Zum Inhalt der Seite

Calling the Children

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Prolog: Noch bin ich ja hier

Der schwarze Dobermann bellte lautstark, während er auf Alex zusprintete. Dieser blieb vollkommen unbeeindruckt, beachtete nicht einmal die Rufe seiner Freunde, die sich auf den Schrotthaufen hinter ihm gerettet hatten.

„Komm endlich rauf, Alex!“

„Dad wird dich umbringen!“

„Wenn das nicht schon der Hund erledigt.“

Aber Alex rührte sich nicht, sondern starrte dem Hund nur entgegen, wie er sich ihm näherte, mit seinem vor Aufregung fast schon schäumendem Maul, den langsam faulenden Zähnen, die immer noch scharf genug aussahen, um einem Menschen den Arm aufzureißen und krallenbewehrte Pfoten, groß genug, um einem das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zu zerfleischen.

Alex war nicht vor Angst wie gelähmt, er machte sich keine Sorgen, auch nicht als der Hund noch näherkam. Es erforderte ihn nur noch einen Sprung, dann hätte er Alex erreicht.

In genau diesem Moment war ein Rasseln zu hören. Mit einem Jaulen flog der Dobermann zurück, als die an seinem Hals befestigte Kette sich anspannte. Er landete auf seinem Rücken, richtete sich aber sofort wieder auf. Statt seinen Fehler zu wiederholen, blieb der Hund in einiger Entfernung stehen und knurrte nur noch bedrohlich.

Alex hob die Schultern und auch die Mundwinkel. „Ich wusste doch, dass mir nichts passieren wird.“

Er warf einen triumphierenden Blick zu den Versammelten auf dem Schrotthaufen. Neben seinem jüngeren Bruder Josh fanden sich dort oben auch dessen bester Freund Joey und auch Elle, die wiederum in Alex' Alter war.

Elle, mit den blauesten Augen und den vollsten Lippen, die er je gesehen hatte – und auch die Elle, mit der er seit Jahren schon befreundet war. Etwas, das er sicher nicht einfach wegwerfen wollte, nur weil er mit dem falschen Körperteil dachte.

„Kommt endlich runter.“ Er vollführte eine ungeduldige Handbewegung. „Oder habt ihr jetzt schon Schiss? Der Hund tut doch keinem was.“

Jedenfalls nicht solange die Kette hielt, aber Alex beschloss in dieser Hinsicht, ein Optimist zu sein, auch wenn Elle ihn darauf hingewiesen hätte, dass er einfach nur leichtsinnig war. Sie kletterte auch gleich als erstes hinunter, direkt gefolgt von Josh und zuguterletzt auch Joey, dessen verunsicherter Blick direkt zu dem Wachhund hinüberging. Dabei müsste er sich von ihnen allen doch am wenigsten Sorgen machen.

„Dich wird Curtis schon nicht erschießen“, versuchte Alex ihn aufzumuntern. „Keiner schießt auf den Sohn des Bürgermeisters.“

Joey runzelte die Stirn. „Das wird den Hund aber nicht stoppen.“

„Und wenn wir danach gehen“ – Elle trat neben Alex und versetzte ihm einen kraftlosen Schlag gegen die Schulter – „ist keiner von uns in Gefahr. Schon vergessen, wer hier den Sheriff zum Vater und eine Richterin zur Mutter hat?“

Gemeinsam mit Elle und den beiden Jungs setzte Alex sich wieder in Bewegung, um zu dem Loch im Zaun zu kommen. Der Hund begann wieder zu bellen, als sie sich von ihm entfernten. Das Echo hallte derart laut, dass es wie eine ganze Meute klang.

„Und genau vor der Richterin werden wir landen, wenn man uns hier erwischt.“

„Dad wird dich vorher umbringen“, erwiderte Josh, und verschwand bereits durch das Loch.

Elle warf Alex einen besorgten Blick zu, doch er winkte ab. „Ach, niemals. Ich kriege eher Hausarrest, bis ich 18 bin, das ist schon alles.“

Und bis dahin war es nur noch etwas weniger als ein Jahr, also machte er sich erst recht keine Sorgen.

Wenn man bedachte, dass zwischen ihm und Josh ein Altersunterschied von neun Jahren bestand, war es für viele erstaunlich, dass sie sich derart gut verstanden und sogar solche Abenteuer gemeinsam unternahmen, wie auf den Schrottplatz einzubrechen, wo der schießwütige Curtis Ackers lebte.

Auf der anderen Seite des Zauns gab es noch mehr Schrott zu bewundern als in der ersten Hälfte. Doch während es dort auch Autos gewesen waren, die, ihrer Räder und ihrer Motoren beraubt, neben kaputten Fahrrädern vor sich hinrosteten, gab es hier hauptsächlich alte Haushaltsgegenstände, die entsorgt worden waren. Alex entdeckte eine Waschmaschine, deren Glasklappe fehlte, so dass ein Waschbär es sich im Inneren gemütlich gemacht hatte, seine gelben Augen beobachteten sie argwöhnisch, als sie vorbeigingen; an einer anderen Stelle sah Alex den Kühlschrank, den er und sein Vater vor einigen Monaten hier abgestellt hatten, eine von einem Messer verursachte Delle mitten auf der Tür war das eindeutige Erkennungsmerkmal.

„Was macht Curtis mit all diesen Sachen?“, fragte Josh leise.

Inmitten der Ansammlung dieses Schrotts stand eine kleine Hütte, in der Curtis sich meist aufhielt, und keiner von ihnen wollte entdeckt werden.

„Er repariert und verkauft sie“, antwortete Joey. „Dad sagt, er macht einen guten Job.“

Ja, klar, fuhr es Alex durch den Kopf. Als ob der Bürgermeister jemals was von Curtis gekauft hat.

Er zweifelte ohnehin daran, dass jemand von dieser Arbeit leben könnte. Aber es war eben auch kein Wunder, dass Curtis es sich hier gemütlich gemacht hatte. Bislang war er nur selten mit dem Hüter dieses Schrotts in Berührung gekommen, aber beide Male war es ihm so vorgekommen als ob dieser Ort, der auf den ersten Blick so chaotisch und erst bei genauerem Hinsehen geordnet erschien, seinen passenden Meister gefunden hatte.

In einer Ecke, von der aus man die Hütte nicht sehen konnte – und umgekehrt dürfte es daher ebenso sein – blieben sie alle wieder stehen und legten die Köpfe in den Nacken. Sie standen vor dem Wasserturm der Stadt, aus dem das Trinkwasser gewonnen wurde. Der Metallzylinder ruhte auf vier Stahlträgern, die bereits Rost ansetzten. Curtis kümmerte sich nicht sonderlich gut um sie.

Elle steckte die Hände in die Taschen ihrer Sportjacke. „Ich klettere nicht hinauf.“

„Warum? Angst, es nicht zu schaffen, Prinzessin?“, feixte Alex.

Sie ließ sich allerdings nicht aus der Ruhe bringen. „Eigentlich habe ich dir schon oft genug bewiesen, dass ich sogar schneller klettere als du. Es geht mir aber eher darum, dass ich fast schon befürchte, dass es einstürzt, wenn jemand raufklettert, der größer ist als ein Kind.“

Alex lachte. „Was denn? Hast du Angst, dass du zu fett geworden bist?“

Diesmal reagierte sie. Sie pumpte empört Luft in ihre Backen und stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen – äußerst schmerzhaft diesmal sogar. Er hielt sich die schmerzende Stelle und lachte nur, dann wandte er sich den beiden Jungen zu. „Dann liegt es nun an euch. Ihr seid immerhin die Zukunft von Shepherd's Glen.“

Offenbar bemerkten oder verstanden die beiden den Sarkasmus in seiner Stimme nicht, denn sie nickten nur enthusiastisch und machten sich sofort daran, das Stahlgerüst zu erklimmen.

Da es eine Weile dauern dürfte – sie suchten noch nach guten Möglichkeiten für den ersten Halt – setzte Elle sich auf eine alte Waschmaschine, während Alex sich gegen die Ansammlung von Mikrowellen direkt daneben lehnte. Sie standen bereits derart lange hier, dass ein Viertel der untersten im schlammigen Boden eingesunken war.

„Wie sieht's aus?“ Elles Stimme ließ ihn von der Beobachtung der Geräte abkommen. „Hast du immer noch vor, die Stadt zu verlassen?“

„Sobald ich 18 bin.“

Sie ließ die Schultern hängen. „Wirst du denn gar nichts vermissen?“

Der bemüht monotone Klang ihrer Stimme zwang ihn geradezu, zu ihr zu schielen. „Das sage ich nicht. Ich werde bestimmt etwas vermissen. Josh, zum Beispiel. Und Shuki. Und deine Mum.“

Er erwartete, dass sie wieder verärgert reagierte, aber es folgte gar nichts darauf, deswegen korrigierte er sich lieber sofort selbst: „Und dich natürlich.“

„Wirklich?“ Sie sah ihn nicht einmal an.

„Klar. Du bist doch immerhin meine beste Freundin.“

Auch diese Antwort schien sie nicht ganz zufriedenzustimmen, darum setzte er sofort hinzu: „Außerdem bin ich ja nicht aus der Welt, wenn ich gehe. Es gibt Telefone, Internet … wir können weiter in Kontakt bleiben.“

Elle zog die Beine an ihren Körper und schlang die Arme um ihre Knie. „Das sagen sie doch immer am Anfang. Hey, wir bleiben in Kontakt oder Hey, wir telefonieren jedes Wochenende miteinander, versprochen. Aber das passiert doch nie wirklich. Man macht es ein- oder zweimal, dann hat jeder sein eigenes Leben, man redet immer weniger miteinander und irgendwann dann gar nicht mehr. Dann ist man nur noch irgendein Name im High School Jahrbuch.“

Offenbar hatte sie lange über dieses Thema nachgedacht. Ein wenig zu lange für Alex' Geschmack.

„Bei uns wird das nicht so laufen, okay?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde mich immer bei dir melden, und falls nicht, darfst du mich schlagen, wenn wir uns wiedersehen.“

Falls wir uns wiedersehen.“

Er ignorierte ihre scharfen Widerworte, da er wusste, dass es nichts brachte, dazu noch etwas zu sagen. Sie war stur und ihm auf argumentativer und rhetorischer Ebene ohnehin weit überlegen.

„Denken wir lieber nicht an die Zukunft, sondern an heute“, wechselte er deswegen das Thema. „Noch bin ich ja hier, also lass uns-“

Ein Schrei, gefolgt von einem dumpfen Aufprall unterbrach seine Worte. Alex' Blick schnellte zum Fuß des Wasserturms, wo er etwas entdeckte, das sein Gehirn nicht im Mindesten mit sich selbst vereinbaren konnte. Es war eine Puppe (ein Junge), reglos auf dem Boden liegend (tot). Sie sah auf die Entfernung aus wie Joey (Josh). Nein, er war überzeugt, dass es sich um Joey handelte (es war eindeutig Josh).

Das Verstehen (Josh musste gefallen sein) sickerte nur langsam in sein Gehirn. In dieser Zeit wartete er darauf, dass die Gestalt (Josh) sich wieder bewegte (Kinder stürzten regelmäßig von diesem Wasserturm und brachen sich dabei die Beine), aber nichts geschah.

Die Erkenntnis erreichte endlich zäh sein Bewusstsein, mit all ihrer erschreckenden Wahrheit, die sich in ihm ausbreitete. „Josh!“

Er rannte los, um seinen Bruder zu erreichen, während die gesamte Welt vor seinen Augen zu verschwimmen schien.
 

Alles, was danach geschah, kam Alex wie in einem Traum vor, den er unter Wasser verbrachte. Er schwebte schwerelos im Nass, das ihn schützend umgab und viel von der Wucht der Ereignisse nahm.

Josh war nicht tot, aber ein Arm und ein Bein waren gebrochen. Ihr Vater machte natürlich Alex dafür verantwortlich. Vielleicht war er das ja sogar, aber Alex wollte das nicht akzeptieren. Also stritt er sich mit seinem Vater, Adam, darüber, obwohl es ihm dabei vorkam, als stände er neben sich und beobachteten diese Auseinandersetzungen gelangweilt, weil sie immer gleich verliefen, seit er älter war. Erst waren sie nur anderer Meinung, dann wurden sie lauter, dann schrien sie sich gegenseitig an, ohne jede Rücksicht auf irgendjemanden sonst – und irgendwann endete es dann damit, dass Adam ihn ohne Abendessen auf sein Zimmer schickte. Aber nicht so dieses Mal.

„Mir reicht es jetzt mit dir!“, entfuhr es Adam plötzlich. „Ich werde nicht tatenlos danebenstehen und mir ansehen, wie du deine Familie umbringst!“

Sein Gesicht war vor Wut verzerrt und rot gefärbt, durch sein kurz geschorenes Haar war deutlich zu sehen, dass das auch seinen ganzen Kopf betraf.

„Und?!“, erwiderte Alex. „Was hast du vor?! Mich für den Rest meines Lebens auf mein Zimmer schicken?!“

Als ob er vor Hausarrest wirklich Angst hätte. Er hatte sich bereits oft genug einfach nachts davongeschlichen, nicht selten mit Josh, um dann mit dem Boot auf den Toluca Lake hinauszufahren.

„Das einzige, was bei jemandem wie dir noch etwas helfen kann!“ Die Army Erkennunsmarken, die er stets um seinen Hals trug, klimperten bereits verhängnisvoll. „Ich schicke dich auf eine Militärakademie! Und da bringt man dir bei, dich nicht mehr wie ein selbstsüchtiger Idiot zu verhalten!“

Mit dieser Lösung hätte Alex nie gerechnet und er wollte es auch nicht glauben. Seine Mutter müsste doch eine eigene Meinung haben, dagegen sein – wenn sie sich überhaupt für ihn interessierte. Irgendetwas müsste doch zu machen sein.

Das sagte er sich bis zu jenem Tag, nicht einmal einen Monat später, an dem Adam ihn mit seiner Tasche höchstpersönlich in den Bus setzte, der ihn direkt bis zur Akademie bringen sollte sollte. Aber dennoch konnte er es erst glauben, als Shepherd's Glen immer kleiner wurde, während er durch das Rückfenster blickte. Er müsste der Wahrheit ins Auge sehen, dessen war er sich bewusst. Seine Eltern wollten ihn beide loswerden, so sehr, dass er sich nicht einmal hatte von Josh, der immer noch im Krankenhaus lag, verabschieden dürfen.

Lange nachdem die Stadt aus seinem Blickfeld verschwunden war, setzte er sich wieder normal auf seinen Sitz. Allzu schlimm war das alles nicht, wenn er bedachte, dass er bald 18 wurde. Vielleicht wäre es auch für seine Eltern ganz gut, wenn er eine Weile nicht zu Hause wäre, dann könnten sie endlich einmal sehen, wie sehr sie ihn vermissten.

Es gab nur eine Sache, die er gerade bereute und das war, sich nicht von Elle verabschiedet zu haben. Aber in diesem Moment glaubte er auch noch, bald wieder nach Hause zu kommen, weswegen er es für nicht weiter schlimm erachtete.

Ich werde sie einfach anrufen, wenn ich da bin … und dann lachen wir darüber.

Da wusste er allerdings noch nicht, dass er Shepherd's Glen für lange Zeit nicht wiedersehen würde – und dass er Elles Vorhersage wahr machen würde.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück