Erwachen
"Weck sie auf", rief eine forsche Frauenstimme, "der Lord will uns sehen. Uns alle."
Jemand rüttelte an meinen Schultern.
"Ellin, wach auf."
Mein Blick traf den einer Frau mit müden blauen Augen. Sie wirkte gehetzt. Flüchtig sah sie zu der Person, die im Türrahmen des kleinen Zimmers stand.
Hexe war das erste Wort, das mir bei ihrem Anblick in den Sinn kam. Meine Haare waren zwar genauso lang und dunkel, aber zum Glück nicht so ungepflegt.
"Wo bin ich?", fragte ich noch immer leicht weggetreten und sah mich um. "Und wer bist du? Was ist passiert?"
Ich erinnerte mich an – nichts.
Besorgt sah mich die blonde Frau an.
"Ich bin Narcissa Malfoy. Du bist in Malfoy Manor", antwortete sie kurz angebunden, "wir haben gegen Anhänger von Potter gekämpft. Du wurdest von einem Stupor getroffen."
"Sie weiß nicht, wer wir sind", bemerkte die dunkelhaarige Hexe misstrauisch und hob ihren Zauberstab. "Vielleicht war sie auf Potters Seite?"
"Bella, bitte", sagte Narcissa nachdrücklich.
Ich schluckte schwer, als ich langsam begriff, wen ich vor mir hatte und was es zu bedeuten schien: ich war ein Todesser.
Bellatrix senkte ihren Zauberstab wieder und lies das Thema fallen.
"Beeilung, Beeilung", rief sie schrill und wandte uns den Rücken zu. Narcissa warf mir einen warnenden Blick zu und folgte ihr.
Ich überlegte nicht lange, stand hastig auf und lief ihr ebenfalls nach. Um nicht aufzufallen, beschloss ich, mich an Narcissa zu halten. Sie wirkte verängstigt und die meisten ihrer Bewegungen waren fahrig, als befürchtete sie, etwas falsch zu machen. Mir ging es ähnlich, aber aus anderen Gründen.
Im Konferenzsaal stand ein langer Tisch aus spiegelndem Edelholz. Ich nahm neben Narcissa Malfoy Platz. Zu ihrer linken saß ein Mann mit langen blonden Haaren, bei dem mich eine Ahnung beschlich, wer er sein könnte.
Nach und nach füllten sich die Plätze rund um die Tafel mit Gestalten, die vollständig in schwarze Umhänge gehüllt waren. Unsicher sah ich mich um.
"Schon wieder auf den Beinen?", begrüßte mich eine tiefe Männerstimme und ließ sich neben mir auf dem Stuhl nieder. Unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze legte ein Lächeln den Blick auf gelbe Zähne und einige Lücken frei.
Ich hatte keine Ahnung, wer das war!
"Natürlich", antwortete ich mit belegter Stimme und hoffte, er würde nicht merken, dass ich nicht wusste, mit wem ich sprach, "der dunkle Lord hat uns rufen lassen."
Ein heißeres Lachen war die einzige Antwort, die ich erhielt, ehe ich von einem stechenden Schmerz in meinem Unterarm abgelenkt wurde. Mir war sofort klar, dass er erscheinen würde.
Lord Voldemort.
Dunkelster Zauberer seiner Ära.
Eine Wolke aus schwarzem Rauch begann sich zu materialisieren.
Ich konnte meinen Blick nicht von dem Gesicht abwenden, das längst keines mehr war. Mit einer Mischung aus Faszination und Furcht betrachtete ich die aschfahle Haut, die hasserfüllten Augen und die dunklen Löcher – dort, wo eine Nase hätte sein sollen.
Lord Voldemort war schon lange kein Mensch mehr. Ihn umgab eine Aura von Tod und Verderben. Ein süßlich fauler Geruch lag in der Luft. Unangenehm, aber seltsam vertraut.
Wahrscheinlich erinnerte sich mein Körper im Gegensatz zu meinem Geist an diesen Geruch.
Und die Person, die mit ihm zusammenhing.
Voldemort lies sich am Kopfende des Tisches nieder, neben ihm rollte Nagini sich zusammen.
"Mylord", ergriff Bellatrix das Wort und zog die Aufmerksamkeit auf sich, "wir sind gestern auf eine Gruppe von Potters Anhängern gestoßen. Bis auf einen haben wir alle erwischt! Alle tot. Leider war Potter nicht unter ihnen."
"Vergesst nicht, ich will ihn lebend! Er darf uns nicht noch einmal entwischen! Harry Potter gehört mir", zischte Lord Voldemort gefährlich.
"Natürlich, Mylord", erwiderte Bellatrix hastig und senkte ihren Blick.
Die Lage war äußerst angespannt, die Stimmung ernst – sogar ich konnte es deutlich spüren. Eine falsche Bemerkung und alles konnte kippen.
"Wie weit ist die Suche nach ihm fortgeschritten?" Der Blick des dunklen Lords streifte jeden einzelnen von uns und jagte mir erneut einen Schauer über en Rücken.
"Yaxley?"
Der Mann am anderen Ende des Tisches erhob sich. "Wir durchkämmen sämltliche Wälder und Plätze, an denen sie sich aufhalten könnten oder an denen sie zuvor bereits gesichtet wurden", informierte er die anwesenden Todesser. "Greyback kümmert sich derzeit darum."
"Und Hogwarts?"
"Um das Schulgelände und Hogsmeade wurden Greifertrupps postiert. McGregor und Thornwell halten sich ebenfalls dort auf."
"Verstärkt die Wachposten dort", ordnete Voldemort an, "Potter wird früher oder später in Hogwarts auftauchen. Es ist nur eine Frage der Zeit – ich kann spüren, dass es ihn dort hinzieht. Der Ort, an dem schon Dumbledore, der alte Narr, gestorben ist."
Sein Lachen war leise, kalt und leblos.
Eins stand fest: ich wollte hier weg.
Weit weg.
Sehr weit weg.
"Ich werde mich darum kümmern, Mylord", sagte Yaxley demütig.
Das war meine Chance, aus diesem Loch herauszukommen.
"Lasst mich das übernehmen", rief ich dazwischen.
Mein Herz rutschte mir in die Hose – was ich sagte klang deutlich mutiger, als ich mich gerade fühlte.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien es mir, als herrschte eine unerträgliche Stille.
"Einverstanden. Benutzt alle nötigen Zauber, um sie von Hogwarts und Hogsmeade fern zu halten"; bemerkte Voldemort und ging zu seinem nächsten Anliegen über.
Er wollte, das alle Todesser seines inneren Kreises einen der kritischen Orte überwachten, an dem er vermutete, das Potter früher oder später auftauchen würde. Und er wollte vor allem, dass er gefunden wurde, bevor er auch den letzten Horcrux zerstören konnte – die magischen Gegenstände, denen ein Teil seiner Seele innewohnte.
Für den Rest der Sitzung beschloss ich zu schweigen, sofern mich niemand direkt ansprechen würde.
Mir fiel auf, dass weder Narcissa, noch der Mann neben ihr sich zu Wort meldete oder angesprochen wurde. Ich vermutete, dass sie besonders tief in Ungnade gefallen waren. Pius Thicknesse berichtete über die jüngsten Ereignisse im Ministerium und Maßnahmen, die sie zu Harry Potters Ergreifung treffen wollten.
Wenig später stellte sich heraus, dass die Gestalt neben mir Rabastan Lestrange war, der Bruder von Bellatrix' Mann Rodolphus.
Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte nicht erfahren, wer neben mir saß.
Die Uhr verriet mir, dass es kaum zwei Stunden gedauert hatte, bis es vorüber war und sogleich stellte sich das nächste Problem: Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte.
Deshalb lief ich zunächst den vielen schwarzen Gestalten nach, die in den Eingangsbereich und schließlich nach draußen liefen, um zu apparieren. In der Eingangshalle konnte ich einige der Ahnenportraits der Familie Malfoy bestaunen, während ich mir überlegte, wie ich mich aus dieser Lage befreien konnte.
Im Studium hatte ich gelernt, dass viel Wissen in Büchern konserviert wurde. Ich vermutete, dass die Malfoys eine eigene Bibliothek hatten, in der ich sicher etwas finden würde, was mir helfen konnte. Angespornt von diesem Gedanken machte ich mich auf die Suche und betrat vermeintlich zielsicher einen der Räume im Untergeschoss.
Natürlich könnte es der richtige Raum sein – wenn ich Mary-Sue heißen würde.
Mein Name war allerdings Ellin, weshalb ich mich auch nicht in der Bibliothek wiederfand, sondern in einem Salon. Ich könnte auf diese Weise alle 40 Zimmer durchsuchen, die Malfoy Manor hatte... in Ermangelung einer Alternative schien dies meine einzige Wahl zu sein.
Bereits einige Zimmer später fand ich, was ich suchte.
Doch bevor ich in den angestaubten Büchern nach Zaubern suchen würde, musste ich eines wissen: konnte ich überhaupt zaubern?
Ich hoffte inständig, dass die Antwort auf diese Frage 'Ja' lautete. Hastig steckte ich meine Hände in die Taschen und tastete nach einem Zauberstab. Als meine Hand etwas langes dünnes ergriff, spürte ich eine Welle der freudigen Erregung – als wäre ich wieder fünf und hätte ein neues Spielzeug bekommen.
Ein Moment, in dem ich alles um mich herum für einen Herzschlag lang vergas.
Ein einfacher Zauber. Ich würde einen einfachen Zauber ausprobieren. Auf dem Lesetisch am Fenster lag eine Zeitung.
"Accio Zeitung", murmelte ich und richtete meinen Zauberstab auf die Zeitung.
Es passierte nichts.
"Accio Zeitung", wiederholte ich und versuchte mein Glück erneut.
Nichts.
Bitte, bitte, es musste funktionieren. Ich saß hier in der größten Patsche meines Lebens und war auf Zauberkräfte angewiesen. Wenn ich mich anstrengen würde, konnte ich es schaffen. Ich musste nur fest daran glauben.
"Accio Zeitung", sagte ich zum dritten Mal. Zu meiner großen Überraschung bewegte sich die Zeitung – und fiel auf den Boden. Ohne Zutun.
Es bedeutete, ich konnte zaubern!
Ich. Konnte. Zaubern.
Ein letztes Mal richtete ich meinen Zauberstab auf den Haufen Papier am Boden und sagte beflügelt mit neuem Selbstvertrauen:"Accio Zeitung."
Sie schwebte langsam in die Luft und schließlich auf mich zu.
Es funktionierte.
"Wahnsinn", murmelte ich und fischte den Tagespropheten aus der Luft, als er direkt vor mir war. Mein erster Blick galt dem Datum.
Wir hatten Montag, den 27. April 1998 – ich bin knapp 20 Jahre in der Vergangenheit gelandet.
Normalerweise war dies der Zeitpunkt, in dem sich die Leute hinsetzen mussten, damit der Schock sie nicht von den Beinen riss. Allerdings hatte ich eben eine Sitzung mit Voldemort und seinen Anhängern überlebt, eine Zeitreise von schlappen 20 Jahren rang mir deshalb nur ein müdes Lächeln ab.
Außerdem: ich konnte zaubern, was kümmert's mich also, ob ich über Nacht ein, zwei – oder zwanzig – Jahre in die Vergangenheit gereist war?
Darum konnte ich mich später immer noch kümmern.
Ich konnte zaubern, falls ich es noch nicht erwähnt hatte.
Ich konnte –
"Was tust du hier?", fragte eine Stimme direkt hinter mir und unterbrach meinen Gedanken jäh.
Entsetzt drehte ich mich um.
Hinter mir stand ein junger Mann, bei dessen Anblick ich mir wünschte, spontan zehn Jahre jünger zu sein. Es gab eine gute Erklärung dafür, dass ich hier war – und sie würde mir auch sicher gleich von der Zunge rollen!
Gleich.
Reis dich zusammen, ermahnte ich mich selbst.
"Ich suche nach einem Zauber, der mir helfen könnte", antwortete ich. Schleierhaft war mir nur, welcher das sein würde, bevor ich ihn tatsächlich gefunden hatte.
"Welchem?"
Er verschränkte die Arme vor der Brust und ich hatte das ungute Gefühl, er misstraute mir.
Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit – meine Chance, das zu perfektionieren.
"Einem, der uns alarmiert, sobald Potter und der Rest sich in der Umgebung von Hogsmeade oder den Ländereien von Hogwarts befinden?"
Hätte sicher besser geklappt, wenn mein letzter Satz nicht wie eine Frage geklungen hätte.
Wider erwarten nickte er jedoch.
"Die Bücher über Alarmzauber stehen dort hinten", sagte er und deutete auf eines der Regale in der Ecke. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor er sich umdrehte, um zu gehen.
"Warte!"
Noch ehe ich darüber nachdenken konnt, warum, war es bereits aus mir herausgeplatzt.
Er hielt inne und drehte sich um.
"Was ist?", wollte er wissen.
Die Antwort war so simpel wie gefährlich: ich brauchte Hilfe.
Früher oder später.