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Totgeglaubte leben länger!

von

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Die Maske

Lilith drückte den Lichtschalter und zuckte zusammen, als hätte sie direkt in die Stromleitung gefasst. Geschockt starrte sie in den Überwachungsraum, der unter aufblitzenden Neonröhren nur schwerfällig seine Konturen annahm. Aus den Schatten tauchten weiße Wände und graue Spinte, die nicht ansatzweise so stocksteif dastanden wie Lilith selbst - oder ihr Herz. Erst das Pling der Lampen brachte es wieder zum Schlagen.

 

"Was zum Henker?", keuchte sie mit einer Hand auf der Brust. Ihre andere zitterte, während sie auf den Verursacher des Schrecks deutete, der mit stoischer Ruhe und einer Hasenmaske vor dem Gesicht auf dem Drehstuhl vor den Monitoren hockte, die das Geschehen in der Garage, dem Aufenthaltsraum, den Fluren und den Krankenzimmern zeigten.

 

"Hast du dich beruhigt?", wollte der Mann wissen, der jedes übertragende Bild gleichzeitig betrachtete, obwohl das theoretisch vollkommen unmöglich war. Praktisch war er dazu definitiv in der Lage, wie er schon häufig bewiesen hatte. Womöglich behinderte ihn dabei auch keine Maske.

 

"Noch nicht", gestand Lilith und stützte sich in den Türrahmen, da sich das Beben ihres Herzens jetzt auch in ihren Beinen bemerkbar machte. Sie fühlte sich an ihre ersten Versuche auf Schlittschuhen zurückerinnert. "Du hast mir echt einen Schock eingejagt!", maulte sie. "Was soll der Mist?"

 

L schob das grinsende Hasengesicht auf seine Stirn und präsentierte darunter seine eigene ungerührte Miene. "Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken." Er neigte den Kopf und fixierte Lilith eingehend. "Deine Reaktion erscheint mir übertrieben, wenn ich bedenke, dass es sich bei der Maske um dein Eigentum handelt. Allerdings -"

 

"Stimmt", stutzte Lilith. "Hast du die aus meinem Zimmer geklaut? Die Maske hing doch eigentlich an meinem Regal."

 

"- war meine Frage nach deinem Befinden nicht auf die jetzige Situation bezogen", überging L ihren Einwand und neigte seinen Kopf auf die andere Schulter, als wolle er Lilith aus jedem möglichen Winkel betrachten.

 

Sie wich seinem Blick aus. "Was meinst du?"

 

"Deinen emotionalen Ausbruch, nachdem wir Dr. Lewis in Mellos Zimmer angetroffen haben."

 

"Ach das", murmelte Lilith und hoffte, wenigstens etwas gefasster zu klingen als sie sich fühlte. Erfolglos. Ihre Stimme flatterte, zitterte annähernd wie ihre Hände, die sie eilig in den Ärmeln ihres weißen Pullovers verschwinden ließ. "Ich habe mich ein bisschen beruhigt, ja", stammelte sie weiter. "Weil der Doc gerade noch mal meinte, dass die OP ganz gut verlaufen sei. Was das Koma angeht, hat er seine Meinung aber nicht geändert." Fahrig zupfte sie an den Bündchen, krallte sich in ihnen fest, zerrte sie über ihre Fingerkuppen, obwohl sie wusste, dass jedes Versteckspiel überflüssig war. Etwas vor L zu verbergen war schlichtweg unmöglich. Sie hatte es lang genug versucht.

 

"Verstehe", raunte er nach abschließender Musterung und nickte. "Setz dich." L glitt aus seiner Hocke. Blanke Füße landeten auf den Fliesen, umrundeten den Drehstuhl und platzierten sich dahinter. Seine Aufmerksamkeit schweifte umgehend zurück auf die Monitore, doch Lilith wusste, dass sie dadurch nicht aus den Beobachtungen entlassen war. Natürlich könnte sie sich der Analyse entziehen, indem sie einfach ging, Ls Aufforderung ignorierte und sich in ihrem Zimmer verbarrikadieren, aber wozu? Um mit ihren Gedanken allein zu sein, die sofort zu dem Patienten abschweifen würden, von dem niemand wusste, ob er überlebte? Was brachte das? Am Ende würde Lilith ja doch wieder in den Überwachungsraum zurückkehren, der ihre einzige Möglichkeit bot, ein Auge auf den komatösen Mann zu werfen. Mehr konnte sie nicht tun.

 

"Verdammt", verfluchte sie sich selbst und ballte die zittrigen Hände zu ebenso zittrigen Fäusten. Ihre Muskeln zuckten unkontrolliert, während sie den Platz neben L anvisierte, darauf zu schwankte und schließlich in das Polster sackte. Der Drehstuhl knarzte, als Lilith sich den Bildschirmen widmete. Einem nach dem anderen. Die Flure waren verlassen, die Garage in Dunkelheit gehüllt und im Aufenthaltsraum wurde das Abendessen vorbereitet. Die Krankenzimmern mied sie. "Sieht alles ganz ruhig aus, hm? Niemand ist uns hierher gefolgt. Und falls doch, würde Ricks Sicherheitssystem bestimmt funktionieren, oder?"

 

Lilith hielt den Atem an, als Ls Kopf neben ihren schwebte wie eine Spionagedrohne. "Natürlich", erklärte er aus nächster Nähe, ohne zu blinzeln. Beiläufig fügte er hinzu: "Der Alarm würde sofort ausgelöst, sollte sich ein Unbefugter in unseren Räumlichkeiten aufhalten. Zudem ist das Verteidigungssystem einsatzbereit. Die Gasbehälter sind ausreichend gefüllt."

 

"Klingt doch gut. Auf Rick ist eben Verlass."

 

"Wieso siehst du nicht auf die Monitore, die die Krankenzimmer zeigen?", wollte L wissen. "Ich hatte angenommen, dass dein Interesse vorrangig diesen gelten würde." Sein Daumen schob sich zwischen seine Lippen. "Möglicherweise vermeidest du es aber, da -"

 

"Ich vermeide gar nichts", zischte Lilith. "Glaubst du etwa, ich hätte Angst, ihn anzusehen, während er dort im Bett um sein Leben kämpft? Schwachsinn! Wenn das so wäre, wäre ich wohl kaum hierher gekommen, oder?", keifte sie weiter, riss den Kopf zu L und zuckte zusammen, als sein Daumennagel vor ihrer Nase knackte.

 

"Nein", raunte er monoton. "Möglicherweise vermeidest du die Betrachtung durch die Monitore, weil du es bevorzugst, lieber direkt zu ihnen zu gehen."

 

Lilith konnte ihre geweiteten Augen in Ls erkennen - wie in einem Spiegel, den man nicht vorgehalten bekommen wollte. "Und nochmal: Schwachsinn", betonte sie. "Du weißt ganz genau, dass ich das garantiert nicht will. Mich ihnen zu zeigen steht wirklich ganz weit unten auf der Liste der Dummheiten, die ich anstellen werde."

 

"LIFO", setzte L so trocken dagegen, dass Lilith schlucken musste. "Last in - first out. Nur weil etwas ganz unten auf einer Liste steht, bedeutet das nicht, dass es zuletzt abgearbeitet wird. In diesem Fall geht es um Prioritäten. Und deine oberste sollte es sein, persönlich die Patienten zu besuchen."

 

Lilith konnte dem durchdringenden Blick nicht länger standhalten. Schnaufend wandte sie sich ab und kreuzte die Arme vor ihrer Brust, presste sie an sich, als könne sie dadurch ihr Herz davon abhalten gegen ihre Rippen zu donnern. Ls Einwurf regte sie auf. Wütend war sie jedoch nicht. "Warum?", murrte sie in die Richtung der nächstbesten Wand. "Warum sollte ich das machen?"

 

"Muss ich dich an die Wahrscheinlichkeit erinnern, dass zumindest einer unserer Gäste sterben könnte?"

 

"Wie kannst du sowas sagen?", schoss Lilith zurück und Tränen in ihre Augen. Hektisch wischte sie diese beiseite, ehe sie sich zu L umdrehte und ihn warnend anstarrte.

 

"Ich beziehe mich auf die Aussage des Doktors", argumentierte L gewohnt sachlich, biss dabei allerdings energischer als sonst auf seinen Nagel. "Das dürfen wir nicht außer Acht lassen. Daher musst du dir bewusst werden, dass dies deine letzte Chance sein könnte, ihm nahe zu sein. Sollte er nicht aus dem Koma erwachen, gibt es keine weiteren Gelegenheiten für dich."

 

Ein Schlag in die Magengrube hätte Lilith nicht heftiger treffen können. Sie fuhr zusammen, duckte sich unter der Wahrheit, die L in den Raum geworfen hatte, und konnte ihr doch nicht ausweichen. Natürlich hatte er recht. "Aber", wimmerte sie, "aber falls er wach wird, während ... während ich ... dann ..."

 

"Das ist nicht ausgeschlossen", bekannte L mit einer Nuance in seiner Monotonie, die Lilith aufhorchen ließ. Sie blinzelte, um genau erkennen zu können, worauf er hinauswollte. "Dein Wunsch anonym zu bleiben, beherrscht deine Gedanken nach wie vor", erklärte er weiter. "Aufgrund dessen schlage ich dir vor, das hier zu nutzen." Endlich entließ er den Daumen zwischen seinen Lippen, führte ihn an seine Stirn und zupfte sich die Hasenmaske vom Kopf.

 

"Was? Ich kapier nicht", keuchte Lilith. "Was soll ich damit?" Wie hypnotisiert starrte sie auf das weiße Plastik, welches an einem Gummiband vor ihrer Nasenspitze baumelte.

 

"Aufsetzen", meinte L. Das Hasengesicht plumpste in Lilith' Schoß. "Wie damals, bei meinem Erwachen."

 

"L", seufzte sie, "das war doch nur, weil ..." Sie stockte, schob sich einige blonde Haarsträhnen hinters Ohr und atmete durch. Erst dann wagte sie es, die Maske behutsam in die Hände zu nehmen, um sie sich nach Jahren wieder genau zu betrachten. Den pausbäckigen Hasenkopf zierte ein Grinsen, das sich fast von einem Ohr zum anderen zog. Eine Stupsnase stach unter schwarzen Augen hervor, durch die man nur sehen konnte, wenn man die Maske selbst trug. Alles in allem handelte es sich um ein gewöhnliches Accessoire, das man in jedem Discounter kaufen konnte, aber auch um ein ungewöhnliches Geschenk, über das sie sich einst sehr gefreut hatte. Vor langer Zeit. "Die Situation ist jetzt eine ganz andere, also ..."

 

"Du hast damals deine Emotionen dahinter verborgen", erinnerte L. "Zusätzlich bliebe nun auch dein Gesicht unerkannt, ebenso deine Stimme, da das Material sie verzerrt. Somit", folgerte er, während er auf die Tür zu tapste, "besitzt du ein Element, das deine Identität effektiv unter Verschluss hält."

 

"Element?", gluckste Lilith humorlos. "Das Ding ist ein Spielzeug." Sie wollte lachen, Ls Vorschlag als Blödsinn abtun, ihm Abfälligkeiten an den Hinterkopf werfen - konnte es aber nicht. Stattdessen starrte sie auf die Maske, schwenkte sie, drehte sie von der Vorder- auf die Rückseite, schwenkte sie wieder. Das leichte Plastik wog unerwartet schwer in ihren Händen.

 

"Ein Spielzeug", wiederholte L, als er die Tür erreichte. "Dann solltest du damit spielen." Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er in den Flur und trottete davon. 

 

Lilith hörte seine sich entfernenden Schritte wie das Ticken einer Uhr. Sekunden verstrichen, formten Minuten, in denen sie bloß regungslos auf dem Stuhl saß, die Maske betrachtete und nachdachte. Über ein Versprechen, das sie sich selbst einst gegeben hatte, und über einen Wunsch, den sie sich so gern erfüllen wollte, obwohl sie genau damit das Versprechen brechen würde. Sollte sie? Oder sollte sie nicht? Wollte sie? Oder wollte sie nicht?

 

Sie wollte; hatte es seit Jahren gewollt, aber nie den Mut aufgebracht, diesem Willen nachzugeben. Bis jetzt. 

 

"L sagt, dass ich mich hier hinter verstecken kann", murmelte sie, "also kann doch nichts schief gehen, oder?" Unbewusst kippte sie das Hasengesicht, damit es ihr zunickte, sie bestätigte, ihr Mut machte und die Angst vor dem nahm, das kommen könnte. 

"Ja", hauchte Lilith, "es wird bestimmt klappen. Er wird mich nicht erkennen, falls -" Sie schüttelte den Gedanken von sich. "- sobald er aufwacht. Und wenn er es überstanden hat, werde ich einfach wieder verschwinden. Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut", versuchte sie sich einzureden und den Zweifel in ihrer eigenen Stimme zu ignorieren. "Alles wird gut. Alles wird gut", wiederholte sie unablässig, bis sie ihrer Lüge beinahe glaubte und es endlich wagte von der Maske aufzusehen. Ihr Blick suchte den Monitor, der das erste Krankenzimmer zeigte, in dem Dr. Lewis gerade nach dem Patienten sah. Routiniert prüfte er die Verbände und den Tropf, der neben dem Bett angeschlossen worden war, kontrollierte die Vitalwerte auf den Geräten und verließ schließlich das Zimmer. Ob er nun zu Mello in den gegenüberliegenden Raum ging, wollte Lilith nicht wissen. Sie achtete einzig auf das rote Haar des Mannes, den das Koma gefangen hielt, starrte auf sein bleiches Gesicht, das man auf dem weißen Kissen kaum ausmachen konnte, und erkannte einmal mehr, wie sehr sie sich danach sehnte seine Wangen zu streicheln. Vielleicht - nur vielleicht - würde er es spüren und dadurch wissen, dass es noch jemanden gab, der über ihn wachte und ihn so liebte wie bloß Lilith es konnte. Sagen konnte sie es ihm zwar nie wieder, aber es zu zeigen war möglich. Zumindest jetzt.

 

"Ich bin bei dir", hauchte Lilith an dem Kloß vorbei, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Sie schluckte, straffte die Schultern und stand auf, ohne den Patienten aus den Augen zu lassen. Erst als sich ihre Sicht durch die Hasenaugen verdunkelte, wandte sie sich ab. "Gleich." Fahrig zog sie sich das Gummiband über den Kopf und zupfte es über ihren zerzausten Dutt.

"Gleich bin ich da", versprach sie, richtete das Plastik vor ihrem Gesicht und stülpte sich ihre Kapuze über. Zittrige Fingerkuppen ordneten den Stoff, bis er so saß, dass weder Haut, noch Haar hervorblitzten. Sie atmete ein. Und aus. Roch den künstlichen Duft, fühlte einen warmen, feuchten Film, der sich auf ihre Wangen legte, wie ein Schutzschild, hinter dem sie sich verstecken konnte. Lilith verschmolz mit der Maske. Ja, so war sie sicher; unbekannt für diejenigen, die sie nicht erkennen durften. Eine undurchschaubare Fremde, die irgendwann einfach wieder verschwinden würde, sobald die Zeit gekommen war. Doch bis dahin wollte sie da sein. Für ihn. 

"Mail, ich komme", hauchte sie und trat in den Flur.



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