aber nie ganz gestorben. Vielleicht war es ein verzweifelter Versuch, sich selbst einzureden, dass in Wahrheit noch nicht alles vorbei war.

Er machte sich auf direktem Wege auf zum Brunnen, an dessen Westseite eine weibliche Skulptur stand, die mit vor der Brust gefalteten Händen hoffnungsvoll in den Himmel blickte. Ein skurriler Anblick inmitten der weinenden, blutenden Menschen, die mit trägen Körpern über den Platz stolperten, um mit letzter Energie nach Hause zurückzufinden.

Joshua ließ sich neben der Skulptur auf den kalten, schmutzigen Steinboden sinken und strich sich eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. Seine Haare waren schon wieder viel zu lang geworden. Sowohl seiner persönlichen Präferenz nach, als auch aufgrund der Tatsache, dass sie ihm ständig vor den Augen hingen und die Sicht verdeckten. Auch wenn es manchmal gar nicht verkehrt wäre, den Blick von der Welt abwenden zu können.

„Du bist früh dran“, erinnerte ihn eine hohe, nahezu piepsige Stimme daran, warum er hierhergekommen war.

„Ich hatte es nicht weit.“

Das war die einzige Erklärung, die er liefern würde, und auch die einzige, die relevant war. Vielleicht, so kam ihm der Gedanke, stimmte nicht einmal das, und alles, was hier geschah, würde niemals etwas bedeuten.

„Lass uns nach Hause gehen.“

 

Den Großteil der Zeit, in der sie so frei wie möglich waren, verbrachten sie zu zweit – eine Voraussetzung, um sich jegliche Chance aufs Überleben zu sichern. Zwar war es selten, in Nächten wie dieser angegriffen zu werden, jedoch nicht völlig ausgeschlossen, und zwei geschwächte Personen konnten sich immerhin noch besser wehren als eine Einzelne.

„Das ist eine ziemlich große Wunde, Nora“, stellte Joshua unterwegs kühl fest und nickte ihr mit einem Blick zu ihrer Schläfe leicht zu. Die Angesprochene hob eine Augenbraue, vielleicht ob der Feststellung, oder aufgrund der Tatsache, dass er nie aufhören würde, ihr diesen Spitznamen zu geben.

„Habe nicht aufgepasst“, erwiderte sie kurz angebunden und fasste sich an die noch blutende Wunde, verzog kaum merklich das Gesicht und wischte das bereits gerinnende Blut an ihrer ohnehin völlig verschmutzten Hose ab.

Wie so oft waren ihre Worte für Joshua nicht völlig nachvollziehbar. Ihm war schließlich völlig bewusst, dass das Selbstschutzsystem in ihrem Körper es ihr unmöglich gemacht hatte, ihre eigenen Handlungen zu kontrollieren und das Geschehene zu beeinflussen.

Manchmal glaubte er, sie gäbe nur irgendwelche Floskeln wieder, die sie einmal aufgeschnappt hatte und deren Klang ihr gefiel, doch ihre Tonlage war dafür meist zu ernst.

„Aufgepasst, hm?“, antwortete er deswegen skeptisch, wurde jedoch nur noch mit einem hämischen Grinsen entlohnt, bevor sie den Kopf schüttelte und das Thema somit beendete. So war es immer. Aber vielleicht waren ihre eigenartigen Erklärungen einer seiner Gründe, nicht völlig aufzugeben, und zu hoffen, dass es einen Weg aus dieser Kontrollgesellschaft heraus gab.

Sie kamen am Ende der Oldover Road an, welche vor Ewigkeiten einmal ziemlich belebt gewesen gewesen sein musste. Es hatte mehrere Schulen gegeben, ein großes Café, und auch der nächste Cricketplatz war nicht weit entfernt.

Joshua versuchte öfter, an eine derartige Zeit zurückzudenken, aber war viel zu jung gewesen, sich all diese Dinge wirklich einzuprägen. Nicht mal der Name seiner ehemaligen Schule wollte ihm noch einfallen, und die größtenteils verwesten Lettern, die mit sehr viel Fantasie A s lm Sch o zeigten, waren keine große Hilfe.

„Bist du fertig?“, wurde er frech gefragt, löste mit gerunzelter Stirn den Blick vom alten Schulgebäude und merkte erst jetzt, dass er stehengeblieben war. Eine Angewohnheit, die er wohl niemals ablegen würde. Er strich sich eine tiefschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, nickte und setzte seinen Weg fort.

 

Sie hielten an einem der wenigen Häuser, die sich in noch bewohnbarem Zustand befanden. Es war eine Seltenheit, jedoch hatte sich innerhalb der letzten Jahre die Bevölkerung derart stark dezimiert, dass es wahrscheinlich auch keine große Rolle spielte. Was brachte schon ein tolles Haus, wenn es niemanden gab, der darin leben könnte?

„Wir sollten das Schloss austauschen“, konstatierte Joshua, als dieses, wohlgemerkt zum wiederholten Male, theatralisch ächzte, während er es verriegelte. Es war nicht das erste Mal, dass er dies feststellte, und er wusste auch, dass es nicht das Letzte bleiben würde.

„Die Mytens waren seit Wochen nicht da. Wenn sie nicht bald mal wieder auftauchen, nehme ich ihres raus.“

Er nickte flüchtig und blickte aus dem Küchenfenster zum gegenüberliegenden Haus. Es stimmte. Die Mytens waren wirklich seit Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen, zumindest hatte er sie nicht gesehen, und das war ungewöhnlich, da sie diesen Ort schon immer bewohnt hatten.

„Zieh nicht so ein Gesicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis-“

„Hör auf. Behalt es einfach für dich, Lenora.“

Sie verdrehte die Augen und trat in den Flur hinaus, wohl um das Türschloss zu inspizieren.

„Manchmal bist du wirklich sentimental.“

„Ich bin mit diesen Menschen aufgewachsen. Entschuldige bitte, dass mich ihr möglicher Tod nicht vollständig kalt lässt.“

Stille trat ein, was Joshua fast noch mehr verärgerte als irgendwelche harschen Kommentare bezüglich seiner Gefühle. Es stimmte, dass ihn der Tod der meisten Menschen wohl eher ermüdete als mitnahm, aber der Verlust der wenigen positiven Verbindungen zu einem freien Leben, die ihm bis hier verblieben waren, nahm ihm den Großteil des wenigen Antriebs, den er noch nicht verloren hatte.

„Ich bin müde“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Lenora, die wieder in die Küche getreten war und sich an den Tisch gesetzt hatte. Sie murrte leise Zustimmung, was unter Umständen auch das Letzte sein würde, was er heute aus ihr herausbekäme.

Es stimmte in vielerlei Hinsicht. Die letzten zwei Nächte hatten sie im eher wenig funktionalen Schutz einer alten Bushaltestellenüberdachung verbringen müssen. Das war immer noch verlockender gewesen, als von tennisballgroßen Hagelkörnern erschlagen zu werden, und da der Sturm Bäume und Autos umher geworfen hatte, war es auch nahezu unmöglich gewesen, nach Hause zu gelangen.

„Ich werde ins Bett gehen.“

Der Tag war viel zu lang gewesen, der Längste in einer geraumen Zeit, und auch wenn sich der Sturm gelegt hatte und Joshua froh war, diese Nacht in etwas verbringen zu dürfen, was sich gerade so noch Bett schimpfen durfte, wusste er, dass auch morgen ein anstrengender Tag bevorstand.

„Klar. Ich habe uns übrigens ein paar Lebensmittelkarten besorgt. Dürften für etwa eine Woche reichen. Vielleicht zwei, wenn wir sparsam sind.“

„Möchte ich wissen, woher du so viele hast?“

Lenora sah ihn für einen langen Moment an, verzog dann die Lippen zu einem unschuldigen Grinsen, das sie eher aussehen sah wie einen Kindermörder, und schüttelte dann kurz den Kopf.

„War ein langer Tag.“

Er beließ es dabei, denn er dachte genauso. Genau genommen war es gerade deswegen ziemlich ungewöhnlich, dass keiner von ihnen auch nur daran gedacht zu haben schien, dem anderen von seinen heutigen Erlebnissen zu erzählen.

Aber manchmal war es einfach am besten, mit diesen furchtbaren Gedanken allein zu sein und sie niemand anderem aufzuzwingen. Es reichte, dass Joshua kaum die Augen schließen konnte, ohne vor seinem inneren Auge das Bild der jungen Frau zu sehen, der er im geistigen Wahn absolut unkontrolliert den Schädel zertrümmert und einen Finger ausgerissen hatte.

Er drehte sich auf die linke Seite, verwirrt darüber, dass ihn dieser Gedanke gerade jetzt einholte. Es war nichts Neues für ihn. Furchtbar, tragisch, aber ebenso alltäglich. War es, weil sie offenbar kaum älter gewesen war als er selbst? Oder lag es an der Tatsache, dass ihn die unkontrollierbare Angst, irgendwann auf jemanden loszugehen, der ihm wichtig war, seit beinahe fünfzehn Jahren noch nie wirklich losgelassen hatte?

In jedem Fall standen ihm Albträume bevor, die er sich nicht vorstellen mochte, und die ihn bereits gedanklich an einem Tag geistiger Instabilität möglicherweise weit genug gequält hätten, dass er in Tränen ausgebrochen wäre.

Doch nichts führte daran vorbei, dass er in einigen Stunden wieder aufwachen müsste, und nichts würde sich ändern, solange er hier blieb.



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