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Höllenfeuer

von

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Kapitel 13

Kapitel 13
 

Das einzig Positive, das Ethos bei der Landung des Flugzeuges empfand, war das gute Wetter in Rom. Hier würde er dem penetranten Regen für eine ganze Weile entfliehen können, ehe das Wetter im Herbst schlechter wurde. Wie sehr er sich doch wünschte, dass dies momentan sein einziges Problem wäre.

Noch während der Fahrt zum Vatikan überlegte er intensiv, mit wem er über die Vorfälle reden könnte. Im Prinzip war niemandem mehr zu trauen. Zwar glaubte Ethos nicht daran, dass Prälat Nikolas etwas mit der Sache zu tun hatte, wenn er eine Wahl gehabt hätte, hätte er diesen trotzdem über seine Entdeckungen im Dunkeln gelassen. Zumindest so lange, bis er sich sicher gewesen wäre, dass Nikolas nicht tiefer in die Sache verstrickt wäre. Aber Ethos hatte nun einmal keine Wahl. Er musste Nikolas von allem erzählen.

Chino befand sich mittlerweile nicht mehr unter ihnen. Somit waren Artemis, Marylin und Ethos die einzigen, die dem Prälaten Bericht erstatten konnten.

Dieser war bereits über die Ankunft der Priester und ihrer neuen Schutzbefohlenen unterrichtet worden, weshalb Steve sie direkt in sein Büro führte. Anstatt, wie sonst, draußen zu warten, wohnte der junge Priester dem Gespräch diesmal bei.

„Irgendwie muss er doch dazu lernen und das kann er kaum, wenn er nur draußen steht“, sagte Nikolas milde lachend, als er Ethos‘ fragenden Blick auffing. „Willkommen zurück. Und Sie, Frau Moore, heiße ich herzlich bei uns im Vatikan willkommen.“

Schüchtern reichte Marylin dem Prälaten die Hand, nachdem er sich umständlich aus seinem Sitz geschält hatte. Auch Artemis und Ethos begrüßte Nikolas mit einer herzlichen Geste, dann setzte er sich wieder, was alle Anwesenden ihm gleichtaten.

„Ich hoffe Sie entschuldigen mich, aber meine Hüfte gibt seit gestern ständig nach. Also, was haben Sie in London in Erfahrung bringen können?“

„Bevor wir Ihnen erzählen, was wir herausgefunden haben, möchte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir mit Frau Moore über unsere Arbeit geredet haben. Sie weiß, dass Dämonen existieren und dass wir sie bekämpfen. Und sie glaubt uns.“

Sichtlich überrascht lehnte sich der Prälat nach vorne und wollte gerade wieder aufstehen, weshalb Steve an seine Seite geeilt kam, damit er Nikolas stützen konnte.

„Sie haben was? Pater Turino, Sie wissen, dass niemand wissen darf, was unsere Abteilung tut!“

„Natürlich weiß ich das. Aber Frau Moore hat die Zusammenkunft mit einem Dämon überlebt. Sie wusste, dass etwas an den Geschichten, die wir ihr aufgetischt haben, nicht stimmte. Wie wollen Sie jemanden manipulieren, der die Wahrheit bereits kennt?“

Es war Marylin deutlich unangenehm, als sämtliche Augenpaare, welche sich im Raum befanden, auf sie gerichtet wurden. Sie merkte, dass sie rot anlief, wodurch sie ihren Kopf zwischen ihren Schultern zu verstecken versuchte. Wieder fiel das Lachen des Prälaten gnädig aus, wodurch sich auch Marylin wieder ein klein wenig wohler zu fühlen begann. Vorsichtig ließ er sich zurück in seinen Sitz sinken.

„Damit haben Sie im Grunde genommen Recht. Wenigstens erspart uns das einiges an Mühen. Demnach kann Frau Moore uns das gesamte Gespräch über Gesellschaft leisten. Das hat mit Sicherheit auch seine Vorteile.“

„Nicht nur das“, meldete sich Artemis zu Wort und klopfte Marylin ermutigend auf die Schulter. „Marylin hat einiges dazu beitragen können, neue Erkenntnisse bezüglich unserer dämonischen Gegenspieler zu erzielen. Wäre sie nicht gewesen, würden wir uns vermutlich immer noch in London befinden und nach Hinweisen suchen.“

Anerkennend hob Nikolas eine Augenbraue. Dazu musterte er die Polizistin, als wäre der entscheidende Durchbruch durch ihre Hilfe das letzte, was er erwartet hätte. Es mochte angehen, dass der Prälat wie einer der moderneren Geistlichen wirkte, doch das hatte er vor allem seiner Stellung innerhalb der Hierarchie zu verdanken, weniger seinem Weltbild von Frauen. So liberal Prälat Nikolas in Bezug auf die Waffentechnik und die Freizeitaktivitäten seiner Untergebenen war, so abgeneigt war er wiederum Frauen, die in das Handwerk der Dämonenjagd eingriffen. Seiner Meinung nach hatten Frauen überhaupt nichts in diesem Metier zu suchen. Eine Meinung, welche er durchaus mit Ethos teilte. Der Unterschied war jedoch, dass Ethos zwischen der Arbeit, die Marylin bisher geleistet hatte und die der sich im Vatikan befindenden Ordensschwestern zu trennen wusste. Für Nikolas hingegen waren alle Frauen in der Hinsicht gleich. Lediglich Artemis war einer der großen Befürworter, auch Frauen auf den fordernden Missionen einzusetzen. Viele hielten ihm vor, dass er diese Idee aus eigenem Interesse verteidigte, doch das war keineswegs der Fall. Im Gegenteil, Artemis hatte bereits einige der Schwestern – allen voran Lydia - auf seinen Missionen kämpfen sehen und musste eingestehen, dass die meisten von ihnen den Männern in Nichts nachstanden. Der Versuch, das den alteingesessenen Priestern, Prälaten und Päpsten erklären zu wollen, war allerdings von vorne herein zum Scheitern verurteilt.

„Was Sie nicht sagen. Und wie hat Frau Moore Ihnen weiterhelfen können, Pater Dal Monte?“

„Sie hat aus dem Gedächtnis heraus ein Portrait des Mannes zeichnen können, welchen ich in Frankreich gesehen habe. Sein vollständiger Name ist Nathan Blackcage. Es ist sehr schade, dass Herr Estevez nicht anwesend ist, denn er hat ebenso einen großen Teil dazu beitragen können, dass wir in den Ermittlungen ein ganzes Stück vorangekommen sind.“

„Und Sie selbst? Was ist mit Ihnen geschehen?“

„Ach, die paar Wunden“, sagte Artemis mit einer lapidaren Handbewegung. „Sind nicht der Rede wert. Ich bin auf einen weiteren Dämon gestoßen, der versucht hatte, uns eine Falle zu stellen. Hat einen weiblichen Dämonen einen Exorzismus vortäuschen lassen.“

Während Artemis genervt mit den Augen rollte, verdüsterte sich die Miene des Prälaten zusehends. Bisher hatte Ethos sich weitestgehend heraus gehalten, doch als der Verantwortliche des letzten Einsatzes sah er sich nun gezwungen, Partei für Artemis zu ergreifen. Bei allem Respekt vor seinem Kollegen hatte Ethos schon oft beobachtet, dass Artemis nicht dafür geschaffen zu sein schien, aus solchen Gesprächen als Gewinner hervorzugehen.

„Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber ich kann das Vorgehen von Pater Artemis erklären“, schnitt Ethos Artemis das Wort ab, bevor der sich um Kopf und Kragen reden würde. „Zuerst einmal war ich nicht vor Ort. Ich musste zu der Spurensicherung und war nicht schnell genug zu erreichen, um eine Entscheidung treffen zu können. Dann war Herr Estevez die ganze Zeit über mit Pater Artemis unterwegs gewesen, demnach konnte ein ärztliches Gutachten garantiert werden. Herr Estevez hat selbst zum Exorzismus geraten. Frau Moore wurde zuvor in Sicherheit gebracht, so dass sie weder etwas von dem Exorzismus, noch von der Falle mitbekommen konnte. Wäre ich in Pater Artemis‘ Situation gewesen, hätte ich genauso gehandelt.“

Prälat Nikolas leckte sich kurz über die trockenen Lippen und betrachtete Ethos so eingehend, als habe er vor, ihn mit seinem Blick zu prüfen. Als er merkte, dass Ethos bei seiner Ausführung blieb, schüttelte er seufzend den Kopf.

„Sie wissen, dass das mit den Exorzismen so eine Sache ist…“

„Dessen sind wir uns bewusst. Aber wie Sie selbst ebenfalls wissen, duldet die Kirche bei einem Exorzismus keinen Aufschub.“

„Natürlich weiß ich das. Und es ist in diesem Fall anscheinend alles gut gegangen, von den Verletzungen, die Pater Dal Monte davon getragen hat, einmal abgesehen. Aber wenn der leitende Priester nicht vor Ort ist, hätten Sie trotzdem die Erlaubnis der Kirche einholen müssen.“

„Jetzt mal ehrlich, Hochwürdigster Prälat, ich habe…“, versuchte Artemis sich zu rechtfertigen, wurde aber sofort unterbrochen.

„Pater Dal Monte. Ich darf doch sehr bitten. Mäßigen Sie Ihren Ton. Besonders, wenn wir Besuch empfangen haben.“ Aufgrund des informellen Umgangs, den der Prälat mit seinen Angestellten führte, wenn er mit ihnen alleine war, vergaßen einige, wie streng er werden konnte, sobald sich Außenstehende im Vatikan einfanden oder hochrangige Geistliche in der Nähe waren. Dennoch kam es selten vor, dass Nikolas jemanden in einem so scharfen Ton maßregelte, denn auch er wollte vor Gästen nicht unhöflich oder gar reizbar erscheinen. Artemis war, was selten genug vorkam, vollkommen sprachlos. „Da die Situation keine großen Kreise gezogen hat und ich mir sicher bin, dass Sie alle Spuren beseitigt haben, werde ich über diesen Vorfall hinweg sehen. Noch einmal dulde ich Ihr Vorgehen diesbezüglich jedoch nicht. Es kam in der letzten Zeit zu häufig zu Zwischenfällen oder falsch durchgeführten Exorzismen, oft auch dadurch verschuldet, dass die Angehörigen erst eine Behandlung verlangten und danach behaupteten, wir seien für den Tod ihrer Liebsten verantwortlich. Ich erwähne das deshalb auch so ausdrücklich, um Sie zu schützen. Sollte es zu einer Anklage kommen, wissen Sie genauso gut wie ich, dass wir uns von den betroffenen Priestern verabschieden müssen.“

Artemis nickte nur verärgert und behielt seinen Prostest für sich. Wenn Nikolas sich besser dadurch fühlte, ihn zu belehren, sollte er das machen. Für Artemis war der Großteil der scheinheiligen Regeln und Regelungen des Vatikans schon immer ein Dorn im Auge gewesen, doch er hatte sich stets mit ihnen arrangieren können. Das würde bei den Exorzismen demnach früher oder später ebenso geschehen.

Marylin hingegen wollte sich erst wieder in die Unterhaltung einklinken, wenn sich die Gemüter etwas beruhigt haben würden. Sie schaute nervös zu Ethos hinüber, der glücklicherweise verstand, was die junge Frau von ihm verlangte.

„Da wir diesen Teil geklärt hätten“, versuchte Ethos das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. „Würde ich Ihnen gerne berichten, was wir herausgefunden haben.“

Mit einer ausschweifenden Handbewegung deutete Nikolas an, dass er Ethos‘ Vorschlag zur Kenntnis genommen hatte. Er erteilte dem Priester die alleinige Redeerlaubnis, damit er nicht wieder hunderte von einzelnen Fetzen zusammensetzen musste, um die Zusammenhänge des Erlebten zu verstehen. Für einige Minuten fühlte sich Marylin wie in das Mittelalter zurück versetzt. Strenge Hierarchien, Hinterwäldlerdenken und Befehlsketten hatte sie zwar bei der Polizei ebenso kennen gelernt, doch das hier wirkte sogar auf sie mehr als befremdlich. Vielleicht würde sich bald jemand dazu bereit erklären, ihr verständlich zu machen, wohin sie geraten war und worauf sie sich noch einzustellen hatte. In diesem Augenblick sehnte sie sich so stark nach London zurück, dass sie merkte, wie ihr Bauch zu schmerzen anfing und ihr einige Tränen in die Augen zu steigen drohten.
 

Obwohl er es vermied zu verreisen, musste Chino zugeben, dass es fast nichts Schöneres gab, als den Duft einzuatmen, der ihm entgegen strömte, wenn er nach längerer Abwesenheit zurück nach Hause kehrte. Besonders mochte es Chino, wenn sich im Flurbereich der Duft der Bücher mit dem der alten Teppiche vermischte. Zugegebenermaßen etwas muffig, aber vertraut und wie ein alter Bekannter.

Sofort stellte Chino seine Koffer lautstark auf dem Tresen ab, so dass die zusammen gekauerte Gestalt, welche sich hinter der Rezeption befand und einige Dokumente bearbeitete, erschrocken hochfuhr. Genau wie Chino trug sie einen Arztkittel, der ihr jedoch mindestens zwei Nummern zu groß war. Die kurzen schwarzen Haare standen zu allen Richtungen hin ab, grünbraune Augen tasteten hastig die Umgebung ab. Nervös schaute sich die junge Frau um. Als sie Chino entdeckte, hielt sie sich beruhigt die Hand vor die Brust, dazu atmete sie mehrere Male übertrieben kräftig ein.

„Herr Estevez, haben Sie mich erschreckt!“

„Stellen Sie sich vor, es wäre eine echte Bedrohung hier herein geplatzt. Wären Sie dann auch so unaufmerksam gewesen, Frau Mariposa?“

Schuldbewusst machte sich die kleine Frau daran, ihre Sachen zusammen zu räumen und den Tresen zu verlassen. Sie war erst seit kurzer Zeit die Assistentin von Chino und noch nie hatte sie ihren Boss so gereizt gesehen. Hauptsächlich hatte sie diesen Job angenommen, um ihre Ruhe zu haben. Menschen kamen offensichtlich nicht sonderlich häufig zu diesem Anwesen, um ihre Bekloppten abzugeben, somit musste sie sich auch weniger mit den Angehörigen der Eingelieferten beschäftigen. Felicitas Mariposa war überaus gut in ihrem Job, solange sie sich um die Kranken kümmern konnte. Sie hatte ihre Ausbildung gerade ein Jahr abgeschlossen, als Chino sie eingestellt hatte. Bald hatte er herausgefunden, dass Felicitas sehr isoliert lebte, wodurch es leichter war, sie zum Schweigen zu bringen, sollte sie aus Versehen mehr erfahren, als gut für sie war. Bisher hatte Chino sich nie darüber Gedanken machen müssen, wann dieser Tag einmal kommen könnte, doch nun hatte er Bedenken. Wohin er seine übrigen Patienten bringen würde, wusste er zudem auch nicht, trotz seiner bisherigen Erfahrung auf dem Gebiet der unvorhergesehenen Auflösung von Psychiatrien.

Es war nicht das erste Mal, dass er fliehen musste.

Als er noch in Spanien gelebt hatte, wurde er von einem wütenden Pöbel quer durch das Land gejagt, bis er irgendwann nach Deutschland geflohen war. Dort hatte er sich lange Zeit bedeckt halten können und wäre vermutlich immer noch dort, hätte er nicht Maria aufgenommen. Trotzdem bereute er es nicht. Die junge Frau hatte es ihm von Anfang an angetan, ihrer Schönheit und ihrem Bann entfliehen zu wollen war geradezu sinnlos gewesen.

Felicitas war inzwischen bestimmt an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurückgekehrt. Chino hatte vor, sich für seine schroffe Begrüßung bei ihr zu entschuldigen, allerdings erst, wenn er nach Maria gesehen haben würde. Vielleicht würde er ihr bei dieser Gelegenheit den Vorschlag machen, seine Irrenanstalt zu übernehmen. Eine Beförderung sozusagen aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen. So nahm er Felicitas zwar nicht unbedingt aus dem Fadenkreuz der Dämonen, aber immerhin ging es den Patienten weiterhin gut. Wobei die es vermutlich eh nicht bemerken würden, gerade von einem Haufen Dämonen angegriffen zu werden. Egal, darum konnte Chino sich später noch kümmern.

Unter einer der vielen Vasen befand sich ein Schlüssel, den Chino nun hervor holte. Er versteckte den Schlüssel jeden Tag unter einem anderen Gegenstand, willkürlich ausgewählt, ohne dabei einem bestimmten Muster zu folgen. Chino umschloss den kleinen Gegenstand mit beiden Händen und drückte ihn fest gegen seine Brust, dann setzte er sich in Bewegung und stieg die Treppen, die sich hinter der Rezeption befanden, hinauf. Im zweiten Stock angekommen, wurde sein Weg sogleich von einer großen Tür behindert. Langsam schloss Chino die Tür auf, trat hindurch und schloss sie sofort wieder. Den Schlüssel ließ er stecken. Noch immer fiel ihm der Gedanke, Maria einsperren zu müssen, unglaublich schwer. Allerdings war es zu ihrem Besten. Solange sie nicht mit ihm sprach, war die Schönheit nur schwer einzuschätzen.

Der große Dachboden war von Chino eingerichtet worden wie ein richtiges Zimmer. Die luxuriösesten Möbel aus dem besten und schönsten Holz, das er hatte finden können, schmückten den Raum mit den hölzernen Dachschrägen. Durch das große Fenster am Ende des Dachbodens fiel großzügiges Sonnenlicht herein und strahlte genau auf das große goldene Himmelbett, auf dessen roter Matratze eine junge Frau saß und ein Buch in den Händen hielt. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkt hatte, dass Chino das Zimmer betreten hatte.

Erst nachdem er sich kurz geräuspert hatte fuhr der Kopf der Frau nach oben und sie drehte sich erschrocken zur Seite. Als sie Chino erkannte, lächelte sie kurz, vertiefte sich aber sogleich erneut in ihr Buch. Chino überlegte kurz, ob er sich ihr nähern sollte, ließ es jedoch bleiben. Lieber beobachtete er sie etwas aus der Ferne, damit konnte er sich über Stunden beschäftigen.

Das dunkelbraune Haar fiel Maria locker über die geschmeidigen Schultern. Ihre aufmerksamen braunen Augen schienen das Buch geradezu zu verschlingen und manchmal formten ihre Lippen die Wörter, welche sie gerade las, stumm nach. Im Anbetracht ihrer Hemmung vor dem Sprechen war das für Chino jedes Mal ein besonderer Anblick. Schon oft hatte er sich gefragt, wie ihre Stimme wohl klingen würde. Hatte sie eine helle Frauenstimme oder glich sie eher einem tiefen Bass?

Im Grunde genommen war es auch egal, sobald Maria ihr erstes Wort zu ihm sprechen würde, würde Chino verzückt sein aufgrund des Klanges ihrer Stimme, das wusste er. Dass Maria jetzt seit so vielen Jahren nicht geredet hatte, war für Chino kein Hindernis, es weiterhin mit ihr zu versuchen.

Je länger er Maria ansah, desto mehr Ähnlichkeiten stellte er zwischen ihr und der Frau namens Hildegard Krüger fest. Sie hatten die gleiche Gesichtsform und auch ihre Mimik schien fast dieselbe zu sein. Maria war etwas kleiner und wirkte um einiges zerbrechlicher als ihre Schwester, doch gerade das war etwas, das Chino an ihr mochte. Bereits beim ersten Mal, als er sie gesehen hatte, hatte Maria einen Instinkt in Chino geweckt, den dieser vor langer Zeit verloren geglaubt hatte. Den Instinkt, jemanden beschützen zu wollen.

Für dieses Geschenk, das ihm das Gefühl gab, einen kleinen Teil an Menschlichkeit bewahrt zu haben, war Chino überaus dankbar. Seitdem er den Körper des Menschen, der früher einmal grausame Experimente an unschuldigen Menschen und wehrlosen Tieren durchgeführt hatte, übernommen hatte, sehnte er sich nach etwas, das ihm einen Sinn geben könnte. Die Suche nach einem Sinn im Leben war etwas, das selten bei Dämonen vorkam. Umso stärker wog das Gefühl von Stolz in ihm, sich von seinen Artgenossen abzuheben.

Damit Maria nicht weiter durch ihn gestört wurde, verließ Chino den Dachboden wieder. Er musste sich ohnehin daran machen, die wichtigsten Sachen zusammen zu suchen, damit er das Anwesen noch heute Abend mit Maria zusammen verlassen konnte.
 

Zerknirscht machte sich Artemis daran, das Büro des Prälaten Marcus Dominic aufzusuchen. Der fette Kerl ohne den geringsten Sinn von Humor war der letzte Mensch auf Erden, den Artemis gerade sehen wollte. Nicht nur, dass Nikolas ihn gerügt hatte, er sollte sich zudem krankschreiben lassen, bis er völlig genesen sein würde. Es war egal gewesen, wie stark Artemis beteuert hatte, dass er trotz seiner Verletzungen in der Lage sein würde, weitere Aufträge durchzuführen. Nikolas hatte darauf bestanden, dass sich der Priester die nächsten Tage deutlich schonte.

Mit einem Schreiben, in dem Nikolas nach einem Attest bat, stand Artemis vor dem Büro des verhassten Prälaten. Zögernd klopfte er an und trat wenig später hinein.

Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters, die braunen Haare klebten durch die darin befindliche Überdosis Pomade zusammen und behielten so ihre streng nach hinten gekämmte Form. Die Robe war mit der von Nikolas identisch, nur mit dem Unterschied, dass sie sich bei Dominic so sehr über dem Bauch spannte, dass sie bei jedem Atemzug zu platzen drohte. Die wurstähnlichen Finger huschten mit einer für sie beeindruckenden Schnelligkeit und Präzession über die auf dem Schreibtisch aufgebaute Schreibmaschine und erst nachdem Dominic die letzte Zeile zu Ende geschrieben und die Rolle zur Seite geschoben hatte, nahm er sich die Zeit um aufzusehen und seinen Besucher zu begrüßen.

Das zunächst aufgesetzte Lächeln erstarb jedoch sehr schnell, als Dominic Artemis erblickte und auch den Versuch, sich aus seinem Stuhl zu erheben, brach der Prälat vorzeitig ab.

„Pater Dal Monte, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte Dominic mit einem geringschätzigen Ton und zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Artemis nahm das Angebot, sich zu setzen, nicht an. Lieber blickte er von oben ebenso angewidert auf den fetten und verschwitzen Mann hinunter und stellte dabei fest, dass sein Körper bereits dabei war, den ohnehin breiten Stuhl zu verschlingen. Bald würde es keine Möbel mehr geben, die das Gewicht des Prälaten halten konnten.

„Ich bin von Monsignore Nikolas zu Ihnen geschickt worden, um mich krankschreiben zu lassen.“

„Sie wollen sich krankschreiben lassen? Die Mitarbeiter heutzutage…“

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese Tätigkeit kommentarlos durchführen könnten.“

Nuschelnd entriss Dominic Artemis das Stück Papier und las es sich flüchtig durch, dann holte er einen Stempel aus einer der vielen Schubladen, unterschrieb das Dokument und stempelte es ab. Dann reichte er es an Artemis zurück.

„Wie Sie wissen obliegt es meiner Erlaubnis, wann Sie wieder einsatzfähig sein werden“, erinnerte Marcus Dominic Artemis, welcher gerade dabei war, sich ohne ein Wort der Verabschiedung aus dem Büro zu entfernen. Er redete nicht gerne mit Marcus Dominic, die letzten Male, als er dies getan hatte, waren beunruhigend viele Schimpfwörter zwischen den beiden Geistlichen ausgetauscht worden. Sobald niemand in der Nähe war, konnten die beiden ihren Hass aufeinander freien Lauf lassen, doch inzwischen war es Abend geworden und Artemis hatte wenig Lust darauf, sich mit jemanden zu streiten.

Innerlich verfluchte Artemis das unnötige System, das entwickelt worden war, um die Priester gesund zu halten. Jeder aus der Geheimen Abteilung musste sich, sobald er ausfallen würde, erst ein entsprechendes Schreiben von Nikolas geben lassen, nur um mit diesem wiederum zu Dominic zu gehen, der ein Attest ausschrieb. Danach musste es in die Verwaltung gebracht werden, die wiederum die endgültige Anerkennung verlas. So sollte verhindert werden, dass bei jedem kleinem Kratzer ein Ausfall zustande kam oder aber einige Priester häufiger krankgeschrieben wurden, als andere. Nikolas beurteilte die unmittelbare Schwere der Krankheit, Dominic war dafür zuständig, diese neutral einzuschätzen und darauf zu achten, wer sich wann weshalb und in welchem Umfang von seiner Arbeit befreien ließ, die Verwaltung bestätigte dies. Besonders beeindruckend an diesem System war, wie der Vatikan es damit umgehen konnte, richtige Ärzte einzustellen.

Zu Dominics Ärgernis wies Artemis weder besonders schwerwiegende, noch lapidare Verletzungen auf, weshalb er keinen Grund besaß, Artemis sein Attest und die dazugehörigen Medikamente zu verwehren. Was er jedoch tun konnte, wenn ihm der Sinn danach stehen sollte, war, Artemis länger krank zu schreiben als nötig. Da davon allerdings niemand etwas haben würde, außer dass man ihm unangenehme Fragen stellte, was wiederum seine Kandidatur bei der nächsten Abstimmung zur Übernahme der Geheimen Abteilung nur behindern würde, war das keine der Optionen, die Dominic erwählte. Es würde aber sicherlich nicht schaden, Artemis etwas Angst einzujagen oder etwas zu geben, über das sich der Priester aufregen könnte. Leider ging Artemis an diesem Tag nicht auf seine Provokation ein, sondern verließ still das Büro des Prälaten.

Kopfschüttelnd besah Artemis das erhaltene Attest und stöhnte genervt. Zwei Wochen lang solle er sich Zeit nehmen, um zu regenerieren. Von dieser Erkenntnis in eine überaus schlechte Laune versetzt, schlenderte Artemis die Via del Governatorato entlang, als er plötzlich von einer aufgewühlt wirkenden Schar Schweizer Gardisten überholt wurde. Über die Köpfe der Gardisten brüllte Leutnant Roth einige Befehle hinweg, der Inhalt dieser Befehle wurde jedoch von dem lauten Klappern der Ausrüstung der jungen Männer übertönt.

Es war kein seltener Anblick, die Männer in ihrer vollen Rüstung und bewaffnet zu sehen, immerhin trugen sie diese auf vielen öffentlichen Veranstaltungen der Kirche und auch ein Training für den Ernstfall gehörte zu der Ausbildung der Gardisten. Was Artemis dazu veranlasste, den Ernst der gegenwärtigen Situation wahrzunehmen, war die allgemeine Anspannung, welche in der Luft zu hängen schien. Die Männer hatten nicht wie sonst gewirkt, irgendetwas hatte sie dazu veranlasst, in Panik zu geraten. Das konnte einfach kein gutes Zeichen sein, weshalb Artemis sein Attest zusammen faltete und in die Innenseite seiner Jacke gleiten ließ, damit er den Soldaten des Vatikans folgen konnte.

Er hatte die halbe Strecke zum Eingangstor zurückgelegt, als Artemis abrupt stehen blieb. Vor ihm, wenige Meter entfernt, saß eine schwarze Katze auf einer Mauer und schaute ihn neugierig an. Als Artemis sich ihr nähern wollte, sprangen aus dem Schatten weitere Katzen heraus. Einige gesellten sich zu der ersten Katze, die er gesehen hatte, die anderen liefen unbekümmert ihrer Wege, um an einem anderen Platz Rast zu machen. Fluchend wand sich Artemis von den Tieren ab und lief, so schnell er konnte, in Richtung Eingangstor.
 

Chino hatte die letzten Vorbereitungen zur Abreise abgeschlossen. Die beiden bis zum Rand vollgepackten Koffer standen bereits im Flur. Jeden Augenblick würde der Fahrer eines Taxis klingeln, um ihn und Maria abzuholen. Mit einem kurzen Blick nach draußen vergewisserte sich Chino, dass noch immer keine Gefahr drohte. Es war nahezu unmöglich, sein Anwesen zu betreten, ohne dass er etwas davon mitbekommen würde. Doch der Rasen der riesigen Anlage war nach wie vor perfekt und ohne einen einzigen abgetretenen Fleck, der Sandweg frisch geharkt und die Umgebung still wie ein Friedhof. Nicht einmal die Vögel hatten sich hierher verirrt, um ihre kunstvoll eingeübten Lieder in die Welt hinaus zu schmettern.

Chino wand sich wieder dem Inneren seines Anwesens zu und seufzte tief. Noch eine Flucht und er war sich mehr als sicher, dass es nicht die letzte sein würde. Der Dämon wartete noch einige Minuten, in denen er immer wieder auf das Ziffernblatt einer der großen Standuhren warf, die sich im Flur befanden. Er hatte Felicitas aufgetragen, aus dem Keller die dicken Wollmäntel zu holen, die er benötigen würde, sobald die Tage wieder kälter wurden, doch sie war noch immer nicht zurück. Genervt setzte Chino sich in Bewegung. Wenn seine Assistentin es nicht einmal hinbekam, zwei Mäntel aus dem Keller zu holen, sah er buchstäblich Schwarz für seine übrigen Patienten. Zumindest für den Winter. Vorsichtig stieg Chino die steile Kellertreppe hinab, die vom Flur aus hinter einem Wandteppich zum Vorschein kam.

„Frau Mariposa… Was dauert denn so lange?“, rief Chino in die Dunkelheit hinunter, wartete jedoch vergebens auf eine Antwort.

Kopfschüttelnd drückte er sich an einigen Statuen und anderen wertvollen Gegenständen vorbei, für die er oben im Wohnraum keinen Platz mehr gefunden hatte. Da der Keller ein groß angelegtes Gewölbe darstellte, welches über die Maße des eigentlichen Hauses hinaus ragte, musste Chino erst einige Korridore passieren, bevor er an der Kammer angelangt war, in der er einige der vielen Klamotten von sich und Maria aufbewahrte. Mit einer Taschenlampe leuchtete er die offenstehende Tür an, hinter der er einige kratzende Geräusche vernahm, als er eintreten wollte, flogen ihm bereits die ersten Stücke Stoff entgegen.

„Frau Mariposa!“, sagte Chino streng und leuchtete Felicitas direkt in das Gesicht. Sofort hob die Angesprochene ihre Arme vor die Augen, um sich vor dem grellen Licht zu schützen. „Warum machen Sie das Licht hier unten nicht an? Im Dunkeln ist es kein Wunder, wenn Sie die Sachen, nach denen Sie suchen sollen, nicht finden.“

„Ich wollte nicht…“

„Ersparen Sie mir Ihre Ausreden, bitte beeilen Sie sich. Ich habe Ihnen gesagt, wie eilig ich es habe und erwarte die Mäntel daher in wenigen Minuten oben. In der Zwischenzeit werde ich Maria holen gehen.“ Anstatt etwas darauf zu erwidern, machte sich Felicitas wieder daran, den vor ihr liegenden Kleiderberg zu durchwühlen. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“, fragte Chino skeptisch, als er bemerkte, dass Felicitas ihn gar nicht richtig zu hören schien. Wie in Lethargie sortierte sie die Klamotten von der einen auf die andere Seite, ohne zu realisieren, was sie da in den Händen hielt. Kopfschüttelnd ging Chino nach oben, er hatte keine Zeit, sich mit Nebensächlichkeiten zu beschäftigen. Vorsichtig öffnete er die Tür, um Maria nicht zu verschrecken, sie reagierte manchmal überaus sensibel auf plötzlich eintretende Veränderungen in ihrem Umfeld.

Maria saß auf dem Boden in der Mitte ihres Zimmers und spielte mit den Enden zweier bunter Seidenschals, welche Chino ihr einmal von einer Reise mitgebracht hatte. Sie wickelte die beiden Stoffe immer wieder ineinander, so dass neue Muster entstanden. Dabei schien ihr Gesicht eine kindliche Freude auszustrahlen. Chino tat es im Herzen weh, sie schon wieder an einen neuen Ort bringen und sie bei ihrem Spiel unterbrechen zu müssen, doch er wusste genauso gut, dass jede Sekunde zählte. Die junge Frau trug bereits eine Hose aus hellem Stoff, welche sich schmeichelhaft an ihre dünnen Beine schmiegte. Ein dünner Pullover schützte sie vor der nächtlichen Kälte, die bald einbrechen würde, ohne sie zu warm zu halten. Ihre Schuhe hatte sie ebenfalls angezogen und war somit bereit, abzureisen.

„Maria, wir müssen los“, sagte Chino und sah, dass Maria ihn verstanden hatte. Sie legte die Schals beiseite und erhob sich, kam in leicht wankendem Gang auf Chino zu. „Dort, wo wir hingehen werden, ist es noch viel schöner.“

Wäre Chino ehrlich gewesen, hätte er zugeben müssen, dass er nicht einmal selbst wusste, wo er mit Maria hingehen sollte. Die nächsten Wochen würden sie wahrscheinlich quer durch Europa reisen, bis der Dämon einen geeigneten Ort gefunden haben würde, um sich erneut niederzulassen. Wenigstens hatte Maria einen ihrer helleren Momente, denn sie ließ sich bereitwillig von Chino nach unten führen als spüre sie, dass die beiden gehen mussten. Zwar hatte Chino ihr einige Stunden zuvor alles erklärt, doch er wusste nie, ob das, was er sagte, auch bei Maria ankam.

Auf dem Flur ließ er Maria kurz alleine, damit er nach Felicitas schauen konnte. Da nach wie vor Geräusche aus dem Keller zu ihm herauf drangen, vermutete Chino, dass sie noch immer dort unten zugange war.

Chino hatte bereits den Mund geöffnet, um eine wütende Ermahnung nach unten zu brüllen, als er hinter sich einen schrillen Schrei vernahm, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sofort drehte er sich um und sah, wie Maria von einem Mann fest gehalten wurde, eine Hand presste er auf ihren Mund, die andere umschloss ihre Taille, als wolle er sie zerquetschen. Maria versuchte sich aus dem Griff zu befreien, es gelang ihr jedoch nicht.

„Du schon wieder“, knurrte Chino und seine Augenfarbe wandelte von braun in rot. „Lass‘ Maria sofort los!“

„Warum sollte ich so ein schönes Mädchen wieder gehen lassen wollen?“, fragte der Schwarzhaarige und grinste Chino überlegen an. „Ich habe mir die Mühe gemacht, sie zu finden. Und was man findet, darf man behalten.“

„Sie ist ein Mensch und gehört dir nicht. Maria ist kein Gegenstand, Blackcage.“

Als der Angesprochene dies hörte, lachte er laut auf. „Mensch, Gegenstand, wo ist da der Unterschied? Du weißt das doch selbst genau so gut wie ich, Chino. Immerhin bist du ebenfalls ein Dämon. Menschen sind nichts weiter, als Hüllen. Hüllen, die zu schwach sind, ihren eigenen Körper zu verteidigen. Einige sind hübscher als andere, aber letztendlich halt nur Hüllen.“

„Wage es ja nicht, so abfällig über sie zu reden!“

„Sonst was?“, fragte Blackcage amüsiert und entfernte die Hand von Marias Mund.

Maria fing sofort an nach Luft zu schnappen. Ihre Atemzüge verwandelten sich in ein hyperventilierendes Keuchen, gemischt mit dem Schluchzen, das die Tränen verursachten, die ihre zarten Wangen herunter rollten.

„Hilf… hilf mir, Chino“, wimmerte das Mädchen verzweifelt und starrte Chino aus großen angstverzerrten Augen an.

Dieser blieb wie versteinert stehen und kämpfte damit, nicht die Beherrschung zu verlieren. Maria redete. Sie redete mit ihm. Und die ersten Worte, die sie an ihn richtete, wollte er nicht hören. Chino hatte sich so sehr darauf gefreut, Zeuge ihrer ersten Worte zu sein. Und nun musste er erleben, dass diese Worte, die er sich so lange herbeigesehnt hatte, ihn mehr quälten als alles andere, das er in seinem langen Leben bereits erlebt hatte. Er wünschte sich, dass er sie nie hätte sprechen hören.

Blackcage schnippte mit dem Finger und wenig später vernahm Chino ein Fauchen hinter sich. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter ihm die Treppe nach oben kroch.

„Was hast du mit Felicitas gemacht?“

„Ich denke, dass ich ihr zu einem besseren Leben verholfen habe“, meinte Blackcage anteilnahmslos und drückte seine Hand wieder auf Marias Mund. „Anstatt als Sklave eines… Vampires zu arbeiten, sollte sie lieber das freie Leben als Dämon genießen.“

Inzwischen war Felicitas so weit gekommen, dass sie zwischen den Wandteppichen im Türrahmen stand. Sofort ließ Chino seinen Arm nach hinten schnellen. Ohne sich dabei umzusehen, packte er den Kopf seiner ehemaligen Assistentin, dann fuhr er herum, schleuderte ihn gegen einen der massiven Balken des Türrahmens und schaute dabei zu, wie der leblose, von Blut getränkte Körper mit einem lauten Ächzen die Treppen herunter rollte. Für einen kurzen Augenblick verharrte Chino in seiner Stellung und blickte auf die vor Blut triefende Hand an. Dann drehte er seinen Kopf langsam zur Seite. Seine Augen waren von dem gleichen Rot wie das Blut, das er vergossen hatte.

„Wie hast du mich genannt?“ Die Stimme des Dämons war nicht mehr als ein leises Raunen.

Grinsend schob Blackcage Maria weg und stieß sie von sich. Die junge Frau stolperte rückwärts und stieß mit den Beinen gegen einen der Koffer, woraufhin sie zu fallen drohte. Doch noch bevor sie den Boden berührte, tauchte eine Gestalt hinter ihr auf und bremste ihren Sturz. Überrascht schaute Maria nach oben und sah einen Mann mit asiatisch wirkenden Gesichtszügen. Schnell hievte er sie auf seine Höhe und umklammerte sie mit einem ähnlich festen Griff, wie Blackcage wenige Sekunden zuvor. Plötzlich bildete sich erneuter Rauch und der Asiate, der in einen braunen Ledermantel gehüllt war, war mit Maria zusammen verschwunden.

„Das ist ein Moment, auf den ich ewig gewartet habe“, fauchte Chino und stürmte auf Blackcage zu.

„Die Freude ist ganz meinerseits.“ Auch Blackcages Augenfarbe hatte sich in ein tiefes Rot verwandelt.

Anstatt den Angriff von Chino abzufangen, ließ Blackcage seinen Gegner mit voller Wucht in ihn hinein rennen. Da er sich mit dem Rücken zur Tür positioniert hatte, schleuderte der Angriff die beiden Dämonen durch das krachend nachgebende Holz nach draußen. Die beiden rollten über den Sand und kamen auf einer Grasnarbe zum Stehen. Sofort sprangen die Kontrahenten auf und schätzen sich gegenseitig ab.

„Möglicherweise habe ich dich etwas unterschätzt“, gab Blackcage anerkennend zu und ließ einen Feuerball in seiner linken Handfläche entstehen. Chino antwortete nichts darauf, sondern fixierte Blackcage weiterhin mit seinem hasserfüllten Blick. Diesmal schwor er sich dafür sorgen, dass der Dämon untergehen würde.
 

Keuchend kam Artemis am verschlossenen Eingangstor an und sah, dass sich die Gardisten bereits in einer Reihe aufgestellt hatten, die Hellebarden auf Hüfthöhe nach vorn gerichtet. Ethos sah er nicht weit entfernt stehen, auch die Ordensschwestern und Prälat Nikolas und ein paar andere Priester waren anwesend. Eigentlich hätte Nikolas nicht da sein dürfen, sondern sich mit den anderen hohen Würdenträgern im Inneren des Vatikans schützen lassen müssen, doch das war jetzt nebensächlich.

Artemis merkte, dass ihm etwas schwindelig wurde. Vermutlich durch die Wunde, doch auch daran war gegenwärtig nichts zu ändern. Um besser sehen zu können, postierte er sich neben Ethos.

Dieser schaute überrascht zur Seite, als er seinen Kollegen im Augenwinkel erblickte.

„Verdammt, was hast du hier zu suchen, Artemis? Du bist verwundet.“

„Komm wieder runter. So schlimm ist es nicht. Außerdem kann ich dich kaum alleine lassen, wenn wir angegriffen werden.“

Ethos erwiderte nichts weiter auf Artemis‘ Aussage. Er hatte Recht, wenn es zu einem Angriff kam, war es nicht verkehrt, jeden Priester, der mit Dämonen umgehen konnte, dabei zu haben. Unweigerlich zuckte Artemis zusammen. Unter seiner Augenklappe kam es zu den altbekannten Schmerzen. Als er den Blick wieder hob, traute er seinen Augen nicht.

Im Licht der Dämmerung standen zwei Dämonen und ein riesiger weißer Löwe. Einer der beiden Dämonen war derjenige, gegen den er in London gekämpft hatte. Wie es der Bastard geschafft hatte, zu überleben, wusste Artemis nicht, aber es musste sich demnach um einen weiteren sehr starken Dämonen handeln. Anscheinend hatte er McKenzey um einiges unterschätzt, trotz der Warnung durch sein Auge. Neben McKenzey stand eine Frau, deren Aussehen der Beschreibung ähnelte, die Chino ihnen von Hildegard Krüger gegeben hatte. Beide lächelten auffordernd in die Runde, als McKenzeys Blick an Artemis haften blieb, spuckte er auf den Boden.

„Mit dir habe ich noch eine Rechnung offen, Priester.“

„Keine Sorge, ich mit dir auch“, rief Artemis zurück, wodurch sich einige der Anwesenden in seine Richtung drehten. Sie hatten Artemis nicht kommen sehen und begangen den einzigen Fehler, den sie in ihrem Leben jemals machen würden.

McKenzey und Hildegard hatten die Situation sofort zu ihrem Vorteil genutzt. Als einige der Gardisten unaufmerksam geworden waren, bewegten sich die beiden Dämonen in übermenschlicher Geschwindigkeit auf diese zu. Einem wurde der Hals aufgeschnitten, der andere Gardist fiel röchelnd um, ohne äußere Anzeichen einer Einwirkung. Da die Gardisten den Angriff augenblicklich registriert hatten, schlossen sie sich zu einem Kreis zusammen. Während McKenzey und Hildegard im Inneren des Kreises festsaßen, saß der Löwe geduldig einige Meter entfernt und beobachtete alles.

Ethos griff in seine Hosentasche und umfasste den Rosenkranz, der sich in ihr befand. Er senkte kurz den Kopf und betete, während Artemis neben ihm seine Augenklappe abnahm. Die übrigen Priester, die noch anwesend waren, machten sich ebenfalls dazu bereit, gegen die Dämonen zu kämpfen. Zwischen all den kampfbereiten Männern wirkte Prälat Nikolas wie ein Fremdkörper, der völlige Ruhe ausstrahlte. Mit zornigen Augen schaute er auf die Dämonen in der Mitte der Gardisten.

„Angriff!“, brüllte der Prälat und löste die Hölle auf Erden aus.



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