Die letzten Menschen
In meiner Ecke sitzend, starre ich John an. Er kauert am entferntesten Ende des kleinen Kellerraums, immer noch so nah, dass ich den kalten Schweiß riechen kann.
Zwischen uns steht eine Dose, die letzte, die einzige, die wir in diesen Raum retten konnten, das Etikett ist schon lange abgefallen. Aber eigentlich ist der Inhalt auch unerheblich. Wir beide wissen, dass die letzte Konserve auch unser Ende symbolisiert.
„Matt ...“ Johns Stimme ist heiser. „Weißt du noch, als wir hierher kamen?“
Mein Name ist nicht Matt. Ich habe John vor dem Untergang nie gesehen. Ich antworte nicht.
„Ich hab dir damals gesagt, dass wir beide die anderen überleben werden.“
Im selben Moment fällt etwas über uns um. Ein lautes Kreischen erklingt als Antwort darauf. Wir hören hastige, ungelenke Schritte. Etwas ist noch im Haus.
„Weißt du noch, was wir uns versprochen haben, Matt?“
John sieht nicht mich an. Sein Blick geht direkt an meinem Gesicht vorbei, an die Wand hinter mir. Nackter Stein, rau, sich anzulehnen schmerzte früher, vor 24 Stunden, jetzt nicht mehr.
„Sobald die anderen tot sind, würden wir gehen, um einen neuen Ort zu suchen.“ Es stört John nicht, dass ich nicht antworte. Er redet nicht mit mir. „Wir dachten, wir kämen weiter an diesen Kreischern vorbei.“
Der Name passt. Diese Wesen stoßen nur solche Laute aus. Sie kommunizieren nicht. Sie kreischen. Selbst wenn sie enttäuscht sind, so wie im Moment jene im Haus, weil sie niemanden mehr finden.
„Ich habe dir gesagt, ich passe auf dich auf.“
Sie erschienen vor gerade einmal zwei Wochen. Ich weiß nicht, woher. Niemand weiß, was sie sind. Sie fressen nicht. Sie töten einfach, und das betrifft jeden Menschen, der ihnen begegnet. Als wären sie eine Strafe Gottes, so wie Abe es sagte.
Charly war da anderer Meinung. Redete immer von einer neuen Spezies an der Spitze der Nahrungskette, die unseren Lebensraum für sich beanspruchen will.
Ich weiß nicht, was davon stimmt. Aber die Kreischer fragen sich so etwas bestimmt nicht. Vielleicht sind sie deswegen so effektiv.
„Wir wollten nach Norden, weißt du noch? Weg von den Bauernhöfen.“
Mein Mann Marek und ich suchten Schutz auf einem Bauernhof. Haben angenommen, das dünn besiedelte ländliche Gebiet wäre sicherer, dass die Kreischer weiter nur die Städte kontrollierten und dort jeden Menschen zerfetzten. Wir dachten nicht daran, dass andere ebenfalls auf die Idee kämen. So füllte sich unser Versteck bald. Und die Kreischer wurden angelockt.
„Mein Cousin in Russland hat gesagt, im Schnee bewegen sie sich langsamer.“
John schlug schon einmal vor, in den Norden, nach Kanada zu gehen. Aber Mary war dagegen. Sie sagte, ihr Bruder sei in Kanada gewesen, der Schnee habe sie nicht aufgehalten, seine Nachbarn seien bereits alle tot. Abe flüsterte über das Jüngste Gericht. Die Kreischer müssen sehr zornige Engel sein.
„Und jetzt sind sie alle tot.“
Nach und nach brach der Kontakt zu allen anderen ab. Johns russischer Cousin, Marys kanadischer Bruder, die Nachbar-Farmen, niemand meldete sich mehr.
Dann wurde dieser Hof angegriffen.
„Matt auch.“ Meine eigene Stimme klingt mir fremd, ich flüstere. „Genau wie mein Marek.“
Sein Blut klebt noch immer an mir. Es ist trocken. Es stinkt. Es hat nichts mit meinem Mann gemein.
Nur John und ich konnten uns retten. Nur diese eine Dose war hier unten gewesen, fast vergessen. Das einzige, was uns abhalten kann, hier zu verhungern. Die Kreischer gehen mit Sicherheit nicht mehr weg. Nicht solange sie wissen, dass wir hier sind.
„Glaubst du, wir sind die letzten Menschen auf der Welt?“
„Ich weiß es nicht.“
Das Handynetz funktioniert seit drei Tagen nicht mehr. Der Strom endete schlagartig vorgestern Abend. Es gibt niemanden mehr, der sich darum kümmert. Niemanden, der die Normalität länger aufrecht erhält. Abe hatte recht: Das hier ist das Ende der Welt.
„Warum sollen wir dann überhaupt noch weiterleben?“
Ich überlege, ob John das als Aufgeben betrachtet. Ob er mir erlaubt, den Inhalt der Konserve allein zu essen. Länger zu leben.
„Welchen Sinn macht es dann noch?“ Er fährt sich mit der Hand über den Mund.
„Ich weiß es nicht.“
Es ergibt keinen Sinn. Wer will schon in einer Welt leben, die diesen zornigen Wesen gehört? Wo man sich keinen Laut erlauben darf, aus Furcht, dann zerfetzt zu werden?
„Aber weißt du, was das Traurige ist, Luca?“
Das ist mein Name. Seit Mareks Tod – vor gerade einmal 25 Stunden – hat ihn niemand mehr ausgesprochen. Ich lausche Johns schwerem Atem.
„Das Traurige ist, dass ich hier unten sterben werde. Ohne noch einmal den Himmel zu sehen.“
Ich will ihm sagen, dass das Unsinn ist, dass keiner von uns hier sterben wird. Aber da sehe ich den Schaum vor seinem Mund, weiß, was zuvor in seiner Hand gewesen ist, die jetzt zu Boden sinkt.
Es geht ganz schnell. Ein Zucken, ein tiefes Atmen. Dann Stille.
Ich starre John an. Der vorletzte Mensch. Tot.
Ich bin der letzte Mensch. Angelehnt an eine raue Mauer in einem Keller.
Aber ich denke nur an den Himmel. Ich werde sterben. Aber ich will ihn noch einmal sehen. Ich will nicht in einem fremden Keller sterben.
Ich gehe die Treppe hinauf, öffne die Tür. Das Haus ist verwüstet. Blut und Leichen säumen meinen Weg hinaus. Hinter mir höre ich ungelenke Schritte, aber ich bleibe nicht stehen, auch nicht als andere Kreischer sich nähern, meine Ohren klingeln lassen.
Etwas sticht durch meine Brust. Ich gerate ins Taumeln. Nur noch durch die Tür.
Das Sonnenlicht blendet mich. Etwas trifft mich an der Seite.
Ich falle ins Gras und drehe mich auf den Rücken. Der Himmel erscheint mir in diesem Moment blauer als jemals zuvor, er ist wunderschön, erfüllt mich mit Euphorie.
Als sich die entstellten Gesichter der Kreischer über mich beugen, ihre klingenbewehrten Hände immer wieder in meinen Körper graben, denke ich nur an den blauen Himmel und dessen Schönheit.
Der letzte Mensch stirbt. Unter dem freien Himmel.