Fremde Lippen
Ich möchte euch an dieser Stelle keine herzzerreißende Geschichte erzählen. Eigentlich bin ich überhaupt nicht dazu qualifiziert, zu schreiben. Die Wörter, die ich in die Tastaturen meines Computers schlage, sind nicht wundervoll geschwungen, malen keine Bilder in Köpfe, vermögen nicht zu bezaubern. Vor allem erzählen sie keine Geschichten von Märchenprinzen, mit denen man glücklich für den Rest aller Ewigkeit sein Dasein fristet. Sie sind Bildnisse einer realen Person, einem Wesen mit Fehlern. Sie zeigen, wie schnell man das, was man sein ganzes bisheriges Leben aufgebaut hat zerstören kann und das in einem einzigen, flüchtigen Sinnesrausch. Ich möchte kein Verständnis, noch weniger Mitleid. Ich möchte meinen Gedanken, meinen Gefühlen Wörter verleihen. Nicht zuletzt vielleicht auch, um es mir selbst zu erklären.
So wie das sporadische, zögerlich anmutende Klacken der Tastatur verstummt war, so waren auch meine Gedanken verstummt. Meine Finger hingen keine Millimeter über den Buchstaben in der Luft, bereit, weiter zu schreiben und doch folgte dem Absatz kein weiterer Gedankenstrang mehr. Mein Kopf war müde und beansprucht, ich würde noch einen Kaffee brauchen, um diese Nacht zu überstehen, denn an Schlaf war für mich nicht zu denken. Leise, fast seufzende Atemzüge fanden in der plötzlichen Stille ihren Weg zu meinem Gehör, doch musste ich mich nicht umdrehen, um die Quelle jener zu erblicken: Sasuke Uchiha. Der jüngste Sohn einer angesehenen, einflussreichen Familie, welche ihr Geld mit technologischem Schnickschnack verdiente, von welchem ich selbst nach all der Zeit noch immer nichts verstand. Fast mein gesamtes Leben besteht aus Erinnerungen an ihn und unsere gemeinsame Zeit. Er war die Liebe meines Lebens, alles, was ich je wollte, dennoch verkrampfte sich mein Herz seit zwei Wochen schmerzhaft, wenn ich an ihn dachte.
Ungeduldig zuckten meine Finger, waren meine Gedanken doch so unerträglich viel langsamer als sie. Eigentlich wollte ich das alles hier gar nicht. Nichts wiederstrebte mir mehr, als mitten in der Nacht vor dem flimmernden Bildschirm meines PCs zu sitzen und darüber zu sinnieren, wie ich schreiben sollte, was ich schreiben wollte. Nein, musste. Auch, wenn ich ihn nicht sehen wollte, mein Kopf war für den Bruchteil zweier Herzschläge sein eigener Herr geworden und drehte sich zu der friedlich schlafenden Gestalt hinter mir um. Durch die bodentiefen Fenster unseres Appartements schien das aschfahle Licht des hoch am Himmel stehenden Vollmondes direkt auf sein völlig entspanntes Gesicht. Nachts fiel die Anspannung von dem von Karrierestress geplagten Antlitz ab und wurde zu den Zügen eines ganz normalen, jugendlichen Mannes. Er war bildhübsch. Beinahe täglich registrierte ich, was für Welten uns alleine optisch trennten und ich schämte mich nahezu ebenso oft dafür, eine so unwürdige Gefährtin für ihn zu sein.
Ich bin Sakura Haruno, eine 25-jährige Frau, welche seit ihrer frühen Kindheit keinen sehnlicheren Wunsch verspürt, als Bücher zu schreiben. Ich bin nicht qualifiziert, habe nicht studiert und bin in allen Bereichen des alltäglichen Lebens so gewöhnlich, wie man es nur sein kann. Die Geschichte, welche mir auf der Seele brennt, bietet nicht einmal genug Stoff, um ein Buch daraus zu stricken, dennoch kann ich nicht anders, als weiter und weiter zu schreiben. Ich bin allerhöchstens durchschnittlich und vielleicht ist das auch die Ursache all meiner Probleme.
Wieder hielten meine schlanken Finger inne und die darauf folgende Stille wirkte fast schneidend. Hinter mir eine kleine Bewegung, kaum genug, um der Decke über ihm ein sanftes Rascheln zu entlocken. Ein undeutliches Grummeln brach zwischen seinen Lippen hervor und entlockte mir ein kleines Schmunzeln. Erneut drehte ich mich um und ertappte mich dabei, wie ich ihn gedankenversunken betrachtete, wie ein narzisstischer Künstler wohl sein neuestes Werk betrachtete. Fasziniert. Sprachlos. Liebend. Doch wieder mischte sich zu der tiefen Zuneigung, welche ich für diesen atemberaubenden Mann empfand, der bittere Beigeschmack von Schuld und Scham.
»Sakura?« Durch den Mangel an Gebrauch in den vergangenen Stunden klang seine Stimme leicht kratzig. Wieder eine Bewegung. Sasuke richtete sich langsam auf und ich konnte im kalten Licht der Nacht erkennen, wie seine onyxfarbenen Augen ihren Weg zu meinen jadegrünen fanden. Ich wollte wegschauen, verschämt, doch wie immer schaffte er es, ohne auch nur überhaupt ein richtiges Wort zu reden, mich in den Bann zu ziehen. Seine bloße Präsenz vereinnahmte mich komplett und wieder erwischte ich mich dabei, wie ich mir die Frage stellte, wie er dies nach all den Jahren unserer Freundschaft und Beziehung immer noch so mühelos zu schaffen vermochte.
»Ja?«, wisperte ich leise und ballte meine Hände derart stark zu Fäusten, dass sich meine manikürten Nägel ihren Weg durch die oberste Hautschicht bahnten und dort einige weiße Striemen hinterlassen würden.
»Wieso bist du noch wach?« Es klang so furchtbar emotionslos und desinteressiert. Wie immer. Sasuke Uchiha ist kein Mensch großer Worte, noch weniger ein Mensch großer Emotionen und so war es selbstredend, dass er sich selbst bei jenen wenigen Momenten, in welchen er mir seine Liebe zusagte, nicht groß anders klang, als wenn er die Zutaten einer Einkaufsliste vorlas. Wieder ein zarter, süßer Stich in meinem Herzen, meine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Streifen.
Ich nickte, Augenblicke später jedoch wurde mir bewusst, dass er mich nicht so gut sehen konnte, wie ich ihn, sodass ich ein weiteres »Ja« wisperte. Die Luft wich mir aus den Lungen, als ich realisierte, dass er soeben im Begriff war, aufzustehen. Hastig drehte ich mich um und befahl meinen PC in den Ruhezustand, ehe ich zwei starke, muskulöse Arme meinen zierlichen Oberkörper umarmen spürte. Er war warm und roch nach... ja, nach was? Einfach nach Sasuke. Einzigartig. Und wie alles andere an ihm war auch sein Geruch perfekt. Gegen meinen Willen schloss ich die Augen und lehnte genüsslich seufzend meinen Kopf zurück an seine entblößte Brust.
»Leg dich hin~« Ich wollte meine Augen eigentlich nicht öffnen, wollte den Moment und seine Anwesenheit genießen, doch der ungewohnte Unterton in seiner Stimme ließ meine Lider erstaunt wieder aufschwingen. Und tatsächlich, sein Blick wirkte passend zu der Abnormität seiner Stimme … sehnsüchtig? Er betrachtete mich, als wäre ich vor wenigen Momenten von einer langen Reise zurück gekehrt. So kannte ich ihn nicht und es wäre gelogen, würde ich sagen, dieses sonderbare Verhalten würde einen Teil der Lasten auf meinen Schultern wegnehmen. Ganz im Gegenteil. Ich zwang mich dazu, mich auf das ebenmäßige Heben und Senken seiner Brust zu fokussieren und fand darin ein wenig Linderung.
Ich machte nicht im Mindesten einen Versuch zur Gegenwehr als er mich sanft, so unendlich sanft, hochhob als wäre ich nicht viel schwerer als eine Feder und mich zu unserem gemeinsamen Bett trug. Automatisch, als wäre es ein angeborener Reflex, schlangen sich meine Arme um seinen Hals, mein Gesicht fand seinen Weg in seine Halsbeuge, wo ich seinen betäubend betörenden Geruch buchstäblich inhalierte. Sasuke hatte einmal zu mir gesagt, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit nach Kirschblüten roch und dass er dies liebte, doch ich bezweifelte, dass der Gute auch nur im Ansatz ahnte, was er für eine Wirkung auf mich hatte. Er war wie ein wandelndes Aphrodisiakum.
Ich spürte die von ihm erhitzte Bettdecke unter mir, seine Haare kitzelten mich im Gesicht. Ich liebte diesen Menschen so sehr, umso weniger begriff ich, wieso ich tat, was ich getan habe. Meine Augenlider flatterten hilflos, als er mir einen atemlosen Kuss auf die Lippen haucht, mein Herz jagte Blut und Endorphine schneller als üblich durch die Adern.
»Ich liebe dich«, hauchte ich zwischen zwei Küssen und flehte innerlich, dass er die Trauer, welche in meiner Stimme mitschwang, überhörte. Mein Geist spaltete sich, wie jedes Mal in den letzten zwei Wochen, in zwei Teile ab.
»Ich weiß«, flüsterte er und fuhr mit seinen Lippen unsichtbare Linien in meiner Halsbeuge entlang, begleitet von einer unnatürlich ausgeprägten Gänsehaut, »Ich dich auch.« Ein Schauer nach dem anderen fegte über meinen Körper hinweg, wie jedes Mal, wenn er diese drei Worte aussprach.
Seine Lippen fanden erneut die meinen, fast ein wenig ungeduldig.
Ich war mit den Gedanken an zwei Orten gleichzeitig, auch wenn das Hier und Jetzt dominierte.
Seine Augen schauten für einige flüchtige Sekunden lang in meine, doch ich hatte das Gefühl, es seien nicht seine.
Ein weiterer Stich in meinem Herzen. Ich bin verdorben. Schlecht. Unwürdig.
e g o z e n t r i s c h
Nichts von mir verdiente diesen atemberaubenden Mann.
Warme Hände entzündeten meine Haut bei jeder Berührung, mein Atem ging von Sekunde zu Sekunde schneller, stoßartiger. Ein weiterer Kuss. Es waren Sasukes Lippen, doch sie schmeckten nicht nach ihm.