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Life is precious

Das Leben ist wertvoll
von

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Der Mann mit den grünen Augen

Der Rattenschwanz, den die Begegnung mit Amanda nach sich zog, war unangenehm lang. Ich kramte in meiner Schublade nach Natalies Brief. Vielleicht würde es mich aufheitern, ihn erneut zu lesen und an das bevorstehende Treffen zu denken. Doch beim Durchwühlen des Chaos fiel mir etwas ganz anderes in die Hände. Der Gutschein. Im Nachhinein war ich froh, ihn Jesse nicht gegeben zu haben. Nicht nur, weil ich mich für meine langweilige und einfallslose Idee schämte. Ich war schlicht und ergreifend stinksauer auf ihn. Mir fiel plötzlich wieder ein, was Eleonore über seine Tattoos gesagt hatte: „Wenn du deine Mutter ärgern willst, lass dir lieber noch mehr Tattoos stechen.“

Meine Eltern würden mich umbringen. Aber hatte Needle nicht behauptet, mir würde ein Nasenpiercing ausgezeichnet stehen? Ich war eigentlich kein Freund von Trotzreaktionen, und dennoch schnappte ich mir Gutschein und Autoschlüssel - Tammy hatte sich letzte Woche eine fürchterliche Schrottkarre gekauft – und war auf dem Weg zur Tattoohell, bevor ich es mir nochmal anders überlegen konnte.
 

Ich betrachtete den kleinen, glitzernden Stecker in meiner Nase durch den Spiegel, immer noch fasziniert darüber, wie anders mich dieses kleine Detail wirken ließ. Es gefiel mir echt gut. Vorsichtig betastete ich das Metall mit dem Zeigefinger. Wenn ich mir Jesses Gesicht ausmalte, hatte sich die Aktion auf jeden Fall gelohnt. Sollte ich ihn je wiedersehen. Inzwischen waren fünf Tage vergangen. Und langsam bekam ich wirklich Angst, das würde immer so weitergehen. Meine Wut war größtenteils verraucht, die Sehnsucht nach ihm eindeutig stärker.

Ich entschied mich für den Zwischenweg und rief Lydia an, zu einer Zeit, bei der ich sicher sein konnte, dass Jesse beim Arbeiten hinterm Tresen stand. Ich fragte sie, wie es ihm ging, ob er noch sauer war, ob er von mir sprach, und wie seine Laune war. Die Antwort war ernüchternd. Jesse blockte wohl jedes Mal ab, wenn mich jemand erwähnte oder nachfragte, was los war.

„Wenn du ihn überraschen willst: Am Wochenende hat seine Mutter Geburtstag. Greg und Betty haben ihn überredet, hinzugehen. Er würde sich bestimmt freuen, wenn er moralische Unterstützung kriegen würde.“

Ich bedankte mich bei ihr und legte auf. Jesse hatte Marissas Geburtstag nie erwähnt. Hatte er ein Geschenk gekauft? Sollte ich hingehen? Wollte er mich überhaupt dort haben? Wenn ich an sein schwieriges Verhältnis zu Marissa dachte, wollte ich wirklich gern bei ihm sein und ihn unterstützen.

Lydia schickte mir die Adresse, doch als ich vor diesem Haus mit dem kurzgeschorenen Rasen stand, wäre ich am liebsten wieder umgekehrt. Von Greg hatte ich den Tipp mit Marissas Lieblingspralinen bekommen, die ich nun in meinen zittrigen Händen hielt. Ich war zu früh. Kein mir bekanntes Auto stand an der Straße. Eigentlich stand dort überhaupt kein Auto. Verdammt. Ich war extra zu Fuß hergelaufen, um genug Zeit zu haben, meine Gedanken zu ordnen und mir die richtigen Worte zurechtzulegen.

„Hallo, Mrs. Adburn. Alles Gute zum Geburtstag. Ich muss mit ihrem Sohn reden.“ Alle Vorschläge hatte ich bisher wieder verworfen. Ich drückte mich hinter der nächsten Hecke herum. Marissa sollte nicht sehen, wie ich draußen herumlungerte. Ein VW-Bus fuhr um die Ecke, eindeutig schneller, als es die Straßenschilder erlaubten. Der Wagen war bunt bemalt, ein Hippiebus, der Lack bröckelte an einigen Stellen ab und der Rost fraß sich durch die Motorhaube. Es ging alles zu schnell, um den Insassen erkennen zu können. Niemand, den ich kannte, würde so ein Auto fahren. Bis auf Kasper vielleicht. Doch der Mann, der aus dem Bus stieg, war eindeutig größer als Natalies Bruder. Ich schätzte ihn auf über zwei Meter. Seine Haare reichten ihm bis zur Schulter und sein Vollbart fast bis zur Brust. Ein paar vereinzelte graue Strähnen schimmerten in der üppigen Behaarung. Seine Augen waren durch eine runde, alte schwarze Sonnenbrille verdeckt.
 

„Hey, Kleines.“ Er winkte mich heran und ich blieb einen Moment wie ein verängstigter Hase stehen, bis ich mir einen Ruck gab und den Abstand zwischen uns mit ein paar schnellen Schritten überwand.

„Hallo.“ Ich konnte mich selbst kaum hören, so zaghaft kam das Wort über meine Lippen.

„Du gehst auch auf die Party, oder?“ Er nickte Richtung Haus.

„Mhm“, war alles, was ich herausbrachte. In mir wuchs langsam ein Verdacht heran, wer dieser Mann sein könnte. Ich musterte ihn noch genauer. Die viel zu weite Hose an seinen langen Beinen, das Hemd, das er bis zum vierten Knopf offengelassen hatte, wodurch ein paar seiner Brusthaare zum Vorschein kamen. Er berührte mich kurz an der Schultern.

„Komm. Wagen wir uns in die Höhle des Löwen.“ Er sagte es ganz trocken, aber ich konnte den Humor seiner Worte deutlich heraushören.

„Okay.“ Wir gingen Seite an Seite über den Kiesweg. Ich fühlte mich seltsam wohl neben diesem Fremden. Er klingelte, schob die Sonnenbrille in sein Haar und lächelte mich mit seinen grünen Augen an. Ich kannte diese Augen.

„Du bist eine Freundin von Betty?“, fragte er, während wir darauf warteten, dass uns jemand öffnete. Ich räusperte mich.

„Sowas in der Art. Ich bin Lea.“

Er nickte, sein Blick schweifte auf das kleine Paket in meiner Hand.

„Freut mich, Lea. Und du bist so aufmerksam und hast ein Geschenk dabei.“ Ich zuckte mit den Schultern.

„Ist nur eine Kleinigkeit.“

Er hob eine Augenbraue. Auch diese Geste kannte ich.

„Das ist mehr, als ich Zustande gebracht habe.“ Er trat zwei Schritte zurück und pflückte eine Blume vom nächsten Busch.

„So wie ich Marissa kenne, wird sie das eher ärgern, als erfreuen.“

Als er ein schiefes Grinsen zeigte, war die Ähnlichkeit unverkennbar.

„Entschuldigen Sie. Sind Sie...“ Ich konnte meine Frage nicht zu Ende stellen, denn im nächsten Moment wurde die Haustür aufgerissen und das Geburtstagskind stand vor uns. Ich würde niemals Marissas Gesichtsausdruck vergessen, als sie den Mann ansah, der vor ihr stand. Überraschung, Entsetzen, Belustigung. Alles auf einmal. Doch ich meinte, auch einen Anflug von Freude wahrnehmen zu können.
 

„Walt“, begrüßte sie ihn ungläubig, und bestätigte damit meinen Verdacht. Walt Carson. Jesses Vater. Auf einmal war ich völlig aus dem Häuschen. Jesses Vater war hier! Das würde ihn so freuen!... Würde es doch, oder?

„Happy birthday, Mary.“ Er streckte ihr die Blume entgegen, die sie wortlos, aber mit gehobenen Augenbrauen entgegennahm.

„Danke“, erwiderte sie schließlich steif. Endlich schwankte ihr Blick auch zu mir. Sie rang sich ein Lächeln ab, doch ich konnte sehen, wie sie in ihrem Gedächtnis nach meinem Namen graben musste.

„Lea. Wie schön, dass du gekommen bist.“

Ich fühlte mich ganz und gar nicht willkommen.

„Wo hast du denn Jesse gelassen?“ Wie immer war sie für einen Schlag in die Magengegend gut. Ich konnte mir partout nicht vorstellen, wie Marissa und Walt jemals ein Paar hatten sein können.

„Der kommt noch“, wich ich aus, drückte ihr mein Geschenk in die Hand und ging ins Haus, wo ich hoffentlich gleich auf Betty traf.

„Alles Gute zum Geburtstag“, murmelte ich im Vorbeigehen und war mir bewusste, wie unhöflich ich war. Walt folgte mir auf dem Fuße und so ließen wir eine verdutzte Marissa an der Tür stehen, die noch ein paar mal blinzelte, bevor sie sich wieder fing.

„Lea! Du bist gekommen. Wie schön.“ Betty schloss mich fest in ihre Arme, kaum dass ich den Flur betreten hatte. Ihr glaubte ich. Als ihr Blick auf Jesses Vater fiel, quietschte sie vergnügt.

„Walt!“ Auch ihn drückte sie freudig an sich. Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu und wuschelte durch ihr Haar, als wäre sie ein Kleinkind. Doch sie störte sich nicht daran und grinste breit.

„Ich bin zwar eine Woche zu spät dran...“ Eine Woche zu spät. Also war er eigentlich wegen Jesses Geburtstag hier. Betty winkte ab.

„Hauptsache, du bist da. Du musst endlich mal deine Enkelin kennenlernen. Opa.“
 

Marissa stellte sich zu uns. Sie wirkte etwas konsterniert. Kein Wunder, bei dem Anblick des Vaters ihres Sohnes, zusammen mit ihrer Tochter – eines anderen Vaters – und dem Mädchen, das hoffte, noch immer Jesses Freundin zu sein.

„Sag nicht Opa. Da fühle ich mich steinalt.“ Er sah nicht steinalt aus. Er hatte sich besser gehalten als Jesses Mutter, war braungebrannt, drahtig, und so gut wie faltenfrei. Die Krähenfüße an Marissas Augen waren hingegen nicht zu übersehen.

„Lasst uns Kuchen essen.“ Es war eher ein Befehl, als ein Angebot und wir waren alle klug genug, ihren Zorn nicht auf uns zu ziehen, indem wir ihr widersprachen. Außer uns waren keine Gäste da. Ich fragte mich, ob noch jemand kommen würde.

„Ich habe deine Torten vermisst“, sagte Walt mit vollem Mund und stopfte sich die nächste Gabel in den Rachen. Er zeigte mit der Kuchengabel auf Marissa. „Wisst ihr, Mary ist eine miserable Köchin, war sie schon immer, aber im Backen, da konnte ihr keiner was vormachen. Aber wem erzähle ich das“, winkte er ab und lud sich sein inzwischen drittes Stück auf. So schnell wie er aß, konnte ich gar nicht gucken. Der Trick war wahrscheinlich, nicht zu kauen. Betty grinste.

„Die Tischmanieren hat Kelly eindeutig von dir geerbt.“

Ich wüsste zu gerne, was damals genau vorgefallen war, zwischen Marissa und Walt. Warum hatten sie sich getrennt? Sie schienen ja ein relativ normales Verhältnis zu haben.

„Apropos Kelly. Wo ist denn meine Enkeltochter? Und wo ist mein Sohn?“ Marissa schenkte uns allen Kaffee nach.

„Seit wann interessiert dich das?“ Ihr scharfer Ton verwunderte mich. Schließlich war sie selbst nicht gerade eine vorbildliche Mutter.

„Du hast ihn seit sechs Jahren nicht gesehen.“

Walt musste sich offensichtlich anstrengen, nicht die Augen zu verdrehen, und klopfte sich die Kuchenbrösel von den Händen.

„Lass gut sein, Mary. Ich kenne die Leier.“

Jesses Mom knallte die Kaffeekanne auf den Tisch.

„Es gut sein lassen? Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen? Du musstest ja nicht mitansehen, wie er anfing, zu kiffen und sich mit diesen grauenvollen Tattoos zukleisterte. Wie er seine Zukunft weggeworfen hat für dieses Mädchen. Du weißt genau, wie viel er hätte erreichen können.“

Zu unser aller Erstaunen lächelte Walt milde. Ich hingegen wäre am liebsten von hier verschwunden. Ich fühlte mich absolut fehl am Platz. Betty schien es genauso zu gehen, denn sie nahm meine Hand und starrte stur auf die Tischplatte. Dieses Mädchen hatte in diesem Haus schon zu viel Streit mit angehört.

„Du hast nur Angst davor, dass er so wird wie ich.“ Walt zog eine Zigarette aus der Hosentasche und zündete sie an einer Kerze an, die auf dem Tisch stand. Marissa hatte eine Antwort parat, das konnte man ihr ansehen. Die Worte lagen schon auf ihren Lippen, doch sie schluckte sie hinunter und nickte Richtung Terrasse.

„Geraucht wird draußen“, sagte sie kühl und begann, unsere Teller aufzuräumen, obwohl wir noch nicht aufgegessen hatten.
 

Walt stand auf und ging hinaus auf die Terrasse, Betty half ihrer Mutter mit dem Geschirr. Und ich saß an diesem Tisch, völlig allein, und hatte keine Ahnung, was ich hier überhaupt machte. Wo war Jesse? Wo waren Greg und Lydia? Und wo war Sam, Marissas Mann? Ich wollte nicht allein sein, wollte nicht über Marissas Worte nachdenken. Hatte sie tatsächlich kiffen gemeint, oder kannte sie den Unterschied einfach nicht? Aus ihrem Munde klang es so, als wäre ihr Sohn total abgestürzt. Noch immer machte sie Eleonore und im Grunde auch Kelly verantwortlich für das verpfuschte Leben ihres Sohnes. Hatte sie ihn denn noch nie singen gehört? Wusste sie nicht, wie erfolgreich Zero gewesen waren, bevor sie sich zerstritten hatten oder war für sie ein Musiker nicht mehr wert als ein Meeresbiologe, der ständig auf offener See schipperte und sich nie bei seinem Kind meldete? Offensichtlich hatte Jesse niemandem der Anwesenden erzählt, dass er studierte. Und ich hatte nicht vor, das zu ändern.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor vier. Lydia hatte zu mir gesagt, sie würden um drei vorbeikommen. Hatten sie es sich anders überlegt? Würde Jesse noch kommen? Ich fühlte mich nutzlos und überflüssig. Selbst wenn Jesse noch kam, hieß das nicht automatisch, dass er sich freuen würde, mich zu sehen. Er hatte bestimmt nicht umsonst eine Woche Funkstille gehalten. Ich verfasste eine SMS:

Dein Vater ist da. Er würde sich freuen, dich zu sehen.

Ich schrieb die Worte, starrte darauf, und löschte sie wieder. Was, wenn es ihn eher davon abhielt, zu kommen. Ich beschloss, das zu machen, worin ich inzwischen echt gut geworden war: Abhauen. Mit einem schnellen Griff pflückte ich meine Jacke vom Stuhl und streifte sie über.

„Willst du schon gehen?“ Betty stand mit frischem Geschirr im Türrahmen und sah mich enttäuscht an. „Lass mich bitte nicht allein mit den beiden“, formten ihre Lippen lautlos, als die Stöckelschuhe ihrer Mutter hinter ihr lauter wurden. Ergeben ließ ich mich zurück auf meinen Platz fallen. Wir drei Frauen saßen am Tisch, starrten auf imaginäre Punkte an den Wänden und schwiegen uns an.

„Wann, hattest du gesagt, kommt Jesse nach?“ Marissa zupfte an dem üppigen Blumenstrauß herum. Mir fiel auf, dass sie auch Walts Rose dazugesteckt hatte. Sie wirkte etwas deplatziert, genau wie ich.

„Ich habe gar nichts gesagt.“ Die Schokoladentorte lag mir schwer im Magen und der Kaffee, um den ich nicht herumgekommen war, machte mich ganz hibbelig. Wäre Jesse hier gewesen, hätte er meine Tasse einfach mitgetrunken. Marissa schürzte die Lippen. Walt kam genau in dem Augenblick zurück ins Haus, als sie wieder das Wort an mich richtete.
 

„Also. Wie habt ihr euch kennengelernt?“

Ich holte tief Luft.

„Naja. Wir haben uns eigentlich nur durch Zufall getroffen. Zuerst dachte ich, Ihr Sohn wäre ein riesengroßes Macho-Arschloch. Aber dann stellte sich heraus, dass er nur so mies drauf war, weil er an dem Tag bei Ihnen war. Kein Wunder, wie verkorkst er ist, bei den Eltern. Ich persönlich kann Sie ja nicht leiden, aber um Jesses Willen hoffe ich echt, dass Sie irgendwann mal von Ihrem hohen Ross steigen und sich wieder einkriegen.

Keine Ahnung, wie Jesse so ein toller Vater werden konnte, bei den Vorbildern. Und wenn wir schon dabei sind, Walt, Sie könnten sich ruhig ab und zu bei Ihrem Sohn melden. Er ist zwar schon alt genug und hat vor langer Zeit gelernt, ohne Sie zurechtzukommen, aber welcher Sohn wünscht sich nicht die Aufmerksamkeit und Anerkennung seines Vaters.

Ich kann nicht glauben, wie verlogen Sie sind. Sie geben zwar beide vor, sich um Jesse zu sorgen, aber wirklich etwas zu tun kommt Ihnen wohl nicht in den Sinn. Finden Sie es nicht traurig, dass er Eleonores Eltern eher zu seiner Familie zählt, als Sie? Darüber würde ich mir mal Gedanken machen. Und Kelly ständig als einen Ausrutscher und Fehler zu bezeichnen ist echt krank! Die Kleine hat wirklich etwas Besseres verdient.“

Marissa blinzelte mich an.
 

„Lea?“

Wie gerne hätte ich ihnen all das vor den Kopf geworfen, endlich mal die Wahrheit ausgesprochen. Aber wie immer war ich zu feige.

„Durch meine Schwester. Wir waren Schlittschuhlaufen.“

Betty grinste breit.

„Das ist ganz schön schnulzig.“

Ich verzog das Gesicht und dachte an den Moment, als Jesse mich beinahe umgefahren hatte.

„Glaub mir, so toll war das damals nicht.“

Walt schien jetzt auch endlich zu begreifen, dass ich nicht nur eine Freundin von Betty war.

„Du bist Jesses Mädchen?“ Jesses Mädchen. Wie altmodisch das klang. Aber irgendwie gefiel mir das. Nur leider wusste ich nicht, ob das überhaupt noch der Wahrheit entsprach, deshalb machte ich nur eine vage Geste, die alles hätte bedeuten können.

„Die zwei sind so süß miteinander. Einfach zum anbeißen.“

Ich schickte ein stilles Stoßgebet in den Himmel, Betty möge damit aufhören. Ich kam mir wie eine schamlose Lügnerin vor.

„Er hatte schon immer einen guten Geschmack, was das anging. Nicht so wie ich.“ Ich konnte nicht glauben, dass Walt diese Worte tatsächlich laut aussprach, vor uns allen.

„Charmant wie immer“, giftete Marissa zurück. „Du hast noch immer nicht gelernt, wann man besser den Mund hält.“

Walt sah so aus, als würde ihn Marissas Wutausbruch ziemlich amüsieren.

„Ich weiß genau, wann ich den Mund halten sollte. Ich tu's nur nicht. Entspann dich doch mal, Mary. Mach dich locker. Es ist dein Geburtstag.“ Jesses Mom schnaubte verächtlich.

„Mich entspannen! Du hast doch keine Ahnung. Ich mache mir hier solch eine Mühe, und wie dankt man es mir? Du bist ein undankbarer, gefühlloser Mensch, dem alle anderen völlig egal sind.“

Mir war schon immer schleierhaft gewesen, wie Menschen ihre Konflikte so offen vor anderen austragen konnten. Aber es war auch sonnenklar, dass diese Emotionen und Vorwürfe nicht erst seit dem heutigen Tag bestanden. Wahrscheinlich hegte Marissa bereits seit vielen Jahren einen Groll gegen Walt, weil er sie damals verlassen hatte – so zumindest hatte Jesse es mir erzählt.

„Gefühllos? Und das aus dem Munde einer Frau, deren eigener Sohn sie aus seinem Leben verbannt hat.“ Er hatte ihren wunden Punkt getroffen, denn sie starrte ihn nur hasserfüllt an, bevor sie schließlich ihre Sprache wiederfand.

„Du hast Recht“, sagte sie unterkühlt, und das war viel schlimmer als das bisherige Geschrei. „Ich hätte es so machen sollen wie du. Nämlich genau anders herum. Seit du Jesse aus deinem Leben gestrichen hast, läufst du wenigstens nicht mehr Gefahr, von ihm zurückgewiesen zu werden.“

Das Geschirr klirrte lautstark, als Betty abrupt aufstand und dabei gegen den Tisch stieß.
 

„Hört auf, alle beide.“

Erst jetzt schien den beiden bewusst zu werden, dass wir alles mitbekommen hatten. Zumindest sahen sie peinlich berührt und schuldbewusst aus.

„Hört auf, euch gegenseitig anzuschreien und Vorwürfe zu machen. Wenn es euch wirklich um Jesse gehen würde, würdet ihr euren blöden Streit begraben und euch für ihn zusammenreißen. Ich höre mir das nicht länger an!“ Sie stieß ihren Stuhl zurück und rannte aus dem Zimmer. Walt starrte betreten in die Kerzenflamme, Marissa spielte abwesend an ihrer Halskette herum. Ich meinerseits schüttelte nur den Kopf und erhob mich ebenfalls.

„Wenn Sie nicht noch ein Kind verlieren möchten, hören Sie besser auf das, was sie sagt.“

Marissa verweigerte Blickkontakt zu mir. Aber es war mir egal. Ich glaubte nicht, dass ihr noch zu helfen war, dass sie sich jemals für ihre Familie ändern würde.

Zum zweiten Mal an diesem Tag nahm ich eine geeignete Fluchtmöglichkeit nicht wahr. Zwar wusste ich nicht, wo sich Bettys Zimmer befand, aber da das Haus nicht übermäßig groß war, hatte ich sie schnell gefunden. Ich klopfte an, während ich bereits die Tür öffnete. Eine Angewohnheit, die eigentlich meinen Eltern vorbehalten war. Jesses Schwester saß auf ihrem Bett und kritzelte in ein Notizbuch. Sie schrieb wohl Tagebuch. Ich hatte nicht die Gelegenheit, einen Blick auf die Worte zu werfen, da sie das Heft zuklappte, als ich eintrat.
 

„Hey.“ Sie brachte nur ein schwaches Lächeln zustande, und erinnerte mich dabei sehr an mich selbst.

„Hey.“ Ich schloss die Tür hinter mir und sah mich in ihrem Zimmer um. Es hing ein Bild an ihrer Wand, schwarz-weiß, ziemlich groß, und zeigte Zero auf der Bühne, eingehüllt von Sprühnebel, Jesse im Vordergrund. Es hatte etwas sehr dynamisches an sich.

„Das ist ein klasse Foto. Hast du das gemacht?“

Betty errötete schlagartig.

„Nein. Ich hab's von Kasper.“

Ich runzelte die Stirn.

„Von Kasper?“ So gut kannten sich die beiden doch gar nicht.

„Er wollte es den Jungs eigentlich geben, damit sie es als CD- Cover verwenden können. Aber dann... du weißt schon.“

Ich nickte und setzte mich zu ihr aufs Bett.

„Ja, ich weiß. Das Arschloch, das fremdgegangen ist.“

Noch immer wurde ich wütend, wenn ich daran dachte, wie Brandon meine Schwester verarscht hatte. Betty betrachtete nachdenklich das Poster, wobei sich eine Falte zwischen ihren Augen zeigte, die der ihres Bruders sehr ähnelte.

„Du weißt, dass Jesse das nie tun würde, oder?“ Offensichtlich hatte Jesse mit seiner Schwester über unseren Streit geredet.

„Ich weiß“, gab ich zurück. „Ich bin auch nicht deshalb sauer auf ihn.“

Ich glaubte wirklich nicht, dass Jesse etwas mit Amanda gehabt hatte, seit wir zusammen waren. Betty nahm ein Kissen in die Hände und presste es vor die Brust.

„Wieso dann?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Es ging eher um die Art und Weise, wie er sich verhalten hat. Das war nicht okay.“

Betty pustete eine dunkle Haarsträhne aus ihrem Gesicht und machte damit gleichzeitig klar, für wie überflüssig sie unsere Auseinandersetzung hielt.

„Könnt ihr das nicht einfach vergessen? Ist doch blöd, sich wegen sowas zu streiten.“ Sie hatte Recht, aber das wollte ich im Moment nicht zugeben. Ich stupste sie am Arm.

„Hey. Ich bin eigentlich hergekommen, um dich zu trösten.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Nicht nötig. Ist ja nicht so, als wäre das der erste handfeste Streit, den ich mitkriege.“

Ich pulte an meinem Fingernagel, unter den sich ein Stück Schokotorte verirrt hatte.

„Streiten Sam und Marissa denn oft?“

Betty schüttelte den Kopf.

„Normal nicht. Aber vor drei Tagen sind ganz schön die Fetzen geflogen und seitdem ist er nicht mehr nach Hause gekommen.“

Ich musste mich daran erinnern, dass Sam Bettys und Gregs leiblicher Vater war. Es musste ziemlich verwirrend für sie sein, Jesses Dad mit ihrer Mutter zusammen zu sehen. Hatte sie auch denselben Eindruck wie ich, dass Marissa noch nicht über Walt hinweg war? Das wäre schrecklich.

„Das tut mir Leid.“

Das Einzige, was noch schlimmer war, als ein Paar, das sich trennte, war ein Paar, das nur wegen ihrer Kinder zusammenblieb.

„Schon okay. Mom hat nie einen Hehl daraus gemacht, Dad nicht so sehr zu lieben, wie er sie. Aber ich dachte schon, dass sie ihr Leben mit ihm verbringen will. Schließlich hat sie sich damals aus freien Stücken für ihn entschieden und Walt abgeschossen.“

Hatte Mary ihrer Tochter das so erzählt, damit sie nicht als die Verliererin dastand? Oder hatte Jesse mich angelogen? Wenn ich genau darüber nachdachte, konnte er nicht älter als fünf Jahre gewesen sein. Betty war dort noch nicht mal geboren. Also spielte ihm seine eigene Erinnerung womöglich einen Streich.

„Hat er sich seitdem gar nicht mehr gemeldet?“

Betty zog eine Feder aus ihrem Kissen und drehte sie in ihrer Hand.

„Doch, bei mir schon. Das wird schon wieder. Es ist alles nur ein bisschen viel in letzter Zeit.“

Da konnte ich ihr nur Recht geben. Für ihr Alter war Betty unglaublich tough. Aber sie war auch nur ein Jahr jünger als ich, fiel mir dann wieder ein. Aus einem plötzlichen Impuls heraus nahm ich sie in den Arm.

„Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn was ist, okay!?“

Betty nickte und zog mich dann nochmal in eine Umarmung.

„Danke, Lea.“
 

Als ich die Treppe hinunterschlich, haderte ich mit mir, ob ich den beiden Streithähnen noch auf Wiedersehen sagen sollte, oder ihnen vielleicht noch eine Standpauke auftischen sollte, wie unmöglich sie sich vor ihren Kindern verhielten. Aber einfach abzuhauen, schien mir doch die erträglichere Variante.

„Wie kannst du behaupten, ich wäre eine schlechte Mutter?“, drang Marissas Stimme zu mir in den Flur. Sie stritten noch immer, jetzt jedoch in gedämpfterem Ton.

„Hast du vergessen, was damals passiert ist? Muss ich dich wirklich daran erinnern?“
 

Ich sollte einfach gehen, diesen Ort verlassen und nie wieder einen Fuß in dieses Haus setzen. Mein Elternhaus kam mir auf einmal so friedlich und behütet vor. Aber die Neugierde siegte und ich blieb reglos stehen, froh, dass mich die beiden vom Wohnzimmer aus nicht sehen konnten.

„Natürlich habe ich es nicht vergessen. Wie könnte ich!“

Walt klang seltsam. Seine Stimme war belegt. Weinte er etwa? Ich wagte es nicht, einen Blick um die Ecke zu werfen. Marissa redete trotzdem weiter.

„Du warst so high, dass du nicht mal mehr von der Couch hochgekommen bist, hast die ganze Zeit vor dich hin gekichert und gesagt: Guck mal, wie tief er schläft. Er schläft wie ein Engel. Als wäre er direkt vom Himmel gefallen.“

Jetzt war ich mir sicher, ein Schluchzen zu hören. Aber ich konnte nicht eindeutig sagen, von wem es kam.

„Hör auf, Mary“, flehte Walt. Aber sie hörte nicht auf.

„Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich ihn da auf dem Boden liegen sah. Nicht schlafend, bewusstlos. Weil du ihn dein beschissenes Zeug hast rauchen lassen.“

Mir lief es kalt den Rücken herunter. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film, der eine absurde Wendung nahm. War dieser Moment wirklich? Waren ihre Worte wahr?

„Du hast ihm Drogen gegeben. Einem Vierjährigen!“

Irgendetwas ging zu Bruch. Es hörte sich nach einem Teller an. Ich hoffte inständig, dass Betty es nicht hörte. Zumindest kam sie nicht aus ihrem Zimmer. Vielleicht hatte sie einfach genug für heute.

„Ich habe ihn genommen und geschüttelt, während du auf dem Sofa lagst und mir sagtest, ich solle ihn doch schlafen lassen. Er hat sich nicht bewegt, war nicht ansprechbar. Du hast nicht mal bemerkt, wie der Jointstummel ihm die Haut versenkt hat. Du warst nicht mit im Krankenhaus und hast nicht gesehen, wie er sich die Seele aus dem Leib gekotzt hat. Wie er geschrien hat, minutenlang, und einfach nicht aufhören wollte.“ Ich hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde und öffnete leise die Haustür, um schnell verschwinden zu können.

„Du hast unseren Sohn fast umgebracht und bist dann abgehauen, also mach mir keine Vorwürfe, weil er nichts mehr mit mir zu tun haben will. Dazu hast du kein Recht.“

Als Schritte ertönten, schlüpfte ich nach draußen und rannte los, so schnell ich konnte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Silberwoelfin
2017-09-25T07:43:30+00:00 25.09.2017 09:43
Huhu
So mal wieder bin ich total überrascht :D
Das Kapitel hat nicht den erwarteten Inhalt, ich dachte heute ist ein Streit-schnulziges Versöhnungskapitel dran. Mit dem Thema hab ich gar nicht gerechtet und macht das ganze natürlich noch komplizierter.
Lea und Jesse sind schon zwei extreme Sturköpfe…. Reden könnte so viel helfen.
Und ob Jesse die Trotzreaktion von Lea mit dem Nasenpiercing so soll findet, bezweifle ich so ein bisschen… aber für mich macht sie das noch sympathischer, da ich auch ein paar Piercings und Tattoos habe :P
Dass Jesse so extrem bockig ist und nicht das Gespräch sucht überrascht mich schon, so vernünftig wie er immer wirkt…. Aber wer weiß schon was da noch für Gedankengänge oder Verlustsängste dahinter stecken.
Eine sehr mutige Aktion von Lea, sich alleine auf den Geburtstag von Jesses Mum zu trauen…. Immerhin war sie bisher nicht sonderlich freundlich zu Lea und wie Jesse darauf reagiert hätte, war ja auch nicht gerade ersichtlich.

Walt… ich weiß nicht was ich von dem Mann halten soll…. Wirkt ein bisschen zu sehr wie ein sorgloser Hippie… der Streit war heftig.. klar das es Betty irgendwann zu viel wird… insgesamt sehr schwierige Familienverhältnisse.
Ja und zu der Geschichte mit dem Joint… da weiß ich gar nicht was ich sagen soll… ob Jesse selber davon weiß? Vermutlich eher nicht.
Da kommt wohl noch einiges auf sie zu…. Und irgendwie hab ich das Gefühl das eine Versöhnung erstmal in weite Ferne rückt.. und Marissa wird vermutlich auch nicht begeistert sein das Lea das Gespräch mitbekommen hat… die Haustüre haben sie bestimmt zufallen hören…

Und jetzt heißt es wieder warten T.T eine Woche ist viel zu lange 

Gruß



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