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Totgeglaubte leben länger!

von

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Hochmut kommt ...

Für Lily Theodora gab es nur einen Menschen, der ihr wirklich etwas bedeutete: Sie selbst. Sie liebte sich – ihren Charakter, ihre Fähigkeiten und natürlich ihr Aussehen. Letzteres galt es besonders intensiv zu pflegen.
 

"Shampoo, Shampoo, Shampoo", murmelte sie, als sie durch die Gänge eines winzigen Supermarktes stöckelte. "Wo findet man in diesem Saftladen das verflixte Shampoo?"

Abfällig schweifte ihr Blick über die Regale, in denen Lily jedoch nichts fand, das ihrer würdig war. NoName-Produkte im Sonderangebot. Lieber hätte sie sich den blonden Schopf rasiert, statt diesen mit billigem Shampoo zu konfrontieren, auf dem ausgemergelte Hausfrauen so unvorteilhaft grinsten, dass man sie eher als Negativbeispiel für Antifaltencreme werben lassen sollte.

"Geht doch!" Schwungvoll stieß Lily einen fremden Einkaufswagen beiseite, neben dem sie etwas gefunden hatte, das man wenigstens aus dem Fernsehen kannte. Eine entsetzte Rentnerin eilte dem ratternden Gefährt hinterher.

Lily ignorierte die alte Frau. "Na, dann schauen wir mal." Sie zupfte ihren roten Minirock zurecht, beugte sich vor und begutachtete die Fundstücke. Die Flaschen mit Aufschriften wie 'Für brüchiges Haar' waren Lilys Beachtung gar nicht erst wert, weshalb sie sich kurzerhand für eine entschied, die ihrer glänzenden Pracht noch mehr Glanz versprach. Zufrieden schnappte sie das Shampoo, welches sie nach einer eleganten Drehung direkt in ihren Wagen gleiten lassen wollte. Es landete scheppernd im Korb.
 

"Hast du mich erschreckt!", quietschte Lily mit einer Hand auf der Brust. Sie fand aber schnell zu ihrer selbstsichereren Miene zurück und erwiderte damit den Augenkontakt eines kleinen Mädchens, das sie vom Ende des Ganges aus anstarrte. Brünette Strähnen hingen dem Kind im Gesicht, während der Rest der Mähne chaotische Nester auf schmalen Schultern formten. Sie war vollkommen zerzaust und heruntergekommen. Ebenso das gelbe Kleidchen, welches im Februar definitiv unangebracht war. Dünner Stoff und Blümchenmuster gehörten in den Frühling, nicht in den Winter.
 

Lily beäugte das unpassende Outfit noch einige Sekunden; fixierte zierliche Finger, die den Saum des Kleids umklammerten, und entschied dann, das Mädchen vorerst nicht auf ihren Modefauxpas hinzuweisen. So nervös wie die Kleine dastand, hatte sie vermutlich eh kein Ohr für Stylingtipps. Dafür aber definitiv ein Auge für wahre Schönheit. Warum sonst sollte sie Lily so offensiv angaffen?
 

Lily richtete ihr imposantes Dekolleté, ehe sie ihr Haar über die Schulter warf. Ja, sie war ein Blickfang. Wohlgeformte Kurven, eine perfekte Frisur und feine Gesichtszüge vollendeten eine Frau, die ihr Aussehen einzusetzen wusste, um das zu erreichen, was ihr nicht minder ausgeprägter Verstand ausgeklügelt hatte. Nur sah man natürlich nicht, was sich unter dem blonden Schopf versteckte, also war die Faszination des Kindes eindeutig auf äußere Werte zurückzuführen. Damit hatte Lily aber kein Problem. Warum sollte sie einem Gör auch verübeln, was ihr sonst im Umgang mit Menschen wichtig war? Ihretwegen durfte jeder schmachtend glotzen. Ob Mann oder Frau, alt oder jung. Hauptsache Lily zog daraus ihren Vorteil.

Nachteilig war es allerdings, wenn man sie so derart penetrant anstierte, dass Lily nicht in der Lage war, ihre eigene Selbstbeweihräucherung zu genießen. Leider war genau das jetzt der Fall.

Darum machte sie auf dem Boden der Tatsachen kehrt, schnappte ihren Wagen und stolzierte aus der Kosmetikabteilung. Bohrende Blicke beschleunigten ihren Gang.
 

Klackernde Absätze trugen sie zum nächsten Punkt auf ihrem Einkaufszettel. In die Obstabteilung, von der sie noch weniger erwartete als vom übrigen Teil des Vorstadtlädchens. Zu gern hätte sie lieber den exklusiven Markt ihres Vertrauens besucht, aber aufgrund einiger Umstände und der unerwünschten Aufmerksamkeit gewisser Behörden, war Lily nun mal dazu verdammt, vorläufig in Geschäften einzukaufen, die abgelegener waren. Und nicht videoüberwacht.
 

Seufzend stoppte sie vor den Auslagen, in denen Lily genau das fand, was sie vermutet hatte. Enttäuschung. Äpfel und Birnen. Umfangreicher war das aktuelle Obstangebot nämlich nicht.

"Saftladen", maulte sie, verkniff es sich aber, ihrem Unmut lautstark Ausdruck zu verleihen und riss stattdessen bloß energischer als nötig eine Plastiktüte von einer Rolle. Natürlich handelte es sich bei den Tüten um die Sorte, die kein Mensch auf Anhieb öffnen konnte, weshalb Lily erst nach etlichen Anläufen die hauchdünne Folie auseinanderfummelte. Ihre Selbstbeherrschung knisterte gefährlich und drohte gleichermaßen zu zerreißen wie der Henkel ihres derzeitigen Gegners. Wenn jetzt noch die Äpfel, die Lily in die Tüte hatte plumpsen lassen, gleich wieder herausfallen würden, konnte sie für nichts mehr garantieren. Dann würde sie ihrer Wut freie Bahn gewähren, erst einen Aufstand machen und letztendlich dafür sorgen, dass dieser Laden in der technologischen Steinzeit landete.

Allerdings müsste Lily anschließend wohl oder übel die nächste Kleinstadt auskundschaften, in der sie sich in den kommenden Wochen mit Lebensmitteln bevorraten konnte. Und darauf hatte sie noch weniger Lust als auf herunterfallende Äpfel und widerspenstige Tüten.

Also knotete sie die Enden ihrer Geduldsfäden mitsamt der Henkel wieder zusammen, straffte die Schultern und verfrachtete die mühsam verpackte Beute in ihren Wagen. Erneut schepperte das Gitter.
 

"Du schon wieder!", fuhr sie zusammen, als sie das Mädchen aus der Kosmetikabteilung entdeckte. Die Blümchen des Sommerkleides ließen die übersichtlichen Obstauslage beinahe frisch wirken. Im Gegensatz zu dem Kind selbst, welches noch immer nichts besseres zu tun hatte, als zu glotzen.

Diesmal verzichtete Lily jedoch darauf, ihrem Fan Beachtung zu schenken, und entschied sich einfach, den letzten Punkt ihrer Einkaufsliste anzugehen. Mit gerümpfter Nase stöckelte sie an dem Mädchen vorbei und hoffentlich bald aus dem mickrigen Laden heraus, in dem man ständig den gleichen Leuten über den Weg lief.
 

Wie schnell sich eine solche Begegnung wiederholen konnte, lernte Lily vor dem Regal mit den tierischen Erzeugnissen. Ihre Hand ballte sich um eine Packung Milch, deren 3,5 Prozent Fettanteil eigentlich gereicht hätten, um für einen Nervenzusammenbruch zu sorgen.

Sie schleuderte ihren Kopf herum und gleichzeitig dem Mädchen all ihren Missmut entgegen: "Hast du ein Problem, verdammt?"
 

Die Kleine stolperte zurück, fing sich aber an einem Eierregal, ohne dabei auch nur einmal wegzusehen. Trübe Augen starrten zwischen brünetten Strähnen hindurch, die sich wie Würmer krümmten, als das Kind endlich den Kopf schüttelte.
 

Lilys Geduldsfaden riss endgültig. "Dann such dir gefälligst jemand anderen, dem du auf die Nerven gehen kannst!" Ihre Zähne rammten sich in ihre Zunge, doch es war zu spät. Lily hatte geschrien. Und zwar laut genug, um genau die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die sie strikt hatte vermeiden wollen. Neugierige Blicke lugten hinter Regalen hervor. Eine Verkäuferin streckte den Kopf über die Kasse. Rentner unterbrachen ihren Plausch und Schüler zückten ihre Handys, von denen Lily wusste, dass sie mit hochauflösenden Kameras ausgestattet waren. Wie viele Leute sich tatsächlich in dem Hinterlandsupermarkt aufhielten, wurde ihr schlagartig klar.
 

"Mist", zischte sie ungehört, ehe sie das strahlendste Lächeln aufsetzte, das sie zu bieten hatte. Ihre Mundwinkel spannten sich schmerzhaft, aber das war Lily jetzt vollkommen egal. Wichtiger war es ihr, dass die verfluchten Kameras keinen Grund fanden sie abzulichten, um dann direkt ihr Foto ins Internet zu spucken. Auf eine Seite, die nur dafür geschaffen worden war, unausstehliche Menschen anzuprangern, damit sie früher oder später einer angeblich gerechten Strafe zugeführt werden konnten. Eine Frau, die ein unschuldiges Mädchen grundlos anschrie, zählte vermutlich zu genau diesen unausstehlichen Menschen. Und Lily wollte nicht herausfinden, ob der Henker namens Kira ein großer Kinderfreund war.
 

"Hör zu, Kleine", säuselte sie so liebenswürdig und laut wie möglich. Jeder Beobachter sollte ihre Entschuldigung hören können. "Es tut mir leid, ja?" Mit mitleiderregender Miene beugte sie sich hinab. "Ich bin heute etwas gestresst, aber ich wollte das natürlich nicht an dir auslassen. Mein Hundewelpe ist krank und meine Mama hat mir vorhin erst erzählt, dass sie weit weg ziehen will", log sie ohne rot zu werden. "Das nimmt mich sehr mit, weißt du? Wobei das natürlich kein Grund ist, dich anzumeckern. Kann ich das wiedergutmachen? Vielleicht -" Ungeschickt zupfte Lily eine Geldbörse aus ihrer Handtasche. Hoffend man würde ihre zittrigen Finger ihrem angeblichen schweren Los zuschreiben und nicht der Angst vor Kira. "- magst du dir als Trost was Schönes kaufen?" Fahrig drückte sie dem Kind einige Geldnoten in die Hände, ehe sie sich überwand und den, mit billigen NoName-Produkten gepflegten, Schopf tätschelte. 'Für brüchiges Haar' ergab plötzlich einen Sinn.
 

Lily atmete auf, als das Mädchen die Scheine im Gürtel ihres Kleidchens verstaute. Kollektiv schien auch jeder andere Anwesende die Entschuldigung zu akzeptieren. Köpfe wandten sich ab. Belanglose Rentnergespräche wurden fortgesetzt. Die Kasse piepte. Und - das war das Wichtigste - Handys verschwanden wieder in der Versenkung. Für wie lang wollte Lily jedoch nicht herausfinden, weshalb sie schleunigst ihren Einkaufswagen packte und damit davonstürmte.
 

~
 

Gehetzt schleuderte Lily ihre Einkäufe in den Kofferraum ihres roten MX5. Sie schlug die Klappe zu, stützte sich darauf ab und seufzte erleichtert. Ihr Atem glitt durch die abendliche Winterluft, hinein in die spärliche Beleuchtung des Parkplatzes.

"Verdammter Mist", murrte sie. Dass ein paar Besorgungen ebenso aufregend sein konnten wie einige ihrer sonstigen Aktivitäten, hätte sie sich niemals träumen lassen, aber ja, das konnten sie. So absurd es auch war.
 

Lilys Puls raste annähernd so schnell wie Monate zuvor; nach ihrem zweiten Besuch bei einem gewissen Bankdirektor, dessen privaten Laptop sie von Beweismaterial hatte befreien müssen. Manuell, weil dieser Kerl nichts von einer heimischen Internetverbindung gehalten hatte. Umso mehr hatte er aber die Gesellschaft blonder Frauen bevorzugt, was Grund genug für Lily gewesen war, ihn beim ersten Mal persönlich zu beehren. Ein geschickt platzierter USB-Stick hier, ein paar gezielte Klicks da, und schon waren ihr alle Wege offen gewesen, um sich das zu holen, was ihr nicht gehört hatte. Geld. Viel Geld, welches der Bankier sicher mit allen Mitteln zurück geholt hätte, wenn er Lily beim zweiten Besuch erkannt hätte. Zum Glück war es dazu aber nicht gekommen, da er hinter einer betagten Versicherungsagentin niemals die hübsche Verführerin erwartet hatte, die ihn letzten Endes ruinierte. Praktischerweise hatte diese Tarnung Lily nicht einmal den kleinsten Teil ihrer Beute gekostet.

Ein Hoch auf die mehr oder minder freiwilligen Mitarbeiter, derer sie sich jederzeit bedienen konnte.
 

Selbstbewusst schluckte Lily die Aufregung herunter und grinste: "Alles Versager." Ihre stolzgeschwellte Brust zwang sie hinter den Reißverschluss einer Lederjacke, ehe sie mit gereckter Nase auf die Fahrertür des Sportwagens zu stöckelte. Elegant glitt sie auf den Alcantarasitz und warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Ihr Makeup saß perfekt.

"Dann wollen wir mal." 160 PS jaulten nach einer Handdrehung auf. Der Rückwärtsgang knallte ins Getriebe. Reifen knirschten auf dem eisigen Beton.

"Nur noch nachhause", stöhnte sie müde.

"Scheiße!", keifte sie hellwach. Lilys Kopf schleuderte aufs Lenkrad zu und bremste knapp vor der Hupe. "Was war das denn?"

Entsetzt starrte sie vom Rück- in die Seitenspiegel, um das zu finden, was ihre Fahrt nach wenigen Zentimetern gestoppt hatte. Sie fand nichts. Kein Auto, das sie gerammt hatte, und keinen Pfeiler. In der hereinbrechenden Nacht war nichts auszumachen, außer einer entfernten Laterne, die unbehelligt vor sich hin flackerte.

"Bitte, nicht schon wieder so ein blöder Hund", flehte Lily, als sie die Tür aufriss. Die Vorhalte einer alten Dackelbesitzerin blitzten durch ihre Erinnerung, ebenso wie die überteuerte Rechnung einer Lackiererei. Dass jetzt aber weder ein Meckern, noch das Quietschen eines Tieres durch die Dunkelheit schrillten, beruhigte Lily vorerst. Dennoch linste sie misstrauisch über den menschenleeren Parkplatz, bevor sie zum Heck ihres Wagens schlich. Vorsichtig lugte sie hinter die Räder.

"Oh, mein Gott!" Lily klammerte sich an die Karosserie, als sie erkannte, was sie diesmal erwischt hatte. Brünettes Haar floss über Asphalt, Blümchen schienen auf gelbem Stoff zu verwelken.

"Fuck, fuck, fuck!", stampfte Lily auf, während ihr Blick von dem regungslosen Mädchen in die Höhe zuckte. Panisch scannte sie die Umgebung. Suchte Zeugen, Beobachter - jemanden, der bereits dabei war, die Polizei zu rufen. Aber weit und breit gab es niemanden, der sie dem Gesetz oder - schlimmer noch - Kira ans Messer liefern konnte.

"Na, wenigstens was", stellte Lily erleichtert fest, ohne wirklich erleichtert zu sein. Immerhin war ihr deutlich bewusst, dass sie trotzdem nicht aus dem Schneider war. Sollte man das Kind nämlich finden, würden die Gaffer aus dem Supermarkt gewiss früher oder später auf die Idee kommen, Lily mit dem Unfall in Verbindung zu bringen. Vielleicht nicht als Verantwortliche, aber bestimmt als vermeintliche Zeugin, die der Polizei Hinweise geben könnte. Und behördliche Aufmerksamkeit galt es schließlich noch immer tunlichst zu vermeiden.
 

Wenn man das Kind aber gar nicht erst fand ... "Du machst mir echt nichts als Ärger!", zischte Lily auf ihr Opfer hinab, während sie es hinter dem Reifen hervorzerrte. Eiskalte Haut brannte in ihren Handflächen, als sie das Kind zur Beifahrertür schleifte.

"Ich nehme dich erst einmal mit und dann sehen wir weiter", sprach sie sich selbst Mut zu. Ächzend hievte sie das Mädchen in den Wagen, bugsierte es auf den Sitz und fädelte den Gurt an schlaffen Ärmchen vorbei. In der heimlichen Hoffnung, dass Sicherheit für den kleinen Körper noch eine Rolle spielte.

"Du atmest", stellte Lily nüchtern fest, "und blutest scheinbar nicht. Also tu mir den scheiß Gefallen und verreck jetzt ja nicht."

Sie schlug die Beifahrertür zu, ehe sie um den Wagen hetzte und Position hinter dem Lenkrad bezog. Motorengeräusche brummten durch den Innenraum. In beruhigender Monotonie, die Lily dabei half, ihr Handy einigermaßen gelassen aus ihrer Jackentasche zu fummeln. Ein tiefer Atemzug festigte ihre Stimme, die, so herrisch es ihr möglich war, in den Hörer fauchte: "Doktor! Ich erwarte Sie in einer halben Stunde bei mir zuhause. Bringen Sie Ihren Koffer mit!" Den Einspruch ignorierte Lily. "Das ist mir scheißegal, was Ihr Lover davon hält. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr kleines Video online geht, machen Sie was ich Ihnen sage! Eine halbe Stunde!" Knurrend beendete sie das Gespräch und stopfte das Telefon wieder in ihre Jacke. Nach einem Blick in den Spiegel, raste Lily davon.
 

Als einziger Zeuge blieb ein Ziegelstein zurück, der neben der Parkbucht im Laternenschein flimmerte. Eine Reifenspur zog sich dunkel über seine Oberfläche.

~
 

Bereits nach 25 Minuten preschte der MX5 über die Einfahrt eines Appartementhauses im äußeren Gürtel Londons. Zielsicher steuerte Lily ihre Parknische an, die, fernab der übrigen Stellplätze, genügend Schutz vor unliebsamen Blicken bot. Neugierige Nachbarn hatten keine Chance sie hier zu beobachten. Weder Lily, noch das zweite Auto, welches im Schatten des Gebäudes auf sie wartete. Der dunkelgrüne Kombi verschmolz beinahe mit der hereinbrechenden Nacht.
 

"Erst maulen und dann doch überpünktlich hier sein?", fauchte Lily, als sie aus ihrem Wagen stieg. Lieblos warf sie die Tür hinter sich ins Schloss.
 

Ein Mann tat es ihr gleich. Seinen grauen Trenchcoat zog er noch rechtzeitig beiseite, bevor er sich in der Karosserie verfangen konnte. "Glücklicherweise war ich gerade dabei das Krankenhaus zu verlassen, als Sie mich angerufen haben, Miss Theodora. Daher hatte ich es nicht weit", entgegnete er mit deutlich unterdrücktem Missmut. "Warum wollten Sie mich jetzt noch sehen?"
 

"Aber, aber, Doktor Lewis", grinste Lily boshaft, "darf ich Sie nach Ihrem Feierabend nicht mal zu einem schönen Tässchen Tee einladen? Das wäre doch gemütlich, oder? Und wenn wir kuschelig beieinander sitzen, könnten wir uns ja auch ein Video ansehen. Klingt doch lustig, hm?"
 

Was der Arzt eben noch zu unterdrücken versucht hatte, zeichnete sich jetzt unverkennbar in seiner Miene ab. Abscheu zog Riefen zwischen seinen Augenbrauen. Zornesfalten krümmten sich unter einem schwarzem Haaransatz, der allmählich zu ergrauen drohte. Dass Lily selbst für den Farbwechsel verantwortlich war, bezweifelte sie nicht. Tatsächlich erfüllte sie das sogar mit einem gewissen Stolz.
 

"Lassen Sie das Video aus dem Spiel und sagen Sie mir lieber, was Sie wollen", zischte Dr. Lewis.
 

Lily schnaubte verächtlich, während sie den Trotz ihres unfreiwilligen Handlangers abwinkte. "Locker bleiben, Freundchen!", mahnte sie. "Ich hab Sie nicht gerufen, weil ich Sehnsucht hatte, sondern weil ich Ihr Können als Arzt brauche. Sehen Sie!" Auffordernd nickte sie über ihre Schulter hinweg in den Innenraum ihres Wagens. "Na los! Und wenn Sie schon dabei sind, können Sie die Kleine auch gleich in meine Wohnung schleppen. Hier draußen sieht man uns vielleicht noch." Misstrauisch linste Lily an der Glasfront des Gebäudes hinauf. Obwohl sie sicher war, dass man sie hier nicht entdecken konnte, wollte sie jedes Risiko ausschließen. Vorsicht war bekanntermaßen ja besser als Nachsicht, nicht wahr?
 

"Die Kleine?", hakte Dr. Lewis alarmiert nach und eilte um den Sportwagen. Die Beifahrertür flog auf. "Was ist mit ihr?"
 

"Angefahren", erklärte Lily wortkarg, während sie ihre Einkäufe aus dem Kofferraum angelte. Anschließend rammte sie die Klappe zurück ins Schloss. Der entsetzte Blick des Arztes schoss ihr entgegen.
 

"Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen", bestimmte er, als seine Finger den Puls des Kindes suchten, "und die Polizei benachrichtigen. Ihre Eltern sind sicher schon wahnsinnig vor Sorge."
 

Lily ballte die Fäuste. Ihre Stimme knisterte annähernd wie die Tüten in ihren Fingern. "Polizei? Muss ich Sie erst daran erinnern, wie wichtig es Ihnen selbst sein sollte, dass ich keinerlei Kontakt zu irgendwelchen Uniformierten habe? Sie haben ja wohl nicht vergessen, was geschieht, sollte ich eingebuchtet werden. Ihre Karriere wäre bereits 48 Stunden darauf vorbei, Doktor", warnte sie mit einem gefährlichen Lächeln auf den Lippen. Trotz der Umstände amüsierte es Lily, dass sie den älteren Mann genauso fest in den Händen hatte wie ihre Lebensmittel.
 

Dr. Lewis knirschte hörbar mit den Zähnen, aber dann formte auch sein Mund etwas, das einem Lächeln ähnlich kam. "Das habe ich natürlich nicht vergessen, Miss Theodora." Er strich dem Mädchen einige Strähnen aus dem Gesicht, zog es an sich und hob es schließlich behutsam aus dem Auto. "Wenn Sie vielleicht so freundlich wären", wandte er sich an Lily, "meine Tasche zu nehmen. Sie steht neben meinem Wagen."
 

Die herrschende Stimmung stand der Winterluft in nichts nach. Lily und Dr. Lewis warfen sich eisige Blicke zu - wissend das einer von ihnen früher oder später diese Nacht bereuen würde. Doch Lily wäre nicht sie selbst gewesen, wenn sie befürchtet hätte, diejenige zu sein, die irgendwann Buße tun müsse. Daher lachte sie hämisch auf. "Aber gern, Doktor."
 

Bepackt mit Einkäufen, einer Ledertasche und ihrem unbezwingbaren Selbstbewusstsein führte Lily den Arzt in das Gebäude.
 

~
 

Im dritten Stock des Appartementhauses thronte Lily auf einem lederbezogenen Hocker neben ihrer Kücheninsel. Seit einer halben Stunde beobachtete sie von dort aus bereits den Arzt, wie er mit geübten Handgriffen das Mädchen untersuchte, das inmitten des offenen Wohnraums auf dem gigantischen Ecksofa ruhte, ohne ein einziges Lebenszeichen von sich zu geben. Ja, gut, sie atmete, aber das reichte Lily nicht. Sie wollte das Gör bei Bewusstsein wissen, einigermaßen wohlauf und dementsprechend fähig, bald von hier verschwinden zu können. Raus aus diesen luxuriösen vier Wänden und vor allem raus aus Lilys Leben. Immerhin hatte sie sich nicht jahrelang für ihren Standard abgemüht, nur um jetzt die Koffer packen zu müssen, weil sie einen verdammten Knirps auf dem Gewissen hatte. Oder schlimmer noch: Um jetzt anfangen zu müssen, Krankenschwester für eine Vollzeitbehinderte zu spielen, die so dumm gewesen war, sich anfahren zu lassen.
 

"Die Kleine wird bald zu sich kommen", riss Dr. Lewis sie aus den Gedanken. Er knipste die Tiffanylampe neben der Couch aus und tauchte das Mädchen somit in erholsame Dunkelheit. Bedächtig schlich er über das Parkett, bis er vor Lily innehielt. "Sie hatte Glück, dass sie nicht ernsthaft verletzt wurde."
 

Lily ignorierte den Vorwurf in seiner Stimme. "Dann kann sie also bald verschwinden, ja?"
 

"Ist das Ihr Ernst?", zischte der Arzt. "Sehen Sie sich das Kind doch mal an. Sie ist schmutzig, offensichtlich seit Tagen ohne vernünftige Nahrung unterwegs und zudem eindeutig nicht auf den Winter vorbereitet. Ich weiß zwar nicht, warum sie allein umherstromert, aber wenn sich niemand um sie kümmert -"
 

"Und was geht mich das an?", fuhr Lily dazwischen. Über verschränkten Armen hinweg fixierte sie stur die Nacht hinter der bodentiefen Fensterfront. Schnee rieselte gegen das Glas, nervig laut, als würde er den Worten des Doktors Nachdruck verleihen wollen.
 

"Hören Sie, Lily", übertönte der das bissige Eis. "Wir wissen beide, dass Sie sich nicht durch Ihre Warmherzigkeit auszeichnen, aber jetzt sollten Sie ernsthaft in Erwägung ziehen, dem Kind Unterschlupf zu bieten. Wenigstens für ein paar Tage." Undefinierbar beäugte er das Sofa, ehe er schweren Herzens seufzte. "Sollten Sie sich dagegen entscheiden, sehe ich mich gezwungen doch die Polizei zu rufen. Unabhängig dessen, was zukünftig mit mir geschehen wird."
 

Lily bedauerte, dass sie anstelle des Görs nicht den Arzt angefahren hatte. Tatsächlich hätte sie es derzeit sogar bevorzugt, sich selbst vor ein Auto zu werfen, wenn sie dadurch den Aufgaben unbezahlten Pflegepersonals aus dem Weg gehen würde. Man sollte sich um sie kümmern. Nicht anders herum.

"Sind Sie so ein Gutmensch, dass Sie sich für dieses Mädchen opfern würden?", knurrte Lily.
 

Dr. Lewis schüttelte den Kopf. "Nein. Immerhin würde ich Sie ohne mit der Wimper zu zucken und mit größter Freude ebenfalls opfern. Den Behörden und vor allem Kira. Ich bin mir sicher, dass er Sie für alles, das Sie getan haben, nur zu gern richten würde."
 

Allein die Erwähnung des angeblichen Gottes jagte Lily einen Schauer über den Rücken als würde sie nackt inmitten des Schneegestöbers stehen. Ihre Haut kribbelte schmerzhaft, bis sie es nicht mehr aushielt. Energisch riss sie ihre Aufmerksamkeit von dem weißen Treiben und warf es auf den Arzt. Überzeugung festigte seine sonst so verweichlichte Miene und hätte er jetzt seinen Kittel getragen, hätte der vermutlich wie ein Heldencape geflattert.

Lily schnaubte verächtlich. "Sie meinen es ernst, ja?"
 

Dr. Lewis unterstrich sein heroisches Auftreten mit verschränkten Armen. Er nickte.
 

"Gut", winkte Lily gereizt ab. "Das Mädchen kann hier bleiben, bis sie sich erholt hat. Aber danach verschwindet sie wieder. Und jetzt hauen Sie endlich ab!", fauchte sie. "Ich rufe Sie an, falls ich Ihre unqualifizierte Hilfe brauchen sollte."
 

Das verheißungsvolle Schmunzeln des Arztes ließ Lily frösteln und bescherte ihr eine Gänsehaut, die erst Minuten nachdem Dr. Lewis aus der Wohnung gerauscht war, verebbte.
 

~
 

Ihre Konzentration hatte den Tiefpunkt erreicht. Trotz diverser Espressos schaffte Lily es einfach nicht, ihre Gedanken auf das zu fokussieren, was ihr Nacht um Nacht genügend Geld einbrachte, um ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Kein Server ließ sich präzise hacken, Daten blieben unauffindbar und Codes weigerten sich, einwandfrei zu funktionieren. Wie sollte man da an Informationen kommen, die man verkaufen wollte?
 

"So ein Dreck", maulte Lily ihr eigenes Spiegelbild im Monitor an, wobei ihr Blick zum unzähligsten Male auf den Teil des Bildschirms huschte, der das Kind im Hintergrund reflektierte. Seit Stunden lag das Gör nun schon unverändert auf dem Sofa, ohne den kleinsten Laut von sich zu geben. Stattdessen schien sie sogar das Zentrum absoluter Stille zu sein, die sich undurchdringlich über die gesamte Wohnung verteilte. Selbst das Summen des Laptops wurde von nervenaufreibender Ruhe verschluckt. Ebenso das Prasseln des Schnees vor der Glasfront.
 

Lily beäugte das weiße Treiben vor sich und gab auf. Ihre Konzentration lag eh längst wie unter einer Lawine begraben, also machten weitere Versuche zu arbeiten definitiv keinen Sinn mehr. Daher wandte sich Lily von der Winternacht ab, drehte sich mitsamt ihres Schreibtischsessels um und fixierte die Dunkelheit im Wohnzimmer. Seufzend stand sie auf.

Wenn sie schon nichts Sinnvolles heute mehr zustande bringen konnte, würde sie wenigstens die Ursache allen Übels im Auge behalten. Vorzugsweise aus nächster Nähe.
 

Gereizt schnappte Lily eine Wolldecke von der Sofalehne und ließ sich darin eingewickelt in die Polster plumpsen. Ja, sie würde den Störenfried vor sich jetzt einfach beobachten. Aufpassen, dass das Mädchen gefälligst zu Bewusstsein kam, und ihr dann gleich klarmachen, wie begrenzt ihr Aufenthalt in dem Appartement war. Nichts und niemand würde Lily davon abhalten!
 

~
 

Lily schmatzte, um die Ödnis von ihrer Zunge zu vertreiben. Ihr Mund war staubtrocken, ebenso ihre Augen, die sich hinter verklebten Lidern vor der boshaft stechenden Sonne versteckten. Wieso legte es dieser verdammte Feuerball schon wieder darauf an, Lily in eine Rosine zu verwandeln? Und wieso verteidigten die sauteuren Jalousien sie nicht, obwohl es geheißen hatte, dass man sich nichts besseres vor den Schlafzimmerfenstern wünschen könnte?

Moment.

Lily rieb sich über die verkleisterten Wimpern und langsam dämmerte es ihr, warum die Sonnenstrahlen ihren makellosen Teint ungehindert attackieren konnten. Nämlich aus einem vollkommen einfachen Grund: Hier hingen noch nicht einmal Gardinen.
 

Bestätigend blitzten ihr die nackten Fensterscheiben des Wohnzimmers entgegen. Lily wandte sich murrend ab und quiekte auf.
 

"Meine Güte", keuchte sie mit einer Hand über ihrem wummernden Herzen. Vorwurfsvoll erwiderte sie den Blick des Mädchens, das ihr in aller Seelenruhe auf dem Sofa gegenüber saß und anscheinend mal wieder nichts anderes zu tun hatte, als zu gaffen.
 

"Du bist echt penetrant", knurrte Lily. Schwerfällig kämpfte sie sich aus ihrer Decke in eine einigermaßen aufrechte Position, die sie allerdings nur mit größter Anstrengung beibehalten konnte. Ihr Rücken war einfach nicht für derartige Übernachtungen geschaffen. Sitzen oder liegen - alles dazwischen widersprach ihrer anspruchsvollen Wirbelsäule.
 

"Entschuldigung", wisperte das Kind demütig und senkte endlich den Blick. Staubige Ärmchen schlangen sich um angewinkelte Knie wie um eine Rettungsboje.
 

Lily genoss das ihr vertraute Oberwasser, überschlug die Beine und ignorierte das Knacken ihres Körpers. Es wäre ja wohl auch gelacht gewesen, wenn das Gör nicht gekuscht hätte, oder? Schließlich hatte Lily bisher noch jeden unterdrücken können. Unabhängig von der Tageszeit. "Gut", gähnte sie. Müdigkeit wehte davon und Sauerstoff lüftete ihre Gedanken, bis sie es schaffte, mental ihren Fragenkatalog aufzuschlagen. "Wie heißt du?"
 

Im Gegensatz zu Lilys erwachtem Hirn, herrschte in dem des Mädchens scheinbar noch immer geistige Umnachtung. Als wäre mit der Frage überhaupt nicht zu rechnen gewesen, riss es die Augen auf. Pupillen huschten in die Höhe, zuckten und suchten einen Punkt, den sie fixieren konnten. Sie fanden ihn irgendwo an einer Wand.
 

Lily verfolgte den Blick ihres ungewollten Gastes und fuhr zusammen. Neben einem gerahmten Dalí hockte eine Spinne, deren dicke, schwarze Beine offenbar allzeit sprungbereit waren. Dünne, schwarz bestrumpfhoste Beine waren es ebenfalls, während Lily ihre jetzigen Möglichkeiten durchratterte. Einen unbezahlten Handlanger anrufen. Den bezahlten Hausmeister anrufen. Selbst zur Tat schreiten und mit einem sehr, sehr langen Besen das Ungeziefer zerklatschen, um anschließend doch eine Hilfskraft rufen zu müssen, die das Bild so versetzte, dass man den Fleck an der Wand nicht mehr sehen konnte.
 

"Ich heiße Mary Jane", meldete sich eine unerwartete Option zu Wort. Das Kind war unbemerkt aufgestanden und sammelte gerade den krabbelnden Albtraum von der Tapete. Behutsam sperrte sie die Spinne zwischen ihre Handflächen. "Meine Freunde nennen mich MJ."
 

Lilys Kinnlade hing über ihrem Dekolleté, schnappte aber wieder in die Höhe, als das Kind zielsicher auf den Balkon neben der offenen Küche zusteuerte. Während MJ die Spinne vor die Tür setzte, fragte sich Lily, ob das Gör vielleicht die gesamte Wohnung schon inspiziert hatte. War es ein Fehler gewesen, einzuschlafen? Hatte sie einen Eindringling mit weniger als acht Beinen übersehen?
 

Kichernd verwarf sie die Vorstellung, da MJ sich viel zu dumm anstellte, um tatsächlich gefährlich zu wirken. Sie bekam ja kaum die Balkontür wieder zu, ruckelte an der Klinke und scheiterte kläglich an einem vereisten Schloss. Erst nach etlichen - für Lily äußerst amüsanten - Sekunden rastete das Türblatt im Rahmen ein.
 

"Wie alt bist du eigentlich? Bei deinem Geschick würde ich ja auf Kindergartenalter tippen", gluckste Lily und überhörte dadurch beinahe das geflüsterte: "Warum spielt das Alter immer eine Rolle?"
 

Lauter antwortete MJ: "Ich bin elf." Sie trat von einem Bein auf das andere, bis sie sich überwand ihrerseits eine Frage zu stellen. "Wo bin ich?"
 

Lily berauschte sich noch einen Moment an MJs Verunsicherung, ehe sie sich erbarmte und antwortete: "In London." Grinsend beobachtete sie, wie sich der Unglaube in dem kindlichen Gesicht ausbreitete. MJs Mund stand offen und ihre Augen machten Tischtennisbällen Konkurrenz. Allerdings vermisste Lily darin den panischen Ausdruck eines Kindes, welches gerade erfahren hatte, dass es sich eine gute halbe Autostunde von ihrem Heimatort entfernt befand. Wie langweilig. "Ich besorg dir ein Zugticket, damit du wieder in dein Kaff fahren kannst", fügte Lily deshalb hinzu, um sich selbst zu motivieren. Wenn MJ schon nicht in der Lage war für unterhaltsame Reaktionen zu sorgen, konnte sie immerhin auch schnellstmöglich wieder verschwinden. Wozu sollte sie denn bleiben? Nur um dümmlich in der Gegend herum zu stehen? Ohne zu blinzeln oder sonstige Anzeichen einer Emotion.

Dass Lilys vermeintlich nette Aussage dann aber doch für Abwechslung sorgen würde, hatte sie nicht erwartet.
 

"Nein", schreckte MJ aus ihrer Starre, "das ist nicht nötig. London ist schön. Ich wollte schon immer mal nach London. In London gibt es viele Sehenswürdigkeiten, die -"
 

"Du meinst, London ist weit genug von dort entfernt, wo du nicht mehr sein willst", stoppte Lily die eindeutig aufgesetzte Euphorie. Mit erhobener Augenbraue suchte sie den Blick des Mädchens, aber der war nur stur aufs Parkett gerichtet. "Dann kommen wir doch mal zur Preisfrage des Morgens", kündigte sie an. "Bist du etwa von Zuhause abgehauen oder warum warst du allein unterwegs? Und wag es ja nicht, mich anzulügen! Dein bloßer Anblick verrät doch schon, dass du planlos umhergeirrt bist. Im Winter. Mit einem hässlichen Sommerkleidchen."
 

"Ich weiß", schluckte MJ. "Das Kleid ist wirklich hässlich."
 

Lily schnaubte verächtlich, doch bevor sie ihrer eigentlichen Frage Nachdruck verleihen konnte, sah das Mädchen auf. "Ich konnte mich nicht mehr umziehen, weil ... weil ..."
 

"Also bist du abgehauen", stellte Lily fest und rieb sich die Stirn. Falten klafften unter ihren Fingerkuppen, während sie sich ausmalte, wie es wohl aussehen würde, wenn jemand das Kind hier entdeckte. Ein verschwundenes Gör in ihrer Wohnung. Selbst wenn Lily eine Entführung widerlegen könnte, käme doch die Frage auf, warum sie MJ bei sich hatte. Und wie sollte sie das erklären, ohne den Autounfall zu erwähnen? Schließlich würde wohl kaum jemand, der sie kannte, belegen, dass Lily so herzensgut war, sich einer Obdachlosen freiwillig anzunehmen. Gewiss nicht.
 

"Man wird nicht nach mir suchen", zerstreute MJ die unausgesprochenen Sorgen, doch bevor sie weitersprechen konnte, donnerte es gegen die Eingangstür.
 

"Scheiße", zischte Lily und verdrehte die Augen. Es gab nur eine Person, die auf diese herrische Weise aufs Klingeln verzichtete, und eben diese Person brauchte Lily nun wirklich nicht zu dieser frühen Stunde. Am liebsten hätte sie auch gar keinen Gedanken daran verschwendet die Tür zu öffnen, wenn ihr nicht klar gewesen wäre, dass man sie garantiert nicht in Ruhe lassen würde, ehe sie sich der Nervensäge gestellt hätte. Seufzend stand sie auf.
 

"Was?", spie sie in den Hausflur und direkt in das Gesicht ihrer Nachbarin.
 

"Ihnen auch einen guten Morgen, Fräulein Theodora", wehrte die alte Dame mit einem Unterton ab, der das 'guten' in ihrer Begrüßung Lügen strafte. "Sie können sich vermutlich denken, weshalb ich hier bin, oder?"
 

"Um sich meinen Besen zu leihen, weil Ihrer gerade in der Werkstatt ist und Sie noch dringend einkaufen fliegen müssen?"
 

Ohne darauf einzugehen, schob die Dame ihre Nickelbrille höher auf ihren Nasenrücken. Dass sie dafür ihren Mittelfinger nutzte, entging Lily nicht. "Sie sind in der letzten Nacht spät nachhause gekommen, Fräulein Theodora."
 

"Und?"
 

"Sie haben mal wieder vergessen den Haupteingang abzuschließen", tadelte die Nachbarin nicht zum ersten Mal, obwohl sie allmählich verstanden haben sollte, wie egal Lily die Hausordnung diesbezüglich war. "Dabei wissen Sie ganz genau, dass nach 22:00 Uhr die Tür immer -"
 

"Entschuldigung", meldete sich ein Stimmchen aus dem Hintergrund. Leise und schüchtern, aber überraschend genug, um Lilys Herz rasen zu lassen. Wie hatte sie MJ nur vergessen können? Und warum musste sich das entlaufene Rotzgör ausgerechnet dieser Sittenwächterin zeigen? Wenn die Alte auch nur ansatzweise mitbekam, dass MJ vermisst würde, dann ...

"Das war meine Schuld. Meine Tante hat mich gestern noch vom Flughafen abgeholt. Ich hab sie bestimmt abgelenkt, sodass sie die Tür vergessen hat. Bitte schimpfen sie nicht mit ihr."
 

Sprachlos schielte Lily über ihre Schulter, wo sie ein Mädchen entdeckte, das sich doch tatsächlich gerade eine Krokodilsträne herausdrückte. Die Morgensonne setzte dem Schauspiel die Krone auf, indem sie MJ in einen bildhaften Unschuldsengel verwandelte.
 

"Oh Süße, mach dir keine Gedanken. So schlimm ist das nicht", säuselte die Nachbarin mit einem Lächeln im Gesicht wie es Lily noch nie zuvor gesehen hatte. "Ich wollte deine Tante nur daran erinnern die Tür immer zu schließen, damit kein Fremder hier ins Haus kommt. Aber jeder kann mal was vergessen." Ihre Mundwinkel froren in der Höhe ein, als sie sich wieder an Lily wandte. "Sie haben also eine Nichte?"
 

"Ähm, ja", nickte das 27-jährige Einzelkind. "Meine viel, viel ältere Schwester hat mich gebeten auf die kleine Mary Jane aufzupassen."
 

"Mary Jane? Ein hübscher Name für so ein süßes Ding", widmete sich die Frau erneut dem Familienzuwachs. "Komm mich doch mal besuchen, ja? Ich wohne gleich am anderen Ende des Flurs." Ein letzter Blick traf Lily wie ein Projektil. "Da kann sie sich auch mal waschen", schoss ihr Vorwurf aus zusammengepressten Zähnen, ehe sie MJ zum Abschied zuwinkte und dann davon tippelte.
 

Lily warf die Tür in den Rahmen, atmete durch und musterte MJ, bis eine Wolke endlich den falschen Heiligenschein überdeckte. "Tante?"
 

"Ich wollte nur helfen. Sie haben mir nach dem Unfall doch auch geholfen."
 

Dass ihre Hilfeleistung nicht uneigennützig gewesen war, behielt Lily für sich. "Ja, schon gut." Gegen das Türblatt gelehnt musterte sie ihre unerwartete Nichte, die sie jetzt wohl nicht so einfach in einen Zug setzen konnte, ohne das Misstrauen der alten Schachtel zu erwecken. "Wie es scheint, wirst du wenigstens für ein paar Tage hier bleiben müssen", seufzte sie.
 

"Wirklich? Aber ich dachte, dass Sie -"
 

Mit erhobener Hand wedelte Lily MJs Erstaunen beiseite. "Das 'Sie' kannst du dir klemmen. Viel zu auffällig. Nenn mich Lily beziehungsweise Tante Lily, wenn uns jemand zusammen sieht. Falls du die Wahrheit gesagt hast und dich wirklich niemand suchen sollte, dürfte es keine Probleme geben." Argwöhnisch achtete sie auf jede noch so kleine Regung in MJs Gesicht, aber darin spiegelte sich kein Anzeichen einer Lüge. Offenbar stimmte es also tatsächlich, dass kein Mensch dieses Kind vermisste. Warum das so war, interessierte Lily allerdings nicht. Immerhin hatte jeder sein eigenes Päckchen zu tragen und Lily Theodora hatte beim besten Willen nicht vor, irgendjemandem einen Teil seiner Last abzunehmen. Lieber lud sie anderen etwas auf. Wie zum Beispiel das Vertreiben von Spinnen oder Nachbarinnen.
 

~
 

Gedankenverloren stierte Lily an die Decke über der Kücheninsel. Sie ließ die letzten Stunden Revue passieren und versuchte sich einzureden, dass ihr Familienzuwachs bloß das Resultat einiger Zufälle war. Allerdings meldete sich dabei immer wieder der Pragmatiker in ihr, um ihr mitzuteilen, dass Lily eigentlich überhaupt nicht an Zufälle glaubte.
 

"Ich bin fertig", wurden ihre Überlegungen abgelenkt. Lily löste ihren Blick aus der Höhe und richtete ihn auf MJ, die in der Badezimmertür stand. Befreit von Dreck und diesem furchtbaren Kleidchen.
 

"Gut, dass ich meine alten Sportklamotten noch nicht ausgemistet hab, hm?", deutete Lily auf ihren Pullover, der kaum seinen ursprünglichen Schnitt erkennen ließ. Viel eher formte er jetzt einen übergroßen Kokon und MJ darin eine Baumwollraupe. "Aber denk ja nicht, dass ich dir aus reiner Nächstenliebe meine Sachen und das Gästezimmer überlasse."
 

MJ nickte. "Natürlich. Ich will mich hier auch gar nicht einfach so einnisten, also", warf sie Lily ein warmes Lächeln zu, "was kann ich dafür tun? Wie kann ich mich nützlich machen?"
 

"Stichwort: Haushalt", blockte Lily mit einem kalten Grinsen ab. In ihrem Hinterkopf spukte die Idee einer kostenlosen Bediensteten, die das teure Hausmädchen vorübergehend ersetzen könnte. "Du scheinst ja fit genug zu sein. Von daher wird es wohl nicht schaden, wenn du die Wohnung aufräumst und putzt. Außerdem", zeigte sie auf den Herd hinter der Kücheninsel, "täte es gut, mal wieder vernünftig zu essen. Die ständigen Restaurantbesuche gehen mir nämlich auf die Nerven." Mental genoss Lily bereits die ersten Mahlzeiten, von denen sie annahm, das ein Kind sie schon irgendwie zubereiten konnte, wenn man ihm nur ein Kochbuch vor die Füße warf. Sie verschluckte sich.
 

"Wer stört denn jetzt schon wieder?" Auf dem Tresen brummte ein Handy um Lilys Aufmerksamkeit. "Was will die denn?" Mit einem Finger deutete sie MJ, dass sie ruhig sein sollte. Erst dann nahm sie das Gespräch an. "Was willst du, Candace? Ach ja? Wirklich? Was du nicht sagst." Manikürte Nägel klapperten auf der Arbeitsplatte. "Das ist mir doch egal. Wenn du nicht willst, dass deine Aufenthaltsgenehmigung frühzeitig abläuft, würde ich dir raten, dem Inspektor so lang Honig ums Maul zu schmieren, bis er endlich Ruhe gibt." Lilys Handfläche klatschte auf Granit. "Glaubst du vielleicht, dass es mir Spaß macht abzuwarten? Ich hab auch keinen Bock mehr, ständig aufpassen zu müssen, also kümmer dich gefälligst darum, dass dieser Kerl aufgibt. Nichts 'aber'! Er soll die Ermittlungen abschließen und den Fall zu den Akten packen. Das Geld ist weg, die Bank hat bezahlt." Lily lachte. "Niemand wird Spuren auf den Servern finden, hörst du? Niemand! Kein Mensch schafft das, denn ich bin Lilith! Und was das bedeutet, weißt du! Tu also, was ich dir sage, Candace. So wie jeder andere auch."
 

Das Handy schlidderte über den Tresen, über den Rand hinaus und direkt in MJs Hände.

"Ich hoffe für dich, dass dir das gerade eine Lehre war", verkündete Lily mit gereckter Nase. "Sei also nicht so dumm wie dieses Weib am Telefon und mach lieber gleich, was ich will. Und ich will, dass du den Haushalt übernimmst, so lang du hier bist, kapiert?"
 

MJ erwiderte ihren Blick mit weit aufgerissenen Augen und einem großen O auf den Lippen. "Wow, du bist echt willensstark, Lily."
 

Dies entsprach nicht ganz der Reaktion, die Lily erwartet hatte, aber Ehrfurcht war ihr letztendlich ebenso recht wie Angst. "Dann sind wir uns also einig", gluckste sie.
 

"Ja, aber -"
 

"Was 'aber'?", fauchte Lily. "Wieso kommt ihr mir alle mit einem 'aber'?"
 

MJ zuckte zusammen, ehe sie kleinlaut verkündete: "Ich kann nicht kochen."



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