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Chrysalis

von

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Es waren Tage wie diese, an denen Tooru am liebsten alles hingeschmissen hätte. Weil das nicht ging, er aber zumindest ein Zeichen setzen wollte, schmiss er seine Tasche frustriert in die Ecke, kaum, dass er nach Hause kam. Aus dem Kühlschrank angelte er einen Joghurt mit Schokostücken, ehe er sich an den Küchentisch plumpsen ließ.

Wirklich gut war es immer noch nicht. Die Sache mit Iwa-Chan. Sie hatten sich vertragen, irgendwie, ohne sich auszusprechen, und Tooru empfand es gleichermaßen als Erleichterung und als Belastung, dass sie das Thema totschwiegen. Aber es funktionierte wieder. Sie konnten immerhin wieder miteinander reden! Es war mehr, als Tooru nach seinem Ausraster noch erwartet hatte. Manchmal meldete sich Iwa-Chan sogar von sich aus.

Er vermutete ja, dass Yudacchi da nachgeholfen hatte. Er konnte ihm nicht einmal böse sein dafür.

Und weil Iwa-Chan sich sogar manchmal freiwillig meldete, weil Tooru gerade jemanden zum Reden brauchte, und weil sein erster Ansprechpartner immer Iwa-Chan war, zog er sein Handy aus der Hosentasche und rief ihn an, ganz ignorierend, dass Iwa-Chan vielleicht wichtigeres zu tun haben könnte.

„Was willst du?“

Er hatte doch auch offensichtlich nichts anderes zu tun. Tooru grinste flüchtig, aber die Freude hielt nicht lange und fiel wieder in müder Resignation zusammen. Er fühlte sich wirklich erschöpft.

„Hey~“, singsangte er trotzdem fröhlich, „Ich wollte nur mal hören, wie’s dir geht, Iwa-Chan!“

„Wir haben gestern erst telefoniert.“

„Aber Iwa-Chan! Ich will doch immer wissen, wie es dir geht!“

 

Iwa-Chan seufzte tief. Tooru konnte geradezu vor sich sehen, wie der Andere sich über die Nasenwurzel rieb und versuchte, seiner Genervtheit Abhilfe zu schaffen. Die Falte zwischen Iwa-Chans Augenbrauen war zweifelsohne deutlich sichtbar gerade. Er grinste schief, ein bisschen verloren.

„Gut. Mir geht es gut. Und jetzt erzähl mir, was du wirklich willst.“

Es war gemein, dass Iwa-Chan ihn durchschaute, aber gleichzeitig war genau das es, worauf Tooru gepokert hatte. Es war leichter so. Beinahe war er sogar froh darum, dass sie nur über ein Telefonat miteinander sprechen konnten. In diesem Moment wollte er Iwa-Chan nicht bei sich haben. Nicht direkt.

Behutsam streckte er die Beine aus, verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als sein rechtes Knie dabei deutlich protestierte. Verdammtes Elend.

„Die Vorrunden. Sind ja doch relativ bald.“

Er seufzte, blies dann beleidigt die Wangen auf.

„Wir sind nicht gut genug.“

Iwa-Chan lachte bellend am anderen Ende der Leitung. Der Laut, gepaart mit der Erinnerung an das dazugehörige lachende Gesicht, ließ Toorus Herz für einen Moment freudig hüpfen.

„Im Ernst? Ihr seid nicht gut genug? Oikawa, ich bitte dich! Es ist unmöglich, dass ein Team mit dir und Ushiwaka geschlagen werden kann!“

Natürlich stimmte es. Natürlich würden sie nicht geschlagen werden, aber das war auch nicht komplett Toorus Problem. Sein Problem war, dass die Stimmung in seinem Team einfach grauenhaft schlecht war. Ushiwakas extreme Art war anstrengend, ermüdend, und – es setzte unter Druck. Tooru hatte noch nie so oft an einem Stück gehört, dass er nicht gut genug war. Und immer mit den gleichen Argumenten.

„Wärest du nach Shiratorizawa gekommen. Aoba Jousai war eine schlechte Entscheidung. Du wirst es noch bereuen. Sentimentalität gegen Können aufzuwiegen ist etwas, das nur ein Schwächling tut. Was hast du jetzt davon? Iwaizumi ist nicht mehr da, und du leidest unter deiner Fehlentscheidung.“

 

„Du solltest es selbst wissen“, tadelte er, statt zu erzählen, was ihn eigentlich störte, „dass ein starkes Team nicht stark ist, weil es ein oder zwei starke Spieler hat. Ein Team besteht aus sechs Leuten, Iwa-Chan. Aus sieben, wenn man den Libero mitzählt. Selbst wenn Ushiwaka und ich noch so gut sind.“

„Der Rest kann gar nicht so schlecht sein.“

War er auch nicht.

„Ushiwakas Meinung nach ist das ganze Team beschissen“, gab er dumpf zurück, zu angefressen, um noch sichtbar zu schmollen. Auf die Entfernung bemerkte Iwa-Chan den Bruch in seinem Tonfall womöglich nicht einmal. Womöglich war das sogar besser.

„Ushiwaka ist dümmer als er aussieht, wenn er das wirklich glaubt“, grollte Iwa-Chan. Etwas in seinem Tonfall sagte Tooru, dass er die Implikation seiner Worte doch verstanden hatte, und aus ganz unsinnigen Gründen machte ihn das unsinnig glücklich.

Es war so dumm gewesen, auf verschiedene Universitäten zu gehen. Wieso hatte Tooru geglaubt, dass er dazu bereit wäre?

 

„Ich fahr am Wochenende Yudacchi besuchen.“

Es war eine Lüge. Yudacchi hatte keine Ahnung von einem kommenden Besuch; Tooru wusste aber, dass er niemals nein sagen würde, wenn er fragen würde, also konnte er es genauso gut ungefragt behaupten.

Hast du Zeit?

Er traute sich nicht, die Frage auszusprechen. Es war immer noch ein Problem zwischen ihnen, dass Iwa-Chan zu wenig Zeit hatte, es war immer noch ein Problem, dass Tooru sich vernachlässigt und ungeliebt – platonisch! – fühlte. Er fragte Iwa-Chan, wenn es sich vermeiden ließ, nie, ob er Zeit hatte. Er ließ die Frage ungesagt im Raum stehen, weil eine Verneinung dann so viel weniger schmerzhaft war.

Es war viel zu lange still in der Leitung. Iwa-Chan formulierte gerade vermutlich nur sein Nein. Tooru seufzte unglücklich, schob missmutig an seinem Joghurtbecher herum, den er noch nicht angerührt hatte.

 

„Samstagabend, aber nicht lange. Ich muss später noch zur Arbeit.“

 

 
 

***

 

 

Die Zeit verging wie im Flug – das Trainingscamp war gewissermaßen gerade erst zu Ende, als das Trainingsmatch zwischen Karasuno und Nekoma schon vor der Tür stand. Dieses Mal würde es ein Heimspiel für die Katzen. In der knappen Woche Zeit, die sie nach dem Camp noch zum Training gehabt hatten, hatten sie trainiert wie die Berserker.

Es hatte sich gelohnt.

Drei Sätze. Zwei zu eins gewonnen. Im ersten Trainingsmatch zumindest.

Weil es damit nicht genug war, spielten sie weiter, bis sie alle kaum noch auf den Beinen stehen konnten und nur noch Hinata nach einer Zugabe krähte. Chikara hatte nicht mitgezählt – er vertraute auf Yachis Dokumentation –, aber er glaubte, dass sie am Ende die größere Anzahl Siege davongetragen hatten.

Eigentlich müssten sie längst nach Hause fahren. Aber es war Samstagabend, sie konnten doch die ganze Nacht über fahren, und niemand wollte sich so recht schon auf den Weg machen. Coach und Takeda hatten sich mit Nekomas Coaches zusammengetan und würden sich jetzt vermutlich erst einmal ein bisschen Alkohol zum Feierabend gönnen, während die beiden Teams noch in der Sporthalle und drum herum verteilt waren.

Er hörte Nishinoya, Tanaka und Yamamoto aus irgendeiner Ecke brüllen.

 

Chikara selbst hatte sich hinter die Sporthalle verzogen, auf die Treppenstufen vom Hintereingang. Er genoss den Frieden nach dem tumultreichen Tag. Eine ganze Weile saß er einfach nur da und sah der Sonne beim Sinken zu, ehe er Schritte hinter sich hörte. Zu leise, um zu Wildfang Nishinoya oder Tanaka zu gehören, deshalb machte er sich kaum die Mühe, sich nach ihnen umzudrehen.

Es war Shida, der sich grinsend neben ihn hockte und ihm eine Dose mit einem Sportgetränk reichte.

„Du siehst müde aus.“

Chikara lachte leise. Shida stimmte mit ein und schüttelte den Kopf.

„Ich meine wirklich!“ – „Bin auch müde“, erwiderte er, während er die Dose öffnete. Sie zischte leise.

„Karasuno ist ein unglaublich anstrengender Sauhaufen. Daichi-San, mein Vorgänger, hat das ein ganzes Schuljahr durchgezogen. Ich hab nicht einmal ein halbes hinter mir und fühl mich schon nach Rente.“

Es war nicht, dass Chikara sich drücken wollte. Es war ihm einfach zu viel. Er hatte nicht den Eindruck, ein guter Captain zu sein. War zu schwach. Machte zu viele Fehler. Nicht einmal auf dem Spielfeld – in dem Punkt hatte er sein Selbstvertrauen wiedergefunden. Es war außerhalb, was ihm Kummer bereitete. Das Hinata-Drama hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, er hatte den Eindruck, dass Tsukishima und Kageyama darüber tatsächlich auch zu einer Kommunikationsbasis gefunden hatten, aber wäre das nicht auch anders gegangen? Besser? Daichi hatte einige Konflikte auch ausgesessen, aber sie hatten sich immer weit schneller gelöst. War Chikara im Endeffekt also nicht nur weggelaufen?

 

Shidas Schulter kollidierte sanft mit seiner und unterbrach damit die schwermütigen Gedanken in seinem Kopf.

„So geht es jedem Captain, wetten? Kenma hat auch schon mit dem Gedanken gespielt, aufzuhören! Aber ehrlich! Wenn ihr so ungeeignet für euren Job wäret, ihr würdet das merken!“

Er lachte herzlich, sprang auf die Beine und platzierte sich vor Chikara. Während er sprach, gestikulierte er lebhaft genug, dass ein wenig Flüssigkeit aus seiner Getränkedose schwappte.

„Revolte! Aufstände! Boykott! Wenn das Team dich nicht schätzen würde, würden sie dir nicht gehorchen! Und solange sie dir gehorchen – wieso in Rente gehen? Nutz es aus, dass du eine Armee williger Sklaven hast!“

Chikara lachte unwillkürlich. Er schüttelte den Kopf.

„Willige Sklaven sehen anders aus. Und ehrlich, willige Sklaven sind auch nützlicher. Mit denen könnte ich nicht einmal ein Baby überfallen.“ – „Umso besser! Sie sind eben noch formbar – du musst sie nur besser dressieren!“

„Ich weiß nicht.“

Mit einem Seufzen ließ Chikara den Kopf in den Nacken fallen. Shidas Silhouette in der Abendsonne wirkte unnatürlich dunkel.

„Daichi-San – und da sind wir uns alle einig – ist mit Abstand der beste Captain, den Karasuno seit Jahren hatte. Seine Fußstapfen auszufüllen ist so ziemlich unmöglich. Ich versuch es, aber – ich hab nicht das Gefühl, dass es funktioniert? Wir sind stark. Ein gutes Team. Aber bei jeder Entscheidung und jedem Konflikt habe ich den Eindruck, Daichi-San würde es besser lösen. Dass ich nicht genug bin. In meinem ersten Jahr hab ich das Team für eine Zeit verlassen, weil mir alles zu anstrengend war. Ich bin zurückgekommen. Aber wer sagt, dass ich nicht immer noch weglaufe? Ob nun damit, bleiben zu wollen, oder damit, gehen zu wollen, sei mal dahingestellt.“

 

Sein Gesprächspartner schwieg für eine Weile. Shida ging in die Hocke, beobachtete Chikara schließlich von dort aus lange, ehe er wieder zu grinsen begann.

„He, was hältst du von einer kleinen Reise, Ennoshita?“

„Einer Reise.“

Er hob die Augenbrauen, skeptisch, aber irgendwie amüsiert.

„Dir ist klar, dass ich später nach Hause fahren muss?“

Shida lachte nur. Sprang wieder auf, streckte beide Hände nach ihm aus.

„Klar weiß ich das! Aber ich entführe dich jetzt trotzdem! Komm mit. Wir kommen vermutlich nicht nach Oz, und einen großen Zauberer finden wir auch nicht, aber vielleicht reicht es, damit dieser Löwe hier seinen Mut findet.“

„Ich bin kein Löwe.“

„Dann eben Krähe! Auch Krähen haben sicher irgendwo einen Mut, den sie finden können!“

Chikara lachte, weil ihm nichts Besseres einfiel, und ergriff Shidas ausgestreckte Hände. Er ließ sich hochhelfen, nur um Shida dann schwungvoll näher zu ziehen, bis sie kollidierten und beinahe wieder zu Boden fielen.

 

„Deal. Aber nur, wenn wir auf dem Weg auch den Verstand dieser Vogelscheuche hier suchen.“

 

 
 

***

 

 

Shouyou stand vor ihm. Reglos, unbeweglich, die großen Augen weit aufgerissen und starr, voll beunruhigender Intensität. Es war der Blick, den er üblicherweise für alles, was mit Volleyball zu tun hatte, reservierte – aber schlussendlich hatte auch das hier mit Volleyball zu tun, nicht wahr?

„Du hast es versprochen.“

Es waren die einzigen Worte, die er sagte. Der starre Blick blieb. Kenma musste ihn nicht einmal ansehen, um ihn zu spüren, und er wurde mit jedem Augenblick unangenehmer, ließ seinen Magen krampfen und sein Herz härter schlagen als notwendig. Es machte ihn nervös. Einziges Ziel von Shouyous übertriebener, intensiver Aufmerksamkeit zu sein war nichts, das Kenma je in seinem Leben hatte haben wollen.

Es war viel zu anstrengend. Zu erschreckend.

Es stimmte. Er hatte es versprochen. Zugegeben, in dem Moment, in dem er es versprochen hatte, hatte er nicht völlig daran geglaubt, dass Shouyou es schaffen würde, aber er hatte es gehofft. Shouyou gehörte aufs Spielfeld, so sehr, wie Kenma eigentlich nicht dorthin gehörte. Trotzdem wollte er noch nicht zurücktreten, nicht jetzt. Er nickte langsam, vermeidend, Shouyou dabei anzusehen.

„Ich weiß.“

Shouyous Hände zuckten. Er ballte sie zu Fäusten, sein ganzer Körper war angespannt. Kenma verstand nicht, wieso es ihm so wichtig war, und das war noch eine Sache, die in erster Linie unangenehm war und nichts anderes. Kuro würde es vermutlich lustig finden. Witze darüber machen, dass Shouyou einer der wenigen Menschen war, die Kenma aus der Reserve locken konnten.

Er war froh, dass Kuro nicht hier war.

 

„Ich halte meine Versprechen.“

 

Mit einem Schlag änderte sich Shouyous Stimmung. Die Anspannung verflog so rasch, als wäre sie nie da gewesen, und im nächsten Moment regte er sich. Kenma begriff nicht, was er tat, bis es längst zu spät war.

Shouyou umarmte ihn.

Er spürte das Gewicht von fremden Armen auf den Schultern, spürte einen fremden Körper, der sich an seinen drückte und dabei sein Handy gegen seine Brust presste, spürte Shouyous Haare an seinem Gesicht kitzeln. Sein Lachen war so nah, dass es in Kenmas Kopf widerhallte, fast schmerzhaft laut. Er war unfähig, irgendetwas anderes zu tun als da zu stehen, die Augen weit aufgerissen vor Schreck, und zuzulassen, was auch immer Shouyou da gerade tat. Kenma hörte über das Rauschen seines eigenen Bluts hinweg nicht, was Shouyou plapperte, aber so, wie er Shouyou kannte, war es kaum wirklich wichtig. Er konnte nicht zuhören. Nicht denken. Sein Hals war wie verknotet, und sein Herz schmerzte bei jedem harten Schlag. Atmen war schwierig so.

 

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er sich löste. Kenmas Herz schlug immer noch unangenehm schnell. Er riskierte einen Blick in Shouyous Gesicht und bereute es beinahe augenblicklich – seine Augen glühten, schimmerten feucht, sein Mund zu einem breiten Grinsen verzogen und seine Wangen waren gerötet vor Freude. Es war viel zu viel, geradezu lächerlich in Anbetracht der Banalität, über die Shouyou sich gerade freute.

„Kenma!!!“

Die laute Stimme war immer noch zu nah, ließ ihn zusammenzucken. Kenma machte nicht mehr den Fehler, aufzusehen. Shouyou schien es nicht zu stören; er packte Kenmas Hand, die nicht das Handy hielt, als könnte er sich so seine Aufmerksamkeit erschleichen. (Konnte er.)

„Kenma! Wir sehen uns bei der Frühlingsmeisterschaft! Versprochen!!!“

Kenmas Mundwinkel zuckten. Als er den Blick wieder hob, war Shouyou immer noch viel zu grell, aber zumindest für kurz würde es ertragbar sein.

 

„Ich freue mich darauf, euch zu besiegen.“

 

 
 

***

 

 

Wie aus einem simplen Abendessen so etwas hatte werden können, konnte Tetsurou nicht rekonstruieren. Sie hatten zu Abend gegessen, ja. Aber dann hatten sie sich nicht getrennt, um zu ihren jeweiligen U-Bahn-Stationen zu laufen und nach Hause zu fahren. Seit fast einer Stunde liefen sie ziellos durch die Innenstadt, nicht einmal besonders gesprächig miteinander, einfach nur um des Laufens Willen.

Wenn er es sich recht überlegte, dann hatte er heute kaum ein paar Worte mit Daishou gewechselt. Er war ungewöhnlich still gewesen, und Tetsurou hatte nicht ganz das Bedürfnis gehabt, die Stille mit Sticheleien zu durchbrechen. Ihm fielen nicht einmal viele ein. Also war es still geblieben, war es immer noch still. Es war inzwischen dunkel, die Sonne abgelöst durch gelbliche Straßenlaternen und Leuchtstoffröhren und Neonreklamen, die die breiten Einkaufsstraßen in ein beinahe unfreundlich grelles Licht tauchten. Es spiegelte sich in den Piercings, die Tetsurou sah, wenn er zur Seite blickte.

Irgendwann, als er zur Seite sah, fing er Daishous Blick auf, statt dem Funkeln seiner Piercings.

„Du starrst“, konstatierte er trocken, hob eine schmale Augenbraue, „Ist es so interessant?“

Tetsurou lachte.

„Ich bin immer noch schockiert, dass du jetzt ein Schweizer Käse bist.“

Etwas in Daishous Grinsen sagte Tetsurou, dass er kein Wort glaubte. Er blieb stehen, Tetsurou tat es ihm automatisch gleich. Mitten in einer Einkaufsstraße, rings um sie herum Menschen, die einfach weiterliefen, und Daishou lehnte sich vor, bis er eindeutig zu weit in Tetsurous persönlichen Raum eingedrungen war.

 

„Es gefällt dir.“

 

Tetsurou war stolz auf sein Pokerface. In diesem Moment aber verließ es ihn und sein Gesicht entgleiste völlig. In erster Linie war er schockiert, und er wusste nicht einmal, wovon mehr – davon, dass er sich ehrlich ertappt fühlte, oder eher davon, dass Daishou überhaupt arrogant genug war, auf so eine dumme Idee zu kommen.

Es war ein Klingeln seines Handys, das ihn davor rettete, eine schlagfertige Antwort finden zu müssen. Der Ton verriet, dass es Kenma war, und weil Kenma immer Priorität hatte, zog er das Handy aus der Tasche und wandte sich dem kleinen, leuchtenden Display zu. Aus dem Augenwinkel sah er noch, dass Daishou wieder auf Abstand ging, dann war die Nachricht interessanter und seine Gesellschaft für den Moment vergessen.

Ich bleibe.

Zwei Worte, die Tetsurou einen riesigen Stein vom Herzen fallen ließen. Er lachte erleichtert auf, fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar. Er hatte es gewusst. Kenma musste bleiben! Er hatte zwar keine Ahnung, woher der Sinneswandel kam, aber er ahnte, dass es mit Karasuno und ihrem Trainingsmatch zu tun hatte, das, wenn er sich recht erinnerte, heute gewesen war. Er schickte dem Chibi einen kurzen Dank per Nachricht, schickte auch Kenma nur ein paar Worte, die ausdrücken sollten, dass er froh über seine Entscheidung war, ohne ihm das Gefühl zu geben, dass er jede andere Entscheidung nicht akzeptiert hätte, und steckte das Handy wieder weg.

Daishou sah ihn an, so ruhig und regungslos, als hätte er ihn schon die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen.

„Kozume?“ – „Ja. Er hat Bescheid gegeben, dass er weiter spielt.“

Tetsurou konnte nicht verhindern, dass grinste, als er es erzählte. Daishou verdrehte nur die Augen.

„Ich hoffe, du bist nicht der Grund.“

Es klang nicht einmal halb so bissig, wie Tetsurou erwartet hatte – wahrscheinlich filterte sein Kopf gerade vor Erleichterung einen großen Teil der negativen Töne einfach. Er zuckte unbekümmert die Schultern.

„Ganz egal. Das Resultat zählt.“

„Und lass mich raten. Du wirst jetzt sowieso den ganzen Abend an nichts anderes mehr denken können?“

 

Selbst, wenn das nicht stimmte – was es nicht tat, übrigens! –, es war spät genug, dass Tetsurou trotzdem nach Hause wollte. Er hatte lang genug mit Daishou abgehangen, wenn man ihn fragte. Zu lange.

„Müssen kleine Schlangen nicht langsam ins Bett?“

„Sag doch gleich, dass du mich loswerden willst. Muss deprimierend sein, so lange mit einem heißen Typen rumzuhängen, huh?“

Der Widerspruch, der Tetsurou auf der Zunge lag, schmeckte schon so lahm, dass er ihn wieder hinunterschluckte, während er versuchte, nicht zu auffällig auf die Piercings an Daishous Unterlippe zu starren. Objektiv betrachtet war er immer noch verdammt attraktiv. Subjektiv betrachtet war da diese miese Persönlichkeit.

 

Die in letzter Zeit immer weniger mies wurde.

 

Verwirrt schüttelte Tetsurou den Kopf. Es half, um die Gedanken wieder zu klären.

„Ich schulde dir noch ein Essen, huh?“ – „Wow. Du kannst zählen.“

Tetsurou schnaubte nur. Er wollte grinsen, doch es fiel schiefer aus als geplant und so ließ er es letztlich doch lieber wieder bleiben, als er Daishou auffordernd eine Hand entgegenstreckte.

„Gib mir deine Handynummer. Ich hab keinen Bock, dich immer in der Uni suchen zu müssen, wenn ich etwas von dir will.“

Ignorierend, dass sie im gleichen Sportclub waren. Und dass er nichts von Daishou wollte. Die Details waren aber nun auch wirklich nicht wichtig.

Daishou sah ehrlich erstaunt aus von den Worten. Ungläubig. Sein Mundwinkel zuckte – Tetsurou sah es nur, weil sein Blick wieder von den Piercings abgelenkt war –, dann schüttelte er ungläubig den Kopf. Mühsam riss Tetsurou den Blick von seinem Mund los, um seinen Augen zu begegnen, deren Blick viel zu weich und menschlich war, um wirklich ehrlich sein zu können. Es war immerhin Daishou.
 

„Krieg ich dann auch meinen eigenen Klingelton?“

 

 
 

***

 

 

Das Getuschel war geradezu beunruhigend. Da war eine Traube von jungen Studentinnen, die alle miteinander tuschelten, während Morisuke genervt versuchte, sich an ihnen vorbeizuschieben, um das verdammte Unigelände zu verlassen und zur U-Bahn zu kommen.

„So hübsch!“, tuschelte ein Mädchen neben ihm gerade. Ein paar Schritte weiter schnappte er den nächsten Gesprächsfetzen auf: „So groß! Ob er Model ist?“

Was auch immer die Mädchen daran hinderte, sich weiter zu bewegen, Morisuke hoffte, dass es ihm gar nicht erst unter die Augen trat, denn er hätte gehörig ein Hühnchen mit dem unverschämten Kerl zu rupfen, der sämtlichen Fußgängerverkehr im Universitätsgeländeeingangsbereich blockierte. Er hatte wirklich besseres mit seinem Tag zu tun, als sich durch eine Horde schwerparfümierter junger Frauen zu schlagen, die obendrein mit ihren Absätzen auch noch allesamt mindestens an seine Größe heranreichten!

Einmal dem Pulk an Mädchen entkommen, konnte er trotz allem Nicht-sehen-wollen einen Blick auf die Ursache des Tumults werfen.

Groß. Schlank. Modische Frisur. Breiter Mund, ratlos verzogen. Er sah sich suchend um. Sein Blick blieb auf Morisuke hängen und das fremde Gesicht erhellte sich in einem grausig breiten Grinsen, noch ehe er ganz begriffen hatte, was er da vor sich sah.

„Yaku-San!“

 

Das war Lev. Lev, der immer ausgesehen hatte, als wären seine Haare von einer Kuh geleckt worden, stand hier vor ihm, zum ersten Mal, dass es Morisuke bewusst war, nicht in seiner Schuluniform, mit einer Frisur, die so un-lev war, dass es unmöglich war, ihn auf den ersten Blick zu erkennen.

Oder ihn überhaupt zu erkennen.

Er sah aus wie ein anderer Mensch!

Mühsam schüttelte er seine Überraschung ab, stapfte auf den dummen Kerl zu, der fröhlich grinsend da stand und sich seines Lebens freute.

„Was machst du hier?!“ – „Ich wollte dich sehen, Yaku-San. Gefällt dir meine neue Frisur?“

Morisuke antwortete nicht. Er spürte, wie sein Nacken heiß wurde und wandte sich abrupt ab, um schlimmeres zu verhindern.

„Beweg dich gefälligst, du Wolkenkratzer, du hältst den gesamten Verkehr auf!“

Er wollte nicht nachher schuld sein daran, dass irgendjemand irgendeinen dringenden Termin verpasste, weil Morisuke nicht in der Lage war, seinen ungewollten Gast davon abzuhalten, unnötig viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kurzentschlossen packte er Lev am Ärmel, weil er zu langsam reagierte, zerrte ihn grob mit sich.

„Wohin gehen wir, Yaku-San?“

Er hörte das verdammte Grinsen auf Levs Gesicht.

„Zu mir.“

 

Es war keine gute Idee. Aber ihm fiel nichts Besseres ein, und er wollte dringend einen Kaffee.

 

Viel konnte er Lev nicht zugutehalten, als sie schließlich in der kleinen Bude saßen. Er stierte ungeniert neugierig durch die Gegend, als wolle er sich noch jedes nicht existente Staubkorn merken, und allein dafür hätte Morisuke ihm gern dezent gegen das Schienbein getreten, aber er ließ es bleiben. Die Kaffeetasse landete trotzdem mit einem unnötig lauten Knall vor Levs Nase auf dem kleinen Esstisch.

„Warum zum Henker bist du zur Uni gekommen?!“

Sicher nicht, um sie zu besichtigen. Lev war dafür noch zu jung!

Der Kerl grinste vergnügt. Die Kaffeetasse verschwand in seinen riesigen Pranken.

„Ich wollte dich sehen“, wiederholte er noch einmal. Er legte den Kopf kaum merklich schief, „Und du hast mir noch nicht gesagt, wie du meine neue Frisur findest.“

„Könnte schlimmer sein“, brummte Morisuke, ertränkte jeden weiteren Gedanken in einem großen Schluck heißem Kaffee. Er hätte Lev in die nächste U-Bahn setzen sollen, statt ihn mit nach Hause zu nehmen. Jetzt saß der Kerl hier wie eine zu groß geratene Straßenkatze und schien schon zu planen, wie er sich am besten häuslich einrichten konnte – gar nicht, wenn es nach Morisuke ging, und das ging es in diesem Fall schließlich.

 

Sie verloren sich in Smalltalk. Lev berichtete von ihrem letzten Trainingscamp, von ihrem letzten Match gegen Karasuno. So, wie das klang, hatten sie in jedem Fall viel gelernt, und das war so beruhigend, dass Morisuke nicht einmal mehr genervt von dem unablässigen Geschwätz war. Nach ein paar Minuten des Geplappers stand er wieder auf, um sich eine Portion Instantnudeln fertig zu machen. Er war hungrig. Lev verfolgte jede Bewegung mit unnötig großem Interesse – es war schwer zu ignorieren, auch wenn er es versuchte. Den Raum zu verlassen half aber immerhin temporär.

Als Morisuke wieder aus der Küche kam, stand Lev ebenfalls, und er grinste erwartungsvoll.

„Was?“ – „Ich muss dich was fragen, Yaku-San.“

Morisuke ahnte, dass es nichts Gutes werden würde. Er hob die Augenbrauen.

„Was?“ – „Gehst du mit mir aus?“

„Nein.“

„Warum?“

Musste er einen Grund angeben? Nein. Würde Lev aufhören zu nerven, wenn er es nicht tat? Nein. Möglichst ruhig stellte Morisuke sein Abendessen auf dem Tisch ab, dann baute er sich vor Lev auf. Er musste viel zu weit zu ihm aufsehen.

„Du bist mir zu groß.“

Es war nicht einmal eine Lüge. Lev war zu groß! Neben allen anderen tausend guten Gründen, nicht darüber nachzudenken, ob Haiba Lev ein möglicher Beziehungspartner war oder nicht, war dieser vermutlich einer der gravierendsten. Morisuke brauchte es nicht, jeden Tag neben diesem Wolkenkratzer zu verbringen und damit gewissermaßen dauerhaft unter die Nase gerieben zu kriegen, wie klein er im Vergleich war. Ganz zu schweigen davon, dass es für eine Beziehung einfach unpraktisch war.

Dummerweise sah Lev nicht aus, als ob ihn das stören würde.

„Ah. Das ist gar kein Problem!“, verkündete er völlig unbekümmert. Morisuke war sich sicher, dass da jetzt irgendeine furchtbare Dummheit kommen würde, irgendetwas, das in ihm das dringende Bedürfnis wecken würde, Lev gehörig in den Arsch zu treten und dann aus seiner Bude zu werfen, aber der Kerl machte nicht einmal den Mund auf. Er beugte sich vor. Morisuke erwartete halb, dass Lev gleich verkünden würde, dass ihm das gar nichts ausmachte, sich immer so hinab zu beugen – es müsste eine Lüge sein, ernsthaft –, aber er lag wieder falsch.

Lev sagte nichts.

Lev packte ihn. Keine Sekunde später verlor er den Boden unter den Füßen.

„L-Lev!!!“

 

„Hm. Aber so passt es doch, Yaku-San.“

 

Morisuke öffnete den Mund zum Protest. Seine Füße hingen in der Luft, sein Herz raste vor Schreck, und sobald er den Blick hob, starrte er in Levs grüne Katzenaugen. Was daran passte bitte?!

„Das kannst du auch nicht länger als ein paar Sekunden durchziehen!“, patzte er, weil ihm nichts Klügeres einfiel. Lev blinzelte nur unbekümmert, verkündete, dass er das ja trainieren könnte. Morisuke glaubte ihm nicht, so wie er Lev nie glaubte, wenn der irgendeinen neuen großen Plan fasste. Der Kerl grinste viel zu breit, viel zu nah, und Morisuke konnte sich nicht entscheiden, ob es ihm entsetzlich unangenehm war, auf Augenhöhe zu sein, oder ob es ein Segen war, dass dieses Grinsen immerhin nicht  mehr nach unten gerichtet war.

„Du kannst also doch mit mir ausgehen?“ – „Nein!“ – „Aber Yaku-San!“

„Kein aber! Ich geh nicht mit dir aus!“

Lev verzog das Gesicht zu einer jämmerlichen Schnute. Morisuke knurrte, unfähig, mehr zu tun, weil er immer noch in der Luft hing und es ihn furchtbar aus dem Takt brachte. Er konnte kaum irgendwo anders hinsehen als in Levs Gesicht, seine Hände lagen auf den Schultern des Kerls, weil sie reflexartig dort gelandet waren, als er den Boden unter den Füßen verloren hatte, und sich noch nicht wegbewegt hatten. Einen langen Moment spielte er mit dem Gedanken die Hände in Levs Haar zu vergraben, das mit seinem wuscheligen, unruhigen Styling geradezu dazu einzuladen schien.

Dann nahm die Vernunft wieder überhand und er schüttelte wild den Kopf.

„Lass mich runter.“ – „Nur wenn du mit mir ausgehst.“

Lev grinste breit. Er lehnte sich vor, und Morisuke wurde mit Entsetzen bewusst, dass er keinerlei Fluchtweg hatte. Panik ließ sein Herz erst stocken und dann unnötig schnell weiterrasen. Er packte nun doch in Levs Haar, nur zur Sicherheit, um den Kerl auf Abstand zu halten. Der Kontrast der langen, weichen Strähnen und der raspelkurzen Haare auf der linken Kopfseite machte etwas mit Morisukes Magen, dem er gar keinen Namen geben wollte. Er schluckte. Verzog den Mund zu einem unwilligen Strich, gab sich alle Mühe, sich einzureden, dass die Hitze in seinem Gesicht nur Einbildung war.

 

„Unter einer Bedingung“, murmelte er atemlos. Levs Augen weiteten sich überrascht, und vorlauter Überraschung vergaß er für einen Moment sogar das Grinsen – Morisuke gefiel der Gesichtsausdruck.

 

„Ich gehe mit dir aus, wenn ihr durch die Vorrunden kommt und du wirklich das Ass wirst.“



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