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Totgeglaubte leben länger!

von

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Ärztliche Hilfe

Die Morgensonne brannte durch die Glasfront. Ungehindert drang das Licht in Lilys Appartement, legte sich wie Glut über die Einrichtung und verfremdete alles. Dabei waren es gar nicht die Möbel, welche sich verändert hatten, sondern das Mädchen in ihrer Mitte. MJ kauerte mit angezogenen Knien auf dem Boden vor dem Sofa und dachte nach. Über sich. Über das, was sie getan hatte. Über Konsequenzen. Über richtig und falsch. Über Familie. Über Freunde. Über Lily. Über Trauer. Über Reue. Über Erleichterung. Über Angst.

Ihre Gedanken rasten, überholten sich, bremsten einander aus, erreichten kein Ziel, von dem aus MJ vorwärts blicken könnte. Da war nichts. Nur sie selbst, ein Mord und die Frage 'Was nun?'.

 

Sie schielte auf die Zimmertür, hinter der sich bis zum Vortag ein kleines Reich befunden hatte, in dem sie einigermaßen glücklich gewesen war. Jetzt existierte es nicht mehr. Obwohl darin noch immer alles an Ort und Stelle lag, war das Reich verschwunden. Es handelte sich bloß um einen Raum mit Klamotten, die MJ nicht mehr zustanden. Ob sie die Sachen trotzdem mitnehmen dürfte? Aber wohin mitnehmen? Auf die Straße? In ein Hotel, das sie vielleicht mit Lilys Ersparnissen vorübergehend beziehen könnte? Oder sogar ins ...

 

"Nein!", stoppte sie sich lautstark und erschrak beim Klang ihrer eigenen Stimme. Sie war rau und kratzig aufgrund der heruntergeschluckten Tränen, die ihre Augen nicht erreichten. MJ wollte weinen. Wirklich. Aber sie konnte es nicht; durfte es nicht; verbat es sich, da es schlichtweg heuchlerisch gewesen wäre. Schließlich war sie an ihrer Situation selbst schuld. Zu trauern würden Zweifel bedeuten und diese hatte sie nicht.

Oder?

 

Sie zuckte zusammen, als Beethovens fünfte Symphonie durchs Wohnzimmer schallte. Lilys aktueller Klingelton. Entsetzt starrte MJ auf den Leichnam, der unverändert im Schreibtischstuhl hing wie eine vergessene Puppe. Ausgespielt. Natürlich. Irgendwann würde ja jemand Kontakt zu der Hackerin aufnehmen und feststellen, dass diese unerreichbar war. Für immer. Aber musste man ausgerechnet jetzt schon dahinter kommen? 

 

"Verdammt", fluchte MJ und rappelte sich auf. Taube Füße trugen sie zu Lily hinüber - taube Finger fischten das Telefon aus deren Hosentasche. Was jetzt? Sollte MJ rangehen und behaupten, Lily wäre gerade unter der Dusche? Einkaufen? Auf einem Handy-losen Kurzurlaub? Wie viel Zeit könnte MJ schinden, ehe man ihr auf die Schliche kam? 

 

"Verdammt, verdammt, verdammt!" Die Symphonie begann von vorn. Der Anrufer war hartnäckig.

MJ lugte auf das Display, auf dem nicht etwa eine Telefonnummer, sondern tatsächlich so etwas Ähnliches wie ein Name angezeigt wurde. Lily hatte sich stets Mühe gegeben, ihrer Abneigung anderen gegenüber Ausdruck zu verleihen. 

 

"Doktor Inkompetent", las MJ und versuchte dem Namen einen richtigen Namen zuzuordnen, obwohl das eigentlich überhaupt keine Rolle spielte. Immerhin brauchte sie nicht ranzugehen, könnte somit ihr Geheimnis noch hüten und die Zeit möglicherweise nutzen, um von hier zu verschwinden. Wer sollte sie schon aufhalten? Die Nachbarn wohl kaum, da man die eh selten zu Gesicht bekam.

Bis man Lily fände, würde es also etwas dauern. Aber früher oder später wäre es dann soweit. In einem Appartementhaus blieb keine Leiche auf Ewig unentdeckt.

Ab da wäre es allerdings heikel, denn mindestens eine Nachbarin wusste zumindest von MJs Existenz. Sicher würde die sich wundern, wo Lilys Nichte plötzlich steckte. Ob sie gleich begreifen würde, was hier geschehen war?

MJ schüttelte den Kopf. Nein, so weit dachte die Kuchentante vom anderen Ende des Flurs bestimmt nicht. Trotzdem wäre ein fehlendes Kind ungewöhnlich. Man würde sie suchen. Möglicherweise sogar eine Vermisstenanzeige auf Milchtüten drucken. Landesweit. Mit einem Phantombild, welches spätestens einem alten Mann auffiele, der seinen Tee stets mit H-Milch aus dem Karton streckte.

 

"Man, ja, nu hör doch mal auf", keifte MJ, als der Klingelton die dritte Runde einläutete. Beethoven drängelte und beschleunigte ihre Überlegungen.

Zu verschwinden war also keine so gute Idee. Bleiben. MJ musste hier bleiben und weiterhin die Nichte mimen, von der niemand wusste, woher sie kam, aber das war immerhin erstmal besser als ganz England auf sich aufmerksam zu machen. Irgendeine Lüge zu finden, durfte doch nicht so schwer sein, oder? Zur Not konnte MJ behaupten, sich absichtlich bei Lily eingemogelt zu haben, um sich für etwas zu rächen. Lilith' Identität war sowieso bald kein Geheimnis mehr und bei ihrer Vergangenheit hätte niemand Zweifel an MJs Worten. Sollte dann auch noch der Mord entdeckt werden, gab es also Wichtigeres für die Behörden zu klären. Anstalt oder Jugendknast? Beides war weitaus verlockender als die Milchtüte, wobei MJ das Gefängnis durchaus vorgezogen hätte. Von Therapeuten und denen, die es werden wollten, hatte sie genug. Ärzte halfen nicht, sie machten alles bloß schlimmer, waren zu dumm Probleme zu erkennen oder Diagnosen zu erstellen.

 

"Hm." In MJ keimte ein Gedanke und reifte zu einer Venusfliegenfalle, die die sprichwörtliche Klatsche ersetzte. Vielleicht ließen sich wirklich zwei Fliegen mit einmal erledigen. Wenn man nämlich einen inkompetenten Arzt alarmierte, der Lilys Tod für natürlich hielt und keine Untersuchungen veranlasste, wäre MJ aus dem Schneider, oder? Von Mord würde nie die Rede sein, sobald der Tee im Abfluss verschwunden war, und MJ müsste ihren Aufenthalt nicht rechtfertigen. Sich weiterhin als Nichte auszugeben, sollte dem Doktor genügen. Danach bräuchte MJ sich nur noch von der Nachbarin verabschieden und behaupten, zu ihren Eltern zurückzukehren. Alle Probleme wären mit einem Schlag vom Tisch.

 

Beethoven setzte von Neuem an und MJ redete sich ein, eine gute Entscheidung zu treffen. Als der Klingelton seinen musikalischen Höhepunkt erreichte, drückte sie den grünen Hörer. Noten verstummten - ebenso MJs Atem. Es war mucksmäuschenstill, als sie das Telefon an ihr Ohr hob und lauschte, innerlich flehte keinen Fehler begangen zu haben und gleich keinen zu begehen.

 

"Lily? Hier spricht Doktor Lewis", meldete sich ein Mann, an den sich MJ dunkel erinnerte. "Ich rufe für Herrn Morrison an -"

 

"Sei nicht so förmlich!", bellte eine tiefe Stimme so harsch aus dem Hintergrund, dass MJ erschrak und sich eine Hand auf den Mund pressen musste, um nicht zu japsen.

 

Dr. Lewis räusperte sich. "Nun, er wollte wissen, wo sich genau der Mann befindet, dem er in Ihrem Namen einen Besuch abstatten soll. Sie haben ihm nur das Hotel genannt, allerdings keine Zimmernummer und die bräuchten wir, da wir uns bereits auf dem Weg dorthin befinden."

 

Das Rauschen eines fahrenden Autos strömte durch die Leitung.

 

"Lily? Sind Sie dran?"

 

Galle kroch MJs Kehle hinauf, als sie begriff, wer dort mit ihr sprach. Dr. Lewis, der Mann, der sie nach ihrem Unfall untersucht hatte und mit ziemlicher Sicherheit genau wusste, dass sie nicht Lilys Nichte war. Ausgerechnet derjenige, der misstrauisch werden konnte, lauerte jetzt auf eine Antwort. Und er würde noch weitere verlangen.

 

"Lily? Hallo? Sind Sie dran?"

 

"Doktor", wisperte MJ und versuchte sich zu sammeln. Nicht nervös werden. Keinen Fehler machen. Noch standen die Chancen gut, nicht entlarvt zu werden. Schließlich hatte der Arzt damals während MJs Untersuchung schon Mist gebaut und dadurch längst bewiesen, dass ihm Diagnosen nicht lagen. Andernfalls hätte er Lily sicherlich gewarnt.

MJs Blick fiel auf die tote Fratze, die ihr vorwurfsvoll entgegen glotzte.

"Hier ist MJ, Mary Jane, das Mädchen, das Lily aufgenommen hat, wissen Sie noch?"

Sie wandte sich ab, spürte die Anklage aber weiterhin deutlich in ihrem Rücken.

 

"Natürlich", bestätigte der Arzt und atmete laut durch. Das Rauschen im Hintergrund überdeckte beinahe sein Flüstern: "Die Kleine, von der ich dir erzählt hab."

Dann gewannen die Fahrgeräusche. Augenblicke verstrichen, in denen MJ nichts weiter tun konnte, als dem Rauschen zu horchen und ihre freien Finger um den Daumen zu ballen, bis sie ihren Puls in der ganzen Handfläche spürte.

"Was ist passiert, Mary Jane?", drang Doktor Lewis' Stimme endlich wieder zu ihr durch. 

 

Sein gelassener Tonfall überzeugte MJ davon, dass er kaum sonderlich motiviert war, geschweige denn komplizierte Fragen stellen würde. Wenn sie jetzt überzeugend genug war, käme der Arzt doch nie dahinter, was hier vorgefallen war, nicht wahr?

"Lily", schluckte sie, "etwas stimmt nicht mit ihr. Sie bewegt sich nicht und ist ganz kalt. Ich weiß nicht, was ich machen soll." Es war nicht gelogen. Trotzdem kratzte jedes Wort wie Rasierklingen, die die ganze Wahrheit aus MJ herausschneiden wollten.

 

"Ach je", seufzte Doktor Lewis völlig gefasst. "Dann sollte ich vielleicht vorbeikommen, ja? Eventuell kann ich helfen. Bleib wo du bist, Kleines. Ich bin in circa zwanzig Minuten bei dir."

 

Bevor sie reagieren konnte, legte er auf. In der Leitung tutete es noch einige Sekunden, bis MJ das Telefon vom Ohr nahm und auf den Schreibtisch legte. Der erste Schritt war getan, ein inkompetenter Arzt informiert und somit der Verdacht beseitigt, dass hier was nicht stimmte.

Immerhin hatte MJ Hilfe gerufen. Wenn auch zu spät. Doch, wer würde ihr das schon vorhalten? Sie war ja bloß ein Mädchen, das in ihrer Angst nicht wusste, wie es handeln sollte. Gewiss hätte jeder Verständnis für eine Elfjährige, die beim Anblick ihrer toten Tante die Nerven verloren hatte. Wer würde zweifeln? Niemand, der sich in ihre Panik hineinversetzen würde.

 

"Panik", wiederholte MJ ihren Gedankenfetzen und kam sich plötzlich unsagbar leer vor. Etwas fehlte. Ein Teil von ihr war nicht da, obwohl er seit über zwei Jahren zu ihr gehörte wie die Haut, in der sie sich gerade schrecklich unwohl fühlte. Als wäre sie nicht sie selbst. Verkleidet in einem Kostüm, das einfach nicht passte, wenngleich sie es immer hatte anziehen wollen. Möglicherweise würde sie irgendwann hineinwachsen, aber jetzt war denkbar der schlechteste Zeitpunkt dafür.

 

"Panik, Panik, Panik", murmelte sie weiter und betastete ihr Gesicht. Trocken. "Wer kauft mir denn das panische Mädchen ab, wenn ich nicht mal flenne, verdammt? Los, MJ, jetzt solltest du aber echt mal heulen! Mach schon!" Patsch, patsch, patsch. Eifrig klatschte sie die Hände an ihre Wangen, kniff sogar, doch nichts tat sich, abgesehen davon, dass ihre Haut glühte wie von Brennnesseln gestochen.

"Das darf nicht wahr sein", jammerte sie. "Warum klappt das nicht? Eben wart ihr blöden Tränen noch da, also macht schon, kommt jetzt raus! Diesmal dürft ihr. Heut ist keiner hier, der deswegen lacht oder schimpft. Keiner, der euch wegwischt und in seinen Pulli schmiert. Ihr habt freie Bahn."

Es nutzte nichts. Sogar die Erinnerungen an diejenigen, die MJ so oft hatten weinen sehen, brachen den Damm nicht, den die Anspannung um sie mauerte. Dabei war ihr von Minute zu Minute stärker nach weinen zumute. Die Zeit rannte. Bald würde Dr. Lewis eintreffen, Lily finden und zumindest wissen wollen, was vorgefallen war. Sicherlich würde er keiner Antwort glauben, wenn sie von einem Mädchen mit versteinertem Gesicht gesprochen wurde.

"Verdammter Mist", stampfte MJ auf, "wäre ich doch bloß nicht ans Telefon gegangen, dann hätte ich mir in Ruhe was überlegen können. Aber nein", warf sie den Kopf in den Nacken, "jetzt steck ich natürlich fest wie eine -" Sie stockte, als etwas auf der Küchenzeile aufblitzte und sie direkt im Augenwinkel traf. MJ schielte durch den Wohnraum. Hinüber zu einem verchromten Korb, der auf der Arbeitsplatte stand und unsinnigerweise immer befüllt war, obwohl niemand in diesem Appartement jemals gekocht hatte. Braune Schalen lugten durch das Gitter.

 

Eine absurde Idee lockte MJ in die Küche. Sie beäugte den Korb und fischte eine Zwiebel daraus. Schalenkrümel bröckelten auf die Arbeitsplatte, als MJ die Knolle von einer Hand in die andere kullern ließ. Unsicher, ob die Idee tatsächlich absurd oder vielleicht sogar ziemlich clever war. Da es momentan sowieso keine Alternativen ab, entschied MJ sich für zweiteres. Zumal ihr gerade eine Pflanze den Hintern rettete und Pflanzen hatten sie noch nie enttäuscht, nicht wahr? Warum dann also keiner Zwiebel das eigene Schicksal anvertrauen?

"Allein für den Gedanken hätte ich vor einem Jahr sicher eine Kopfnuss verpasst bekommen", belächelte sie sich, während sie ein Messer aus einer Schublade angelte. Die Klinge glänzte im Schein der Morgensonne wie das bissige Grinsen eines alten Freundes, an den MJ nun wirklich nicht denken sollte, wenn sie sich nicht versehentlich in die Finger schneiden wollte. Tief atmete sie durch, um das aufkommende Zittern ihrer Gliedmaßen in sich aufzusaugen, ehe es ausbrechen konnte. Erst dann setzte sie das Messer an die Zwiebel und teilte sie in Hälften, aus denen der typische Saft austrat und seinen stechenden Geruch verteilte. Wieder atmete MJ tief durch. Diesmal direkt über der Zwiebel. Die beißenden Dämpfe kribbelten in ihrer Nase und reizten die Drüsen, aus denen sofort Tränen herausströmten und gar nicht mehr versiegen wollten. So war es gut. Wenn auch hinderlich, da MJ jetzt erst einmal kaum etwas sah. Aggressiv brannten sich die Tränen ihren Weg ins Freie, liefen in Rinnsalen über ihre Wangen und tropften auf die Küchenfliesen, wo sie für MJ vollkommen unsichtbar wurden. Allein das Messer auf dem Tresen ausfindig zu machen, wurde mit jedem Blinzeln immer schwieriger. Ihre Sicht verschwamm hinter einem Schleier aus falscher Trauer, bis sie es nicht mehr aushielt und sich über die Augen wischte, was natürlich nichts brachte, solang der Übeltäter weiter auf der Theke lauerte. Daher schnappte MJ blind nach den Zwiebelteilen und torkelte damit quer durch die Küche in die Richtung des Mülleimers. Nach drei Anläufen erwischte sie den Tritthebel, der den Deckel öffnete, und versenkte die garstige Knolle zwischen unzähligen Fertiggerichtverpackungen. Scheppernd schloss sich der Eimer wieder.

"Das wäre geschafft", schniefte sie und wischte erneut über ihre Lider. Endlich klärte sich ihr Blick, der auf den verchromten Mülleimerdeckel fiel, in dem man sich spiegeln konnte. Ganz nach Lilys Wünschen. MJ stockte, als sie ihre geröteten Augen erkannte. War es nicht wirklich bitter, dass alles so hatte enden müssen? Mit falscher Traurigkeit über eine falsche Tante?

 

Der Gedanke festigte sich nicht, da er vom Schellen der Türklingel zerfetzt wurde. 

"Verdammt." Schauer krochen MJ bis ins Mark. Es war soweit. Doktor Lewis stand bereits vor dem Eingang und gleich würde sich zeigen, ob MJs Zwiebelscharade funktionierte. 

Eilig warf sie das Messer in den Geschirrspüler und knallte ihn zu, ehe sie um die Kücheninsel huschte und zur Tür hetzte. Davor hielt sie inne, zögerte. Das nächste Klingeln zwang sie allerdings zum Handeln. Sie drückte den Türsummer neben der Gegensprechanlage, ohne überhaupt zu horchen, wer vor dem Hauseingang um Einlass bat. Wer, außer dem Arzt, sollte es schon sein? Lily hatte nie Besuch bekommen, wenn sie den nicht ausdrücklich befohlen hatte. Niemand war diesem Ruf jemals nicht gefolgt. Nie. Denn Lilys Argumente waren stets überzeugend gewesen.

 

MJ lugte über ihre Schulter hinweg zu der Toten, die in ihrem Leben so viele Menschen beeinflusste, dass es sowohl erschreckend, als auch beeindruckend war. Das gestand MJ ihr ein, wenngleich das nicht ganz neidlos war. Gern hätte sie von solch einer Willensstärke und Durchsetzungskraft gelernt, aber diese Chance war wohl mit Lily gestorben.

 

"Schade", murmelte MJ, als es klopfte. Sie zuckte zusammen und riss den Kopf herum, um die Tür anzustarren, die plötzlich ins Unermessliche wuchs. Gigantisch ragte das Türblatt in die Höhe wie die Pforte in eine bizarre neue Welt. Einer Welt, in der MJ entweder als bedauernswerte Nichte weiter existierte, oder als überführte Mörderin im Jugendgefängnis verrottete. Die Entscheidung lag längst nicht mehr in ihrer Hand. Dafür jedoch der Türknauf, den sie nach einem letzten Atemzug drehte.

 

Zusammen mit der Tür öffnete sich der Vorhang für MJs Schauspiel.

"Doktor Lewis", wimmerte sie auf abgenutzte Trekkingschuhe hinab, von denen einer ungeduldig auf den Flurteppich tippelte. Dunkelbraune Cargohosen umhüllten scheinbar endlose Beine und verschwanden unter dem Saum eines Windbreakers. Oberhalb des Kragens thronte ein markantes Gesicht mit einem Dreitagebart, der akkurat in raspelkurze, braune Haare überging. 

MJ schluckte bei Betrachtung des Mannes und stellte fest: Das war nicht Doktor Lewis.

Sie schwankte zurück, wollte vor dem Fremden fliehen, kam aber bloß einen Schritt weit, da sie über ihre eigenen Füße stolperte. Rumsend landete sie auf dem Parkett, während sich die Tür wie von Zauberhand weiter öffnete. Auf Hochglanz polierte Lederhalbschuhe, Jeans und ein graues Jacket betraten die Wohnung. Zusammen mit der freundlichen Miene des Arztes.

 

"Beruhige dich, Mary Jane", schmunzelte Dr. Lewis und reichte ihr eine Hand. "Mein Begleiter tut dir nichts, okay?"

 

MJ war nicht überzeugt, nickte trotzdem und ließ sich auf die Beine helfen. Sprachlos stierte sie zwischen den Männern hin und her.

 

"Darf ich vorstellen? Jacob Morrison", deutete der Doktor auf den Riesen, der jetzt ebenfalls die Wohnung betrat und, nach einem prüfenden Blick in den Hausflur, die Tür hinter sich schloss.

 

"Der Mann, den Sie am Telefon erwähnt haben", wagte MJ festzustellen, obwohl Jacobs Präsenz jedes Wort im Umkreis von zwei Meilen zu verbieten schien.

 

Dr. Lewis war allerdings immun. "Ganz recht, Mary Jane. Oder ist dir MJ lieber?", wollte er wissen, wartete auf ihre stumme Bestätigung und fuhr direkt fort, "Wir waren gemeinsam unterwegs, weshalb ich dachte, er könne mich zu dir begleiten. Was mich zum Grund unseres Besuchs bringt: Was ist mit Fräulein Theodora?"

 

Endlich erinnerte sich MJ wieder an die Rolle des besorgten Kindes. Schluchzend zeigte sie quer durch den Eingangsbereich hinüber zu Lilys Arbeitsplatz. Vor der Glasfassade hing ihr Körper unverändert im Schreibtischstuhl.

 

Dr. Lewis trat gemächlich an sie heran und rümpfte die Nase. Als müsse er Unrat aus dem Abfluss sammeln, zupfte er an Lilys Pulloverbündchen, versuchte ihren Arm anzuheben und beließ es auch genau bei diesem einen Versuch, da sich schlichtweg nichts mehr an der Frau regte. 

"Tja", meinte er beiläufig, "sie ist tot. Da kann man wohl nichts machen, hm?"

 

Jacobs Schnaufen echote undeutbar durch die Wohnung. War er amüsiert? Angewidert? Zufrieden? Gelangweilt? 

 

Perplex glotzte MJ von Jacob zum Arzt, der kaum desinteressierter an der Leiche sein konnte. Stattdessen richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Glasfront. "Bei den Temperaturen hinter den Fenstern, lässt sich kein genauer Todeszeitpunkt feststellen. Die Sonne hat die Leichenstarre beeinflusst", verkündete er und sah sich weiter um. Sein Kopf neigte sich, als sein Blick auf den Schreibtisch fiel. "Sag, Kleines, was genau ist eigentlich passiert?"

 

Die Frage traf MJ unvorbereiteter als ein Eimer Eiswasser. Kälte rann über ihre Wirbelsäule, während sie die Schultern straffte, um ihre Lüge vorzutragen. "Na ja", haspelte sie, "ich bin heut morgen aufgestanden und hab Lily dann so gefunden. Kurz danach haben Sie schon angerufen. Mehr weiß ich auch nicht."

 

Stoff raschelte, als Jacob auf seine Armbanduhr guckte. "Es ist jetzt kurz vor halb Sieben. Gegen Sechs haben wir angerufen. Stehst du immer so früh auf?"

 

"Ja, also nein, aber heute da war es halt so, weil ich einen Albtraum hatte?"

 

"Ist das eine Frage?", brummte Jacob. Stechend braune Augen pinnten MJ an Ort und Stelle. Sie traute sich kaum zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. Alles an ihr schien die Lüge verraten zu wollen.

 

"Möglicherweise waren der Traum und Lilys Anblick so verstörend, dass MJ nun verwirrt ist", gab Dr. Lewis zu bedenken und lehnte sich rücklings gegen die Schreibtischplatte. Über verschränkten Armen hinweg, visierte er MJ ebenfalls an. Nicht so stechend, aber trotzdem eingehend. "Sieh doch, Jacob. Das Kind ist ganz aufgelöst. Sie hat sich offensichtlich beinahe die Augen ausgeweint. So rot wie die sind."

 

"Genau", nickte MJ hektisch.

 

"Und dann hat sie sich erst einmal eine Zwiebel zum Frühstück gemacht, um ihre Nerven zu beruhigen", erklärte der Arzt weiter und tippte sich bedeutsam an die Nasenspitze. 

 

Wieder schnaufte Jacob, doch diesmal stand außer Frage, dass er sich amüsierte.

 

Wie das Kaninchen zwischen zwei Füchsen starrte MJ von Dr. Lewis zu Jacob und zurück. 

"Ich, ich ...", stotterte sie, "ich hab gestern gekocht, aber nicht genug gelüftet. Deshalb -"

 

"Kochst du gern, Kleines?", zog der Arzt die Schlinge weiter zu.

 

"Ja, genau."

 

"Auch Tees?"

 

MJs Blick rauschte von Dr. Lewis zu der Tasse, die neben ihm auf dem Schreibtisch stand. Die hatte sie vergessen. Vollkommen vergessen. Wie konnte man bloß so bescheuert sein?

Der Zorn auf sich selbst riss MJ aus der Schockstarre. Sie stürmte voran, schnappte die Tasse, ignorierte das Grinsen des Doktors, preschte in die offene Küche und kippte den restlichen Tee ins Waschbecken. Gluckernd verschwand das Gift im Abfluss.

 

"Wusstest du, dass sich viele Ärzte während ihres Studiums mit Maiglöckchen auseinandersetzen, weil die bei zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle spielen?", dozierte Dr. Lewis. "Laut aktueller Forschungen regt der Duft die Entscheidungsfreudigkeit in der Partnerwahl an. Ich erinnere mich sogar noch sehr genau", lachte er leise, "an eine Kommilitonin, die auf Grundlage dessen Versuche an unserem halben Studiengang durchgeführt hat. Sie roch drei Semester lang nach einer überdimensionalen Blume. Ihre Bemühungen waren wirklich spaßig, aber auch einprägsam. Keiner von uns wird jemals den Geruch vergessen, geschweige denn die Sicherheitsbelehrungen unseres Professors, der uns eingebläut hat, niemals Maiglöckchen zu verzehren, da sie giftig sind. Welch Ironie, hm?"

 

Die Falle schnappte zu. MJ hörte es lauter als das Scheppern der Tasse, die aus ihren Fingern in das Waschbecken knallte und sofort zerbrach. Regungslos starrte sie über die Kücheninsel hinweg zu dem Arzt, der sie keinen Moment aus den Augen ließ.

 

"Müssen wir erst die Ergebnisse von Lilys Obduktion abwarten, oder sagst du uns lieber gleich, was genau hier vorgefallen ist, Kleines?"

 

"Und erspar uns irgendwelche Lügen", murrte Jacob. "Wir sind nicht dämlich, kapiert?" Allmählich begab er sich nun auch näher in den Raum hinein, visierte die Leiche an und musterte sie von oben bis unten. Abschätzend hob er den Daumen und linste darüber hinweg.

 

"Entschuldige ihn bitte", seufzte Dr. Lewis. "Jacob ist den Umgang mit Mädchen nicht gewohnt. Dennoch gebe ich ihm recht. Uns anzulügen wird dich tatsächlich keinen Deut weiter bringen. Zumal wir längst wissen, dass du durchaus nicht so unschuldig bist wie du vorgaukelst, Kleines."

 

"Was?" MJ brauchte die Entsetzte gar nicht erst spielen, da sie es tatsächlich war. Dass die Männer ihre Tat derart schnell durchschauen würden, hatte sie niemals erwartet. Noch weniger, dass sie so seelenruhig darüber sprachen. Was stimmte denn nicht mit denen?

 

"Deine Gesichtszüge sprechen Bände, Kleines", schmunzelte Dr. Lewis, wurde jedoch schnell wieder ernst. "Es überrascht mich, gebe ich zu. Nach deinem Unfalltheater damals, habe ich dich für abgebrühter gehalten."

 

"Was?" Entsetzen wandelte sich in Schock, als MJ begriff, worauf der Arzt anspielte. Kalter Schweiß kroch aus ihren Poren und fror jedes Fitzelchen ihres Körpers ein. Ihre Gliedmaßen wurden taub. MJ wurde schlecht, würgte aber noch heraus: "Was meinen Sie?"

 

Jacob stöhnte genervt und warf den Kopf in den Nacken. 

 

Der Arzt war geduldiger. "Kleines", begann er im väterlichen Singsang, "vergiss bitte nicht, dass ich meinen Doktortitel nicht in der Lotterie gewonnen habe. Ob jemand bewusstlos ist, erkenne ich. Und, ob jemand angefahren wurde, ebenso. Mir war damals, nachdem ich dich dort", deutete er auf das Sofa, "untersucht habe, sofort klar, dass du weder verletzt, noch weggetreten warst. Letzteres hätte jeder Trottel durchschaut, da du deine Lider so fest zusammengekniffen hattest, als wolltest du damit Nüsse knacken." Ein Grienen verjüngte sein Gesicht um etliche Jahre, bevor sich kindliche Neugier darauf abzeichnete. "Allerdings musst du mir eines verraten, ja? Wie kam Lily Theodora überhaupt auf die Idee, dass sie dich angefahren hätte? Du wirst wohl kaum auf die Motorhaube gehüpft sein, oder? Ohne Kratzer wärst du dabei definitiv nicht davon gekommen." 

 

Für einen Sekundenbruchteil dachte MJ daran, alles abzustreiten. Aber, da die Katze im Grunde eh aus dem Sack war, konnte sie doch auch ehrlich sein, oder? Nicht um der Ehrlichkeit willen, sondern schlichtweg aus Stolz. Immerhin hatte sie selten eine so gute Idee gehabt, geschweige denn, diese so spontan und formvollendet umgesetzt. Und wenn sie damit schon nicht vor denen angeben durfte, die sie sowieso für dumm hielten, dann wenigstens vor den Männern, die gerade ihr Schicksal in der Hand hatten. 

"Nun", zupfte sie ihren Pullover zurecht, "das war ganz einfach. Ich hab damals schnell einen Stein hinter Lilys Hinterrad gepackt und, nachdem sie dagegen gekracht ist, hab ich den noch schneller weggenommen und mich selbst dahingelegt."

 

Dr. Lewis gab ein verstehendes "Aha" von sich, ehe er meinte: "Wirklich clever."

 

Durch die ungewohnte Anerkennung angestachelt, fand MJ den Mut, ebenfalls Antworten zu verlangen. "Wieso haben Sie mich nicht verpfiffen, wenn Sie wussten, dass ich nicht angefahren wurde?"

 

Diesmal schien sie den Arzt eiskalt erwischt zu haben. Er wich ihrem Blick aus und rieb sich den Nacken. "Nun", gestand er zögerlich, "ich war einfach interessiert, würde ich sagen. Dass jemand Lily austrickst, kam bis dato nie vor, also wollte ich schlichtweg wissen, was passiert. Und", sah er ihr wieder direkt entgegen, "ich fand es lustig, Lily ein Kuckucksei ins Nest zu legen, um das sie sich dann auch noch kümmern musste. Sie war immer so überheblich und hielt sich für unantastbar. Da konnte ich wirklich nicht widerstehen, sie ins offene Messer rennen zu lassen." Mit einem Funkeln in den Augen eröffnete er die nächste Fragerunde. "Wobei ich natürlich nicht wusste, warum du dich bei dieser Frau eingeschlichen hast. Verrat es mir, Kleines. Was wolltest du von ihr?"

 

Nach allem, was die beiden Männer bereits wussten, glaubte MJ, dass sie sich nicht noch weiter in Schwierigkeiten reiten konnte. Zumal ihre Gründe damals tatsächlich unschuldig gewesen waren. Kaum der Rede wert, aber genau das wollte MJ jetzt. Reden. Vor Leuten, die möglicherweise die letzten waren, die ihr zuhörten, ehe irgendein Erwachsener das endgültige Urteil über ihre Zukunft fällte. Wie all die anderen, die sich niemals wirklich in ihre Lage versetzt hatten, weil sie voreingenommen gewesen waren. Dr. Lewis und Jacob wussten hingegen nicht genug, um MJ gleich abzustempeln. Also vielleicht - nur vielleicht - würden die beiden sie endlich mal ernst nehmen?

"Sie werden mir vermutlich nicht glauben oder meinen Grund blöd finden", nuschelte MJ in die Spüle. "Aber wenn Sie es echt wissen wollen, gut. Zuerst muss ich allerdings erklären, dass ich richtig großes Glück hatte, Lily zu begegnen. Man hatte mir vorher von ihr erzählt, wobei das mehr eine Beschreibung war. Jemand", schluckte sie und verknotete ihre zitternden Finger ineinander, "hat von Lilith gesagt, dass sie eine Hackerin sei, die blond, hübsch, mit toller Figur und einem roten Sportwagen unterwegs ist. Zufälligerweise hab ich dann diese Frau gesehen. Vor einem Discounter. Sie hat telefoniert und über einen Bankserver gequatscht, was ja das letzte große Ding ist, das sie angestellt hat. Dann hab ich eins und eins zusammengezählt, bin ihr in den Supermarkt gefolgt und danach", seufzte sie, "na ja, sie wissen ja, was dann passiert ist."

 

"Das beantwortet die Frage aber nicht", warf Jacob scharf in den Raum.

 

"Haben Sie nicht zugehört, man?", giftete MJ zurück. Ihr Blick bohrte sich in in seinen, als sie fortfuhr. "Ich hatte die Gelegenheit eine Frau zu treffen, die so beeindruckend war, dass meine", vergrub sie ihre Hände in ihren Achseln, "dass jemand von ihr total begeistert erzählt hat. Lilith war so cool und genial. Ich dachte, wenn ich auch nur einmal mit ihr reden könnte, wüsste ich vielleicht, wie man auch so wird. Im Supermarkt hab ich mich aber einfach nicht getraut, sie anzusprechen. Und als sie dann auf dem Parkplatz war, musste ich halt schnell reagieren, bevor meine Chance für immer flöten gegangen wäre."

 

Während Dr. Lewis schweigend im Hintergrund blieb und nichts weiter tat, als MJ zu mustern, baute sich Jacob zu einem Ein-Mann-Verhör-Kommando auf. Er wuchs so weit an, dass niemanden überrascht gewesen wäre, wenn er die Deckenlampe gepackt und direkt auf MJ gerichtet hätte. "Wenn du ein Fan von dieser Erpresserin warst", bellte er, "warum hast du sie dann umgebracht? Um zu beweisen, dass du auch cool sein kannst? Um dein Ego zu stärken? Um dich ihr überlegen zu fühlen? Um -"

 

"Um zu verhindern, dass sie den Menschen, die mir am wichtigsten sind, was antut, Sie verdammter Mistkerl!", brüllte MJ und knallte ihre Handflächen auf die Ablage neben der Spüle. Edelstahl vibrierte. MJs Stimme war felsenfest. "Wenn ich es nicht getan hätte, hätte Lily ihre gehackten Namen und Fotos an einen Auftraggeber verkauft. Ihr war es egal, was dann passiert wäre. Also musste ich es tun. Sie zu betäuben, wär Schwachsinn gewesen, weil sie mich danach bloß bestraft und trotzdem mit dem Verkauf weitergemacht hätte. Was sollte ich also machen, hm? Zusehen, wie sie die in Gefahr bringt, die alles sind, was ich noch habe? Ja? Das kann ich nicht! Ich kann vielleicht nicht viel, aber sie in dem einen Moment beschützen, das konnte ich. Und ich würde es wieder machen! Und wieder und wieder und wieder!"

 

Jacob setzte zu einem weiteren lautstarken Angriff an, doch Dr. Lewis hielt ihn zurück. "Warte", beschloss er. "Das genügt. Ich glaube ihr, also provoziere sie bitte nicht weiter."

 

"Bist du sicher?", brummte Jacob und warf einen Blick über seine Schulter, auf die sich die Hand des Arztes legte.

 

"Natürlich bin ich das, mein Lieber." Besänftigend strich Dr. Lewis an Jacobs Oberarm hinab und lächelte. "Du doch auch, oder? Immerhin ist sie wohl kaum der undurchsichtigste Teenager, den wir kennen."

 

MJ begriff gar nichts mehr. Eben noch von Wut getrieben, stand sie jetzt von Verwirrung gebannt an Ort und Stelle. Edelstahl kühlte ihre Finger, die auf der Ablage neben der Spüle verharrten und sich in die Rillen des Wasserablaufs krallten ohne sie wirklich greifen zu können. Wie ein Gitter, das irgendwie da war und irgendwie auch nicht. 

"Komme ich jetzt ins Gefängnis?", sprach sie ihren Gedanken, ehe der sich überhaupt gefestigt hatte.

 

In vollkommener Einigkeit wanderten die Blicke der Männer zu MJ hinüber. Synchron neigten sie ihre Köpfe.

"Warum?", wollte Dr. Lewis wissen. "Weil du eine Verbrecherin davon abgehalten hast, etwas Schreckliches zu tun?"

 

Allmählich wurde es MJ zu viel. Erst enttarnten die beiden mit Leichtigkeit den Mord, dann zwangen sie sie zu einem Geständnis und nun taten sie so, als wäre nichts gewesen?

"Spielen Sie nicht mit mir", schluchzte sie. "Ich weiß, dass ich einen Menschen umgebracht hab. Und ich weiß, dass Sie genau das wissen. Also tun Sie nicht so, ja? Sie müssen nicht auf verständnisvoll machen, wenn Sie mich eh gleich zur Polizei bringen. Damit machen Sie mich fertig, okay? Das hab ich trotz allem nicht verdient!"

 

"Da hast du Recht, Kleines", säuselte der Arzt, während er zu ihr hinter die Theke trat. Vor MJ ging er in die Hocke und sah ihr direkt in die nassen Augen. "Du hast das nicht verdient. Lily Theodora, Lilith, hingegen hat sehr wohl verdient, was hier vorgefallen ist. Hör mal", schob er eine Strähne aus MJs Stirn, "du hast in den letzten Monaten doch sicher mitbekommen, was diese Frau alles angestellt hat, oder?"

 

Das Mädchen nickte.

 

"Sie war nie tatenlos, obwohl man ihr in letzter Zeit keine größeren Aufträge überlassen hat. Trotzdem ging sie ihrer furchtbaren Arbeit weiter nach, hat Datenbanken gehackt und Informationen verkauft. Und nun, kleine MJ, sag mir, was denkst du, was beispielsweise den Menschen widerfahren ist, deren Adressen Lilith aus den Servern des FBIs gefischt hat? Den Menschen, die unter Zeugenschutz standen", betonte er eindringlich. "Glaubst du, dass Lilith' Auftraggeber damit was Gutes angestellt haben? Nein, mein Kind. Mit ziemlicher Sicherheit sind die untergetauchten Leute jetzt tot, weil Lily Theodora ihren Aufenthaltsort verraten hat. Aus purer Habgier und mit dem Wissen, welches Schicksal die vielen Unschuldigen dadurch ereilen wird. Andere sind gestorben, weil sie deren persönliche Informationen - Geheimnisse - gestohlen hat." Sein Ausdruck verfinsterte sich. "Sie hat mehr Leben auf dem Gewissen, als du dir vorstellen kannst. Nur für Geld. Und diejenigen, die sie nicht ans Messer geliefert hat, hat sie erpresst, um sich ihr eigenes Leben zu erleichtern. Du hingegen", schenkte er MJ ein Lächeln, "hast getan, was du tun musstest, weil du andere Menschen beschützen wolltest."

 

"Worauf der nette Onkel hinaus will -", mischte sich Jacob ein. Unbemerkt war er ebenfalls herangetreten, lehnte auf der gegenüberliegenden Seite der Arbeitsplatte und beäugte den Arzt, dessen Lippen die Worte 'nette Onkel' schmollend nachformten. "- ist, dass uns jetzt klar ist, warum die Hexe heut das zeitliche gesegnet hat. Um ehrlich zu sein, sind wir nicht traurig darüber, aber ganz glücklich auch nicht. Deshalb sind wir nämlich hier."

 

"Jacob", murrte der Doktor, richtete sich auf und fixierte seinen Begleiter, "ich hätte das Thema gleich diskreter angesprochen."

 

"Für Diskretion haben wir nur leider nicht mehr so viel Zeit."

 

Dr. Lewis seufzte. 

 

"Sie sind Achtundvierziger", entwich es MJ schneller als ein Blitz einer Gewitterwolke. "Jetzt kapiere ich auch, warum Sie hergekommen sind. Ich hab mich schon gewundert, wieso Ihnen die Leiche so scheißegal ist, Sie aber trotzdem mit mir reden. Sie setzen mich die ganze Zeit unter Druck, weil Sie Schiss vor dem Countdown haben und rauskriegen wollen, wie Sie den stoppen können!"

 

Die Männer tauschten vielsagende Blicke, die MJ sofort bestätigten. "Ich hab also Recht", fauchte sie und trat einen Schritt zurück. "Deshalb waren Sie so nett, Doktor. Und jetzt werden Sie gleich nicht mehr nett sein, sondern fies werden, um zu bekommen, was Sie wollen. Sie sind doch genau wie Lily!"

 

"Wie Lily?", knurrte Jacob.

 

Der Arzt stoppte ihn mit erhobener Hand, sah aber auf MJ hinab. "Du denkst, wir wollen dich erpressen?"

 

"Natürlich", zischte sie und wich noch weiter zurück. "Erst tun Sie so, als würden Sie mich nicht ins Gefängnis stecken wollen, um mich um den Finger zu wickeln. Und wenn ich nicht tue, was Sie sagen, holen Sie doch die Polizei, oder?"

 

"Das wär doch zumindest ein Plan", schnalzte Jacob mit der Zunge.

 

"Meiner ist es aber nicht", lenkte Dr. Lewis augenblicklich ein. "Ja, so gesehen sind wir tatsächlich wegen des Countdowns hier. Zudem wollte ich aber auch wissen, was du für ein Mensch bist, in der Hoffnung dich einfach um die Informationen bitten zu können, die wir benötigen. Und, da ich glaube in dir ein gutes Mädchen zu sehen, mache ich das jetzt: Bitte, Mary Jane, sag uns, wie wir verhindern können, dass die Informationen, die Lily über uns gesammelt hat, nicht innerhalb von 48 Stunden ins Netz hochgeladen werden."

 

Ungläubig gaffte MJ dem Arzt entgegen. War der echt ehrlich? Nein, oder? Wahrscheinlich war das bloß eine Masche. Garantiert.

"Pah", trotzte sie über verschränkten Armen, "und sobald ich Ihnen das verraten hab, verraten Sie mich bei der Polizei. Ich bin doch nicht blöde."

 

"Ihre Gedankengänge gefallen mir", grinste Jacob.

 

Dr. Lewis sah ihn tadelnd an. "Das hilft jetzt nicht weiter, mein Schatz. Wenn du so redest, vertraut sie uns nie, das ist dir ja wohl klar, nicht wahr?"

 

"Schatz?", wiederholte MJ und beobachtete dabei die ertappte Miene des Arztes. Röte krabbelte seine Wangen hinauf, bis sie aussahen wie zwei überreife Tomaten. 

 

Jacob reagierte weitaus entspannter, schmunzelte sogar, ehe seine Lippen zu einem Strich verschmolzen. Über seiner Nase wuchs eine Falte senkrecht in die Höhe, die sich wieder glättete, als Jacob den Mund öffnete. "Hör mal, MJ", sprach er sie zum ersten Mal in normalem Tonfall an. "Wenn ich das richtig sehe, ticken wir beide ähnlich. Du denkst wie ich an deiner Stelle denken würde. Und", deutete er hinter sich zu Lily, "handelst auch so. Daher werde ich dir jetzt etwas verraten, das dich womöglich überzeugt, uns zu unterstützen."

 

"Jacob", wisperte Dr. Lewis und schüttelte den Kopf. 

 

"Schon gut", winkte der ab. "Ich halte es nur für fair, dem Kind zu sagen, womit Lilith mich in der Hand hatte. Zum einen wären wir dadurch quitt, weil wir dann nicht nur ihr Geheimnis kennen, sondern sie auch meines, was das gegenseitige Erpressen ziemlich unnötig machen wird. Und zum anderen glaube ich, wird sie es verstehen und womöglich überzeugen, uns zu helfen."

 

Vorläufig verstand MJ überhaupt nichts. Aber was konnte es schon schaden, Jacob anzuhören? "Okay", winkte sie auffordernd, "schießen Sie los."

 

"Pass auf", begann er, zog einen Barhocker heran und setzte sich. Seine Hände faltete er auf dem Tresen und presste die Daumen so fest aneinander, dass sich ihre Spitzen weiß färbten. "Vor vier Jahren ungefähr bin ich diesem Kerlchen da begegnet", nickte er dem älteren Arzt zu. "Das war während meiner Zeit bei der British Army. Ich war einer der Nahkampfausbilder und der Doc vorübergehend für unser körperliches Wohl zuständig. Wir verstanden uns auf Anhieb, wenn auch nicht gleich so, wie ich es mir gewünscht hatte. Nichtsdestotrotz konnte der Gute meinem Charme nicht lang widerstehen und drei Monate später gehörte er endlich mir." Ein knappes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, ehe sie nach unten sanken. "Niemand wusste davon. Aber irgendwann bekam ein homophobes Arschloch aus meiner Truppe mit, dass sich der Doc abends heimlich mit einem von uns traf. Er hat ihm während des Ausgangs in einer Seitengasse aufgelauert und wirklich verdammt übel zugerichtet. Daraufhin bin ich ausgerastet."

 

"Sie haben -", schluckte MJ.

 

Jacob bejahte stumm. "Ich kam rechtzeitig, bevor der Wichser sich richtig auslassen konnte, und bin direkt auf ihn los. Viel weiß ich nicht mehr, außer, dass am Ende mehr Hackfleisch als Mensch vor mir lag."

 

"Und Lily hat davon was mitbekommen?", vermutete MJ und beide Männer nickten.

 

"Ja", wisperte Dr. Lewis, "die Überwachungskamera eines nahen Geldautomaten hat alles aufgezeichnet. Zu dem Zeitpunkt war Lilith mal wieder auf der Jagd nach jedem, den sie irgendwie erpressen konnte, um ihr Portemonnaie zu füllen. Schlechtes Timing, sag ich dir."

 

Wie grausam Lily Theodora gewesen war, wurde MJ erneut schlagartig bewusst. Sie hatte vor gar nichts Halt gemacht. Weder vor einem Mann, der seinen Geliebten gerettet hatte, noch vor Kindern eines Waisenhauses, die sie ohne zu Zögern ausliefern wollte. 

"Ich verstehe, was Sie sagten, Jacob", gestand sie. "Sie haben auch jemanden beschützt, der Ihnen wichtig ist. Darin sind wir uns ähnlich, nicht wahr?"

 

"Ja", bestätigte er, "mit der gleichen Konsequenz. Der Wichser ist tot. Man hat mich zwar nie überführt, aber trotzdem habe ich den Tod eines Menschen zu verantworten", sprach er mit einer Überzeugung, die MJ an jemanden erinnerte, an den sie immer noch nicht denken wollte. Jacobs nächster Satz bohrte sich wie ein Pfeil in ihr Herz. "Und ich würde diese Schuld immer wieder auf mich laden, wenn ich damit den Mann schützen kann, den ich liebe."

 

"Lilith hat das Video der Kamera irgendwo gespeichert", seufzte Dr. Lewis. "Und falls sie tatsächlich mal die Wahrheit gesagt hat, wird es nach 48 Stunden ins Internet geladen, sobald ihr etwas zugestoßen ist. MJ", flehte er schließlich, packte sie an den Schultern, sank auf die Knie und zog sie an sich, "ich bitte dich inbrünstig. Sag uns, wie wir das stoppen können. Sonst war alles umsonst. Man wird Jacob verhaften. Das verkrafte ich nicht. Ich will ihn nicht verlieren, hörst du?"



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