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Das Reh im Lichtkegel

von

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Wieder holte er aus, doch seine suchende Hand traf erneut nur auf schlammigen Untergrund. Seine Finger gruben sich tief in den Morast auf der verzweifelten Suche nach Halt, während zwischen seinen Fingern der Matsch hervorquoll und die spitzen Steine ihm die Haut aufritzten. Doch auch dieses Mal rutschte sein gesamter Körper wieder einen halben Meter in die Tiefe. Unter ihm brausten die gewaltigen Wassermassen, die ihn zu verschlingen drohten. Endlich traf seine Hand auf etwas Festes und er griff erleichtert zu. ‚Eine Wurzel‘, ging ihm auf. Er holte wieder aus und fand diesmal auch mit der zweiten Hand den rettenden Halt.

Für einen Augenblick hing er einfach nur schwer atmend an der rettenden Wurzel und blickte hinunter in die Tiefe. Mitten in dem reißenden Fluss brach unter dem Wrack seines alten Golfs ein Teil des Untergrundes weg und der Wagen versank mit der Schnauze voran mit erschreckender Endgültigkeit in den Fluten.

Nach wenigen Minuten war nicht mehr zu erkennen, wo das Auto versunken war, nur die Schneise in den Büschen am Straßenrand zeugte von dem Unfall, der hier geschehen war.

Sein Atem keuchte, sein Herz raste.

Hatte den wirklich niemand gesehen, wie er die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte? Es war doch eine viel befahrene Straße. Jemand musste doch etwas gesehen haben.

Als er wieder hinreichend Atem geschöpft hatte, traute er sich, die rechte Hand zu lösen und suchte über sich nach einer Möglichkeit zum Aufstieg.

Sein rechter Fuß schien gebrochen. Er gehorchte ihm nicht mehr und konnte ihm nicht den nötigen Halt verschaffen. Aber immerhin tat er nicht weh.

Wahrscheinlich stand er so unter Schock, dass er selbst die Schmerzen nicht spürte.

Langsam, aber sicher kroch er durch den Morast die Böschung empor.

Die Sträucher, die das Ufer des Flusses von der Straße trennten, hatten keine ausreichend starken Äste, um sich daran auf den rettenden Boden zu ziehen. Immer wieder brachen die dünnen, vom Frost ausgezehrten Zweige unter seinen Fingern, doch dann war es endlich geschafft.

Mit letzter Kraft zog er seinen Körper ans erlösende Ufer.

Schwer atmend lieb er auf den Resten des Unterholzes liegen und lauschte dem hämmernden Pochen seines Herzens. Sein Blick glitt durch die laubfreien, dicken Äste in den klaren Winterhimmel, der vor zahllosen Sternen glitzerte.

Kurz fragte er sich, wie lange der Aufstieg wohl gedauert hatte.

Er war in der Dämmerung unterwegs gewesen, als er das Reh auf der Fahrbahn stehen sah. Er war schon sehr lange unterwegs gewesen, die Aufmerksamkeit hatte nachgelassen und das Dorf, in dem er planmäßig seine nächste Pause einlegen wollte, konnte nicht mehr weit sein. Die Pause hatte er auch dringend nötig. Immer wieder musste er sich zwingen, wach zu bleiben.

Und dann hatte plötzlich dieses Tier auf der Strasse gestanden. Keine drei Meter entfernt.

Oder war er doch eingeschlafen?

Reflexartig hatte er gehupt und die Lichthupe betätigt, noch während er wie ein Verrückter auf die Bremse geholzt war, doch das blöde Vieh war einfach stehen geblieben und als er dann ausweichen und um das Tier herumfahren wollte, hatte es doch einen Sprung zur Seite gemacht. Um den Zusammenprall zu vermeiden, hatte er noch mit quietschenden Reifen das Lenkrad herumgerissen und das Bewusstsein verloren als der Wagen die Leitplanke durchbrach.

Nun lag er hier und starrte in den Nachthimmel.

Wie viel Zeit war vergangen?

Nichts zeugte mehr davon, wo die Sonne untergegangen war.

Seine Armbanduhr war stehen geblieben, das Handy mit dem Auto im Fluss versunken.

Sein Atem hatte sich wieder beruhigt.

Schwankend kämpfte er sich auf die Beine und humpelte zur Leitplanke.

Auf den einen Fuß konnte er sich nicht verlassen, nur mit Mühe hielt er das Gleichgewicht.

Keine zwei Meter von ihm entfernt lag der abgebrochene Ast einer Buche.

Das sollte ausreichen.

Taumelnd angelte er nach dem Holz und hievte sich mit seiner Hilfe über die Leitplanke.

Kurz rutschte der gesunde Fuß auf der eisglatten Fahrbahn weg, doch er hielt sich mit einem beherzten Griff nach der Leitplanke aufrecht.

Vorsichtig humpelte er auf die behelfsmäßige Krücke gestützt die ersten Schritte bis er ein Gefühl für seinen beschädigten Fuß gefunden hatte.

Die Straße war leer.

Es musste tatsächlich mittlerweile tiefste Nacht sein.

Also überwand er langsam, Stückchen für Stückchen die ersten Meter.

In der Ferne hörte er dann die leisen Geräusche eines sich nähernden Fahrzeugs. Hoffnungsvoll atmete er auf und wenig später bog einige Meter vor ihm ein Auto um die Kurve.

Er hielt an, lehnte sich an die Leitplanke in seinem Rücken und winkte wild mit beiden Armen, was mit dem Ast in seiner linken Hand sehr grotesk wirken musste.

Das Fahrzeug bremste abrupt, keilte kurz nach links aus als habe sein Fahrer erschrocken über die einsame Gestalt am Fahrbahnrand das Lenkrad verrissen. Kein Zweifel, er war bemerkt worden und glaubte schon, der Wagen würde jetzt anhalten.

Stattdessen beschrieb das Fahrzeug einen großen Bogen, umrundete hektisch seine Gestalt und entfernte sich mit quietschenden und durchdrehenden Reifen.

Fassungslos starrte er den sich immer schneller entfernenden roten Rücklichtern nach bis sie um die nächste Kurve bogen und sich somit seinem Blick entzogen.

‚Was für ein Arschloch! ‘, dachte er wütend als er seine Überraschung und Enttäuschung überwunden hatte. Gab es tatsächlich Menschen, die einen offensichtlich verletzten Menschen an der Straße stehen ließen? Ganz offensichtlich gab es sie.

Nun umgab ihn wieder die Dunkelheit der Winternacht, die nur alle 7 Meter durch eine Straßenlaterne unterbrochen wurde.

Er schleppte sich weiter.

Schritt für Schritt, Meter für Meter.

Erschöpft taumelte er von einem Lichtkegel in den nächsten und ließ irgendwann den schier endlos scheinenden Wald hinter sich. Er trat aus dem Zwielicht des winterlichen Waldes auf die Ebene hinaus. Dort erschien in einer Senke zwischen den ersten Ausläufern des Gebirges mit ein paar hell erleuchteten Fenstern in der Dunkelheit endlich das kleine Dorf, in welchem er eine Pause hatte einlegen wollen.

Doch diese Rettung lag noch immer eine schier endlose Strecke entfernt. Die Fenster, aus denen das warme Licht auf die gefrorene Straße fiel, waren noch zu weit entfernt, um nach Hilfe zu rufen.

Also hievte er den Ast vorwärts und begann vorsichtig den Abstieg in die Senke.

Je näher er der Siedlung kam, desto ungeduldiger wurde er.

Sein gefühlloser Fuß schien immer schwerer zu werden und ihn bei jedem Schritt mehr zu behindern. Dennoch schleppte er sich vorwärts. Nur noch diese Strecke musste er überwinden, um endlich Hilfe zu finden.

Nur noch ein paar Schritte.

Es war kein Kilometer mehr.

Er spürte wie seine Schritte immer schwerer wurden, sein Wunsch, sich hinzulegen und zu schlafen immer größer. Würde er erfrieren, wenn er diesem Wunsch jetzt nachgab? War es dafür schon kalt genug? Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals in seinem Leben so erschöpft gewesen zu sein.

Die ersten Häuser auf der Hauptstraße, die den kleinen Ort durchquerte, lagen bereits im Dunkeln. Doch als er sie erreichte und überlegte, ob er die Bewohner wecken sollte, konnte er bereits den kleinen Marktplatz erkennen und dort, inmitten der dunklen Bauten drum herum, lag eine kleine Kneipe, deren Fenster noch hell erleuchtet waren. Mit letzter Kraft schleppte er sich an den Fenstern vorbei zum Eingang.

Keinen weiteren Schritt würde er tun können, seine Reserven waren restlos erschöpft.

Mit Mühe zog er die schwere Tür auf und die Wärme und der Geruch eines behaglich geheizten Raumes schlugen ihm entgegen. Stimmen unterhielten sich fröhlich und ausgelassen und lachten.

Er sog die warme Luft tief in die Lungen und spürte die Angst von seinen Schultern fallen. Erleichterung durchströmte ihn. Jetzt würde alles gut werden.

Der Wirt würde ihm einen Krankenwagen rufen. Die Sanitäter würden ihn versorgen und dann könnte er auch endlich seine Frau anrufen, damit sie sich keine Sorgen machte. Er hätte bestimmt schon längst zu Hause sein sollen. Der Stau war schuld gewesen.

Nach wie vor auf den Ast gestützt humpelte er ins Innere.

Die Theke verlief auf seiner rechten Seite, die Wand dahinter war verspiegelt, um den Raum größer erscheinen zulassen. Davor standen Tische direkt vor den Fenstern, die aber jetzt nicht besetzt waren. Der einzige Tisch, der um diese Uhrzeit noch besetzt war, stand ganz hinten in der rechten Ecke. Fünf Männer in den Fünfzigern saßen dort und unterhielten sich lautstark miteinander. Die stämmige, große Gestalt, die vor dem Tisch und mit dem Rücken zu ihm stand, musste der Wirt sein.

Er humpelte näher, ließ den Eingangsbereich mit der Garderobe, die voller dicker Mäntel, Schals und Mützen hing hinter sich.

„Helfen Sie mir!“ stieß er mühsam und zitternd hervor und stolperte weiter in den warmen Raum hinein.

Es kam Leben in die massige Gestalt des Wirtes.

Er drehte sich zu der Stimme hinter sich herum.

Als er einen Blick auf den Mann geworfen hatte, erschrak er zutiefst, doch anstatt ihm zur Hilfe zu eilen, griff er nach einer Bierflasche, die hinter ihm auf dem vollbesetzten Tisch stand, hielt sie wie eine Waffe vor sich und wich vor ihm bis an die Tischkante zurück.

Seine Kunden, durch sein seltsames Verhalten aufgeschreckt, hoben den Blick verfielen in helle Panik. Sie schrieen, sprangen von ihren Sitzen und stürzten kopflos in den Gang, der zu den Toiletten führen musste davon.

„Helfen Sie mir doch!“

Er würgte förmlich an den Worten, doch der Wirt schien auf seine Worte hin nur noch panischer nach einem Fluchtweg zu suchen. Seine Augen waren vor Angst geweitet, die Iris vollständig sichtbar.

Doch er schien wie gelähmt.

Er machte noch einen Schritt.

Die massige Gestalt des Wirtes erbebte unter dem Keuchen seines Atems und je näher der Mann humpelte, desto stärker fuchtelte der Wirt mit der Flasche vor sich, um ihn abzuwehren.

Karsten Lindemann führte diese Wirtschaft schon seit 30 Jahren und glaubte schon Einiges gesehen zu haben.

Jetzt glaubte er schon, sein letztes Stündchen habe geschlagen. Doch da hielt der Mann verwundert inne und drehte den Kopf zur Seite. Sein Blick fiel auf den Spiegel hinter der Theke, kurz nur erschien ein ungläubiger, ja fassungsloser Ausdruck auf dem Gesicht, dann brach er lautlos zusammen.

Die Stille, die sich nun in dem Raum ausbreitete war unwirklich.

Der Wirt starrte fassungslos auf den Haufen, der nun reglos vor seiner Theke lag und sich nicht mehr rührte. Als sein Atem endlich langsamer ging und das Zittern in seinen Händen nachließ, rang er damit, es seinen Gästen gleich zu tun und über den Hinterausgang zu fliehen.

Doch noch immer konnte er sich nicht rühren.

Von dem Haufen auf seinem Fußboden breitete sich langsam ein dunkles Rinnsal auf seinem Dielenboden aus und langsam fand Karsten zu sich selbst zurück.

Er umrundete den Körper großzügig, schnappte sich ruckartig einen der vergessenen Schirme aus dem Schirmständer und näherte sich der Gestalt unter äußerster Vorsicht.

Erst behutsam, dann stärker stupste er sie auf dem Boden an und erst als diese sich wirklich nicht mehr rührte, traute er sich näher.

Mit der Schirmspitze rollte er den Körper zur Seite und dann lag dieses fürchterlich deformierte Gesicht mit den starr blickenden Augen oben. Der Kiefer war ganz offensichtlich gebrochen, das Jochbein ragte weiß aus der Wange hervor, das rechte Auge war vollständig zu geschwollen. Das Linke blickte starr an seine holzvertäfelte Decke. Doch am Schlimmsten war diese seltsame bläuliche Färbung der Haut, die er noch nie zuvor gesehen hatte.

Mühsam riss er sich von dem Anblick los, trat rückwärtsgehend hinter die Theke, den Schirm noch immer abwehrend zwischen sich und den Körper haltend. Er fischte das Telefon aus seiner Ladestation und scheute sich, seinen Blick abzuwenden.

Blind wählte er die Notrufnummer.

„Sie sind mit dem Notruf verbunden. Wie kann ich Ihnen helfen?“, meldete sich eine professionell klingende Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Ich.. Ich..“, stammelte Karsten, riss sich dann aber zusammen. „Ich brauche einen Krankenwagen. Obwohl…der ist eigentlich schon tot. Bitte schicken Sie jemanden.“

„Bitte beruhigen Sie sich“, forderte die Frau. „Haben Sie den Puls überprüft?“

Er wusste, die Frau musste diese Fragen stellen.

„Ich fass den nicht an!“

Seine Stimme klang sehr viel höher als normal und zeigte ihm, wie nah er einer Panik war.

Und obwohl die Dame in der Notrufzentrale mit Engelszungen auf ihn einsprach, war er nicht dazu zu bewegen, sich der Gestalt auf dem Boden zu nähern.

Also wartete er, den Schirm stoßbereit in den Händen. Immer darauf bedacht, im Ernstfall handeln zu konnten und zählte die Minuten, die der verdammte Rettungsdienst brauchte.

Fünfzehn Minuten später näherte sich heulend die Sirene eines Rettungswagens und brach abrupt ab als sie den kleinen Platz vor der Kneipe erreicht hatte.

Innerhalb weniger Augenblicke füllte sich der Thekenbereich mit Sanitätern, einem Notarzt und diversem rettungsdienstlichem Gerät.

Der Notarzt beugte sich unter den hektischen Blicken des panischen Wirtes zu dem Verletzten am Boden hinab, und prüfte den Puls und die Atmung. Ein Sanitäter kam zu Karsten, sprach beruhigend auf ihn ein, führte ihn zu einem Stuhl, befragte ihn mit freundlicher Stimme und verabreichte ihm schließlich ein Mittel gegen den Schock.

Doch auch während er das Gewusel beobachtete, konnte er erkennen, dass sich nach kurzer Zeit zwischen den Sanitätern und dem Notarzt ein ganz seltsamer Konsens entwickelte.

Die einzige Tatsache, über die sie sich einig waren, war der Umstand, dass sie es hier mit einem Toten zu tun hatten.

Nach einer kurzen Abstimmung wurde ein Telefonat geführt und ein Rechtsmediziner angefordert, der ebenfalls eine halbe Stunde später eintraf.

Während der Zeit, in welcher nichts geschah, tuschelten die Sanitäter untereinander, der Arzt schüttelte fassungslos den Kopf, äußerte sich aber vorerst nicht dazu, obwohl er mehrfach von den Sanitätern aufgefordert wurde. Der Wirt saß die ganze Zeit abseits an einem seiner Tische, weigerte sich, den Raum zu verlassen, bevor der Körper abtransportiert worden war und ließ ihn nicht einen Augenblick aus den Augen.

Der Rechtsmediziner traf völlig übermüdet ein, gähnte ausgiebig und beugte sich wie der Arzt vor ihm zu dem Körper auf dem Boden.

Nach ein paar Handgriffen, die Karsten nicht erkennen konnte, weil die Sanitäter ihm den Blick versperrten, kam Leben in die müde Gestalt des Rechtsmediziners. Interessiert richtete er sich auf und erforschte aufmerksam die Augen des Toten.

Irgendwann schloss er seine Untersuchung ab.

Fassungslos erhob er sich und suchte den Blick des Arztes, der ebenfalls nicht verstand, was hier geschehen war.

Dann sprach er und diese Worte brannten sich tief in Karstens Innerstes ein.

Ein Schrei, wie er ihn noch nie gehört hatte, erfüllte plötzlich den Raum und erst als sich die Blicke aller Anwesenden auf ihn richteten, wurde Karsten bewusst, dass er es war, der schrie.

Die Worte des Rechtsmediziners waren: „Es besteht kein Zweifel. Der Mann hier ist ertrunken.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Natürlich inspiriert von Oscar Wilde und Howard Philipp Lovecraft. Wie könnte es auch anders sein?
Ich glaube nur, dass sie besser mit der Sprache spielen konnten als ich. Komplett anzeigen

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