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Die Stadt, die in Flammen stand

von

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I: Fata viam invenient


 

After I recovered

From the worst winter

World ever seen

I barely remember

I used to be sad
 

Der Winter war eine schreckliche Jahreszeit und dieser Winter versprach, noch schrecklicher zu werden als alle zuvor. Es schneite seit einer Woche tagsüber ununterbrochen; nur wenn sich die Nacht über die Stadt senkte und er im Bett lag, die schweren Lider geschlossen und der Geist in Traumsphären wandelnd, verschloss der Himmel seinen Mund wie auf Kommando und keine einzige Schneeflocke erreichte mehr die Straßen und Gebäude.
 

Es gab einen Grund, warum der Winter für Itachi Uchiha keine schöne Jahreszeit war und warum ihm Eiskristalle ein Gräuel waren. Fallende Temperaturen und klirrende Kälte, die die Glieder durchbrach, war nichts Schönes. Und Schnee lag nicht die kathartische Funktion inne, die Perlen aus Aqua immerhin besaßen. Im Gegenteil: Während der Regen zumindest einen Teil der negativen Empfindungen fortzuspülen vermochte und einen trotz durchnässter Kleidung mit einem warmen Schauer zurückließ und dem Gefühl, geläutert worden zu sein, legte sich der Schnee auf die Haut und konservierte jede Verzweiflung, jeden Schmerz, jede Empfindung des Unwohlseins. Für Monate.
 

Itachi sah von seinem Buch auf. Er hatte sich in den Arbeitsraum des skandinavistischen Seminars zurückgezogen – ein kleiner Raum mit zwei Rechnern und einem großen Fenster, das auf den Campusplatz ging. In diesem Teil der Bibliothek war es immerzu angenehm ruhig, die Heizung glücklicherweise nicht vollständig aufgedreht. Es verirrte sich nur selten wer hierher außer ihm, und so konnte er hier seine Arbeiten schreiben und Bücher lesen. Er studierte Medizin im vierten Semester und war der Stolz der Familie, vor der er seine wahren Empfindungen stets verbarg.
 

Aus den Augenwinkeln bekam er mit, wie das Display seines Mobiltelefons aufleuchtete. Hidan hatte ihm geschrieben.
 

Sie waren eine Clique zu Schulzeiten gewesen, die sich Akatsuki genannt hatten, und jeder von ihnen hatte gedacht, dass sie, trotz einigen Schwierigkeiten, unzertrennlich sein würden. Doch einige zogen in andere Städte um, um dort ein Fach zu studieren, das es nicht in der Universität der Heimatstadt gab, oder der Ruf besser war, einige hatten sich für Ausbildungen entschieden und lernten und arbeiteten hart. Und einer hatte beschlossen, sich ein ganzes Jahr Pause vom Schulstress zu gönnen – Hidan.
 

Depri-Schwuchtel.
 

Hidans Nachricht verwunderte ihn nicht. Was hatte ihn bloß geritten? Itachi bereute es sogleich, ausgerechnet Hidan, Hidan geschrieben zu haben, dass es ihm nicht gut gehe. Es hatte sich so merkwürdig angefühlt, diese Worte zu tippen. Als dürfte es nicht sein, als dürfte er diese Gefühle nicht haben, so als dürfte er nicht seine Zeit darauf verschwenden, sich jemanden anzuvertrauen, sondern müsste jede Minute seiner Existenz lernen, lernen, lernen.
 

Gerade wollte Itachi das Handy weglegen, da kam eine weitere Nachricht von Hidan an: Lass uns treffen. Und diese Nachricht verwunderte Itachi so sehr, dass sich seine Brauen ein wenig hoben. Er ließ den Arm sinken und sah aus dem Fenster.
 

Es musste vor etwa einem Jahr gewesen sein, dass Unwohlsein in Itachi aufzukeimen begonnen hatte. Er hatte sich von seinen Eltern und seinem Bruder distanziert, obwohl er sie alle immer noch liebte. Aber es ging ihm nicht gut, er fühlte sich einsam, verloren und deplatziert. Die Tage flossen nur so dahin, diese Studentenstadt drückte auf sein Gemüt, und höchstens wenn sich die Sonne in ihrer gesamten Pracht zeigte, ging es ihm ein Stückchen besser. Jetzt war es grau und er fühlte sich elender denn je. Itachi fing an zu tippen.
 

Hast du morgen Zeit?
 

*
 

Ihre Schicht sollte mit dem Geruch von Kot enden. Kaum hatte sie das Zimmer des Patienten betreten, wollte Sakura Haruno davonrennen. Jedes einzelne Haar ihres Körpers stellte sich auf, sie bekam Kopfschmerzen und ihr wurde schwindelig. Abgestandener Urin und der Gestank von Putrefaktion erschienen geradezu lieblich im Vergleich zum Stuhl. Sakura hatte keine Probleme mit Blut, keine Probleme mit Innereien und eigentlich auch nicht mit schlechten Gerüchen. Nur dieser eine war eine enorme Herausforderung. Sakura riss sich so gut es ging zusammen und steuerte das Bett an, in dem der Patient lag. Es handelte sich um eine ältere Dame.
 

„Es tut mir leid“, winselte sie beschämt, Weinkrämpfen nahe. „Ich… Ich habe es gar nicht gemerkt.“
 

Sakura winkte mit einem blassen Lächeln und einem Das macht doch nichts, das kann passieren ab und machte sich daran, das Laken und die Bettdecke zu wechseln. Sobald das erledigt war und die Dame im neuen Hemd im frisch bezogenen Bett lag, widmete sie sich dem Boden, der ordentlich was abbekommen hatte. Ein Glück hatte die ältere Dame ihr den Rücken zugekehrt, so musste sie immerhin nicht mit ansehen, wie Sakura mit dem Gestank ihres Unfalls kämpfte. Die Lippen der jungen Frau zitterten, der Geruch penetrierte ihre Nasenhöhlen aufs Äußerste, trieb ihr Tränen in die Augen, ihre Hände zitterten leicht und sie war ganz fahl. Ekelhaft. Es war einfach nur ekelhaft.
 

„Ich bin fertig“, informierte Sakura die Patientin, nachdem alles erledigt war. Sie wusch und desinfizierte sich die Hände, tupfte ihre Augen ab, tauschte noch einige nette Worte mit der Patientin aus, die sich mittlerweile etwas beruhigt hatte, erledigte einige Kleinigkeiten und suchte die Umkleidekabine auf. Sie würde sich heute nach langer Zeit mit ihrer besten Freundin treffen. Das letzte Treffen war länger her. Zu fünft waren sie auf ein Seefest gegangen und hatten es sich am Abend auf einem Steg bequem gemacht. Auf der gegenüber liegenden Seite waren sämtliche Stände erleuchtet gewesen und das Licht hatte sich im stillen See widergespiegelt.
 

Sie hatte sich schrecklich einsam und unwohl gefühlt. Sie hatte nicht das Gefühl, dazuzugehören, nicht ein Teil der Gruppe zu sein, sondern am Rande des Stegs zu sitzen. Die Stille des Sees war verlockend und schien nach ihr zu rufen. Aber Sakura blieb sitzen und starrte auf die Reflektionen der Lichter und bekam nicht mit, worüber sich die anderen unterhielten. Irgendwann stand sie auf. „Ich werde auf die Toilette gehen“, teilte sie ihren Freundinnen mit und verschwand. Sie kam nicht zurück, sondern ging den gesamten Weg, den sie mit dem Bus zurückgelegt haben, zu Fuß zurück. Anrufe gingen ein, und auf den vierten reagierte sie und sagte, dass es ihr nicht gut gehe und sie nach Hause gegangen sei. Sie hatte nie darüber gesprochen, wie es ihr ging.
 

Wenn Sakura ehrlich zu sich selbst war, hatte sie kaum Lust. Sie würde jetzt viel lieber nach Hause gehen, in ihr Bett fallen, die Beine hochlegen und sich von der Arbeit auf der Station erholen; andererseits hatten sich die Freundinnen das letzte Mal vor vier Monaten getroffen – sie pflegten natürlich häufiger telefonischen Kontakt – und ein Teil Sakuras wollte Ino wieder in die Arme schließen und ausgelassen Cocktails mit ihr trinken wie vor drei Jahren.
 

Es war kurz nach siebzehn Uhr und bereits dunkel geworden, als Sakura das Krankenhaus verließ. Die blauäugige Blondine wartete in ihrem Auto auf dem Krankenhausparkplatz und wäre beinahe vor Freude vom Sitz aufgesprungen, als Sakura vor dem Fenster erschien. Schneeflocken umtanzten sie. „Oh Gott, wie lange haben wir uns nicht gesehen?!“, rief Ino, als Sakura sich gesetzt und angeschnallt hatte, und fiel ihrer Freundin um den Hals. Sakura erwiderte unbeholfen die Umarmung. Es fühlte sich seltsam an, umarmt zu werden, und es fühlte sich noch seltsamer an, sie zu erwidern, so lange war es her, dass sie die Arme um eine Person gelegt hatte.  
 

„Also, ich habe mir überlegt, wir fahren in einen Diner“, plapperte Ino wenige Minuten später freudig. „Es sei denn, du hast was dagegen.“
 

„Nein, ich habe nichts dagegen“, sagte Sakura erschöpft, und Ino verzog den Mund.
 

„Was ist los? Geht es dir nicht gut?“
 

„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich musste heute nur eine unschöne Arbeit verrichten und fühle mich noch ein wenig daneben“, erklärte sie. Es war eine halbe Lüge: Unschöne Arbeit hatte sie tatsächlich verrichten müssen und noch immer verfolgten sie die Bilder und der Geruch von Fäzes. In Ordnung war mit Sakura allerdings nichts. Sie war unzufrieden mit ihrem Leben. Ihre Ausbildung lief gut. Es war nicht das, was sie ursprünglich gewollt hatte, aber sie konnte nicht sagen, dass sie mit der Ausbildung zur Operationspflegekraft absolut unzufrieden war und sie ihr das Leben zur Hölle machte. Sie verdiente gut und lernte viel. Aber alles, was sie tat, war es, zu arbeiten und sich zu Hause zu entspannen. Ihre Kleidung hatte sie Gott weiß wann das letzte Mal erneuert, die Bekanntschaft eines Mannes hatte sie seit gefühlten Dekaden nicht mehr gemacht.
 

„Ich werde noch einmal schauen, wo genau der Diner ist.“ Ino fischte aus ihrer Tasche, die sie auf dem Rücksitz deponiert hatte, ihr Mobiltelefon hervor. Während sie tippte, sah Sakura aus dem Fenster. Es war gut, dass es dunkel war. Der ewige graue Himmel am Tag machten sie nämlich wahnsinnig. Diese gesamte Stadt, eine Abscheulichkeit aus Glas, Beton und Stahl, machte sie wahnsinnig. Sie lebte hier seit ihrer Geburt und hatte kein einziges Mal weite Felder, große, dichte Wälder und Berge gesehen.
 

„Wir brauchen fünfzehn Minuten mit dem Auto.“ Ino steckte ihr Mobiltelefon weg und startete den Motor.
 

*
 

Itachi wurde von Hidan mit einem unsanften Klaps auf den Rücken begrüßt. Die beiden jungen Männer waren in etwa gleich groß, und so konnte Itachi direkt in das breite Grinsen Hidans blicken, das seine violetten Augen in tiefe Falten legte. „Wo geht’s hin?“, fragte er ihn. „Gibt es hier in der Nähe einen Schuppen, wo man was Ordentliches zu Futtern bekommen kann?“
 

Mit etwas Ordentlichesmeinte Hidan fettiges, gesalzenes Essen, und so führte ihn Itachi in das beste Burgerrestaurant der Stadt, das er selbst nur einmal frequentiert hatte. Schnellimbiss war in den wenigsten Fällen seine erste Wahl gewesen. Hidan war mit dem Bus gekommen und beschwerte sich scherzhaft darüber, Geld für die Fahrt ausgegeben zu haben, wo Itachi mit seinem Semesterticket kostenlos zu ihm hätte fahren können.  
 

Hidan war das absolute Gegenteil seiner eigenen Person, und dennoch verstand Itachi sich aus irgendeinem Grund mit ihm. Hidan war auch der einzige, dem Itachi sich anvertraut hatte. Vielleicht lag es daran, dass Itachi Hidans Potenzial erkannte: Abseits seiner Respektlosigkeit, seines Tons und farbigen Vokabulars war er alles andere als dumm und eindimensional und für seine Freunde immer da.
 

Das artifizielle US-amerikanische Ambiente des Restaurants gefiel Hidan ausgesprochen; Itachi konnte den halbnackten, sich räkelnden Frauen und den lustigen Schildchen in leuchtenden Farben an den Wänden nur wenig abgewinnen. Während die beiden in den von der Kellnerin gebrachten Speisekarten blätterten, bewegte Hidan seine Schultern und Füße zur Musik der sechziger Jahre, die aus der Box in der Ecke strömte. „Schieß los“, forderte Hidan ihn auf, nachdem ihre Bestellung aufgenommen worden war, und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Itachi musste nicht nachfragen, er wusste ganz genau, womit er losschießen sollte.
 

Gerade lag ihm so vieles auf dem Herzen und seine Zunge war bereit, seinem Gegenüber alles zu sagen, was ihn beschäftigte, aber alles, was er schaffte, war, den Mund auf- und wieder zuzumachen. In der Praxis war es schwer, darüber zu reden, wie man sich fühlte. Da war eine Blockade, die er nicht einfach beiseiteschieben konnte.
 

„Weißt du, was dir vielleicht helfen könnte, ganz egal, was du hast?“, fragte Hidan, ohne dass Itachi auch nur ein einziges Wort gesagt hatte. „Ausgehen. In eine Bar und ein süßes Mädel kennen lernen.“ Es war der Standard-Ratschlag eines jeden, wenn es einem nicht gut ging: Geh unter die Menschen, lerne neue Menschen kennen. Nur half es nicht in jeder Situation. Oftmals machten solche Gänge und Handlungen alles nur noch schlimmer: Man erschien an einem menschengefüllten Ort und schon in der ersten Sekunde begann man sich wie ein Fremdobjekt zu fühlen. Man war unter Menschen, aber dennoch einsam.
 

„Ich gehe nicht gerne in Bars“, gab er schließlich zurück. Sie stellten ihr Gespräch ein, als ihnen ihr Essen gebracht wurde. Hidan staunte über die Länge und Dicke der Pommes und versuchte, beides mit seinen Fingern auszumessen. „Und ich kann mir nicht vorstellen, dort jemanden kennenzulernen, der ernsthaft an einer Beziehung interessiert wäre, um ehrlich zu sein“, fügte der Stolz der Uchihas leise hinzu und betrachtete sein Sandwich, das bereits in vier Teile geschnitten worden war und dem der saftige Duft von gebratenem Speck entkam.  
 

Hidan, der soeben seinen Burger mit beiden Händen ergriffen hatte, runzelte nachdenklich die Stirn und sah seinen Freund an. „Beziehung, eh? Weißt du, es muss ja keine Beziehung werden. Es muss ja nicht einmal zur Sache kommen. Ich weiß ja, wie du bist. Du würdest dich niemals auf One-Night-Stands oder so etwas einlassen. Weiß ich, weiß ich. Aber wie gesagt: Es muss ja nicht einmal zur Sache kommen. Ein kleiner Flirt zum Warmwerden tut niemandem weh, enttäuscht niemanden und du musst keine Angst haben, dass die Schnalle urplötzlich eine Beziehung mit dir will.“ Er nahm einen großen Bissen und kaute genüsslich seinen Burger. „Lass dir meine Worte durch den Kopf gehen, Italein.“
 

Itachi widmete sich seinem Essen. Es herrschte eine Weile lang Schweigen, dann fing Itachi an zu reden: „Die Tage sind kurz und grau und ich verbringe meine Zeit größtenteils in der Universität oder daheim. Meine Familie kann mir nicht die nötige Wärme geben. Wenn ich sie besuche und ihre Gesichter erblicke, dann spüre ich kein Verwandtschaftsverhältnis. Da ist nichts. Sie ist mir fremd geworden. Und am allerschlimmsten ist diese Stadt. Sie ist so trist, auch im Sommer und Frühling, mit nichts als Studenten gefüllt.“ Das war die längste Abhandlung über seine Gefühle, die er jemals zustande gebracht hatte. Er hatte ruhig gesprochen und dennoch war ihm, als hätte er sich eben die Seele aus dem Leib geschrien. Sein Herz raste und er war unruhig.
 

„Mann, Itachi, das hört sich echt danach an, als hättest du…“ Hidan hielt inne und sah an Itachi vorbei zum Eingang in das Restaurant. Zwei junge Frauen traten ein, die eine blond, die andere rosahaarig. Itachi wollte sehen, was Hidan soeben zum verbalen Innehalten bewegt hatte und folgte seinem Blick. Zwei Frauen hatten sich soeben an einen Tisch gesetzt. „Die Blonde ist echt eine Schnecke“, kommentierte Hidan, „die Rosane ist aber auch nicht schlecht.“
 

Die junge Frau mit dem rosa Haar hatte sich so gesetzt, dass die beiden Männer ihr Gesicht sehen konnten. Es tat sich etwas in Itachis Innerem. Er sah sie lange an, mit der geheimen Hoffnung, dass sie zu ihnen hochschauen würde, und wandte bald den Blick ab, starrte auf seinen Teller. Er verspürte Appetitlosigkeit. Aber er musste etwas essen. Er konnte das Gefühl eines leeren Magens nicht ausstehen, Magenknurren war ihm unangenehm.
 

„Wie wäre es mit einer Auszeit?“, nahm Hidan unerwartet das Gespräch wieder auf. Seine Aufmerksamkeit lag zweifelsohne auf dem Burger und der blonden Frau drei Tische weiter; er hörte Itachi dennoch zu und schien sich auch darum zu bemühen, ernsthafte Ratschläge geben zu wollen.
 

„Das kann ich mir im Moment nicht leisten.“
 

Hidan überlegte. „Hast schon einmal daran gedacht, zum Onkel Doktor zu gehen?“
 

„Ich glaube nicht, dass ich dafür Zeit habe. Einen Termin zu kriegen ist schwer. Und wenn ich einen kriege, ist er in drei Monaten. Ich kann nicht einmal heute sagen, was morgen sein wird.“ Das war eine Lüge. Das Morgen würde genau so sein wie das Heute und das Übermorgen wie Morgen. Vielleicht mit ein wenig mehr Sonnenschein, ein wenig mehr Freizeit, aber letztendlich war er in Monotonie gefangen, ein Gefangener dieser Stadt, aus der er ausbrechen wollte. Damals, als er noch ein Kind gewesen war, war er zusammen mit seinem Bruder und seinen Eltern häufig zu seinen Großeltern gefahren, die auf dem Dorf gelebt hatten. Er hatte die Freiheit und die Luft dort genossen. Seine Großeltern waren schon tot und das Haus war verkauft worden.
 

Als die Frau mit dem rosafarbenen Haar plötzlich aufstand und schnellen Schrittes vor die Tür ging, beugte sich Hidan energisch über den Tisch und sagte: „Los, Itachi, folg ihr.“ Er hatte Itachis interessierten Blick sehr wohl gemerkt und glaubte, Itachi zu seinem Glück nun zwingen zu müssen. „Jetzt mach schon.“
 

Itachi stand auf. Er wusste nicht, was genau sein Antrieb gewesen war. Vielleicht, dass er sich das Gesicht der jungen Frau in Erinnerung gerufen hatte und es ihm genauso traurig erschien wie das, das er manchmal im Spiegel erblickte. Itachis Hände griffen nach seinem schwarzen Mantel, den er neben sich gelegt hatte, und er zog ihn sich beim Gehen an. Augenblicklich wechselte Hidan samt seinem Burger, den er ohne Itachi sicherlich längst verzehrt hätte, die Plätze, gesellte sich zu der allein gelassenen Blondine, mit der er ein ungezwungenes Gespräch begann.

II: Ave atque vale

Es war kalt. Sie hatte ihre Jacke zurückgelassen und stand jetzt mit um den Oberkörper geschlungenen Armen vor der Tür ins Restaurant, darauf aus, ihrem Schwindel durch das Schnappen von Luft ein Ende zu setzen. Als Itachi sich neben Sakura stellte, sah sie ihn das allererste Mal an diesem Tag an. Ein blasses Gesicht mit tiefschwarzen Augen, illuminiert vom künstlichen Licht, das durch die Fenster des Diners drang. Traurigkeit in jedem seiner Züge. Seine Traurigkeit nahm sie ein, zerdrückte ihr die Kehle, zerdrückte ihr die Glieder und vereinigte sich mit der ihren. Schweigend standen die beiden jungen Menschen da, die Köpfe wie leergefegt.
 

Itachi zog seinen Mantel aus und reichte ihn ihr. Sie fixierte das Kleidungsstück, sah dann in Itachis Gesicht und wieder zu dem Kleidungsstück, das sie zögerlich annahm und sich über die Schultern warf. „Danke.“ Es war wie eine warme, herzliche Umarmung und vertrieb einen Großteil der Kälte aus ihrem Körper. Die Empfindung war überwältigend, nicht seltsam.
 

Unter seinem Mantel trug Itachi eine Strickjacke, weswegen es ihm nicht sehr viel ausmachte, ohne Mantel an der frostigen Luft zu stehen; Sakura hatte nur ein dünn ausschauendes Oberteil an. Sie wechselten weiterhin kein Wort miteinander, auch nicht, als sie einen Schritt auf ihn zumachte. Er war ihr fremd und dennoch vertraut. Sie hatte ihn irgendwann einmal gesehen, da war sie sich sicher. Aber wann und wo, das konnte sie nicht mit Sicherheit sagen.
 

Ihre grünen Iriden leuchteten, als sie ihm die Hand reichte. Ihre Finger waren lang, die Nägel kurz, frei von Lack und gepflegt. Die Handinnenflächen machten einen trockenen Eindruck – sie desinfizierte sich schließlich täglich mehrmals die Hände.
 

Itachi gab ihr die Hand, umfasste ihre Finger für wenige Sekunden und ließ dann von ihnen ab. Er hatte nicht erwartet, dass sie ihn nach ihrem Dank ansprechen würde, hatte erwartet, dass sie stillschweigend ihren Weg zurück ins Restaurant finden würden. Aber es kam anders. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft und einzelne Schneeflocken verirrten sich in ihrem Haar. Es wurden immer mehr und mehr.
 

„Du bist einsam.“
 

*
 

Sie kannten nicht einmal den Namen des jeweils anderen, hatten sich aber in Itachis Einzimmerwohnung zurückgezogen. Hidan und Ino waren fast vergessen. Sicherlich nahm Ino ihr das nicht übel, solange ein Mann der Grund war, weshalb Sakura aus dem Restaurant geflüchtet war. Sakura wusste bereits jetzt, dass Ino sie mit Fragen löchern würde. Und Hidan… Für ihn galt ungefähr das Gleiche. Der war sicherlich froh, Zeit mit der hübschen Blondine zu verbringen.
 

Itachi lebte bescheiden. Die Wohnung war nicht geräumiger als andere Studentenzimmer, die sie besucht hatte, aber die Ausstattung unterschied sich nicht von den stillen, engen Kämmerlein, in denen Sakura sich stets eingeengt gefühlt hatte: Küche, Bad, ein Tisch, ein Bett und ein Sofa, auf dem sie Platz nahm. Seltsamerweise fühlte sie sich in diesem Studentenzimmer nicht eingeengt, sondern frei, wie eine Großkatze in der weiten Wildnis. Vor dem Sofa stand ein kleines Tischchen, auf das Itachi eine Tasse soeben zubereiteten Tees stellte. Sie wusste nicht viel von ihm, aber er wirkt zuvorkommend und höflich. Mit noch kalten Fingern umfasste sie vorsichtig die Tasse.
 

Auch sich selbst hatte er Tee gemacht und nahm nun Platz am anderen Ende der Couch. Sie tranken Tee und sprachen nicht. Er war auf ihre Aussage vor dem Diner nicht eingegangen. Sie hatten minutenlang nebeneinander gestanden, ehe Sakura hineingegangen war und ihre Jacke geholt hatte. Sie hatte dann seine Hand genommen und gesagt: „Lass uns gehen“. Er hatte gefragt, wohin, und sie hatte ihn angelächelt und gesagt, dass es vollkommen egal sei, wohin. Daraufhin hatte er, ohne ihr zu sagen, wohin die Reise gehen würde, sie zu sich nach Hause geführt. Wo sonst hätten sie einkehren können? Sie hatte nicht auf die Schildchen geachtet, welche ihr zumindest seinen Nachnamen hätten verraten können.
 

„Du studierst Medizin“, stellte Sakura fest, als sie die sorgfältig gestapelten Bücher in einer Ecke des Raumes entdeckte. „Ich mache gerade eine Ausbildung zur OP-Schwester.“ Sie wusste nicht, ob man sagen konnte, dass in dieser Hinsicht eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen bestand. Ursprünglich hatte sie ebenfalls Medizin studieren wollen. Aber das Leben gab einem manchmal nicht das, wonach man verlangte.
 

„Im vierten Semester“, sagte Itachi und nahm einen Schluck von seinem heißen Getränk. „Wieso bist du hinausgegangen?“
 

Sie verstand erst nicht, was er meinte. Sie rezitierte die Antwort, die sie Ino gegeben hatte, nur mit einigen Änderungen: „Ich musste heute eine unschöne Arbeit auf der Stationen verrichten und habe ich die ganze Zeit daneben gefühlt.“
 

Als der Tee ausgetrunken war, erhob sich Sakura und trat ans Fenster. Es nahm die gesamte Wand komplett ein und ging auf die Straße und ein Gebäude auf der anderen Seite, das Studentenwohnungen beherbergte und sich in nichts von dem Gebäude, in dem sich Itachis Wohnung befand, unterschied. Die gleichen, erleuchteten Fenster, der gleiche Eingang, die gleiche Anzahl an Wohnungen. Deprimierend. Er fing an, sie über ihre Ausbildung auszufragen. Irgendwann antwortete sie nicht mehr, sondern verlor sich in den knöchernen Händen der Dunkelheit.
 

Itachi trat an Sakura von hinten heran, bedachtsam, so als wäre sie ein scheues Tier, das er nicht durch rasche Bewegungen erschrecken wollte. Sie erblickte sein Spiegelbild im Fenster und drehte sich zu ihm um. Ihre Finger fanden ihren Weg zu seinen Händen, umfassten sie. Er hatte für einen Mann ausgesprochen schöne Hände. Es verlangte sie nicht danach, seinen Namen zu erfahren. Es verlangte sie nicht danach zu fragen, wie alt er war. Es verlangte sie nach einer Umarmung. Er war ein Fremder und aus irgendeinem Grund reizte sie das. [style type="italic"]Gehe nicht mit Fremden, Sakura.[/style] Kein vernünftiger Mensch hätte sich darauf eingelassen. Aber Rationalität war eine Lüge und Kontrolle hatte man in seltensten Fällen. Abgesehen davon fühlte sie sich hier wohl und wenn der Tod aus heiterem Himmel über sie kommen würde, dann wäre er von schönen Männerhänden herbeigeführt worden.
 

„Es ist merkwürdig, dass wir hier sind“, sagte Itachi, so als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Wir kennen uns schließlich nicht.“
 

„Nein, wir kennen uns nicht“, wiederholte Sakura leise. Sie strich ihm zögernd eine Strähne aus dem Gesicht, senkte den Kopf, sah wieder zu ihm auf. Dann überwand sie den Abstand zwischen ihnen und schlang ihre Arme um ihn. Ihren Kopf legte sie auf seine Brust ab, senkte die Lider und nahm den schwachen Geruch von süßem Tabak und Wildleder auf, der von ihm ausging. Itachi stand eine Weile unschlüssig da, dann erwiderte er die Umarmung. So nahe war er einer Frau lange nicht mehr gewesen. Er kam mit ihren schulterlangen Haaren in Kontakt. Sie waren weich und dufteten nach Kirsche. Aber nicht synthetisch, sondern wie waschechte Kirschen.
 

Er war derjenige, der diese duftende Umarmung löste. Itachi bewegte sich zur Couch zurück, und sie folgte ihm nur wenige Sekunden später. Im Gegensatz zu ihm setzte sie sich aber nicht hin, sondern stellte sich hinter ihn und legte ihre Arme auf die Lehne ab. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“, fragte sie plötzlich, und Itachi musste schmunzeln. Er verstand, kam dahinter, was sie erreichen wollte. Sie wollte ihn nicht kennen lernen, sie wollte lediglich eine Illusion kreieren.
 

„Interessiert dich das wirklich?“, wollte er wissen, obwohl er die Antwort bereits wusste.
 

„Hm“, machte Sakura nachdenklich und beugte sich ein Stückchen nach vorne.
 

„Wäre es in erster Linie nicht sinnvoller gewesen zu wissen, wie ich heiße?“, fragte er herausfordernd.
 

Als er sich umdrehte, trennten ihre Gesichter nur noch wenige Millimeter.
 

Sie küsste ihn, und er hielt den Atem an. Infernale Hitze nahm seinen Leib ein, breitete sich in seinen Gliedern aus. Ihre Lider waren geöffnet. Er hatte noch nie eine Frau geküsst, er hatte noch nie Geschlechtsverkehr gehabt, er hatte noch nie eine Beziehung gehabt. Die Kontrolle verloren hatte er nie. Bis zu diesem Moment.
 

Sie fanden sich auf seinem Bett wieder. Er lag unter ihr und sie beugte sich über seinen Körper, um ihn abermals zu küssen. Dieses Mal erwiderte er vorsichtig. Lautlos, weich und frei von Feuchtigkeit war der Kuss. Seine Hände machten sich selbstständig und er streichelte, zittrig gegen ihren Mund atmend, über ihre Seiten. Sakura richtete sich auf, um sich das Oberteil auszuziehen. Sie war schlank. Ihr Büstenhalter war pastellblau und trug eine winzige Schleife an der Stelle, wo sich die Schalen trafen. Sie machte sich daran, den Büstenhalter zu öffnen. Ihre Brüste waren schön, klein und spitz, und seine Männlichkeit nun erregt und pochend. Unangenehm berührt wandte er den Kopf zur Seite.
 

Allen ihren Handlungen lag ein Zögern inne, das Itachi nicht entgangen war. Sakura wusste nicht, was sie wollte, und analysierte die gesamte Situation immer wieder von vorne, bevor sie den nächsten Schritt tat.
 

Sie legte ihre Handinnenfläche auf seine erhitzte Wange und zwang ihn, sie anzusehen. Abermals küsste sie ihn, und als sie seine Männlichkeit durch seine Hose ertastete, erstarrte Itachi. Er lag zwischen den Oberschenkeln einer fremden Frau und das Herz hämmerte ihm unkontrolliert gegen den Brustkorb. Einer fremden Frau, die er nicht kannte, die er nicht liebte, die er vor etwas mehr als einer Stunde vor einem Diner kennen gelernt hatte. „Ich“, brachte er hervor und schob angestrengt ihre Hand weg. „Ich kann es nicht. Es tut mir leid. Zieh dich bitte an.“
 

Sie ließ von ihm ab und rollte sich zur Seite. Eine unbestimmte Zeit lang lagen sie da und betrachteten die Decke, dann begann Sakura, sich anzuziehen. Sie verspürte keine Frustration oder Wut. Sie verspürte Dankbarkeit, dafür, dass er stärker gewesen war als sie und sie davor bewahrt hatte etwas zu tun, was sie am nächsten und übernächsten Tag und auch die nächste Woche inständig bereut hätte.
 

Itachis Erregung war abgeklungen, sein Herzschlag hatte sich endgültig normalisiert und er verbarg die Augen mit dem linken Unterarm.
 

„Ich will gehen, aber ich will auch bleiben“, gestand sie ihm. Sie saß auf dem Bettrand und starrte auf ihre Knie.
 

„Ich kann dir noch einen Tee machen“, sagte Itachi geistesabwesend.
 

„Ja… Ja. Noch eine Tasse Tee wäre schön. Könntest du mich vielleicht danach zum ZOB begleiten? Ich werde schauen, wann der nächste Bus fährt.“
 

Itachi bejahte langsam. Er stand auf und kochte Wasser auf. Ohne zu reden, ohne einander anzusehen, leerten sie ihre Tassen, zogen sich an und verließen Itachis Wohnung. Sie wollte seinen Nachnamen vom Türschild ablesen, doch alles, was dort stand, war eine Zahl. Enttäuschung verspürte sie nicht, und auch als sie in ihren Bus stieg, fehlte von diesem Gefühl jede Spur. Schneeflocken sanken hinter den Scheiben auf die Erde. Sie hielt sich an einer Stange fest und fixierte den Mann, mit dem sie beinahe geschlafen hätte. Itachi war nicht sofort gegangen. Selbst als sich die Türen des Busses schlossen, selbst als er sich in Bewegung setzte, selbst als er aus seinem Sichtfeld verschwunden war, stand er immer noch dort und dachte an ihre kleinen, spitzen Brüste, die er zu berühren nicht gewagt hatte, während die grausame Kälte des Winters sein Herz einnahm.

III: Va­ri­a­tio de­lec­tat

Guck mal, was ich gefunden habe!“
 

Seitdem Sakura auf Inos Bitten, Betteln und Anflehen erzählt hatte, dass sie aktuell eine allgemeine Unzufriedenheit verspürte, setzte ihre Freundin alles daran, einen Weg zu finden, Sakura zu helfen. Sie hatten bereits Gespräche zwischen Psychologe und Patient simuliert, Ino hatte sie an einem Abend ordentlich abgefüllt, was damit geendet hatte, dass Sakura sich erbrochen und zu weinen angefangen hatte, und schließlich war Ino auf den Gedanken gekommen, dass Sakura der Stadt und ihrer Arbeit für eine Weile den Rücke kehren sollte. Und so saß Ino an Sakuras Laptop und war eben auf eine interessante Website gestoßen.
 

„Was hast du gefunden?“, wollte Sakura wissen, die sich soeben die Haare gewaschen hatte und nun Öl in die Spitzen einarbeitete.
 

Sakuras Eltern waren mit Freunden auf einem Konzert und würden erst spät in der Nacht nach Hause kommen, weswegen es sich die beiden jungen Frauen im Wohnzimmer bequem gemacht hatten.
 

Man konnte sagen, dass Ino sich bei Sakura eingenistet hatte; sie war fast täglich für einige Stunden anwesend; sie weigerte sich, Sakura in Ruhe zu lassen, bis sie eine Lösung des Problems gefunden hatten. „Ein älteres Paar vermietet in einem riesigen Haus Zimmer an junge Menschen. Das Haus befindet sich in einem Dorf in Nordwesten des Landes.“ Ino scrollte konzentriert nach unten. „Offenbar hat in dem Haus Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ein damals sehr berühmter Poet adeliger Abstammung gelebt. Das ist ja fast schon eine Organisation! Sie bieten zusätzlich ein kleines Exkursionspacket an, das man sich selbst zusammenstellen kann.“
 

Sakura sah auf ihr Mobiltelefon. „Ino, ich möchte mich gleich schlafen legen, es ist spät.“
 

Ino erhob sich ruckartig vom Suhl. „Gut, ich werde gehen!“, verkündete sie. „Aber tue mir den Gefallen und schaue dich auf dieser Seite um. Ich glaube, das wäre das Richtige für dich. Du hast jetzt noch zwölf Tage Urlaub und könntest die nächsten zehn Tage für einen lächerlich geringen Preis die Seele baumeln lassen.“
 

Sakura scheuchte Ino zur Tür und wickelte sich einen Turban um das nasse Haar, ehe sie sich auf das Sofa setzte und den Laptop in ihren Schoß nahm. Erst wollte sie die Website, die Ino irgendwo im WWW ausgegraben hatte, wegklicken, doch die schönen, kristallklaren Bilder der Landschaft und des Hauses hinderten sie daran. Sie verbrachte die nächste halbe Stunde damit, sich auf der Seite umzusehen, und schließlich schaltete sie den Laptop aus. Ihr war seltsam zumute. Es zog sie an diesen Ort hin wie an keinen anderen zuvor. Sakura schüttelte den Kopf, schaltete das Licht im Wohnzimmer aus und ging in ihr Zimmer. Kaum hatte es sie sich im Bett bequem gemacht, fingen Gedanken an, sie zu plagen.
 

Laut der Website war nur noch ein Zimmer frei. Ihre Finger krampften sich unter der Bettdecke zusammen und sie biss sich in der Dunkelheit auf die Lippen.
 

Von ihrer Decke leuchteten Sterne; Sticker, die im Dunkeln leuchteten. Sie hatte es immer bedauert, keine oder nur wenige Sterne am städtischen Nachthimmel vorzufinden. Sicherlich war das auf dem Dorf ganz anders; sicherlich glänzte der Himmel, weil er übersät war mit Sternen, wenn sich keine Wolken dort oben tummelten. Sakura verschloss die Augen vor den Sternen und drehte sich auf die Seite. Innere Unruhe befiel sie. In ihrem Kopf schwirrten die Bilder von der Website, und schließlich schlug sie die Decke beiseite, stapfte ins Wohnzimmer, machte den Laptop wieder an und buchte Anreise, Aufenthalt und Rückfahrt innerhalb von zehn Minuten. Ihr Exkursionspaket bestand aus einer Fahrt in ein altes Höhlenkloster, eine nächtliche Wanderung und das Besuchen eines Wasserfalls.
 

Der Laptopbildschirm erhellte ihr Gesicht und sie fragte sich plötzlich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Doch wenn sie an ihre Ausbildung dachte, daran, wie ihre Klassenkameraden waren,  wie unterfordernd und fad die Arbeit in der Notfallaufnahme des letzten Krankenhaus gewesen war, weil sie so gut wie nichts außer gelegentlich herumlaufen hatte machen müssen, dann erschien ihr ein Urlaub bitter nötig. Sie würde übermorgen abfahren und musste dafür zum ZOB.
 

Sie dachte an den jungen Mann, den sie vor Monaten kennen gelernt hatte und fragte sich, was wäre, wenn sie an diesem Ort auf ihn treffen würde. Schlussendlich litt er ebenso am urbanen Diskomfort  wie sie auch. Zumindest hatte er damals schwer daran gelitten, das hatte sie in seinen Augen sehen können, die ihr matt und traurig entgegengeblickt hatten. Ino hatte sie nichts von dem, was tatsächlich vorgefallen war, erzählt; nur einen langen Spaziergang hätten sie gemacht, nichts weiter.
 

Sie hatte sich anfänglich öfter gefragt, was passiert wäre, wenn sie beide sich aufeinander eingelassen hätten; wenn sie beide an diesem Abend miteinander geschlafen hätten. Hätten sie dann Telefonnummern ausgetauscht, sich angefangen zu treffen und wären alsbald ein Paar geworden? Hätten es beide bereut und wären einvernehmlich weiter ihre Wege gegangen? Sie hatte sich Unmengen von Gedanken gemacht, hatte sich manchmal erwischt, wie sie darauf hoffte, dem Unbekannten irgendwo wieder zu begegnen. Bald hatten die Gedanken nachgelassen, aber sie hatte es nicht vermocht, den Abend und den Fremden zu vergessen.
 

Sakura war nun hellwach und rieb sich die Stirn wie ein schwer Erschöpfter. Noch immer hatte sie die Website vor sich, auf der sie eine Reise in ein beschauliches Dorf gebucht hatte. Und plötzlich konnte sie es kaum erwarten, in den Bus zu steigen und sich aus der Stadt wegfahren zu lassen.
 

*
 

Der Himmel trug Grau. Eigentlich war er blau, doch das verstaubte, schmutzige Fenster des Busses, an dem Itachi saß, ließ ihn aschegrau erscheinen. Er hatte nur kurz durch die Scheibe geschaut und widmete sich nun wieder dem Buch,  das er gerade las. Nach Jahren das allererste Buch, das nichts, rein gar nichts mit Medizin zu tun hatte; es war ein Fantasyroman, und bis jetzt ein guter.
 

Itachi hatte seit heute Semesterferien und auf Hidans Rat hatte er sich vorgenommen, sich von Medizin, seiner Heimatstadt und auch seinem Mobiltelefon für zehn Tage zu trennen. Urlaub. Hunderte Kilometer weit weg, in einem Haus, dessen Besitzer Räume vermieteten an Seelen, die dem Stadtleben entkommen wollten. Er war eine solche Seele. Man könnte meinen, er verspürte Bedauern, Freunde und Familie zurückgelassen zu haben und zehn Tage lang ohne Kontakt zu ihnen verweilen. Doch dem war nicht so. Auch wenn er seine Eltern und seinen Bruder liebte, so war er froh, für eine Weile seine Ruhe haben zu können und eine andere Luft zu atmen.
 

Gut die Hälfte der Strecke lag hinter ihm. Er würde am späten Nachmittag ankommen. Den ersten Tag würde er mit Kennenlernen der Vermieter, dem Inspizieren des Hauses und seines Zimmers sowie Ausruhen verbringen; morgen würde er eine Wanderung durch Wälder und Felder machen, das hatte er sich vorgenommen. Er hatte sich für drei Exkursionen eingeschrieben: Am Dienstag würden sie zu einem alten Höhlenkloster in den Bergen fahren, am Donnerstag zu Ruinen eines heidnischen Tempels in der Nähe wandern und am Samstag würde er das erste Mal in seinem Leben einen Wasserfall sehen. Ansonsten würde er das tun, wonach ihm der Sinn stand.
 

Er hatte mehr als die Hälfte des Romans hinter sich, als der Bus vor dem Ziel anhielt, direkt vor dem niedrigen, aber breiten Tor, durch das man auf einen mit Steinen bepflasterten Weg gelang, der in Serpentinen durch den prachtvollen Vorgarten verlief. Vögel zwitscherten in den Bäumen, und das zweistöckige Haus mit seinen weißen und grünen Wänden und hohen Fenstern blickte ihm einladend entgegen, als er ausstieg. Wunderliche Empfindungen durchflossen ihn. Er war aufgeregt; aufgeregt vor einer Auszeit. Seine Beine trugen ihn durch den Garten, in dem an mehreren Stellen Bänke standen.
 

An der Rezeption nannte er seinen Namen, und die Rezeptionistin, eine vollbusige, stark geschminkte Blondine, reichte ihm mit einem kleinen Lächeln den Schlüssel und deutete ihm den Weg. Sein Zimmer trug die Nummer 3. Die Ausstattung des Zimmers präsentierten Fotografien auf der Website; Itachi sah sich dennoch mit einer Aufmerksamkeit eines Menschen um, der die schmucken Tapeten und die schlanken Regale voller romantischer Poesie das allererste Mal sah. Ansonsten war die Ausstattung nichts Besonderes: Ein Bett am Fenster, ein Nachttisch, ein Tisch mit Stuhl. Mehr benötigte er allerdings auch nicht; er würde ohnehin versuchen, sich so oft es ging draußen aufzuhalten.
 

Das Bett war frisch bezogen worden, gleich nachdem sein Vorgänger das Zimmer verlassen hatte. Das Bettzeug roch angenehm nach Lavendel, als Itachi sich auf den Bauch legte und die Nase in das Kissen vergrub. Er schloss die Augen. Seine Muskeln entspannten sich gänzlich, und es fühlte sich so an, als wären sie liquid geworden und hätten sich mit dem Bett verschmolzen. Die Versuchung einzuschlafen, war groß, doch er hielt sich wach. In einer Stunde würde er die Vermieter kennen lernen, die die kleinen Gruppe aus sieben Gästen durch das Haus führen würden, und so hielt er sich wach und sog die Ruhe im Zimmer als auch das Vogelgezwitscher draußen in sich hinein.
 

Als er die Treppe hinunterkam, saßen bereits sechs Leute im Wartebereich. Itachi gesellte sich zu ihnen und sie tauschten höfliche und distanzierte Begrüßungen untereinander aus. Sie waren alle in etwa seinem Alter – zwei junge Frauen und vier junge Männer.
 

Es stellte sich heraus, dass die Rezeptionistin auch die Besitzerin dieses Hauses war, zusammen mit ihrem Mann, der eine kleine Ansprache hielt. Danach begann die Führung durch das Haus.
 

Die Wände waren hoch, die Decke eher schmal. Von der Rezeption aus konnte man eine von insgesamt drei Richtungen einschlagen: In die erste Etage, wo sich die Zimmer befanden, in den Speisesaal – wenn man nach links abbog – und zu den Duschen und Toiletten – wenn man nach rechts abbog. Dreimal am Tag bereiteten die Köche und Servicekräfte Essen zu: Um zwölf, um fünfzehn und um achtzehn Uhr. Um zwanzig konnte man sich eine letzte kleine Mahlzeit gönnen, bevor der Speisesaal geschlossen wurde. Die Besitzer waren Vertreter des intermittierenden Fastens, weil die Vorteile einer solchen Ernährungsweise – besserer  Schlaf, niedriger Cholesterinspiegel und Blutzuckerwerte – gut dokumentiert waren. Verzichtet wurde in der Essensphase auf nichts.
 

Es gab einen großen Garten hinter dem Haus, in dem sich eine Brücke über einen Teich mit Enten spannte und hinter welchem endlos scheinende gelbe und grüne Felder verliefen. Dort wurde die Führung beendet und die jungen Menschen sich selbst überlassen. In einer Stunde konnte man sich in den Speisesaal begeben und zu Abend essen. Itachi hatte noch keinen Hunger, weil er seinen gesamten Proviant im Bus verzehrt hatte. So entschied er sich, ein wenig im Garten zu spazieren und dann auf sein Zimmer zurückzukehren.
 

*
 

Sobald er gefrühstückt hatte, machte er sich für einen Spaziergang durch den Wald fertig. Gestern hatte die Sonne sein Gesicht mit ihren Strahlen liebkost, heute hielt sie sich hinter grauen Wolken versteckt; es hieß, dass es nur heute regnen und sonst schönes Wetter vorherrschen würde. Da es allerdings noch nicht regnete, hatte er beschlossen, zumindest ein wenig in den Wald hineinzugehen.
 

Es war ein echter Wald; er war unterrichtet worden, dass sich in den tiefen Wildschweine und Rehe tummeln könnten. Aber Itachi dachte an keine Gefahr. Sein Kopf war wie befreit, als er den Duft des Waldes einatmete. Manchmal setzte er sich zwischen den Bäumen hin, berührte  das Gras und die Erde und nahm Gerüche wahr, die ihm fremd und dennoch vertraut vorkamen. Er fühlte sich zurück in die Zeit der unbeschwerten Kindheit katapultiert.
 

Es fing an zu regnen. Die Regentropfen kollidierten mit den Blättern der Bäume, und Itachi sah in den Himmel, der nicht scheußlich grau, sondern weiß, wie erhellt, war. Sein Gesicht bekam einige Regentropfen ab, und auch wenn der Regen Läuterung brachte, war er ungehalten darüber, dass er seine Wanderung abbrechen musste – es sei denn, er hatte vor, die nächsten Tage mit einer Erkältung zu verbringen. Das brachte ihm keinen einzigen Vorteil. Er drehte sich um und ging mit schnellen Schritten zurück zum Haus, vor welchem ein Bus angehalten hatte.
 

Mittlerweile regnete es in Strömen, doch Itachi hielt vor dem Tor an, weil er seinen eigenen Augen nicht zu glauben traute.
 

Sakura stieg aus dem Bus. Sie hatte sich die Kapuze ihrer leichten Jacke über das Haar geworfen und registrierte beiläufig, dass jemand unweit des Tores stand. Interessiert hob sie den Kopf, und in diesem Augenblick war Itachis Gesichtsausdruck ihr exaktes Spiegelbild, denn sie war genauso überrascht, verwundert, verblüfft darüber, ihn hier vorzufinden wie er sie.
 

Unaufhörlich fiel der Regen weiter, durchnässte Haar und Kleidung. Der Himmel öffnete sich, die Sonne rollte hinter einer Wolke hervor, und ihr Licht brachte die Regentropfen zwischen ihnen zum Funkeln.

IV: Medicus curat, natura sanat


 

*
 

Itachi sah aus dem Fenster. Er hatte seine durchnässte Kleidung abgelegt, sich das Haar abgetrocknet und sah jetzt dem abnehmenden Regen reglos zu. Seine Gedanken hingegen kamen nicht zur Ruhe.
 

Itachi hatte sein erstes Aufeinandertreffen mit Sakura nicht vergessen. Es hatte ihn wochenlang begleitet, irgendwann hatte er aufgehört, darüber aktiv nachzudenken, und die Ereignisse jenes Abends waren ab dann nur gelegentlich in seinem Kopf aufzufinden gewesen, wenn sein Unterbewusstsein Assoziationen gezogen hatte.
 

Auch er hatte das Gefühl gehabt, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Doch er wüsste nicht, wo da hätte passieren können. Im Bus, auf der Straße, anderswo?
 

Sie war hier. Im nächsten Zimmer. Das Wissen versetzte ihn in leichte Aufregung, und er fragte sich, was sie davon hielt, dass sie sich ausgerechnet an diesem Ort wiedersahen.
 

Sie hatte ihn erkannt, daran gab es keinen Zweifel. Sie waren gemeinsam ins Haus gegangen, hatten kein Wort miteinander gewechselt, und während Sakura erst die Rezeption aufgesucht hatte, war Itachi die Treppe hochgegangen – im langsamen Tempo, um herauszufinden, wo Sakuras Zimmer lag, während sein Herz wie wild geklopft hatte.
 

Der Regen versiegte, und Itachi fragte sich, ob er noch einmal hinausgehen sollte. Einerseits verlangte es ihn danach, andererseits war es im Wald und auf dem Feld sicherlich überaus matschig, sodass ihm nur die Erkundung des Dorfes übrigbliebe. Er grübelte und entschied sich schließlich dazu, vorerst hier zu bleiben und im Buch weiterzulesen. Aber seine Gedanken drifteten beim Lesen immer wieder zu Sakura ab.
 

Es kam nicht oft vor, dass ihn etwas so sehr beschäftigte, dass er Worte überlas und die Zusammenhänge in einem Buch nicht verstand. Wenn es denn passierte, dann fühlte er sich leicht gereizt. Die Augen schließend, seufzte er und legte das Buch zur Seite. Was Sakura wohl gerade tat?
 

Er hätte bei ihr anklopfen können. Aber das wollte er nicht. Konnte er nicht. Schließlich beschloss Itachi, doch noch hinauszugehen in der Hoffnung, dass ihn ein Spaziergang durch das Dorf ruhiger stimmen könnte.
 

Als er das Zimmer verließ, entdeckte er Sakura. Sie war gerade dabei, die Tür zu ihrem Zimmer abzuschließen.
 

Itachi staunte über diesen Zufall. Waren ihre Gedanken ebenfalls wie seine? Wollte sie vielleicht auch einen Spaziergang machen, möglicherweise sogar aus den gleichen Gründen wie er? War es Wunschdenken seinerseits oder Analyse?
 

„Oh“, machte Sakura, als auch sie ihren Nachbarn entdeckte. Ihre Lippen teilten sich; sie wollte noch etwas hinzufügen, entschied sich aber, es sein zu lassen. Sie verstaute den Schlüssel in der Jackentasche und setzte ihre Füße in Bewegung.
 

Ihre Blicke trafen sich, als sie an ihm vorbeiging, und Itachi folgte ihr, als sie bei der Treppe angekommen war.
 

Sie verließen nacheinander das Haus und folgten dem sich windenden Steinpfad zum Tor, vor dem Sakura anhielt.
 

Sie wartete, bis Itachi an ihrer Seite war, sah ihn von der Seite an und fragte unerwartet: „Wollen wir gemeinsam spazieren gehen?“
 

Itachi nickte langsam.
 

Sie entschieden sich im stillen Einvernehmen, das Dorf zu erkunden, sich die anderen Häuser anzusehen, die sich hier befanden.
 

Ganz ohne Technik funktionierte es auch hier nicht. Vor jedem Haus fanden sie ein Auto vor. Aber sie stießen auch auf prachtvolle, gepflegte Vorgärten, Katzen und Menschen, die sie freundlich im Vorbeigehen begrüßten. Es wuchsen keine riesigen Gebäude in den Himmel, der sich grau und blau über ihnen entfaltete. Dieser Ort hatte nichts Anonymes in sich, ganz im Gegensatz zu der Stadt, aus der sie kamen.
 

„Es ist schön hier“, sagte Sakura irgendwann.
 

Ein vorsichtiges Gespräch entstand, das die beiden auf eine Bank zwischen zwei Häusern zu verlagern beschlossen. Sakura hatte Taschentücher dabei, mit denen sie die Nässe der Bank aufsog.
 

„Wie heißt du?“
 

Ihr Herz klopfte unkontrolliert, als er den Mund aufmachte, und sie stellte fest, dass sie in dem Moment nichts sehnlicher erwartete, als dass er ihr ihren Namen verriet. Sie empfing seinen Namen wie eine Offenbarung und sagte: „Ich heiße Sakura. Sakura Haruno.“
 

„Ein schöner Name“, bemerkte Itachi, und danach verfielen sie in Schweigen. Aber es war nicht schlimm – obwohl zwischen ihnen etwas Prekäres vorgefallen war und sie sich von dem jeweils anderen überrumpelt gefühlt hatten, war die Atmosphäre dennoch angenehm.
 

„Wieso bist du hier?“, wollte Sakura wissen. „Wie bist du auf diesen Ort gekommen?“ Sie wollte ihm nicht sagen, dass sie sich an jenem Abend, an dem sie die Anreise hierher gebucht hatte, gefragt hatte, ob sie zufällig auf ihn treffen würde.
 

„Ich wollte Urlaub machen“, antwortete Itachi. „Nicht unbedingt auf dem Dorf, aber ich bin während meiner Internetrecherche auf die Website des Ehepaars gestoßen, das die Zimmer vermietet. Ich dachte mir, dass ich genau so etwas gebrauchen könnte.“
 

Seinen Eltern hatte er nicht mitgeteilt, wohin die Reise gehen sollte. Nur seinem Bruder, und auch nur, weil Sasuke ihn fast schon darum gebettelt hatte. Itachi hatte seinem jüngeren Bruder das Versprechen abgenommen, den Eltern nichts zu sagen.
 

„Und weshalb ich hier bin… Ist es nicht offensichtlich? Seit unserem ersten und letzten Aufeinandertreffen hat sich in uns nicht viel geändert, schätze ich.“ Es klang, als wären sie zwei Patienten, die sich der gleichen Behandlung unterzogen hatten und genau wussten, wie es um den anderen stand. „Ich bin zerrüttet und ich hoffe, dass es mir nach dieser Auszeit besser gehen wird. Was ist mit dir, wenn ich fragen darf?“
 

Ein blasses Lächeln lag auf Sakuras Gesicht. „Ich bin unzufrieden. Das ist alles. Für mich hat die Website eine Freundin herausgesucht. Du hast sicher auch Exkursionen gebucht, nicht wahr?“
 

„Ich fahre in das Höhlenkloster, zu den Ruinen und am Samstag zum Wasserfall.“
 

Die Konversation war ungezwungen. Es war nicht so, als wären sie Monate voneinander getrennt gewesen, sondern als hätten sie all die Zeit Kontakt zueinander gehabt und einander kennengelernt.
 

„Ich mache bei der Nachtwanderung mit. Ansonsten fahre ich auch in das Kloster und zum Wasserfall.“
 

Eine sonderbare Leichtigkeit hatte sie erfasst. Sie fühlten sich nicht hin – und hergerissen, sondern trugen Bestimmtheit in ihren Körpern. Es war, als hätte es damals die Stadt selbst nicht gewollt, dass sie weiter miteinander zu tun hatten; hier auf dem Dorf, an der ländlichen Luft hatten sie den Eindruck, als hätte sie dieser Ort hierher gelockt, damit sie abermals aufeinander trafen.
 

Doch obwohl sie beide so dachten, formuliere es keiner aus. Itachi sagte lediglich: „Unser Aufeinandertreffen fühlt sich ganz anders an als damals.“
 

Sakura bejahte.
 

Sie sogen tief die Luft ein.
 

„Du bist die Erste gewesen, die ich geküsst habe“, sagte Itachi nach einer Weile.
 

Das versetzte Sakura in Erstaunen. „Wirklich?“, fragte sie und fügte nach einem Nicken seinerseits unsicher hinzu: „Das tut mir leid. So hast du dir das sicher nicht vorgestellt. Deinen ersten Kuss, meine ich.“
 

Sakura glaubte nun zu verstehen, weshalb er nicht gewollte hatte, dass sie miteinander schliefen. Sie fühlte sich auf einmal sehr schlecht. Sicherlicht hätte er mehr bereut als sie, wenn es zum Akt gekommen wäre.
 

Itachi sah sie von der Seite an, sah von ihren Augen zu ihren Lippen herunter, die vor Monaten eins mit den seinen gewesen waren. Er hatte viele Fragen an sie, hatte aber das Gefühl, dass es nicht angebracht war, sie laut zu stellen.
 

Sie blieben weitere zehn Minuten auf der Bank sitzen, bevor sie mit der Erkundung des Dorfes fortfuhren.
 

„Ich habe es mir wirklich nicht so vorgestellt“, ging Itachi auf ihre Worte von vorhin ein. „Du braucht dich deshalb aber nicht schlecht zu fühlen. Ich habe es schließlich zugelassen.“
 

„Es ist trotzdem gut, dass wir…“ Sakura seufzte. „Es ist gut, dass du damals die Bremse gezogen hast. Für uns beide.“
 

Sollte sie hoffen, dass sie von neuem anfangen konnten und in den nächsten Tagen eine Freundschaft zwischen ihnen entstehen könnte? Zweifelsohne war sie neugierig auf diesen jungen Mann und fühlte sich ihm sehr verbunden. Aber würde er es zulassen? Bis jetzt hatte er sich auf sie eingelassen.
 

Sie hatten eine Runde durch das Dorf gedreht und hielten vor dem Haus an, in dem sie die nächsten zehn Tage verbringen würden, ständig aufeinander treffend.
 

„Ihr wurdet sicher schon herumgeführt“, sagte Sakura, als sie an der Treppe, die zu ihren Zimmern hinaufführte, anhielten. „Würdest du mir das Haus zeigen wollen? Du musst es natürlich nicht.“ Sie hob die Hände, um ihre Worte gestisch zu untermalen.
 

„Ich führe dich gerne rum.“
 

*
 

Sakura verstaute ihre Sachen in den Schrank und in die Schubladen. Gedanklich ließ sie den Spaziergang mit Itachi durch das Dorf und die Führung durch das Haus Revue passieren und musste lächeln. Itachi Gegenwart war ganz anders als die Gegenwart der Männer, in der sie sonst gewesen war.
 

Sakuras erste und einzige Beziehung war länger her. Sie glaubte aber nicht, dass es etwas mit dem Alter der Jungs und Männer zu tun hatte. Itachi war von Grund auf anders, das spürte sie. In ihm wohnte eine Liebe und Sanftheit, die ihr fast unmenschlich vorkam.
 

Als sie fertig war, setzte sie sich auf das Bett. Sie wollte ihr Mobiltelefon herausholen, erinnerte sich aber, dass sie es daheim zurückgelassen hatte. Es würde sicher einen, zwei Tage dauern, bis sie sich daran gewöhnt hatte, Fernseher, Laptop und Mobiltelefon nicht um sich zu wissen.
 

Es war kurz nach 15:00 Uhr, das bedeutete, dass sie zu Mittag essen konnte. Sollte sie bei Itachi anklopfen? Sakura ließ ihre Beine baumeln und entschied sich, Itachi zu fragen, ob sie zusammen in den Speiseraum wollten.
 

Sie klopfte bei ihm an, und ihr wurde direkt aufgemacht. Fragend wurde sie angesehen.
 

„Es ist schon 15:00 Uhr. Wollen wir gemeinsam essen?“
 

„Schon 15:00?“, wunderte Itachi sich und runzelte leicht die Stirn. „Warte einen Moment, ich suche eben meine Schlüssel. Er verschwand für einen Augenblick, und Sakura lugte in sein Zimmer herein, das sich nicht im Geringsten von dem ihren unterschied.
 

Sobald er seine Zimmertür verschlossen hatte, suchten sie gemeinsam den Speisesaal auf, in dem sich bereits einige der anderen Gäste aufhielten.
 

Sie taten sich Fleisch, Reis und Gemüse auf und suchten sich einen Tisch am Fenster. Das Essen verzehrten sie in andächtiger Stille. Selten tauschten sie Blicke miteinander aus; ihre Aufmerksamkeit galt überwiegend dem Essen. Sie schlangen es nicht herunter, sondern genossen es. Es bestand kein Grund zur Eile an diesem Ort.
 

Als ihre Teller leer waren, lehnten sie sich kurz zurück. Das Essen hier schmeckte anders, als sie es gewohnt waren. Echter, frischer als alles, was sie zuvor gegessen hatten.
 

Sie waren gemeinsam in den Speisesaal gekommen und verließen ihn auch gemeinsam.
 

„Was wirst du jetzt machen?“, wollte Sakura wissen, als sie bei Itachis Zimmer ankamen.
 

Er zuckte mit den Schultern und sah sie an. Schließlich öffnete er seine Zimmertür, trat ein, stellte sich hinter die Tür und wartete, dass sie eintrat.
 

Sie trat ein und er schloss die Tür.
 

„Du kannst dich gerne setzen.“
 

Sakura setzte sich auf den Stuhl und erblickte das Buch, welches Itachi gerade las, auf dem Nachttisch liegen. „Du liest Fantasy?“
 

„Eigentlich nicht“, antwortete er und nahm auf dem Bett Platz. „Aber ich wollte etwas zum Lesen in diesen Urlaub mitnehmen, das nichts mit Medizin zu tun hat.“
 

Sakura nickte. „Wenn du Medizin studierst, bald im fünften Semester, dann musst du, schätze ich, einen sehr guten Durchschnitt haben. Ist es 1,0?“
 

Itachi bejahte.
 

Sakura seufzte leise, legte ihre Arme auf die Stuhllehne ab und bettete ihren Kopf darauf. „Ich habe einen Durchschnitt von 2,0. Das Medizinstudium ist für mich damit in weite Ferne gerückt.“ Sie fixierte den Boden und hob dann den Blick. „Vielleicht ist das ein Grund, warum ich so unzufrieden bin. Sicher nicht der einzige, aber es nagt an mir.“
 

„Du kannst trotz 2,0 immer noch zum Medizinstudium zugelassen werden. Du wirst nur warten müssen.“ Itachi hatte gemerkt, dass das Thema Sakura nahe ging und versuchte nun, sie aufzumuntern.
 

„Ich warte ja auch. Diese Wartezeit will ich mit einer Ausbildung überbrücken. Aber obwohl ich sie mag, bin ich unzufrieden. Was mache ich am Ende meiner Ausbildung? Ich würde gerne ausziehen. Aber wenn ich dann ausziehe und Medizin studieren kann, wird das sicherlich sehr schwer. Es ist alles ungewiss. Ich wünschte, ich würde jetzt schon Medizin studieren.“
 

„In manchen angrenzenden Ländern nimmt man den NC nicht ganz so ernst. Wenn du es dir so sehr wünschst, Medizin zu studieren, dann könntest du ins Ausland gehen. Natürlich ist es…“ Itachi verstummte, als er Sakuras Blicke bemerkte. Er war nicht böse, auch nicht desinteressiert. Itachi fand es einfach merkwürdig, von ihr auf diese Art und Weise angesehen zu werden. „Ich finde es amüsant“, begann er kurz darauf, „dass ich meinem Studium entkommen will, du aber zu diesem Studium hin willst.“
 

Sakura konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Entschuldige“, meinte sie zu Itachi, der verständnislos vor sich hin blinzelte. „Aber dein Gesicht verrät alles andere als Amüsement.“
 

Itachis Mundwinkel zuckten kurz.
 

„Ist Medizin studieren das, was du willst, Itachi?“, wollte Sakura wissen.
 

„Ich weiß es nicht“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Ich hatte wenig Zeit, mir Gedanken darum zu machen.“
 

„Haben dich deine Eltern dazu gezwungen?“
 

„Nein“, sagte Itachi sofort. „Nein, sie haben mich nicht dazu gezwungen. Aber ich weiß nicht, ob sie genauso stolz auf mich wären, wenn ich ein anderes, weniger bedeutungsvolles Fach studieren würde. Und ob mein Bruder dann noch zu mir aufschauen würde.“
 

„Du hast einen Bruder?“
 

„Ja. Er ist jünger als ich. Sein Name ist Sasuke.“
 

Sakura nickte langsam. „Kann ich dich etwas fragen?“
 

Wenn sie ihm diese Frage stellte, dann bedeutete es, dass sie etwas Persönliches von ihm wissen wollte. Itachi war sich nicht sicher, ob er Sakura erlauben sollte, so eine Frage zu stellen. Aber er dachte an die Intimitäten, die sie miteinander ausgetauscht haben, und sagte dann: „Ja. Du kannst mich das fragen, was du mich fragen willst.“
 

„Wenn du noch nie eine Frau geküsst hast, und ich gehe davon aus, dass du auch nie mit einer geschlafen hast, dann hast du sicherlich noch nie eine Beziehung gehabt. Richtig?“
 

Ihn befiel ein merkwürdiges Gefühl der Scham und Peinlichkeit. „Ja.“
 

„Warum hast du anfangs zugelassen, dass du und ich…“ Sakura verstummte.
 

„Ich weiß es nicht“, antwortete Itachi. „Du kannst mich nach der Anatomie des menschlichen Körpers fragen und ich werde dir die Fragen beantworten können. Bei solchen Fragen habe ich allerdings meine Schwierigkeiten. Das hast du sicher schon gemerkt.“
 

„Weil du sie dir selbst noch nicht beantwortet hast.“
 

Itachi zog die Brauen zusammen. Sakura hatte recht.
 

„Du bist depressiv, Itachi“, konstatierte Sakura mit einem traurigen Lächeln. „Du solltest zum Therapeuten. Und ich auch. Eigentlich.“
 

Itachi zog die Lippen in den Mund.
 

Tatsächlich hatte in drei Monaten einen Termin beim Psychotherapeuten. Er hatte sich eingestehen müssen, dass es so nicht weitergehen konnte; dass er verloren war, dass er tatsächlich Hilfe brauchte. Drei Monate warten, das war keine lange Zeit. Manche mussten auf ihren Termin bis zu einem halben Jahr warten. Überhaupt hatte er den schnellen Termin nur dank Hidan bekommen.
 

Itachi hatte aber durch Hidans Rat versuchen wollen, sich selbst etwas Gutes zu tun und ein wenig Heilung in der Natur zu finden.
 

Schließlich gab es den Spruch: Der Arzt behandelte, die Natur heilte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (10)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Desiree92
2018-02-27T23:04:20+00:00 28.02.2018 00:04
Bis jetzt eine ganz tolle Geschichte. Super geschrieben, mit sehr viel Gefühl und Emotionen. Freue mich auf weitere Kapitel 🤗🤗
Von:  Anitasan
2018-01-20T21:53:26+00:00 20.01.2018 22:53
Ein super Kapitel.
Ich bin nach wie vor begeistert und nun mega gespannt wie es weiter geht.
Was wird als nächstes passieren?
Na dann schreib schnell weiter.
LG Anitasan
Von:  SenseiSasuNaru
2018-01-20T20:20:48+00:00 20.01.2018 21:20
Hey Klasse Kapitel weiter so LG 😁
Von:  Stevy
2017-03-22T07:11:08+00:00 22.03.2017 08:11
Meine Güte, ich hoffe das es dir im realen Leben gut geht.
So ein depressives verhalten von 2 so unterschiedlichen Charakteren so echt wieder zu geben ist bemerkenswert.
Eigentlich bin ich eher geschockt, und kann mir auch gar nicht vorstellen das es solche Gemütszustände wirklich gibt.
Ich hoffe, dass meine Bewunderung für deinen Text irgendwie ersichtlich ist. Ich kann es auch gar nicht richtig ausdrücken was ich
Eigentlich sagen will.
Hoffentlich wird alles gut, mach bitte schnell weiter 😆😚
Antwort von: abgemeldet
20.01.2018 19:53
Hallo!

Bitte entschuldige meine späte Antwort auf deine Review. Schnell war ich beim Weiterschreiben auch nicht... Ich schäme mich. :(

Mir geht's atm gut, aber es freut mich, dass ich die Gefühlswelt der beiden, vor allem die Depressionen gut und überzeugend rüberbringe.

Ich danke dir vielmals für deine Review und hoffe, dass du trotz des langen zeitlichen Abstands zum letzten Kapitel das Interesse noch nicht komplett verloren hast.

Liebe Grüße

C.
Antwort von:  Stevy
20.01.2018 19:55
😀 da bin ich aber froh, das es dir gut geht. Nein ich lese gleich weiter 😁😁😁 muss nur erst mein Kommi zu Ende schreiben
Von:  Anitasan
2017-03-11T12:31:53+00:00 11.03.2017 13:31
Sie treffen sich also wieder.
Und dann noch an so einem Ort.
Der Zufall ist manchmal doch wirklich seltsam, oder?
Jetzt bin ich erst Recht neugierig wie es weiter geht.
Bitte schreib schnell das nächste Kapitel.
Ich will unbedingt wissen was jetzt passiert.
Gruss Anitasan
Antwort von: abgemeldet
20.01.2018 20:01
Hallo!

Bitte entschuldige die späte Reaktion auf deinen Kommentar. Hat lange gedauert, und das tut mir sehr leid.
Ich hoffe, das Interesse an der FF ist noch nicht ganz verloren, und danke dir für deinen Kommentar!

Liebe Grüße

C.
Von:  Anitasan
2017-01-02T11:47:42+00:00 02.01.2017 12:47
Ich habe das alles schon Mal gelesen und ich muss sagen es wird immer besser.
Mach weiter so und ich werde jetzt gleich Kapitel 2 lesen.
Bin schon gespannt.
Gruss Anitasan
Antwort von: abgemeldet
11.03.2017 12:43
Hey!

Vielen Dank für deine beiden Kommentare. Ich hoffe, das dritte Kapitel und der Verlauf sagen dir zu.

Liebe Grüße

C.
Von:  Anitasan
2017-01-02T11:45:39+00:00 02.01.2017 12:45
Wow das war einfach genial.
Mach schnell weiter.
Bin schon gespannt was als nächstes passiert.
Gruss Anitasan


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