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Somnum pro Nativitatis

A magnus fabula
von

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Ein leises Klacken von Absätzen drang durch die Stille der Nacht, kaum noch zu vernehmen. Der weiße Schnee, der inzwischen knöchelhoch gefallen war, dämpfte fast jedes Geräusch. Und noch immer fielen weiterhin vereinzelnde Flocken, die ganz langsam gen Boden segelten, als hätten sie alle Zeit der Welt. Nur um sich dort mit ihren Geschwistern zu vereinen und die Straßen, die Dächer der Häuser und die Baumkronen im fahlen Licht des Mondes glitzern zu lassen. Doch heute Abend bot nicht nur der Mond und die vereinzelnden Feuer in den Laternen das Licht, welches die Wege erhellte. Nein, heute Abend war Weihnachten und so glitzerte der Schnee in den bunten Farben der Lampions, die überall aufgehangen waren und in denen die Flammen die unterschiedlichsten Farben annahmen. Aus den offen gekippten Fenstern der Häuser drang der Duft von frisch zubereitetem Essen wie Gänsebraten oder Wildfleisch-Gulasch. Das Gelächter der Kinder war fast lauter als das Klacken der Absätze, trotz dass die Fenster verschlossen waren. Das Licht warmer Kaminfeuer drang durch die Fenster auf die Straße und sorgte dafür, dass sich die kalte Nachtluft viel wärmer anfühlte. Irgendwo in der Ferne, vermutlich auf dem Marktplatz, sang ein Chor Weihnachtslieder unter einem großen Tannenbaum und wenn man genau hinsah, konnte man am bewölktem Himmel den einen oder anderen Engel erblicken, der so schnell wie eine Sternschnuppe durch die Wolken hervor brach und wieder in diesen verschwand. Wahrscheinlich patrouillierten sie, damit niemand diesen Tag der Liebe, der Freude und den Tag der Geburt des Heilands störte.

Schweigend hob die junge Frau ihre Hand hoch und beobachtete, wie eine Schneeflocke darauf landete. Sie brauchte sehr lange, bis sie geschmolzen war. Ein eindeutiges Indiz dafür, wie kalt ihre eigene Hand inzwischen sein musste, die sie selbst nicht mit Handschuhen warm hielt. Doch aus einem ganz anderen Grund begann die junge Schönheit fast gefährlich zu lächeln. Weitere Schneeflocken verirrten sich auf ihre blasse Handfläche, die sie so schnell zur Faust schloss, als würde sie damit eine Fliege fangen wollen. Die bloße Tatsache, dass überhaupt der Schnee auf ihrer Hand liegen blieb, brachte sie dazu, böse in sich hinein zu lächeln.
 

Da war sie nun. Für die Temperaturen der kalten Jahreszeit eindeutig zu leicht bekleidet, stand sie mitten auf dem Gehweg einer schmalen Seitenstraße. Die Spuren hinter ihr ließen darauf schließen, dass sie wie so oft ihre weiblichen Absatzschuhe trug, die ihr bis zu den Knien hochgingen. Ihr langes, schwarzes Kleid war hingegen etwas über den Schnee geglitten und hatte die Löcher der Absätze etwas weniger deutlich erkennbar gemacht. Der schwarze Stoff, der so finster wie die Nacht selbst wirkte, lag eng an der Haut der schönen Frau und betonte ihre verführerische Figur. Der Stoff wirkte so fließend, als hätte sie sich die Dunkelheit selbst um den Körper gebunden. Ein tiefer Ausschnitt offenbarte weitere, weibliche Reize und ließ schelmische Blicke auf die Spitze ihrer Unterwäsche zu. Ein silbernes Amulett, fast selbst wie eine Schneeflocke geformt und nicht weniger in der Nacht glitzernd, ruhte zwischen ihrer Oberweite. Der Übergang zu ihren Schultern wurde durch das schwarze, glatte Haar verdeckt, dass ihr vorne bis zu den Brüsten reichte und hinten sogar noch länger war. Ihre Arme waren eng im schwarzen Stoff des Kleides eingepackt, der ihr bis knapp unter die Ellenbogen reichte. Die Haut darunter bildete den wohl schärfsten Kontrast zu ihren Haaren und dem Kleidungsstil, denn sie war blass und wirkte fast leblos, zumal auch ihre Lippen kein gesundes Rot besaßen, sondern eher wirkten, als seien sie so kalt wie die Nacht selbst.
 

Natürlich handelte es sich hierbei nicht um ihr wahres Ich, aber durch diverse unschöne Angelegenheiten in der Vergangenheit war sie in dieser Gestalt verflucht worden, sodass sie mit dieser nun klar kommen musste. Durchaus nicht die schlechteste, aber verglichen mit ihrer wahren Gestalt und den Kräften, die sie dann besaß, war ihr Aussehen gerade nur eine leere Hülle. Und dass sie sich überhaupt manifestieren konnte, das hatte sie hart ersparen müssen. Die Energie der Träume, die sie denjenigen abgezwackt hatte, die dumm genug waren, mit der Puppe zu kuscheln die sie band, hatte sie einzig und alleine für diesen Moment gesammelt.
 

Nun möchte man meinen, dass es doch kaum eine ungünstigere Nacht für einen Mahr wie sie geben könnte. Immerhin war es heller als sonst, überall lag Freude und Liebe in der Luft und jeder feierte mit seinen liebsten diesen wunderbaren Abend. Doch Eryth wusste genau, was sie tat. Wo viel Licht ist, ist bekanntlich auch viel Schatten. Und genau das war es, was ihr an diesem Abend so viel Freude bereitete. Zu sehen, wie scheinheilige Gesichter sich zu einem Lächeln verzogen, während man unliebsame Verwandte begrüßt. Wo leise Flüche unterdrückt werden, wenn das schwierige Weihnachtsessen anbrannte oder man die Aufmerksamkeit kurz für etwas anderes brauchte. Der Streit, der vom Zaun gebrochen wurde, wenn der Weihnachtsbaum nicht so perfekt stand, wie alle es sich vorstellten oder er falsch dekoriert wurde. Die Momente, in denen sich die Leute vergeblich damit abmühten, ihre teuer erkauften Geschenke in dünnes Geschenkpapier zu wickeln, was am Ende zu reißen begann oder nie so aussah, wie man es sich zuvor vorgestellt habe. Das Stirnrunzeln und Reiben an den Schläfen als Ausdruck dafür, dass einem die überschwängliche Freude wild herumtollender und ungeduldiger Kinder den letzten Nerv raubte. Oh, Eryth hatte vieles, woran sie sich an diesem Abend erfreuen konnte, wann immer sie durch eines der Fenster blickte. Weihnachten bedeutete die Freude einiger weniger Stunden am Abend, während unmittelbar davor Stress, Ärger und Hektik die Tagesordnung bestimmten.
 

Doch die wahre Freude an diesem Abend sollte für den Nachtmahr noch kommen. Dann nämlich, wenn Kinder eifrig ihre Geschenke auspackten, in freudiger Erwartung, irgendwas von ihrem Wunschzettel erhalten zu haben, den sie an den Weihnachtsmann geschrieben hatten und der von den Eltern meist ignoriert wurde. Oh ja, sie liebte das Gesicht der Enttäuschung, wenn ein Geschenk nicht das war, was man sich erwartet hatte. Auch wenn Paare sich gegenseitig Geschenke machten, die nicht einem einigermaßen gleichen Wert innewohnten und von dem der eigene Stellenwert beim jeweils anderen abgeleitet wurde. Nichts jedoch war schöner, als wenn der Neid aufkeimte auf die Geschenke eines anderen, die man für sich haben wollte. Gerade deswegen liebte sie es, Kindern durch die Fenster beim Auspacken zuzusehen, denn diese trugen ihre Seele auf der Zunge und verschafften ihrem Neid damit Luft, dass sie sich einfach das Geschenk des Geschwisterchens nahmen. Streit und Eifersucht entstand, zudem genervte Eltern, deren freudige Erwartung eines entspannten Abends jäh zerstört wurden. Dieser Abend war für den Mahr einer der schönsten, den das Jahr zu bieten hatte. Um nichts in der Welt hätte sie diesen verpassen wollen.
 

Gerade sah sie durch eines der Fenster dabei zu, wie sich eine junge Frau fluchend am Daumen leckte, weil sie sich am Geschenkpapier geschnitten hatte, da vernahm sie das Quietschen einer Tür. Unweit von ihr verließ ein alter Mann das Haus. Zunächst sah sie nur die Wampe, als er durch die Tür nach draußen trat, denn er war wirklich korpulent. Dann aber auch den Rest. Der Mann war nicht sonderlich groß, hatte eine Halbglatze und die wenigen Haare, die ihm an den Seiten des Kopfes und bis zu seinem Nacken verblieben, waren so weiß wie der Schnee, durch den er dahin stapfte. Ein weißer, sauber getrimmter und nicht sehr langer Vollbart rahmte seine Lippen ein. Er hatte ihr nicht mal einen Blick zugeworfen, doch das war für sie nicht ungewöhnlich. Als Mahr nahmen sie meistens eh nur diejenigen wahr, an denen sie sich gerade labte oder wem sie schlechte Träume schenkte. Jetzt sogar noch weniger als vorher, bevor sie an die Puppe gebunden wurde. Daher konnte sie auch gefahrlos durch die Fenster schauen und sich am Leid anderer ergötzen. Warum sie trotzdem Spuren im Schnee machte und dieser auf sie fiel, konnte sie nicht erklären, immerhin war sie keine Physikerin. Sie wusste nur, dass es so war.
 

Langsam, fast schlurfend entfernte sich der alte Mann immer weiter von ihr und sie sah ihm nach. Nicht, weil sich weibliches Verlangen nach einer intimen Umarmung und dem warmen Körper über ihr in ihr bildete, denn dazu war sie gerade wirklich nicht aufgelegt. Nein, etwas anderes weckte ihr Interesse an diesem Mann. Sein Haus war als einziges in der Straße nicht geschmückt, wirkte dunkel und trostlos. Keine Kerze brannte darin und auch sonst hatte vorher kein Licht verraten, dass jemand gerade tatsächlich im Haus war, bevor er es nun verlassen hatte. Schweigend folgte sie ihm, ließ das Klacken ihrer Schuhe durch die sonst leere Straße hallen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er sie hören konnte oder nicht. Ihre Faszination und Neugierde war geweckt.
 

Denn dieser Mann strahlte an diesem fröhlichen und heiteren Abend eine so unglaubliche Traurigkeit aus, dass sie die Manifestation dieser dunklen Aura deutlich über den Mann sehen konnte. Wie Tiere von fetter Beute angelockt und angetrieben wurden, folgte auch sie diesem Festschmaus an negativer Energie, die sich immer weiter vom beleuchteten Zentrum der Stadt entfernte. Trotz dass es immer dunkler wurde und alsbald der Mond tatsächlich die einzige Lichtquelle war, wenn er mal durch die Wolken schien, aus denen der Schnee fiel, war der Schritt des Mannes sicher, als wäre er diesen Weg schon dutzende Male gelaufen und würde ihn selbst blind finden. Eryth folgte ihm und die beiden fanden sich schließlich auf einem Friedhof wieder. Dort nun sank der Mann auf die Knie und die dunkle Aura über ihn schien förmlich zu toben. Wie ein wildes Feuer flackerte sie hin und her, während Eryth den Namen auf dem Grabstein las: Rosalina O'berry. Vermutlich seine verstorbene Frau, schlussfolgerte die Mahr allein vom Namen nach, doch die Jahreszahlen bewiesen, dass sie sich irrte. Kaum merklich hob sie eine Augenbraue, als sie feststellte, dass jene vermeintliche Oma, die dort begraben sein sollte, kaum älter gewesen ist als 8 Jahre und folglich als junges Mädchen verstorben ist.
 

"Was bringt euch dazu, einen alten Mann in seiner Trauer zu verfolgen, gnädige Frau?", durchbrach die raue, traurige Stimme des Mannes die Stille. Er klang ganz danach, als habe er bereits jede Hoffnung aufgegeben und als sei jede Freude aus seinem Körper gewichen. Erstaunt darüber, dass er sie überhaupt wahrnehmen konnte, blickte sie zu dem Mann runter, der sein Gesicht ihr halb zuwandte. Seine Augen waren kaum zu sehen unter seinen dichten, weißen Augenbrauen und wirkten, als seien sie zusammen gekniffen. Eryth überlegte für einen Moment, was sie ihm antworten sollte. Ihr lag ein sarkastischer Spruch darüber auf den Lippen, dass sie sich in ihn verliebt habe. Oder ein anderer, dass sie ihm gerne einen Rollwagen verkaufen würde, da er nicht mehr sehr fit auf den Beinen wirkte. Doch schließlich entschied sie sich dazu, ihm die Wahrheit zu sagen.
 

"Die Trauer und Verzweiflung, die du ausstrahlst, alter Mann. Ich bin hier, um mich davon zu nähren!", erklang ihre für eine Frau tiefe Stimme, die so klang, als würde sie die Dunkelheit durchschneiden können. Sie war sich nicht mal sicher, ob der Mann sie überhaupt verstehen konnte oder nur ihre vage Präsenz spürte, denn er nickte zwar, wandte sich dann aber wieder dem Grabstein vor ihm zu und schien ihn einfach nur zu betrachten. Ein schwerer Seufzer entwich dem bärtigen Mann und drückte damit alles aus, was er in diesem Moment fühlte. Zugegeben, Eryth hatte eine andere Reaktion erwartet. Mehr etwas in Richtung wie Angst und weniger die Resignation, die der alte Mann ausstrahlte. Und wenn es eine Sache gab, die Eryth überhaupt nicht mochte, dann war es von Personen ignoriert zu werden, die sie wahrnehmen konnten. Es widerstrebte ihr zutiefst, danach zu fragen, aber etwas Besseres kam ihr nicht in den Sinn, um die Aufmerksamkeit ihrer Beute wiederzuerlangen.
 

"...wer liegt hier begraben...?", fragte sie möglichst monoton nach, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. So konnte sie sehen, dass alleine die Frage danach dem Mann die Schultern noch tiefer hängen ließ. Doch wenigstens richtete er sich anschließend etwas mehr auf und blickte noch einmal über seine Schulter in ihre Richtung. Ein Beweis dafür, dass er sie wohl durchaus wahrnehmen konnte. Sie allerdings wollte möglichst desinteressiert klingen, als sie dies auch nicht wichtig für sie.
 

"Und ich dachte immer, nach sieben Jahren wäre ich endlich darüber hinweg. Verzeih mir, dass du den weiten Weg hierher machen musstest, nur um dir die Seele des alten Conan O'berry zu holen."
 

Diese Worte überraschten die Mahr nun doch und so stemmte sie eine Hand in ihre reizvolle Hüfte, während sie ihren Kopf ein wenig schief legte, sodass ihr glattes Haar fließend ihrer Bewegung folgte.
 

"Bist du bereits so senil, dass du mich für den Tod hältst, der deine Seele haben will?! Ich wurde nur von deiner tiefen Trauer angelockt und wollte mich an dieser ergötzen. Mit deinem Tod hat das hier gar nichts zu tun." Zugegeben, ihre Worte waren ein wenig taktlos angesichts der Tatsache, dass sie sich hier auf einem Friedhof befanden, aber Eryth war stets sehr direkt und ehrlich. Außerdem brachte es nichts, um den heißen Brei herumzureden und noch weniger wollte sie mit einem Dämon oder dem Tod selbst verglichen werden. Sie war ein Nachtmahr und entsprechend hatte auch sie ihren Stolz. Der Mann wandte erneut seinen Blick von ihr ab und seufzte wieder. Unwillkürlich ballte Eryth ihre Hand zur Faust, da sie das Gefühl hatte, entweder ignoriert oder gerade nicht ernst genommen zu werden.
 

"...Hier liegt meine Enkelin begraben. Meine süße kleine Rosa. Ich hab sie auf dem Gewissen...", begann der alte Mann endlich mit der Sprache herauszurücken und damit Eryth's Neugierde zu befriedigen und die aufkeimende Wut zu ersticken. Sie witterte allerdings eine durchaus interessante Geschichte, weshalb sie ein wenig näher an den Mann heran trat, dessen dunkle Aura nur noch mehr zu flackern schien. Ihr war klar, dass er selbst nicht sehen konnte, was sie sah. Scheinbar reagierten die dunklen Gefühle um ihn auf seine Worte.
 

"Es war heute vor genau sieben Jahren. Rosa wurde von ihren Eltern zu mir gebracht und sollte mit mir und ihnen das Weihnachtsfest feiern. Sie war immer so ein lebhaftes Mädchen. Einmal hatte sie versucht, in meinen Bart Zöpfe zu flechten, weil sie meinte, dass sie mich sonst mit dem Weihnachtsmann verwechselte." Der Gedanke daran brachte den alten Mann wohl zum Lächeln, während sich zeitgleich und ungesehen von ihr die ersten Tränen an seinen Wangen herunterliefen. Eryth aber konnte sehen, dass ihn der Gedanke daran aufwühlte, denn die dunkle Aura um ihn herum wuchs.
 

"Rosa hatte ein Jahr zuvor die Bescherung verschlafen, weshalb sie dieses Mal schlafen gehen wollte, damit sie Abends nicht verpasse, wenn der Weihnachtsmann komme. Natürlich ließ ich sie in meinem Bett schlafen, während ihre Eltern noch einmal die letzten Geschenke kaufen wollten und Abends wieder dazukommen wollten. Ich schmückte den Baum, zündete die Kerzen an und begab mich in die Küche. Doch mir viel ein, dass ich vergessen hatte, Rosa's Lieblingsnachtisch zu kaufen, also machte ich mich noch einmal auf den Weg. Ich war nur zehn Minuten weg, wirklich...!" Der Mann klang, als wolle er mit seinen letzten Worten irgendetwas rechtfertigen, doch die Pause, die er einlegte, war nur von einem Schluchzen hergerührt. Eryth wusste, dass in diesen zehn Minuten etwas passiert sein musste.
 

"Als ich wieder kam...das Haus...es stand in Flammen! Lichterloh brannte es! Bis zum Himmel hoch und alle standen nur da, unfähig etwas zu tun. Es hieß nachher, dass der Tannenbaum wohl umgekippt sei. Meine Rosa...meine süße Rosa...!" Nun hörte man deutlich das Schluchzen des alten Mannes. Er krümmte sich, als würde er Schmerzen im Bauch verspüren und die Aura von ihm nahm immer größere Züge an. Es wirkte fast, als würde sie sich mit jedem Moment verdichten. Eryth sagte nichts. Die Geschichte zu hören und sie sich nur vorzustellen, wühlte sie innerlich auf. Sie konnte nichts dafür, denn es lag in ihrer Natur, sich an den Qualen der Menschen zu laben. Doch irgendetwas sagte ihr, dass die Geschichte noch nicht vorbei war. Und der Mann schien auch keinen Trost zu erwarten, denn er setzte einfach fort.
 

"Ich...habe sie Schreien gehört. Plötzlich ertönte ein lautes, qualvolles Schreien aus den Flammen. Ein...so erstickendes Schreien! I-Ich habe gehört, wie meine süße Rosa...in den Flammen starb! Ich wollte ins Haus rennen, doch man hielt mich auf und so konnte ich nur zusehen, wie das Haus lichterloh brannte. Sie schrie...schrie um ihr Leben...rief meinen Namen...und dann war alles still...Ihre Eltern...sie hatten mir die Schuld gegeben...mir die Geschenke an den Kopf geworfen und mich verflucht! Und sie haben recht! Wäre ich nicht einkaufen gewesen, dann wäre meine Rosa noch heute...dann wäre sie...wäre sie...!" Wieder begann der alte Mann zu weinen und das heftiger als zuvor. So heftig, als würde jemand gerade ein Messer in seinen Bauch gerammt haben und die Klinge gerade drehen. Eryth's Nackenhaare stellten sich auf, denn die Aura glich jenen Flammen, von denen er berichtet hatte. Mehr noch, sie glaubte selbst die Schreie des Mädchens zu hören. Schreie, die seinen Namen riefen. Verzweifelte Schreie, die aus der dunklen Aura selbst wirkten. Dieser Mann hatte eine so unglaubliche Trauer, so unglaubliche Verzweiflung und so unglaubliche Schuld auf sich geladen, dass sie im Begriff war, ihn zu erdrücken. Ihr war klar, dass er seit sieben Jahren diese Bürde mit sich herum trug und dass sie allmählich alles Gute aus ihm herausgesogen habe.
 

"Ich habe an diesem Abend alles verloren! Alles! Meine Rosa, meinen Sohn und seine Gemahlin, mein Haus...einfach alles! Selbst die Nachbarn mieden mich von da an, sodass ich schließlich an das andere Ende der Stadt ziehen musste. Ich dachte, das würde meine Schmerzen lindern. Heißt es nicht, die Zeit heile alle Wunden? Warum höre ich dann noch immer ihre Schreie?!" Die Stimme des alten Mannes wurde lauter, aus ihm sprach die pure Verzweiflung. Wahrscheinlich hatte er nie mit jemanden darüber reden können und nun brach alles aus ihm heraus. Eryth hatte in diesem Moment jedoch nur Augen für die Aura des Mannes. Sie konnte nicht glauben, was sie dort sah. Es war, als würde sie sich immer weiter verdichten und einen Körper bilden, die sich dicht um den Mann schlang. Sie konnte die Rufe deutlich hören. Und so überwand sie auch die letzte Distanz zwischen sich und den Mann, um ihn die Hand auf die Schulter zu legen.
 

"Es ist nicht deine Schuld! Dies war nur ein dummer Unfall, du hast deine Enkelin nicht umgebracht!", sprach Eryth etwas lauter gegen das Weinen des Mannes an und konnte selbst nicht glauben, welche Worte ihren Mund gerade verließen. Abrupt hielt er inne und auch die Aura der brennenden Gestalt unterbrach für einen Moment ihre Rufe. Stattdessen schien sie Notiz von Eryth zu nehmen und es wirkte fast, als würde sie den Mahr aus dem schwarzen Gesicht anstarren. Ohne, dass der Nachtmahr etwas dagegen hätte tun können, schoss die Aura auf Eryth zu. Schützend hob sie den freien Arm vor sich, doch die Aura ergriff sie nicht und griff sie auch nicht an. Nein, sie glitt direkt zwischen die Lippen des Mahrs und ließ sich damit von ihr aufnehmen.
 

Wie ein Schwall brachen in diesem Moment die Gefühle und Gedanken des Mädchens über sie herein. Eryth geriet etwas ins Taumeln, hielt sich dabei an der Schulter des alten Mannes fest und legte die andere Hand vor ihr Gesicht, um die wirren Gedanken und Gefühle aus ihrem Kopf zu vertreiben und schließlich, mit einem Mal, war wieder alles still. Die Nacht war still, der alte Mann war still und auch die Gedanken in ihrem Kopf waren still. Eryth öffnete langsam ihre schwarzen Augen und sah zu dem alten Mann hinab.
 

"Rosalina...Sie war die ganze Zeit bei dir, da du sie nicht gehen lassen konntest. Sie hat immer wieder nach dir gerufen, um dir klar zu machen, dass dich keine Schuld trifft. Doch deine negativen Gedanken haben dafür gesorgt, dass sie dich nie erreicht hat. Du hast sie dir zur Last gemacht, obwohl sie nie etwas anderes wollte, als dass du trotzdem glücklich bist. Ihr letzter Traum war es, dass du dich wieder als Weihnachtsmann verkleidest und sie dich an den Zöpfen in deinem Bart erkennt. Sie wollte, dass du weißt, dass sie immer in deinem Herzen ist und dich über alles...liebt...!" Eryth sprach ruhig, fast schon sanft, aber eben das waren die Gefühle der Aura, die den Mann die ganze Zeit begleitet hatten. In ihrer Verzweiflung hatte das die Aura wohl keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als sich von Eryth verspeisen zu lassen, um ihr damit ihre Gedanken, Gefühle und Träume zu vermitteln.
 

Diese Worte brachten den alten Mann erneut zum Weinen. Ein noch lauteres Weinen als zuvor, doch es war ein befreiendes Weinen, während Eryth ihre Hand von der Schulter des Mannes löste. Es war ein merkwürdiges Gefühl in ihr, sie war aufgewühlt und doch klar. Und sie spürte deutlich die Energie der angestauten Aura in sich, fühlte sich satt und irgendwie auch ein wenig träge. Mehr noch war sie jedoch irritiert, dass sie gerade zum ersten Mal in ihrer langen Existenz dafür gesorgt habe, dass ein Mensch von seinen negativen Gefühlen befreit wurde. Wenn auch nicht ganz freiwillig. Der alte Mann schien sich nach kurzer Zeit ein wenig zu beruhigen, ehe er sich aufrichtete und dem Mahr zuwandte. Sie war zu sehr in Gedanken um sich selbst beschäftigt, als dass sie merkte, wie sich der Mann näherte. Und als sie aufblickte, hatte er bereits den warmen Schal um ihren Hals gelegt.
 

"H-Hey, was wird das?!" fragte sie mit weit aufgerissenen Augen nach und wich instinktiv etwas zurück, doch der alte Mann lächelte nur und das auf eine so warme Art und Weise, als wäre er in diesem Moment der dankbarste Mensch der Welt.
 

"Diesen Schal wollte ich ihr zu Weihnachten schenken. Nun soll er dir gehören, denn du wirkst, als würdest du frieren. Danke, dass du dir meine Sorgen angehört und so befreiende Worte für mich gefunden hast. Ich weiß, es ist nicht viel, aber fortan will ich an diesem Tag dafür sorgen, dass die Kinder einen echten Weihnachtsmann zu sehen bekommen, der sie mit den schönsten Geschenken beglückt. Ich glaube, das hätte meiner Rosa sehr gefallen. Ich...danke dir!"
 

Eryth versuchte gerade den Schal von sich zu lösen, denn sie würde ihn nicht annehmen. Die Worte des Mannes ließen sie aber innehalten und so sah sie ihm zu, wie er ihr und dem Friedhof den Rücken zuwandte.
 

"Ey! Hörst du mir nicht zu?! Ich sagte, ich war aus reinem Selbstzweck hier! N-Nimm diesen Schal von mir, ich brauche den nicht! Sag mal, hörst du mir nicht zu? Hey, ich rede mit dir, du seniler...!", rief sie dem alten Mann hinterher und eilte ihm tatsächlich sogar nach. Doch ihr Versuch, ihn an der Schulter zu greifen, misslang. Ihre Hand glitt wie durch ihn hindurch, sodass sie auf ihre Handfläche starrte. Das konnte doch nicht wahr sein! War ihre Zeit etwa schon abgelaufen, obwohl sie noch gar nicht den streitenden Kindern hatte zusehen können? Wie, als wolle man ihr die Antwort darauf geben, erklang die laute Glocke der Kirche, die selbst hier gut zu hören war. Eryth stieß einen derben Fluch aus, als sie sah, wie der Schnee nun ebenfalls durch ihre Finger glitt. Nicht so jedoch der Schal, der mit ihr immer blasser wurde. Der alte Mann verschwand immer weiter, ließ Eryth alleine zurück.
 

"...Dummkopf...!" nuschelte Eryth leise, um ihren Satz zu beenden. Unwillkürlich griff sie mit der Hand in den Schal und zog ihn ein wenig über ihren Mund. Woher kam nur dieses irritierende, warme Gefühl? Und überhaupt, es war das erste Mal, dass sie an diesem Abend etwas geschenkt bekommen hat. An diesem Abend der Freude und der Liebe. Wieder stieß sie einen Fluch aus, dieses Mal direkt in den Stoff des Schals, der sich wirklich sehr warm um ihren Hals anfühlte. Sie wusste, dass es Zeit war. Zeit, wieder in ihre ungeliebte Puppe zurückzukehren und darauf zu hoffen, dass auch weitere unwissende sie zum Schlafen mitnahmen, auf dass sie ihre Energien wieder aufladen konnte. Immer mehr löste sich ihre Existenz auf dem Friedhof auf, während sie ihr Gesicht tiefer in den Schal vergrub. Ein Windstoß wehte einen Schwall an Schnee über die Grabsteine, bedeckte die Fußspuren des alten Mannes und des Nachtmahrs und damit die einzigen Beweise, dass sie hier gewesen ist.
 

...Und fortan hatte auch die kleine Puppe einen winzigen Schal um ihren Hals gebunden.



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