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My Dear Brother 2

The Humans
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das ist ein BONUS Kapitel.

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Ansturm

Ängste in meinem Leben waren wie Sand am Meer: Unzählig mal zu finden. Und das Glück verbarrikadierte sich in Form von Muscheln in diesen Ängsten. Ein Strand des Leidens, während eines wunderbaren, roten Sonnenaufgangs. So stellte ich mir …

 

»Hiro? Hiro, wir sind da, oder?«, fragte diese dunkle Stimme neben mir und quetschte meine Hand. Ich blinzelte zur Seite und erkannte durch die quälenden Sonnenstrahlen einzelne weiße Haare. Sie strahlten so wunderschön. Seine blasse und weiche Haut glänzte Perlmuttfarben, während seine wunderbaren blau-violetten Augen meine suchten.

»Ja, wir sind da, Kiyoshi …«, murmelte ich müde, da ich während des Fluges eingenickt war.

Kiyoshi war so aufgeregt, das konnte ich ihm ansehen. Immer wieder wechselte er den Blick zwischen mir und der Welt außerhalb des Fensters. Als ich meine Augen endgültig aufschlug, beugte ich mich zu meinem geliebten Bruder und starrte ebenfalls aus dem Fenster. Der alte Flughafen. Nicht so schnieke wie der im Norden. Aber er hatte Persönlichkeit. Eine Menge Persönlichkeit, war jedenfalls meine Meinung.

Beim Gedanken gleich wieder die Heimat zu betreten, klopfte mein Herz wie wild. Kiyoshis sicher auch, wenn es noch in Takt gewesen wäre.

Wir näherten uns immer weiter der Gefahr. Mit jedem Schritt, den wir tätigten. Ob es innerhalb dieses überfüllten Flugzeuges war oder auf dem Weg zu den Koffern oder schließlich vom Kofferband zum Anreisepunkt hinter einer Glasscheibe. Dort stand sie. Meine Mutter. Unsere Mutter.

Kiyoshi würde sie das erste Mal sehen. Also kennen lernen, Geburt zählte nicht.

Und ich? Ich würde ihr auch das erste Mal gegenüber treten. Als mein neues Ich. Als Untoter. Als Vampir. Oder zumindest als irgendetwas dazwischen.

Ob sie es merken wird? Von Kiyoshi weiß sie es ja, aber wird sie es von mir erahnen? Immerhin sahen er und ich nunmehr immer identischer aus. Hellhäutig, strohblond, strahlend glänzende Augen mit diesem Anreiz der Unsterblichkeit und der Anmut. Das sagte mir allein schon ein kurzer Blick in den Spiegel einer Säule, wo ich mein Shirt richtete und letzte Pflaster unter dem Stoff verbarg.

Der Grund, wieso ich Kiyoshi mitnahm, lag nicht mal einen Tag zurück. Vincent verfolgte uns sicherlich noch immer und suchte die Endgültige Hinrichtung Kiyoshis.

Und wenn ich mit Kiyoshi auswandern müsste: solange uns Vincent nicht findet, sollte alles gut sein.

 

Als wir unsere Koffer vom Kofferband gezogen hatten, standen wir noch eine Weile ratlos vor einer Glasscheibe, hinter der sich ein geschlossener Schalter der Fluggesellschaft befand.

»Hiro?«, brach Kiyoshi die Stille mit einem zaghaften und zögerlichen Ton.

»Ja?«

»Wie … Wie soll ich ihr gegenübertreten?«

Etwas verwundert über die Frage, dachte ich kurz nach.

»Am besten so, wie du bist.«

»Oh nein, dann hasst sie mich ja schon nach zwei Minuten!«

»Kiyoshi, also …« Er übertrieb ja wohl ein bisschen.

»Ist doch so …«, murmelte er schließlich und sah sich im Spiegel an. »Sie hat doch eh Vorurteile gegen mich.«

»Die hat sie gegen jeden. Glaube mir, auch gegen mich.«

»Wie kann sie denn Vorurteile gegen dich haben, wenn ihr doch schon seit achtzehn Jahren zusammen wohnt?« Er sah mich durchdringend an. Ich liebte diesen Blick, auch wenn er mir jedes Mal einen ziemlich Schub Gänsehaut überlieferte.

»Na ja, wir leben zwar zusammen und die Wohnung ist richtig klein, trotzdem verbarrikadiere ich mich immer in mein Zimmer und sie ins Wohnzimmer. Wir reden eigentlich nur zu Essenszeiten. Und eigentlich da auch nicht immer.«

Da schmunzelte Kiyoshi.

»Ist ja dann doch nicht so anders, als bei uns zu Hause.«

»Hm …« Doch das war es. Trotzdem wir nicht viel miteinander sprachen, war doch der persönliche Bezug da. Den hatte ich zu Vater einfach nicht aufbauen können. Kiyoshi wahrscheinlich auch nicht – so wirkte es zumindest immer.

»Okay, sei einfach freundlich und nett«, sagte ich aufmunternd und richtete seinen Hemdkragen, »Sei wie du bist, Kiyoshi. Denn du bist wundervoll.« Wow, das war richtig schnulzig von mir. Aber als er mich unfassbar glücklich anlächelte und mich sanft umarmte, konnte ich sicher sein, etwas Gutes getan zu haben.

»Danke, Hiro.« Er löste sich von mir und legte seine Stirn an meine. Wir konnten uns direkt in die Augen sehen. Bei eineiigen Zwillingen ja auch keine Schwierigkeit.

»Wir packen das«, sagte ich schließlich und lächelte ihn an. Er erwiderte weiterhin mein Lächeln und nickte.

»Hiro …«, murmelte er und senkte seinen Blick. Ich verstand nicht ganz, was er vorhatte und sah ihn verwirrt an. Er nahm meine Hände in seine und kam mir ein Stück näher, legte seinen Kopf in die Schieflage. Setzte zum Kuss an.

Ich wich zurück.

»Nee, nee!«

Er sah mich erst überrascht, dann enttäuscht an. »Wieso nicht?«

»Wir sind hier in aller Öffentlichkeit.«

Vorsichtig ließ Kiyoshi seinen Blick schweifen. Einige Leute starrten schon verwirrt zu uns rüber, andere blinzelten nur von der Seite aus.

Mein Blick fiel wieder zu Kiyoshi, der langsam seine Augenbrauen zusammenschob und verkniffen durch die Halle sah. Ich konnte mir ein leises Seufzen nicht verkneifen und suchte erklärende Worte.

»Es ist schon schlimm genug, dass wir wegen unserer Aura so dumm angestarrt werden, da können wir nicht einfach so hier unsere Beziehung ausleben … Das ist nämlich auch hier verboten …«

Kiyoshi senkte seinen Kopf und ließ betroffen meine Hände los. Dann nickte er niedergeschlagen und schnappte sich seinen Koffer. Innerlich tat es weh, ihn so zu sehen, aber wir durften einfach nicht. Sowieso würde es sehr schwer werden in der kleinen Wohnung irgendetwas auf die Reihe zu bekommen.

»Hey …«, flüsterte ich ihm zu und küsste ihn auf die Stirn. »Besser so, als ganz getrennt, oder?«

»Ja …«, stieß er sanft aus seinen Lippen und lächelte traurig.

 

Als wir vor der Glastür standen, atmeten wir beide noch einmal tief durch. Nervös und fast schon zittrig betraten wir den großen Raum des Flughafens.

Dort stand sie.

Ihre blonden Haare lagen ihr sanft auf der Schulter, der rote Lippenstift passte ausnahmsweise mal zu ihrem roten Kostüm, dass sie gerne bei der Arbeit trug. Schwungvoll hatte sie sich ein weißes Tuch um ihren Hals gebunden. Die Augen mit viel Lidstrich angemalt und das Rouge würde auch bald aufgebraucht zu sein – bei der aufgetragenen Menge.

 

»Das ist Mom …«, murmelte ich lächelnd und seufzte kaum hörbar, während wir uns ihr näherten.

»Sie sieht … eigenartig aus …«, musste Kiyoshi zugeben und konnte seinen Blick wohl nicht von ihrem auffälligen Auftreten lassen. Ich spürte, wie Kiyoshi sich zurückfielen ließ und immer weiter hinter meinem Rücken verschwand.

Da entdeckte sie uns. Sie öffnete den Mund und lächelte erfreut. Doch als sie genauer hinsah und wir uns ihr näherte, versiegte ihr Lächeln immer mehr; bis nur noch ein entsetzter Blick übrig blieb. Ja, sie merkte es.

»Hey, Mom«, sagte ich sanft und stellte den Koffer neben ihr ab. Vorsichtig öffnete ich meine Arme, um sie zu umarmen. Zögerlich erwiderte sie die Umarmung. Ganz zärtlich legte sie ihre Arme auf meinen Rücken und klopfte sanft.

»Hallo, Schatz …«, kam erst nach einer kleinen Schweigesekunde. »Schön, dich wiederzusehen.«

Dann ließ sie mich schnell los.

»Geht’s dir gut?«, fragte ich vorsichtig, da sie besorgt wirkte. Sie nickte schnell. Natürlich ging es ihr nicht gut.

»Geht es dir denn gut?«

Der Unterton spielte die Musik der Wahrheit und meine Vermutung, dass sie es ahnte, bestätigte sich hiermit. Doch was blieb mir anderes übrig, als erst einmal zu lügen?

»Ja, mir geht’s super. Immerhin bin ich jetzt wieder hier.«

Nur ein kurzes, müdes Lächeln huschte auf Moms Mund, das schnell wieder in einer strengen Linie endete.

Dann fiel ihr Blick auf Kiyoshi, der halb hinter mir stand. Er sah verstohlen zu ihr rüber, sagte aber nichts.

»Kiyoshi, das ist Mom«, stellte ich sie ihm vor und ging einen Schritt zur Seite, sodass die beiden sich in die Augen blicken konnten. »Mom, das ist Kiyoshi.«

Um ein wirklich herzliches und freundliches Lächeln bemüht, kam Kiyoshi einen Schritt auf sie zu.

»Freut mich, dich endlich kennenzulernen, Mutter.« Er reichte ihr zögerlich seine dünne weiße Hand.

Sie regte sich nicht, stand nur da und sah ihn verängstigt an.

»Mom …«, ermahnte ich sie, »Er beißt nicht …« Jedenfalls nicht dich, fügte ich leicht schmunzelnd in meinem Kopf hinzu.

Wie aus der Trance erwacht, lachte sie peinlich berührt und ergriff zögerlich Kiyoshis Hand. Und dann spürte sie wohl dasselbe, was ich manchmal auch noch spürte. Dieses Gefühl der Gefahr und der gleichzeitigen Zuneigung; dieses seltsame Gefühl mit dem Schauer über dem Rücken, wo ich mir bis heute nicht sicher bin, ob ich es angenehm oder abstoßend finde.

Moms Blick haftete noch immer auf Kiyoshis blassem Gesicht und strahlte eine unglaubliche Angst aus.

»Freut mich natürlich auch, Kiyoshi«, sagte sie schließlich mit dünner Stimme und schüttelte seine Hand, ließ sie aber nach kurzer Zeit wieder los.

Fast unbemerkt, in einer flüssigen Handbewegung, strich sie die Handfläche, mit der sie ihn berührt hatte, an ihrem Rock ab.

Kiyoshi hingegen ließ die Hand einfach wieder zurückfallen und versteckte sie hinter seinem Rücken. Seine Unsicherheit stieg wohl von Minute zu Minute. Wie sollte man schon seiner völlig fremden Mutter entgegentreten, die einen schon bei der Geburt verstoßen hat? Mit Missmut und Unbehagen. Die ganze Situation war seltsam und schien aus dem Ruder zu laufen. Ich versuchte sie irgendwie zu retten.

»Na ja, können wir dann? Ich möchte Kiyoshi unbedingt noch etwas die Stadt zeigen«, log ich, empfand die Idee im nächsten Moment als doch nicht so schlecht.  Es war ja immerhin erst früher Nachmittag und mit einem Schirm ginge das schon mit der Sonne.

»Ja, natürlich … Ich stehe im Parkhaus. Hoffentlich bekommen wir die Koffer gut in das Auto«, murmelte meine Mutter und sah auf Kiyoshis Sturmgepäck und auf meinen halben Schrank. Mit noch einer Person, könnte es knapp werden.

»Klar, bestimmt. Sonst kommt Kiyoshi einfach auf meinen Schoß nach vorne«, witzelte ich und lächelte Kiyoshis an.

Dieser musste sofort grinsen und strahlte endlich eine weniger angespannte Aura aus, doch meine Mutter fand das weniger lustig.

»Wohl eher ein Koffer«, sagte sie schroff und ging voraus. Sofort musste ich schlucken. Das Thema stand auch noch an. Spätestens heute Abend wird sie mit uns reden wollen, das war klar. Sie predigte es mir ja schon am Telefon vor, dass die Sache noch nicht gegessen war.

Da poppten so viele Dinge in meinem Kopf auf. Wieso hat Vater ihr das unbedingt erzählen müssen? Klar, wenn die Söhne das Techtelmechtel anfangen, geht das schon beide Eltern was an, aber gemäß der Situation hätte es auch erst einmal gereicht, wenn nur Vater uns Moralpredigten gehalten hätte. Sowieso fragte ich mich, wie Vater es geschafft hatte, sie zu überreden, Kiyoshi kommen zu lassen? Dass es um sein Leben ging, hatte er vielleicht noch angebracht, aber den Rest der Story kannte sie ja gar nicht. War aber vielleicht auch vorerst besser so … Ein heikles Thema nach dem anderen.

Schweigsam gingen wir in Richtung Auto. Sie bezahlte das Ticket am nahe gelegenen Automaten; Kiyoshis und ich blieben weiter weg stehen.

Da zupfte Kiyoshi an meinem Hemd. Er sah mich verzweifelt an, mit der Frage im Gesicht stehen, ob er etwas falsch gemacht hat.

Ich schüttelte etwas leidvoll den Kopf, dass es definitiv an Mom und nicht an ihm lag. Leise atmete er aus und starrte wieder auf den Boden. Aufmunternd drückte ich kurz seine Hand, ließ sie jedoch sofort wieder los, als Mom Mit Bezahlen fertig war und wieder auf uns zukam. Langsam trotteten wir den Weg zum Auto und luden die schweren Koffer ein. Kiyoshis Koffer war nicht mal ansatzweise so schwer wie meiner gewesen. Wahrscheinlich hatte er nicht so viele Mädchenbücher, Kleinkinder CDs und anderen Kram mit.

Abermals entwich mir ein Seufzer, als ich den Kofferraum schloss. Ein Koffer musste auf der Rückbank stehen, Kiyoshi durfte sich aber nicht auf meinen Schoß setzen. Angeblich sei das zu Gefährlich für ihn gewesen. Doch selbstverständlich quetschte ich mich neben den Koffer und ließ Kiyoshi vorne sitzen.

Ich spürte während der ganzen Autofahrt, dass zwischen Kiyoshi und meiner Mutter eine gedrückte Stimmung herrschte. Hoffentlich, dachte ich, würde das nicht in den nächsten Tagen so bleiben, die er hier verbräche.

Trotz der anfänglich miesen Stimmung, freute ich mich wie ein König. Endlich war ich wieder daheim, in der vertrauten Umgebung, meinem zu Hause. Und als Kirsche auf der Torte, hatte ich sogar meinen Liebsten dabei. Kein unheimliches Geisterschloss um uns herum, keine seltsamen Leute, die uns jederzeit fressen könnten. Nur ich, in meiner normalen Umgebung, mit meiner Mutter zu Hause in der kleinen Wohnung und meinem Bruder Kiyoshi, den ich über alles auf der Welt liebte. Was könnte es besseres geben?

Doch so schnell die positiven Gedanken während der Fahrt kamen, so schnell gingen sie auch.

Was, wenn dieses Glück wieder nur ein paar Tage anhalten würde?

Für ihn würde ich sterben. Das würde er auch für mich. Beinahe wäre das passiert. Doch ich wollte nicht an vorgestern denken. An diesen grausamen Vorfall in der Schule mit Vincent. Hoffentlich käme er nie wieder. Er soll nie wieder meinen Bruder und mich trennen wollen. Nie wieder.

Wir näherten uns der Stadtmitte. Die Straßenbahnen fuhren wieder wie verrückt, viele Autos standen an den Ampeln oder suchten einen Parkplatz. Hupen, Sirenen, laute Motoren.

Als ich kurz nach vorne blickte, sah ich, wie Kiyoshi seinen Ärmel weiter über sein Handgelenk schob. Auch ich merkte, dass es ein wenig auf der Haut bitzelte. Zwar nicht schmerzvoll, trotzdem schob ich unbemerkt meine Hände in die Hosentaschen.

Mom blieb die ganze Fahrt über still, sah nur stur nach vorne und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Kiyoshi brach schlussendlich die drückende Stille. »Ist … das hier immer so unruhig in der Stadt? Mit den ganzen Autos?«

Ich lachte nervös, als Mom nichts dazu sagte, beugte mich zu ihm nach vorne und nickte. »Das ist was ganz anderes als bei euch auf dem Land, hm? Hier muss man aufpassen nicht von einer Straßenbahn angefahren zu werden.«

Sofort drehte Kiyoshi sich entsetzt um und sah scheu in meine Augen. »Und hier wohnst du?« Dieser Blick wollte schon fast sagen, dass es hier um einiges gefährlicher sei, als in einem Geisterschloss voller Vampire zu wohnen. Ich winkte nur lächelnd ab und ließ ihn weiter die Innenstadt bewundern.

Meine Mutter bog in die kleine Nebengasse ein, in der unsere Parkplätze für das Wohnhaus waren. Sie parkte schnell, aber schlampig ein und stieg aus dem Wagen aus, als würde sie flüchten wollen. Ich sah ihr vom Fenster aus hinterher, wie sie schnell den Kofferraum öffnete. Die Präsenz zweier Vampire in einem kleinen Auto ist wahrscheinlich für das Empfinden eines einzelnen Menschen zu viel. Ich bewunderte trotzdem, wie gut sie das gemeistert hatte, ohne einen Unfall zu bauen.

Kiyoshi und ich bemühten uns aber auch wirklich außerordentlich, nicht zu verängstigend zu wirken. Ich hatte da nicht so viel Hilfe um mich herum, als ich das erste Mal auf Vampire traf. Ganz alleine habe ich meinen Vater kennengelernt, ohne eine liebe Person, die neben mir herlief und mein Händchen hielt. Ganz alleine wohnte ich mit drei Vampiren in ihrem Schloss. Und ich bin nicht panisch aus der Villa gerannt (obwohl ich nicht abstreiten will, dass ich es gerne versucht hätte).

Nach einem kurzen nervösen Blickwechsel mit Kiyoshi, stiegen wir ebenfalls aus dem Auto. Während ich den Koffer von der Rückbank hievte, wollte meine Mutter ebenfalls stark sein und versuchte den anderen Koffer aus dem Kofferraum zu holen. Leider war das mein Koffer und dementsprechend schwerer. Natürlich bekam sie ihn nicht raus. Kiyoshi sah das und wollte helfen.

»Lass ruhig, ich mach das«, sagte er in seinem sanftesten Ton, den er hatte und legte seine kalten Hände sachte auf die meiner Mutter, um den Koffergriff zu nehmen. Schnell zog sie ihre Hand weg und erschrak förmlich vor seinem durchdringenden Blick. Mit einem nervösen Nicken deutete sie Kiyoshis an, dass er den Koffer aus dem Auto tragen darf.

Mit einem Ruck stand der Koffer neben dem Auto, so als ob er nur einige Kilos gewogen hätte. Sicherlich war Kiyoshi eine sehr zierliche Person, aber wenn es ums Kräftemessen ging, war er eigentlich immer der Stärkste. Doch das Verhalten meiner Mutter durchdrang mich wie ein Pfeil. Sie war komplett verstört, als ob Kiyoshi sie jeden Moment angreifen würde. Dabei hat sie ihn gebärt, er war ihr Sohn, genauso wie ich.

Sie sollte keinen Unterschied machen.

Vampir hin oder her.

 

Die Koffer waren aus dem Auto, Mom schloss das Vehikel ab und ging zur Tür. Als ob es nicht schon unspektakulär genug gewesen wäre, nahmen wir auch noch den Hintereingang.

»Das ist euer Eingang?«, fragte Kiyoshi berechtigt, während wir den schmalen Hausflur betraten, in dem es immer ein wenig nach Döner roch.

»Ja … Nicht so prunkvoll wie bei euch. Aber daran musst du dich jetzt leider gewöhnen.« Ich seufzte kurz und schleppte den Koffer hinter Mom her. Sie sagte nichts, klackerte mit schnellen Schritten auf ihren Schuhen durch den Flur bis zum Aufzug.

»Ihr könnt den Aufzug nehmen, ich gehe die Treppe«, sagte sie hastig und wartete noch, bis der Aufzug kam. Ich verdrehte die Augen. »Mom, der Aufzug ist groß genug …«

»Nein, nein. Mir fällt grad ein, dass ich sowieso noch eben zum Bäcker muss, wir beide brauchen ja morgen etwas zum Frühstücken.« Und schon war sie weg. Eine kurze Stille trat ein. Als ich die Eingangstür wieder einrasten hörte, seufzte ich sofort laut los.

»Mutter ist wirklich seltsam«, murmelte Kiyoshi enttäuscht und kam mir näher. Ich nickte wissend und hob beide Augenbrauen hoch.

»Aber noch lange nicht so seltsam wie Vater.« Unsere Blicke trafen sich, wir grinsten und nickten sofort zustimmend. Doch im Gegensatz zu Vater, wurde Mom fies, wenn sie Angst bekam. Wir beide brauchen ja morgen etwas zum Frühstücken, sagte sie. Das war gemein, wirklich gemein. Und nicht nötig zu erwähnen: unfair. Kiyoshi hatte sich dieses Leben nicht ausgesucht. Aber genau so stellte sie es dar.

Als der Aufzug ankam, öffnete sich quietschend die Tür. Kiyoshi stellte sich in ihn und nahm die zwei Koffer an, die ich ihm reichte.

»Was willst du ihr erzählen, wenn es ums Essen geht?«, fragte Kiyoshi vorsichtig, da das Thema ‚Brötchen holen’ noch in der Luft lag.

»Gute Frage … Wahrscheinlich werde ich ihr vorgaukeln, keinen Hunger zu haben. Und bei den anderen Essenszeiten werde ich einfach sagen, ich hätte schon gegessen.« Mit diesen Worten fühlte ich mich wie ein Magersüchtiger. Bloß nichts essen, Essenszeiten vermeiden, so wenig wie möglich. Und schon vermisste ich die eklig, leckere Aufbackpizza vom Discounter.

Mit einem großen Ausfallschritt stieg ich zu Kiyoshi und den Koffern in den Aufzug und drückte den Knopf in den 5. Stock. Die Türen fingen an sich zu schließen.

»Das wird sie dir nicht lange glaub-«, setzte Kiyoshi an, doch ich ließ ihn nicht ausreden. Ich presste meine Lippen auf seine und schlang meine Arme um seine Hüfte. Schnell spürte ich auch seine Hände in meinem Nacken, wie sie mich sanft streichelten. Unser flüchtiger Kuss wandelte sich schnell in einen leidenschaftlichen Zungenkuss, den ich so sehr genoss, dass ich gar nicht mehr darauf achtete, in welchem Stockwerk wir uns befanden. Erst als die Tür aufging und wir beide erschrocken auseinander fuhren, verstand ich, in was für eine unbedachte Situation wir uns begeben hatten. Es hätte nur eine Nachbarin in einem anderen Stockwerk dazu steigen müssen und alles wäre aufgeflogen. Doch wir hatten das Glück auf unserer Seite – es war unser Stockwerk und niemand war zu sehen.

Etwas beschämt über den leidenschaftlichen, spontanen Akt, schoben wir unsere Koffer auf den Gang.

»Kiyoshi … das … können wir ab jetzt wirklich nur noch dann machen, wenn wir ganz alleine sind, in einem Raum, den niemand ohne unsere Einwilligung betreten kann, ja?«

Er musste grinsen, nickte aber sofort und griff meine Hand. Das nächste Mal würde sicherlich nicht mit einem Kuss enden. So viel war klar. Und ich freute mich darauf.

Nicht dran denken

Bemüht, nicht zu viel Krach mit dem Koffer zu machen, rollte ich ihn zu unserem Hauseingang, welcher am Ende des Ganges lag, genau zur Straßenseite. Der Gang stank etwas nach abgestandener Farbe und die Wände blätterten sich schon an einigen Stellen ab. Ich beobachtete Kiyoshis missmutigen Blick.

»Nicht sehr schön hier, hm?«, murmelte ich, beschäftigt mit der Schlüsselsuche.

»Nicht so, ja…«, gab Kiyoshi ohne nachzudenken zu und sah sich unwohl um.

Ich zuckte mit den Schultern. »Drinnen sieht’s auch nicht besser aus. Ist eben das genaue Gegenteil von eurer Villa.«

Kiyoshi hob eine Augenbraue, als ich endlich die Haustür aufschloss. »Oh.«

Ich lachte. »Überzeug dich selbst.« Mit Schwung öffnete ich die Tür und ließ ihn eintreten. Natürlich war das Wohnzimmer nicht so groß, wie das Wohnzimmer bei Vater, aber für die Wohnung verhältnismäßig zu groß. Und wie immer akribisch aufgeräumt.

»So schlimm ist es doch gar nicht«, sagte er schließlich und betrachtete das sorgsam zusammengesteckte Ikebana meiner Mutter, welches auf dem Esstisch stand.

»Ja, das Wohnzimmer. Ich muss dich wohl noch über einige Dinge in dieser Wohnung aufklären. Eigentlich muss ich dich im Grunde über sehr viele Dinge aufklären, die sowohl die Hausordnung betrifft, als auch die Stadtordnung.«

»Oh je?«, stellte er seine Bedenken in eine Frage. Ich kicherte finster.

»Ja, oh je.« Dann schleppte ich die beiden Koffer in eine freie Ecke des Wohnzimmers. »Hier in der kleinen Wohnung herrscht meine Mutter. Sie ist die Herrin. Das heißt für uns: Wir dürfen nur dann ins Bad, wenn sie weiß, dass sie es grade nicht in Anspruch nehmen muss. Wir dürfen nur dann in die Küche, wenn sie nicht drin ist oder nichts aus ihr braucht. Und nur dann, wenn wir ihr versprechen, nicht irgendwelche Sachen aus dem Kühlschrank vor dem Essen zu nehmen …«

» … das wird wohl nicht passieren …«, murmelte Kiyoshi und schlängelte sich zwischen Wohnzimmertisch und knatschroter Couch zum Fenster.

Ich nickte zustimmend und zuckte mit den Schultern.. »Ja, das stimmt. Aber trotzdem: Wir müssen alles so hinterlassen, wie wir es aufgefunden haben. Jeglicher Bruch einer dieser Regeln führt unverzüglich zu Hausarrest oder Putzen. Meistens hast du beides am Hals.«

Er lachte kurz und drehte sich zu mir um.

…Wie schön dieses Lachen war.

»Ich glaube, sie ist viel strenger als Vater.«

»Hm, ja das könnte schon sein. Aber der Unterschied ist: Vater kann sich durchsetzen.« Da kicherten wir beide. Vorsichtig schlängelte ich mich zu ihm ans Fenster und umarmte ihn von hinten. Sachte legte ich mein Kinn auf seine Schulter. Gut, dass man bei seinem Zwilling nicht allzu weit runter oder hoch rutschen muss.

Wir schwiegen und sahen aus dem Fenster, während er zärtlich meine Hände, die auf seinem Bauch lagen, streichelte.

»Die Stadt ist hässlich, Hiro«, flüsterte er.

»Ich weiß.«

»Hier lebst du seit achtzehn Jahren?«

»Nein, erst seit sieben. Davor wohnten wir in einer anderen Stadt. Wir sind wegen meiner Schule umgezogen.«

»Wo gehst du denn zur Schule?«

»Meine Schule ist etwa zwanzig Minuten von hier entfernt und liegt etwas außerhalb, also eher am Stadtrand.«

»Ich nehme an, eine menschliche Schule.«

»Natürlich.«

»Privat?«

»Viel zu teuer.«

»Staatlich?«

»Yepp.«

»Die... klang nicht so gut, als du mal von erzählt hast. Oder bist du nur faul und sie ist doch gut?«

»Kein Vergleich zu deiner Schule, aber für meine Verhältnisse ist sie klasse.«

Er schwieg. Dann drehte er sich ein Stückchen zu mir um und sah mich verständnislos an.

»Willst du etwa dumm bleiben?«

»Kiyoshi …«, ermahnte ich ihn mit leichtem Druck um seinen Bauch.

»Sorry.«

Ich seufzte leise. Wieso musste er immer so arrogant sein, wenn es um Bildung oder Stammbaum ging? Ja, er war schlauer als ich und ja, er ist höher gestellt als ich, obwohl das bei Zwillingen eigentlich kaum möglich ist. Aber wen interessiert das?

Er drehte sich etwas weiter zu mir um und sah mich mit Hundeaugen an.

»Tut mir Leid, ich wollte nicht wieder so gemein sein.«

»Ist schon in Ordnung.« Ich lächelte ihn an. »Ich weiß ja, wie du das meinst.«

Mit einem zaghaften Lächeln drückte er mir seine blassen Lippen auf meine. So kalt und zart. Weich und trocken zugleich. Ich hielt seinen Körper in meinen Armen, während seine dünnen Finger meine Brust entlang fuhren. Ich vernahm eine feine Note vom Krankenhaus, welches er noch am Morgen besucht hatte, um die Fäden ziehen zu lassen.

Aber ich wollte nicht schon wieder an Vincent, Krankenhaus und Co denken,. Schnell vergrub ich den Vorfall in die hinterste Ecke meines Verstandes und widmete mich lieber wieder meinem Bruder. Ich drückte ihn etwas an mich, schob sachte meine Zunge in seinen Mund. Als meine rechte Hand durch sein weiches Haar fuhr, knöpfte er meinen ersten Knopf auf. Dann den Zweiten. Den Dritten. Bis mein Hemd geöffnet war und er seine kalten Arme um meinen nackten Oberkörper schlingen konnte. Ich löste mich von unserem Kuss und fuhr mit meiner Zunge an seinem Hals entlang. Mein Pony bewegte sich im Takt seines Atems. Schnell knöpfte ich auch sein Hemd auf, er strich mir durch mein Haar, drückte meinen Kopf an seinen Körper.

Verdammt noch mal, wir sind gerade erst angekommen und ich -

Ich konnte nicht mehr.

 

… Aber es ging einfach nicht.

Seufzend erhob ich mich wieder und sah lange in Kiyoshis Augen. Langsam begann ich sein Hemd wieder zuzuknöpfen, doch seine Hände stoppten mich.

»Nicht mal... ganz kurz?«, flehte er schon fast mit seiner zittrigen Stimme und verstärkte den Griff um meine Handgelenke.

»Kiyoshi... Du weißt, dass Mom jede Sekunde wiederkommen könnte. Was, wenn sie uns erwischt?«

Die Einsicht strich seine Mimik und ließ ihn enttäuscht zu Boden sehen. Abermals musste ich ihn zurückweisen.

Vorsichtig nahm ich seine Hand und führte sie an meine Brust; mit der anderen Hand strich ich über seine Wange.

»Heute Nacht«, flüsterte ich kaum hörbar und lächelte ihn an.

Und als hätte ich ihm gerade die schönste Nachricht der Welt gegeben, nickte er eifrig, sah auf und lächelte mich glücklich an. »Heute Nacht.«

 

Wieder versanken wir in einem leidenschaftlichen Kuss. Kiyoshis Spinnenfinger fuhren über meine Brust und übten leichten Druck aus, während ich seinen angeheizten Atem auf meiner Haut spürte.

Es dauerte natürlich auch nicht lange, da spürte ich es in meiner Hose enger werden. Und je unangenehmer dieses Gefühl wurde, desto mehr drückte ich ihn von mir.

»Schluss jetzt«, lachte ich, »sonst wird’s für mich gleich peinlich.«

Kiyoshis Blick fiel nach einigen Sekunden des Überlegens in meinen Schritt, wo er grinsend beide Augenbrauen hochzog. »Das ist doch nicht peinlich... Das ist... heiß....«, murmelte er vor sich hin und kniete sich vor mir auf den Boden.

»Nein, nein! Kiyoshi – Stopp!«

Doch ehe ich ihn von mir drücken wollte, spürte ich schon sein Gesicht und seinen Mund in meinem Schritt, wie er sanft rein biss.

»Nur ein... bisschen«, hörte ich ihn flüstern, als er meinen Gürtel aufmachte und den Reißverschluss runter zog.

»Ein bisschen? Kiyoshi, so was kann man doch nicht nur „ein bisschen“ machen!«

Mein Herz klopfte wie verrückt gegen meine Brust. So gerne ich einen Blow Job von meinem Bruder bekommen hätte, ging es einfach nicht! »Kiyoshi, hör auf! Wenn Mom gleich heimkommt und dich mit meinem Schwanz in deinem Mund erwischt, ist es vorbei!«

Kiyoshi ließ sich nicht von meiner Hysterie anstecken und zog langsam meine Boxershorts runter, um mit der anderen Hand -

 

Da ließ ich mich einfach auf die Knie fallen.

Kiyoshi erschrak etwas, zog sofort die Hände weg und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Während ich auf den Knien saß und mir langsam meine Hose wieder schloss, sah ich ihn rügend an.

»Das geht nicht... Hörst du? … Schon drei mal nicht im Wohnzimmer!«

Kiyoshis Blick wurde erst unergründlich, dann wütend.

Wütend?

Tatsächlich?

»Wieso weist du mich immer zurecht, wenn ich dir näher kommen will?«

»Du fragst noch wieso? Ich habe dir schon ein paar Mal erklärt, wieso.«

Abermals seufzend knöpfte ich mein Hemd zu und richtete den Kragen. »Hast du mir vorhin zugehört? Es geht einfach nicht... Hier können wir uns nicht in ein Zimmer zurückziehen, wo wir für uns alleine sind. In dieser Wohnung hier sind wir nie allein. Denn selbst, wenn Mom nicht da wäre, sind die Wände so dünn, dass wahrscheinlich die Leute unter, über und neben uns alles mitkriegen würden.«

Während ich Kiyoshi meine Sorgen und Bedenken zu verstehen gab, sah der nur kindlich.-trotzig zur Seite und presste die Lippen aufeinander, wie er es gerne tat, wenn Vater ihn rügte.

»Kiyoshi... ich will dich doch nicht abweisen...«

Doch anstatt mir eine Antwort zu geben, beugte er sich noch einmal vor und küsste mich auf die Lippen.

Es war nur ein schneller, fast unbedeutender Kuss. Wahrscheinlich wollte er mir höflich zu verstehen geben, dass ich einfach die Schnauze halten sollte.

 

Mit einem Mal stand Kiyoshi auf und ging zu seinem Koffer. Ich tat es ihm gleich, suchte jedoch noch nach dem Griff, da hörte ich Kiyoshis Schritte, welche mein Zimmer ansteuerten. Schlagartig drehte ich mich um.

»Äh …«, brachte ich unbemerkt raus. Er drehte sich um.

»Ist das nicht dein Zimmer?«, fragte er etwas verwundert.

»Ja, doch, aber ist unord- … Moment - Woher weißt du das?« Mit dem anderen Koffer folgte ich ihm, die Augenbrauen zusammen geschoben.

»Dein Geruch ist sehr stark aus diesem Zimmer. Deswegen dachte ich …«

»Mein Geruch? Stinke ich so?«, scherzte ich und roch kurz an meinem Ärmel. Er winkte leicht lächelnd ab.

»Nein, du duftest«, flüsterte er mir grinsend zu. Sofort drehte er sich wieder um und ging weiter. Er gewöhnte sich langsam an Nettigkeiten, schoss es mir durch den Kopf.

Ich öffnete die Tür und schob den Koffer vor mein Bett. Jetzt war das Zimmer endgültig zugestellt. Es war nämlich so klein, dass nur ein Schrank, ein Bett und ein Schreibtisch reinpassten. Kiyoshi blieb etwas erschrocken an der Tür stehen.

»Das ist wirklich dein Zimmer?«

Ich nickte voller Bedauern.

»Das ist ja eine bessere Abstellkammer!«, fügte er hinzu, immer noch sichtlich entsetzt in welchen Verhältnissen ich wohnte.

»Danke, ich weiß.«

»Und das Zimmer deiner Mutter?«

»Sieht genauso aus. Na ja... Vielleicht ein bisschen größer, aber nicht viel.«

Kiyoshis Blick sagte mir eindeutig, dass es ihm nicht gefiel und er wieder nach Hause wollte.

Aber für ein Flüchtlingslager, was es im Grunde für Kiyoshi war, empfand ich es mehr als in Angemessen.

Er stellte den Koffer neben der Tür ab und betrachtete meinen Schrank, mein Bett, meinen Schreibtisch. Mehr war da ja nicht zum betrachten. Dann fiel sein Blick auf das Bild von meinen Freunden, wo wir im Freizeitpark waren.

»Sind das deine Freunde?«, fragte er neugierig und nahm den Bilderrahmen in die Hand, nachdem er sich mühsam an den Koffern vorbei gequetscht hatte.

»Ja, ich gehe mit ihnen in eine Klasse. Es war ein Schulausflug.«

»Ihr habt noch Klassen?«

»Unsere Schule hält nicht viel von diesem Kurssystem.«

»Ach so …«

Er betrachtete das Bild ausgiebig und schwieg für einen Moment. »Die sind alle so wie du, oder?«

»Wie meinst du das?«, fragte ich verwundert. Immerhin würde ich Lampe nicht als ‚wie ich’ einstufen.

»Sie tragen alle diese Sachen, die du trägst. Sie lachen alle so wie du, so fröhlich. Sieh doch, ihr seht euch alle unglaublich ähnlich.« Dabei ging er mit seinem linken Zeigefinger unsere Gesichter entlang.

»Na ja …« Vielleicht war es einfach ein subjektives Denken, dass ich keinerlei Ähnlichkeiten feststellen konnte. Vielleicht zwischen Roku und Kyo. Die beiden kleideten sich gleich und hatten die gleichen Haare. Aber nur, weil sie sich so gern hatten.

Ob sie vielleicht doch schwul waren? Sie haben es immer bestritten, aber das würde ich ab jetzt auch tun – Bestreiten.

Wann man es wohl bei mir merken wird? Die Horrorvorstellung von meinem Ich war lediglich wie eine typische Schwuchtel rumzulaufen: in engen Schlangenlederhosen und halb offenen Oberteilen, die so eng sind, als wären sie in der Wäsche eingelaufen. Dazu würden dann noch das Getue und die hohe Stimme fehlen und ich wäre ‚perfekt’ schwul.

Schnell schüttelte ich den Kopf. Kiyoshi sah mich fragend an.

»Nee, da sieht sich keiner wirklich ähnlich. Vielleicht auf dem Foto, aber in Wirklichkeit sehen wir alle verschieden aus.« Ich nahm ihm den Bilderrahmen ab und stellte ihn wieder an seinen Platz. Hoffentlich würde er sie nie kennen lernen. Nur Jiro, mein bester Freund, wusste über meinen Bruder Bescheid. Der ganze Rest wandelte noch in Unwissenheit durch die Gegend. Das sollte auch so bleiben.

 

Man hörte die Tür klacken und leise Schritte, die in die Küche gingen und eine Papiertüte abstellten. Wir beide spähten durch meine Zimmertür in die Küche.

»Mom? Bist du wieder da?«, rief ich leicht verwirrt, da sie nichts dergleichen wie ‚Ich bin wieder da’ oder ‚Versteck die Drogen, Hiro, deine Mutter kommt’ geschrien hatte. Vorsichtig tappste ich zu ihr in die Küche, Kiyoshi schlich leise hinter mir her.

»Mom?«, wiederholte ich vorsichtig und sah in die Küche, wo sie schweigend die Brötchen in Plastiktüten einwickelte, um sie einzufrieren. »Ist alles in Ordnung?«

Wie aus der Trance erwacht, zuckte sie kurz zusammen und drehte sich zu mir um. In ihrem Gesicht sah ich die Verzweiflung. Verwirrung, Entsetzten, Verstörtheit, Fassungslosigkeit.

»Mom, ist was passiert? Du bist kreidebleich ...« Besorgt wie ich war, näherte ich mich ihr, doch sie wich einen Schritt zurück.

»Ja … Ja, es ist alles in Ordnung. Du …«, damit drehte sie sich wieder um und packte die Brötchen ein, »wolltest Kiyoshi doch die Stadt zeigen. Mach das doch jetzt, dann können wir heute Abend pünktlich essen.«

Enttäuscht ließ ich meine Hand zurückfallen, die eigentlich nach ihr greifen wollte. Sie wies mich ab. Sie mied jeglichen Augenkontakt mit mir. Es beschäftigte sie etwas. Und es hatte mit mir zu tun.

Sofort fing mein Herz an zu klopfen. Immer schneller hämmerte es gegen meine Brust. Hat sie etwa …?

»Mom, wo warst du so lange? Du warst wirklich lange weg und …«

»Geh jetzt«, sagte sie schroff und bestimmend. Ich drehte mich abrupt um und stürmte aus der Küche, Kiyoshi folgte mir schweigend. Schnell schlüpfte ich erneut in meine Schuhe, die noch vor dem Sofa standen, schnappte mir einen Regenschirm und zog meinen Bruder aus der Tür. Mit einem lauten Knall ließ ich die Tür zufallen.

»Hiro! Was ist denn los? Warte doch mal!«, rief mir Kiyoshi hinterher und stolperte schon fast in den Aufzug. Als die Türen sich endlich geschlossen hatten, sprudelte es aus mir heraus.

»Mom hat uns gehört. Sie kam nicht so spät nach Hause, sie war schon viel früher da. Wahrscheinlich hat sie die Tür so leise geöffnet, weil sie uns schon hat stöhnen hören! Sie hat uns gesehen, wie wir rumgeknutscht haben und du mir einen blasen wolltest, Kiyoshi, hast du nicht ihren Blick gesehen? So verstört und verwirrt, als hätte sie einen Geist gesehen! Sie weiß es, sie weiß von unserer Beziehung, sie ahnte es schon, ich hatte sie angelogen, doch jetzt ist doch alles bestätigt. Was, wenn sie Vater anruft? Was, wenn er davon erfährt und er dich wieder zu sich holt? Dann musst du mich verlassen und wir sind alleine, vielleicht dürfen wir uns gar nicht mehr sehen! Was sollen wir denn dann machen?«

Er sah mich verzweifelt an, hob seine Hände, wusste aber anscheinend nicht ganz, wie er mich beruhigen sollte.

»A-Aber Hiro, bitte weine doch nicht!« Zaghaft strich er mir über die Wange. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass mir bereits die Tränen wie Niagarafälle runterrasselten.

»Oh … Ich …«

Sofort nahm Kiyoshi mich in den Arm. Wir drückten uns feste, sanft strich er über meinen Rücken und meinen Nacken.

Sie hatte alles gesehen. Dessen war ich mir sicher. Heute Abend würde sie mit uns darüber reden wollen. Sie würde Vater alles erzählen. Gott, wenn du uns noch ein wenig magst, trotzdem wir so etwas Verbotenes tun, dann hilf uns doch mal, bitte!

 

Wir verließen das Haus, diesmal durch die vordere Tür und standen direkt an der Hauptverkehrsstraße.

»Und? Wo willst du hin?«, fragte ich ihn schnell, um auf andere Gedanken zu kommen; das Handgelenk schnell über meine Augen streichend. Vorsichtig spürte ich seine dünnen Finger um meine Hand.

»Was gibt es denn hier so?«

Erst zuckte ich mit den Schultern und sah mich sichtlich gestresst um. Vorsichtig ging ich einige Meter die Straße entlang, Kiyoshis an meiner Hand.

»Puh … Einiges. Also eine Innenstadt und-« Ich drehte mich, zu ihm um und starrte für einen Moment fassungslos in seine Augen. Sie leuchteten so wunderschön in der Sonne. Seine fast weißen Haare glänzten wie Silber. Wieso hatte ich das Gefühl, ihn zum ersten Mal so zu sehen?

Dann spürte ich einen leichten Schmerz an meinem Arm. Schnell zog ich ihn zu mir. Leicht verbrannt …

»Oh, die Sonne …!«, bemerkte ich endlich, selbsterklärend wieso mir alles so anders vorkam. Ich blickte nervös zu Kiyoshi.

»Ja, sie ist wirklich hell hier. Aber es geht noch.«

»Wie kannst du einfach so in der Sonne stehen? Ich verbrenne ja schon!« Schnell zog ich ihn zu mir auf die Schattenseite und legte einen Arm um seine Taille.

»Ich hab mich vor unserer Abreise noch mal dick mit starker Sonnencreme eingecremt.«

» … das hilft?« Auf so etwas Banales komme ich natürlich nicht. Er zuckte mit den Schultern.

»Für eine gewisse Zeit, aber du hast ja an einen Schirm gedacht.« 

Ich nickte und spannte ihn ohne weitere Worte zu verlieren auf. Kiyoshi ergriff erneut meine Hand. Ich löste mich jedoch von ihm und nahm den Schirm, um ihn zwischen uns zu halten. Er sah abermals enttäuscht aus.

»Kiyoshi, du weißt, dass das nicht geht …«, murmelte ich. Ich würde ja auch lieber mit ihm Händchen haltend durch die Straßen laufen, am liebsten ein Eis essen gehen und danach mit ihm ins Freibad, um ins kalte Wasser zu springen. Jetzt würde ich mich auch gerne bräunen. Wieso will man immer das, was man nicht haben kann? Verdammt noch mal...

Er nickte traurig, nuschelte gen Boden. »Ich weiß. Wir sind Zwillinge, das sieht jeder …«

Wir beide seufzten. Man hat’s nicht leicht …

Seufzend bot ich ihm meinen Arm an, sodass er sich einhaken konnte. Das sah wenigsten noch normal aus. Ich zog ihn geschützt unter den Regenschirm mit mir über die Straße zur Straßenbahn. »Wir fahren jetzt einfach mal in den Stadtkern, wo Geschäfte sind und so. Ich denke mal, Museen und so was willst du nicht unbedingt sehen.«

Er schwieg. Presste die Lippen aufeinander. Als ich ihn fragend ansah, weil keine Antwort kam, räusperte er sich verlegen.

»Würdest du mich auch noch lieben, wenn ich gerne in Museen gehe?«, fragte er mich kleinlaut und versuchte jeglichen Augenkontakt zu vermeiden. Erst sah ich ihn schweigend an, dann grinste ich.

»Na, ich weiß nicht …«

Sofort schwenkte er seinen Kopf zu mir und holte tief Luft, um zum Satz anzusetzen, beruhigte sich aber schlagartig, als er mein Grinsen sah.

»Ich dachte schon, du meinst das ernst …«

»Als ob! Wir können auch mal in ein Museum gehen, wenn du willst«, bot ich ihm an, wenn er denn schon so einen Spaß an so etwas Langweiligen hat.

»Nein, lass nur. Ich will dich nicht quälen«, gab er lächelnd zu, und kraulte versöhnend meinen Arm.

Ich lachte etwas verkrampft, bemüht es nicht öffensichtlich zu zeigen. Du quälst mich schon genug, dachte ich. Allein seinen Bruder zu lieben, mit ihm diese Dinge tun, ist Qual genug.

Inzucht... Das steht unter Strafe. Aber ich liebte ihn, daran konnte nichts rütteln!

 

Ich ging zum Ticketschalter und zog Kiyoshi ein Ticket für die Bahn.

»Brauchst du keins?«, fragte er, als er das Ticket entgegen nahm.

»Ich hab so ein Dauerticket. Meine Mom zahlt einmal im Monat einen Betrag und ich kann hier rumgurken wie ich will«, prahlte ich mit meinem Plastikkärtchen rum. Kiyoshi nickte nur.

»Aha.« Damit steckte er das Ticket in seine Hosentasche.

Ich seufzte kaum hörbar. Da war es wieder: der gleichgültige Kiyoshi. Von jetzt auf gleich.

Es dauerte nicht lange, da kam eine Straßenbahn, in die wir einstiegen. Sie war voll, wie immer an einem Freitagnachmittag. Viele Berufstätige hatten jetzt Feierabend und die ganzen Schüler hatten Ferien. Viele Mädchen saßen und standen in der Bahn. Wollen wahrscheinlich alle shoppen gehen, dachte ich bei mir, während Kiyoshi und ich uns an einer Stange festhielten. Er hielt den geschlossenen Regenschirm fest in der Hand, sah aus dem Fenster und schien voll konzentriert zu sein.

»Alles klar?«, flüsterte ich. Er nickte wie apathisch, den Blick dann durch die Menge schweifend. In der Tat spürte ich es auch, als ein Windzug durch das kleine Fenster kam. Der Geruch von Menschen, wie ihr Blut in ihnen floss. Die Hälse schienen sich zu bewegen. Im Rhythmus des Pulses, immer wieder. Leise hörte ich Herzschläge. Ich spürte, wie Kiyoshi ein Mädchen anstarrte. Sie hatte lange schwarze Haare, in einem Zopf zusammengebunden, sodass man ihren Hals wunderbar sehen konnte. Ich hörte seinen Atem. Das starke Atmen, das nach Blut verlangte. Auch ich fixierte den Hals dieses Mädchens. Sie hatte helle Haut, so hell, dass man einige Adern sehen konnte. Eine davon stach wahrlich schmackhaft heraus. Sie bewegte sich pulsierend. Eine Windbrise aus dem offenen Fenster ließ den Geruch von ihr zu uns herüber wehen.

Das war gefährlich. Viel zu gefährlich. Mein Blick fiel zu Kiyoshi.

Er blickte mich an erregt an. Seine Augen glänzten. Dieser Glanz, kurz vor dem tödlichen Biss. Er hatte seinen Mund etwas geöffnet, die kleinen Spitzen Eckzähne blitzen durch seine weißen Lippen.

»Hiro … Hast du Hunger?«, fragte er ganz leise.

»Wieso fragst du …?«, flüsterte ich zurück.

Er kam mir ganz nah. Ich spürte seine Nase an meinem Ohr. »Weil du dich verwandelt hast …«

Erschrocken sah ich in ein Fenster. Ich spiegelte mich. Und ja, meine Augen glänzten wie seine und meine Reißzähne waren auch gewachsen. So Unbewusst? Die Gruppe von Mädchen lachte, die Straßenbahn hielt kurz an. Jedes Geräusch schien wie ein Motor auf mein Trommelfeld zu wirken, jeder Puls klopfte wie Hammer auf mein Ohr, der Geruch von Blut stieg immer weiter in meine Nase. Leute stiegen ein und aus, eine kleine Brise von frischer Luft rief mich.

 

Sofort sprang ich aus der sich gerade schließenden Tür nach draußen. Ich hielt es nicht mehr aus. Diese Geräusche, dieser Geruch, alles wirkte so bedrängend auf mich ein. Bevor noch etwas Schreckliches passieren würde, floh ich. Die Menschen sahen mich verwirrt an, blickten mir hinterher. Ich spürte jeden einzelnen Blick von ihnen. Schnell rannte ich hinter die Haltestelle auf die gegenüberliegende Straßenseite und lehnte mich an eine Mauer. Ich hockte mich hin, atmete tief ein und aus.

Mein Hals. Er war so trocken. Er tat so weh. Was sollte ich nur tun? So war es also, wenn man langsam die Kontrolle verlor? Weil man nichts aß? Ich hatte keine Pille geschluckt...

Hastig suchte ich meine Taschen ab; kramte wie ein Junkie im Innenleben meiner Kleidung.

Nichts.

Ich hatte das Döschen nicht mit.

Wahrscheinlich lag es noch im Koffer.

Mit einem nervösem Blick sah ich in die Straße. Menschen blickten mich besorgt, aber abgeschreckt an. Schnell versteckte ich mein Gesicht in beide Hände und blinzelte durch meine Finger. Ich sah jemanden mit schnellen Schritten auf mich zukommen. Mit einem Regenschirm. Sofort seufzte ich erleichtert und sah in das rettende Gesicht.

In fast einer flüssigen Bewegung nahm er mich in den Arm und hievte mich hoch. Schnell verschwanden wir in einer Seitengasse.

»Hiro, versuch dich zu beruhigen!«, sagte Kiyoshi bestimmend und rüttelte etwas an meinen Schultern. Er sagte ein paar Mal meinen Namen, mehr verstand ich nicht. Ich fühlte mich so grausig, die Geräusche um mich herum hämmerten noch immer auf mich ein.

Irgendwann hörte er auf mich zu schütteln und sah sich verstohlen um. Sofort griff ich nach seinen Oberarmen und sah ihn durchdringend an.

»Du hast dich ja selbst nicht im Griff!« Dabei starrte ich in seine glänzenden Augen. Ein Rotschimmer bildete sich auf seiner Iris. Seine Haut glänzte wie Perlmutt und seine Adern schimmerten durch. Sachte legte ich meine Hände auf seine Wangen. Strich mehrmals über sie. Je länger ich meinen Bruder fixierte, desto ruhiger wurde ich. Desto ruhiger wurde es um mich herum.

»Wir sind Monster … Du hast ein Monster aus mir gemacht«, flüsterte ich ihm ins Ohr, während ich mich zu ihm vor lehnte. »Was hast du aus mir gemacht? Sieh mich an …«

Mit einer langsamen, fast bedrohlichen Bewegung, legte er seine Hände auf meine und fixierte wieder meine Augen. Gleichgültigkeit wäre zu viel gesagt, aber eine gewisse Belanglosigkeit war dabei. Wir hatten dieses Thema der Schuldfrage schon so oft gehabt. Wahrscheinlich war er es Leid, mir überhaupt eine Reaktion zu zeigen.

Aber er war Schuld! Es machte mich wütend, nicht mehr mein altes Leben führen zu dürfen. Ich wollte mich nicht damit abfinden. Diese sensiblen Ohren, diese sensible Nase und dieser Durst nach Blut. Es war etwas vollkommen anderes, wenn man kein anderes Leben kannte. Aber wenn man schon einmal ein menschliches Leben führte, war ein solches Leben voller Abstriche. Es war ein so hoher Preis für eine verbotene Liebe zu bezahlen. Wieso musste es er sein? Wieso musste alles so viel kosten? Wieso war es so schwer? Wieso machte mich das wieder so traurig? "Wieso" war eine gute Frage für fast alles in meiner Umgebung.

Ich sah zu Boden und schluckte die steigende Wut einfach runter. Sie brannte widerlich in meinem Hals.

Der Hunger trieb mich in den Wahnsinn.

»Hier«, sagte Kiyoshi mit immer noch dem bestimmenden Unterton. Ich blickte auf und starrte auf sein blutendes Handgelenk, welches er mir schon fast zwingend an den Mund hielt.

Und wie jemand, der seit Tagen ohne Wasser in der Wüste endlich eine Oase sah, stürzte ich mich auf sein Handgelenk und leckte das Blut ab. Gierig trank ich einige Schlucke des süßlichen Nektars. Vorsichtig starrte ich in seine Augen. Etwas schmerzlich blickte er zurück. Mit einem letzten Schluck, löste ich mich von der Nahrungsquelle.

»Du brauchst es auch, oder?«, fragte ich vorsichtig, strich liebevoll über seine Wange. Er nickte erst schüchtern, dann deutlicher, kam mir näher und presste sich gegen mich, den Blick bereits auf meinen Hals gesetzt. Ich lehnte mich an die Wand der Sackgasse und zog ihn in meinem Armen mit mir. Sein Atem löste Gänsehaut auf meiner Haut aus. Diese zarten, kalten Hände, welche nach mir griffen und sachte meine Haut streichelten. Diese Lippen und diese Zunge ließen mich meine anfängliche Wut sofort vergessen. Der Schmerz in meinem Hals tat das übrige.

 

Ich gewöhnte mich daran. Langsam. Der Schmerz des Bisses. Und das unangenehme Gefühl, wenn er das Blut aus den zwei Löchern saugte. Ich hörte seine Schlucke; jedoch nicht lange. Vorsichtig löste er sich von meinem Hals, sah mir tief in die Augen und legte dann sachte seine Lippen auf meine. Die paar Tropfen in seinem und meinem Mund vermischten sich, als ich meine Zunge durch seine Lippen schob.

Mein Herz beruhigte sich langsam wieder. Welch Erleichterung. Genussvoll schlang ich die Arme um seine Taille, zog ihn so weit es ging an mich und vertiefte den Kuss. Zwar kamen Kiyoshi und ich im Grunde auf einen gewissen Nullpunkt, was unsere Nahrung anging; trotzdem fühlten wir uns für den Moment besser.

Etwas erregt, schob ich mein Bein zwischen seine und rieb leicht. Ich hörte ihn gegen meine Lippen seufzen und dachte nur noch an eins: Hier und jetzt, in der dreckigen Gasse.

 

Doch wir hörten Schritte. Sofort sprang Kiyoshi wie ein Tier einen Meter von mir.

Eine etwas rundlichere Frau schob einen Wagen voller Kartons in die Gasse. Sie sah uns erst gleichgültig, dann entsetzt an. Unsere Wunden heilten zwar schnell, aber nicht sofort. Noch quoll etwas Blut aus meiner und Kiyoshis Wunde. Die Frau öffnete bereits ihren Mund, wollte zum Schrei ansetzen.

Schnell liefen wir an ihr vorbei, zurück auf die Hauptstraße und versuchten in der Menschenmasse zu verschwinden, die auf die Einkaufsstraße führte. Etwas verschämt wischten wir uns das Blut vom Mund ab. Unsere Blicke trafen sich manchmal, doch mehr als ein unsicherer Augenkontakt war das nicht.

Wieso hatten wir uns eigentlich nie unter Kontrolle? Wann würde sich das ändern? Wann würde das abebben? ... Wahrscheinlich nie, kam mir sofort in den Kopf. Immerhin waren wir Zwillinge und doch uns gegenseitig fremd. Unsere Genetik ließ es einfach nicht zu, dass wir uns abstießen. Den Gefühlsteil brachten wir natürlich eigenständig in die Beziehung, aber beides zusammen ergab eben die unaufhaltsame, giftige Mischung der Liebe.

Unangenehme Begegnung

Ich spannte den Regenschirm auf, zog die Ärmel runter und reichte Kiyoshi meinen Arm. Vorsichtig griff er nach mir und hakte sich ein. Etwas verstohlen blickte er sich um, doch ich spürte, dass er sich nach diesem Vorfall nicht wirklich auf die Stadt konzentrieren konnte.

»... Vielleicht... gehen wir in die Mall. Da ist keine Sonne«, schlug ich vor und bekam ein schüchternes Nicken als Antwort.

 

Die Mall war groß und trotzdem übersichtlich mit Geschäften gefüllt. Als wir durch die großen Gänge schlenderten, erinnerte ich mich an die unzähligen Treffen mit meinen Freunden. Wie wir uns im Foodcourt immer die Burger reingezogen haben und am Ende durch die Geschäfte geschlendert sind.

 

Mit einer gewaltigen Menge an Wehmut ging ich zum runden Brunnen, der in der Mitte vom Foodcourt stand. Kiyoshi folgte nur langsam, den Blick auf die verschiedenen Stände gerichtet.

Langsam ließ ich mich auf den Rand aus Stein fallen und stellte den Regenschirm beiseite. Ein kurzer Blick sagte mir, dass es bereits 5 Uhr war.

»Bist du öfter hier?«, hörte ich schließlich die ruhige Stimme neben mir fragen. Anmutig überschlug Kiyoshi seine dünnen Beine.

»Ja. Mit meinen Leuten. Zumindest früher eben...« Ein kleines Seufzen entfuhr mir.

»“Früher“? Hiro, es ist doch erst eine Woche vergangen, seitdem du … kein … « Da hielt er inne und sah zu einem kleinen Mädchen, was uns mit einem Eis in der Hand anstarrte.

Ihr Blick war auf uns gerichtet, als sähe sie gerade zwei Engel. So fasziniert und neugierig sie zu uns blickte, so nervös und unangenehm berührt blickte ich zurück.

»Ähm ...«, begann ich, rang mir ein Lächeln ab und beugte mich etwas zu der Kleinen vor. »Alles klar? Hast du dich verlaufen?«

Das Mädchen, mit kurzen blonden Haaren und riesigen blauen Augen, schüttelte nur apathisch den Kopf und grinste auf einmal.

»Edward!«, schrie sie auf einmal. Mit einem Mal zog ich scharf die Luft ein und setzt sich mich wieder gerade hin. »Ihr seht aus wie aus Twilight!«

Das Mädchen war vielleicht 6, nicht viel älter, und kannte schon diese dämliche Vampirsaga.

Kiyoshis Blick blieb unergründlich, bis er sich zu mir drehte. »Wir sehen aus wie was?«

»... Gibt so ne Vampirgeschichte … und … « Da stockte ich. Ein kleines Mädchen sieht zwei Männer in einer Mall sitzen und erkennt sofort, dass es sich hierbei um zwei Vampire handelte?

Kiyoshi zog die Augenbrauen zusammen und sah zu dem Mädchen.

»Wie Vampire? Bist du dir sicher?«, fragte er das Mädchen mit einem gefährlichen Unterton.

Da spürte ich es. Dieses Gefühl von vorhin in der Straßenbahn. Kiyoshis Hunger. Er war noch nicht gestillt und kam nun erneut zum Vorschein.

»Hey, Kiyoshi, wir gehen lieber wieder -«, begann ich meinen hektischen Satz, packte ihn am Arm, als ich ihre Stimme hörte und sofort in meiner Bewegung erfror.

 

»Linda! Du kannst nicht einfach wegrennen!«, ertönte das nervige Frauengeräusch aus einem hinteren Teil des Foodcourts. Ich musste mich nicht einmal mehr zu ihr umdrehen, um zu wissen, wer es war: Miss Always. Natasha.

»Fuck«, war alles, was ich aus meine Lippen quetschte. In Bruchteilen von Sekunden überlegte ich, wie ich der unangenehmen Situation entfliehen könnte. Doch ehe ich mich versah, erkannte sie mich und hüpfte auf mich zu.

»Hiro! Was eine Überraschung!«

Ja … was eine... Überraschung, dachte ich und zwang mich zu einem Lächeln. Langsam stand ich auf und ging gequält auf sie zu. Kiyoshi deutete ich mit einer Handbewegung an, dass er sitzen bleiben sollte, in der Hoffnung, dass man ihn nicht bemerken würde.

»Ich dachte, du bist bei deinem Dad!«, grinste sie mir entgegen und zwirbelte ihre Haare.

»War ich auch. Bin heute wiedergekommen.«

Manchmal wünschte ich mir, ich wäre nicht so höflich zu Gott und die Welt, dann müsste ich mich auch nicht mit ihr unterhalten, huschte es mir durch den Kopf, das gequälte Grinsen noch im Gesicht. Meine Mutter jedenfalls wäre jetzt platt wie lieb ich zu Natasha war.

»Ach so!«, kicherte sie nervig, »Sorry, wenn Linda dich genervt hat. Sie lief einfach weg, keine Ahnung, was mit ihr los ist!«

Ich schüttelte den Kopf und sah noch einmal zum immer noch starrenden Kind. »Schon okay. Ich dachte nur, sie hätte sich verlaufen. Ist sie deine Schwester?«

Natasha nickte und zwickte Linda in den Arm. »Ja, meine kleine, nervige Schwester. Mama wollte heute unbedingt mal alleine sein und hat mich mit Linda losgeschickt und -«

Bla, bla, bla.

Ich seufzte leise, hob eine Augenbraue und presste die Lippen aufeinander. Da war wieder dieses Geplapper, was wahrscheinlich erst in einer Stunde aufhören würde.

Als ich mich kurz umdrehte, war Kiyoshi weg. Auf der einen Seite durchfloss mich ein heißer Schreck, ihn verloren zu haben, auf der anderen Seite auch die Erleichterung, dass ich auf diese Weise wenigstens nicht in Erklärungsnot mit Natasha kam, wer er denn sei.

Doch Natashas Gebrabbel nahm kein Ende. Ich stemmte genervt die Hände in die Hüfte und unterbrach sie mitten im Satz.

»Wie auch immer, schön dich getroffen zu haben. Ich muss jetzt weiter.«

Damit wollte ich gehen, Natashas enttäuschten Blick nicht weiter beachtend – da hörte ich Linda aufquietschen.

»Guck mal, der blutet!«, schrie sie und hüpfte auf und ab; zerrte dabei wie verrückt an Natashas Kleidung. Wie erstarrt schloss ich die Augen. Der Biss von Kiyoshi war wohl noch nicht ganz abgeheilt. Oder zumindest noch mit einzelnen Bluttropfen behaftet.

»Guck doch, er wurde gebissen! Er ist ein Vampir, guck doch!«

Natasha lachte nur und kugelte sich fast auf dem Boden. »Jetzt übertreibst du aber, Linda! Du und dein Twilight! Das wird mir doch etwas zu viel, haha. Hiro und ein Vampir! Er hat doch keinerlei Ähnlichkeit mit denen aus Twilight!«

Wie das klang!

Als wäre ich nicht „gut genug“ für einen Vampir!

Als wäre ich zu dumm oder zu hässlich!

Wenn die wüsste, die blöde Kuh!

Mein Vater ist ein Reinblütler, mein Bruder auch! Und... sowieso eine Unverschämtheit so etwas überhaupt zu sagen!

 

Vorsichtig drehte ich mich noch einmal zu den beiden um und lächelte gekonnt kühl; bemüht um ein ruhiges Auftreten.

»Schönen Tag euch beiden noch.«

 

Beide verstummten.

Sagten nichts mehr.

 

Mit einer fließenden Handbewegung wischte ich mir ein bisschen blutige Kruste vom Nacken und ging meiner Wege.

Beruhigen, dachte ich. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Weiber und ihre Vorstellung vom perfekten Vampir...

Langsam trottete ich den Weg zu einigen Geschäften entlang.

Ich spürte die Blicke der beiden bohren. Wie erstarrt rührten sie sich nicht vom Fleck. Die Reflexion eines Schaufensters sagte es mir.

 

Erst als Kiyoshi auf einmal wieder neben mir auftauchte, atmete ich auf.

»Bisschen übertrieben, findest du nicht?«, fragte er sofort und hob eine Augenbraue, als er sich an meinem Arm festhielt.

»Ich weiß nicht, was du meinst.« Mein Blick ging stur nach vorne.

»Du hast die beiden sehr deutlich angeknurrt. Hoffentlich schreiben sie das ihren menschlichen Sinnen zu, dass sie dich verwandelt gesehen haben.«

»...«

Angeknurrt? Ich war einfach pikiert darüber, dass Always mir nicht zutraute ein hübscher Vampir zu sein. Ohne etwas zu sagen, wollte ich sie vom Gegenteil überzeugen. Dass ich genauso anmutig wie … Kiyoshi sein konnte.

Doch im Nachhinein verstand ich, was Kiyoshi mir mit seinem rügenden Blick sagen wollte.

»Ja, sorry … war zu viel.«

»Je weniger Aufmerksamkeit wir produzieren, desto besser.«

»Ja, ja.«

»Denk an Vincent. Er sucht nach uns. Vampirische Aktivitäten wird er genauso schnell auf dem Schirm haben wie alle anderen.«

Kiyoshis Blick wechselte zwischen den Menschen und mir. Er hatte ja Recht. Mein Stolz war eben größer als mein Verstand gewesen.

»Kommt nicht noch einmal vor, okay?«, gab ich etwas schnippig zu verstehen, dass ich die Kritik verstanden hatte.

»Okay.«

Kiyoshi ging noch eine Weile stumm neben mir her, bis er das Gespräch wieder aufnahm.

»Wer war das eigentlich? Du schienst sie zu kennen«, fragte er. Ob aus Neugierde … oder aus anderen Gründen konnte ich nicht aus seiner Tonlage schließen.

»Natasha heißt sie. Sie geht in meine Klasse. Ein bisschen nervig.«

»Wieso unterhältst du dich dann mit ihr, wenn du sie nicht magst?«

Ich seufzte leise. »Weißt du, Kiyoshi... Man kann den Leuten nicht immer den Arsch zeigen... Manchmal muss man auch lächeln, obwohl man nicht will.«

»...« Sein Schritt wurde schlagartig langsamer. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wo er blieb, blickte ich in zwei verständnislose Augen. »Wieso wirst du immer gleich so vulgär? Wieso solltest du ihr dein Gesäß zeigen? Und was hat das mit Lächeln zu tun?«

Schließlich blieben wir beide stehen. Für einen Moment überlegte ich, ob er Witze machte oder das eine ernstgemeinte Frage war. Doch je länger ich in seine verwirrten Augen sah, schüttelte ich vorsichtig den Kopf. Alles, was ich für seine Frage übrig hatte, war ein müdes Lächeln.

»Schon okay, Kiyoshi. Das ist nicht so wichtig...« Manchmal glaubte ich, dass er wirklich ein paar Jahre wegen Krankheit verloren hatte und deswegen sozial inkompatibel war. »Lass uns weiter gehen, Natasha wird uns in Ruhe lassen.«

Als ich mich wieder in Gang setzte, folgte Kiyoshi nur missmutig. Man konnte nicht abstreiten, dass er nicht gut gelaunt war. Aber man konnte es ihm nicht übel nehmen. Weit von zu Hause weg in einer Umgebung, die man nicht mag mit seinem komischen Bruder.

Konnte ich doch allzu gut ein Lied von singen.

 

Lustlos trotteten wir weiter durch die Mall, bis ich Kiyoshi in einen meiner Läden zog. Schwarze Klamotten, wohin das Auge blickte. Nieten, Schnallen, Leder und Latex.

Kiyoshi verdrehte nur die Augen und schlurfte durch die Gänge; fasste hier und da mal einen Schuh oder ein Oberteil an.

»Ich weiß immer noch nicht, was du hier dran so toll findest.«

»Ich steh halt drauf«, sagte ich schulternzuckend und sah mir ein paar Ledermäntel an. Ehrfürchtig strich ich über die Ärmel. Nicht so mein Ding, aber cool waren sie.

Doch je länger ich diese langen Mäntel betrachtete, desto unwohler wurde mir.

Vincent...

 

Auf einmal lachte Kiyoshi leise auf, während er neben der Kasse einen Korb mit Kleinigkeiten betrachtete. Eine kleine schwarze Verpackung zog seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich.

Neugierig kam ich auf ihn zu. »Was ist das?«

»Irgendwas aus Latex. Ich glaube Strümpfe … die man über das Knie zieht.«

Sofort zuckte ich erneut mit den Schultern, während Kiyoshi sie in die Hand nahm und weiterhin grinsend betrachtete. »Und was ist daran so witzig?«

»... Dieser Laden hat nur Männerklamotten...?«, antwortete er mir in einer Frage und kicherte, als würde er das erste Mal etwas Schmutziges sagen.

Ich sah in Kiyoshis Augen und hob eine Augenbraue. Seinen Humor konnte ich ausnahmsweise mal nicht teilen.

»... Und?«

»Wie und? So was tragen doch keine Männer!«, lachte er noch immer amüsiert, doch wesentlich unsicherer als zuvor. Als ich weiterhin keine Mimik verzog, versiegte sein Lächeln. »Würdest du etwa so was tragen?«, fragte Kiyoshi schließlich und hielt mir die schwarze Packung hin.

»Ich nicht … Aber ...« Vorsichtig nahm ich die Packung in die Hand und betrachtete das Bild der Frau, die die langen Latexstrümpfe leicht bekleidet trug. »... dir würden sie sicher gut stehen ...mit deinen dünnen Beinen.«

Kiyoshis Augen weiteten sich um das doppelte. Es dauerte einen Moment, bis er aus seiner Starre brach und eingeschnappt Luft holte. Mit einem Mal riss er mir die Strümpfe aus der Hand und pfefferte sie wieder in den Korb, wo er sie herhatte. »Du hast ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank!«, brüllte er fast schon zu laut durch den Laden und verließ diesen schlagartig.

Der Typ hinter der Kasse grinste nur vor sich hin, ich zuckte mit den Schultern und folgte Kiyoshi recht amüsiert aus dem Laden.

»Komm schon, war'n Witz«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

Erst, als ich ihn eingeholt hatte und einen Arm um seine Taille legte, blieb er stehen.

»In jedem Witz steckt ein Funken Wahrheit«, bemerkte er spitz, was bei mir nur ein Augendrehen auslöste.

»Und wenn schon! Nimm's als Kompliment, dass ich der Meinung bin, dass es dir stehen würde!«

»Du hast echt einen komischen Geschmack! Ich bin doch keine Hure!«

»Oh bitte, Kiyoshi... Natürlich bist du keine Hure; du bist ein Mann. Wenn, dann bist du ein Call Boy«, benannte ich die Dinge beim Namen und zwinkerte ihm belustigt zu. Doch alles, was mir dieser Witz erntete, war ein Seitenhieb in den Magen.

»Call Boy? Und woher weißt du das so genau, hm? Hast du schon mal einen angerufen?«

Da lachte ich los. »Wie kommst du denn jetzt darauf? Immerhin weißt du, was ein Call Boy ist... «

Kiyoshi zog sich von mir weg und verschränkte die Arme. »Natürlich weiß ich, was ein Call Boy ist. Hältst du mich für dumm?«

»Nein, Kiyoshi«, seufzte ich und winkte ab. »Ist gut, ich mein's doch nicht böse...« Kiyoshi war eben nur hin und wieder ein wenig weltfremd. Ich hätte ihm zugetraut, dass er noch nie etwas von einem Call Boy gehört hätte.

»Dann sag so etwas nicht ...«, murmelte er schließlich, als würde er sich versöhnen wollen. Dankend nahm ich diese Geste an und streichelte seinen Rücken.

»Ich behalte es das nächste mal für mich. Dachte nur, ich sage dir, was ich sexy an dir fänd.«

Mit zusammengekniffenen Augen ließ sich Kiyoshi weiterziehen. Ich musste nicht raten, um zu sehen, dass er die Idee mit den Strümpfen gar nicht gut fand. Aber für jemand, der sich wahrscheinlich auch noch nie einen Porno angesehen hatte … wusste er zumindest schon einmal, zu welchen Anlässen man solche Kleidungsstücke tragen würde.

 

Je weiter wir die Mall entlang gingen, desto mehr nahm die Stimmung ab. Mit jedem Schritt, den wir tätigten, wuchs der Hunger und das Unbehagen, weiterhin unter Menschen zu sein.

Irgendwann spürte ich Kiyoshis Hand an meinem Ärmel. »Gehen wir heim? Mutter wird sicherlich schon auf uns warten.«

Ich nickte und trottete mit ihm zur Straße. Ein erleichterndes Gefühl machte sich breit, sobald wir die viel besuchte Mall verließen. »Laufen wir? Es ist nicht so weit.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, spannte ich den Schirm auf und ließ Kiyoshi sich bei mir einhaken.

Es stand einfach nicht zur Debatte, ob wir laufen oder fahren würden. Die Fahrt in die Stadt endete schon im Fiasko. Dann würde sich die Fahrt zurück als ebenfalls problematisch darstellen, so viel war klar.

 

Schweigend liefen wir nebeneinanderher. Die Stimmung erreichte ihren Tiefpunkt, als wir ein anderes Pärchen händchenhaltend vor uns herlaufen sahen. Sie küssten sich hin und wieder, scherzten und hatten ein Eis in der Hand.

Ich spürte, dass Kiyoshi dieses Paar ebenfalls anstarrte. Nicht, weil er Hunger hatte, sondern, weil er sie beneidete. Ich tat es ihm gleich.

Je länger ich auf die beiden starrte, desto großer wuchs in mir der Hass auf diese Welt.

Wieso durfte ich nicht mit ihm solche Dinge tun?

Ihn küssen, wann ich wollte? Mit ihm hausieren gehen, wann mir danach war? Der ganzen Welt zeigen, dass er mir gehörte?

 

Irgendwann sah ich einfach zur Seite.

 

Mein Herz wurde auf einmal so schwer, dass ich das Gefühl hatte, keinen Schritt mehr tätigen zu können.

Als ich mit Vater und Kiyoshi damals in die Stadt gefahren bin, war die Stimmung noch gut. Ich war noch ein Mensch. Kiyoshi ein Stoffel. Und Vater wie immer heuchlerisch gut gelaunt.

Und das war nicht mal eine Woche her.

Auf einmal sehnte ich mich nach dieser Zeit.

Auf einmal wollte ich wieder zurückgehen.

 

Bisher hatte ich nur Ärger. Mit Kiyoshi, mit Mom und mit Natasha.

Und auf den baldigen Abend freute ich mich ebenso wenig: Das Gespräch.

.. Auf einmal wirkte die Villa im Wald nicht mehr so abstoßend. Ganz im Gegenteil: Ich verband mit ihr Gefühle, die so stark waren, dass ich sie vermisste.

 

Nach fast einer halben Stunde Schweigen erreichten wir unseren Wohnkomplex. Müde schloss ich die Tür auf, um Kiyoshi Einlass zu gebieten.

Als wir vor dem Aufzug standen und gemeinsam auf die silberne Tür starrten, ergriff ich das Wort.

»Am Besten... ich hole uns unbemerkt zwei Gläser mit Wasser und … wir trinken erst einmal was. Dann wird Mom sicherlich schon zum Essen rufen und uns darauf ansprechen.«

Kiyoshi sah zu mir. »Worauf?«

»Auf uns.«

»Oh, achso … ja.«

Er sank seinen Blick und stieg in den sich öffnenden Aufzug. Fast schon lässig lehnte er an der Aufzugwand. Als sich die Türen schlossen, drehte ich mich erschöpft zu Kiyoshi. Er sah mir ebenso müde in die Augen, rang sich aber ein Lächeln ab.

»Wird schon, hm?«, versuchte er die Stimmung zu verbessern.

»Ich weiß noch nicht, was ich ihr sagen soll ...« Mit einem Murmeln sah ich wieder zu Boden.

»Das weiß ich auch nicht. Ich würde es vom Gespräch abhängig machen.«

»Ob wir uns Outen oder nicht?«

Kiyoshi schüttelte den Kopf. »Das wissen die beiden doch schon. Eher … ob wir versprechen damit aufzuhören oder uns quer stellen.«

»Querstellen«, wiederholte ich leise und seufzte. Egal, wie das Gespräch ablaufen würde, Mom würde kein Querstellen dulden. Und Vater schon drei Mal nicht. Es würde auf ein Versprechen hinauslaufen, sich zu trennen.

Natürlich für die Eltern.

Für das Wohl der Familie.

Für unser Wohl.

 

… Als würden die das nicht raffen, dass ich trotzdem noch mit Kiyoshi mein Techtelmechtel abhalten würde.

 

Als wir die Wohnung betraten, herrschte unangenehme Stille. Die Luft war mit einer feinen Essensnote geschwängert, die aus der Küche kam. Vorsichtig ging ich auf die geschlossene Tür zu und schob sie aus. »Mom? Wir sind wieder da.«

Sie stand mit Kochlöffel in der Hand am Herd und drehte sich relativ gelassen zu mir um. »Und? Hat es Kiyoshi gefallen?«

Etwas erleichtert über ihre weniger gereizte Antwort, öffnete ich die Tür komplett und trat in die Küche.

»Ja, doch, ich denke schon. Wir haben uns erst mal nur die Mall angeschaut.«

»Aber die Innenstadt ist doch viel schöner, als die dumme Mall, Hiro. Hättest du ihn doch lieber bei dem schönen Wet-«

Da machte es wohl in ihrem Kopf „Klick“ und sie verstand, wieso wir in die Mall gegangen sind. Ein leises Seufzen entfuhr ihren Lippen, während sie im Topf rührte, als wäre ihr jetzt erst wieder eingefallen, was Kiyoshi eigentlich ist.

»Was gibt es denn Leckeres?«, fragte ich, sichtlich enttäuscht, dass ich es sowieso nicht essen werden kann.

»Chili. Das magst du doch so gerne.«

In der Tat mochte ich das gerne, doch würde es unberührt auf meinem Teller bleiben müssen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken einfach eine kleine Tablette in meinen Teller zu werfen, sodass das Chili seine ganz besondere Note finden würde, doch als ich mich an die blutrote Farbe, die auch mit den Tabletten kommt, erinnerte, verwarf ich den Gedanken, da mir keine Ausrede einfiel, wieso mein Chili auf einmal blutrot wäre.

Vorsichtig streichelte ich Moms Rücken und nickte ihr zu. »Sieht echt super aus, danke.«

Sie zuckte zusammen. Ob es wegen meinem „Danke“, welches so selten fiel, oder wegen der elektrisierenden Berührung war, wusste ich nicht. Doch in dem Moment, wo ich die Küche verlassen wollte, zischte sie mir einen kurzen Laut zu.

Ich drehte mich um und sah an einem Andeuten mit dem Kinn, dass ich die Tür schließen sollte. Etwas verwundert tat ich, wonach verlangt war und bekam schlagartig Herzrasen. Sie wollte mich doch nicht jetzt schon zur Rede stellen, oder? Das würde sie nicht tun! Das wäre gemein, vollkommen unvorbereitet!

»Wenn wir heute Abend essen... Was soll ich Kiyoshi hinstellen?«, flüsterte sie mir zu.

Puh ...

Erleichtert über die Frage, entließ sich eine gewaltige Menge Luft aus meiner Lunge und lächelte zaghaft. »Ein Glas Wasser reicht schon. Er ist da genügsam.«

»Okay.« Mom nickte und rührte weiter in ihrem Chili.

Das war's?

Keine doofe Frage wegen vorhin?

 

»Hiro … vorhin, da«, begann sie.

Ahja. Doch noch was.

»Ja?«, fragte ich sichtlich nervöser und räusperte mich kurz.

»Tut mir Leid, dass ich so ruppig war. Ich wollte dich nicht so anschnauzen. Aber … es ist nicht leicht... das Kind, welches ich seit 18 Jahren nicht mehr gesehen habe, nun auf einmal hier in meiner Wohnung zu hüten.« Sie sah verstohlen zu mir rüber. »Er ist schon komisch, findest du nicht?«

Meine Augenbrauen schoben sich wie automatisch zusammen. »Mom, er ist dein Sohn. Und klar, er ist anders, aber nicht komisch.«

Hätte sie mich das vor einer Woche gefragt, hätte ich ihr unumwunden zugestimmt.

»Natürlich und ich weiß, dass... er sich sehr bemüht, aber diese Aura... Wenn er dabei ist... Ich fühle mich einfach noch nicht wohl.«

Ich nickte verständnisvoll und lächelte, während ich mich an den Küchentresen lehnte. »Kann ich verstehen, Mom. So ging's mir am Anfang auch. Weißt du, wie komisch es war gleich 3 Vampire im Haus zu haben? Haha ...«, lachte ich und trommelte auf der Küchenplatte. »Du hättest mich ruhig mal vorwarnen können.«

»Wie hätte ich das tun sollen?«, schnauzte sie mich unvorbereitet an. »Ich hatte mit deinem Vater ausgemacht, dass ihr euch nur kennen lernt und du wieder gehst! Die ganze Wahrheitssache solltest du doch nie erfahren!«

Mit einem starren Blick auf die Küchenplatte fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen. »Du wolltest mich also den Rest meines Lebens im Glauben lassen, dass ich ein ganz normaler Junge mit ganz normalen Eltern und einem ganz normalen Bruder bin? Oh – warte – ein ganze normales Einzelkind bin?«

Sie zuckte mit den Schultern, als wäre es nicht ihre Sache, das zu entscheiden. »Es wäre doch das Beste gewesen. Es hätte sich nichts geändert, du wärst ganz normal hier zur Schule gegangen und irgendwann arbeiten.«

Als keine Antwort von meiner Seite kam, drehte sie sich zu mir um und legte den Kochlöffel weg. »Ich will nur das Beste für dich. Und als Menschen... sind wir zwei eben weit weg von alle dem besser aufgehoben, als … bei deinem Vater.«

Ich schluckte kurz, seufzte leise und klopfte ein letztes Mal auf die Platte. »Hast du gewusst, dass Vater ein Vampir ist, als du ihn geheiratet hast?«

Mom antwortete nicht. Ganz im Gegenteil – sie verzog den Mund, als wolle sie diese Frage nicht beantworten.

Erst als ich zögerlich lächelte und den Blick wieder abwendete, merkte ich, dass es das erste Mal seit Jahren eine Frage war, die sie in Verlegenheit brachte. Noch nie hatte ich ein solches Gespräch mit ihr geführt. Über Familie, über Vater und Kiyoshi. Über Vampire. So absurd es in dem Moment erschien, so neugierig war ich auch auf ihre Antwort.

»Nein«, antwortete sie schließlich, als hätte sie dieses Wort viel Überwindung gekostet. »Bis zu eurer Geburt wusste ich es nicht. Fudo hatte schon immer ein Talent... sein Geheimnis ein Geheimnis bleiben zu lassen.«

Meine Augen weiteten sich. »Du wusstest es nicht? Du hast also all die Jahre mit einem Vampir zusammengelebt, mit ihm geschlafen und dir Kinder andrehen lassen? Und erst, als wir geboren wurden, wusstest du, dass er ein Vampir war?«, platzte es aus mir raus. Meine Mutter zuckte sofort zusammen und bekam ihre natürliche affektierte Art zurück.

»Hiro, bitte! Sag doch so etwas vulgäres nicht!«, mahnte sie mich und ergriff wieder den Kochlöffel, als könne sie sich mit ihm verteidigen.

»Wieso nicht? Mom, ich bin alt genug, um zu wissen, wie man Babys macht.«

Sie schüttelte nur den Kopf und fasste sich an die Stirn. Für sie war es wohl auch keine einfache Sache nach all den Jahren offen über ihre Beziehung zu meinem Vater zu sprechen.

»Ja, so war das halt. Aber man soll ja nicht immer so viel in der Vergangenheit kramen. Ich decke uns den Tisch, dann können wir essen«, verkündete sie wie ausgewechselt und stapelte schon Teller.

Hinnehmend, dass das Gespräch beendet war, nahm ich zwei Gläser aus dem Schrank und ging mit einer Wasserflasche zurück ins Wohnzimmer, wo ich Kiyoshi auf meinem Bett sitzen sah. Leise betrat ich meine Abstellkammer und schloss hinter mir die Tür.

»Und? War sie sauer wegen vorhin?«, fragte mein Bruder sofort und kam auf die Beine. Ich schüttelte den Kopf.

»Nee, sie hat sich sogar für ihr Verhalten entschuldigt. Sie hat das Thema auch nicht angeschnitten. Na ja... trotzdem wird sie uns heute Abend zur Rede stellen.«

Während ich die Gläser mit Wasser füllte, war ich mir auf einmal doch nicht mehr so sicher, ob sie uns gesehen hatte oder nicht. Entweder sie hatte uns gesehen und machte sich nichts draus … oder hat eben nichts gesehen und war deswegen relativ gelassen.

»Sie ist nur ein bisschen verstört, weil wir hier einen sexy Vampir behausen.« Mit dem Satz zwinkerte ich Kiyoshi zu und reichte ihm das Wasserglas, in dessen ich sofort eine Pille aus dem danebenliegenden Döschen reinwarf.

»Zwei sexy Vampire«, verbesserte er mich und nahm das Glas grinsend an. Ich erwiderte noch sein Lächeln, küsste ihn kurz auf die Lippen und nahm mein Glas in die Hand.

Mit schnellen Schlucken trank ich mein synthetisches Blut und spürte es wie einen Segen meine Kehle hinunterlaufen. Am Anfang hatte ich mich noch gegen diese Plörre gewehrt, nun durstete ich wortwörtlich danach. Es löschte meinen Durst. Es ließ mich wieder klar denken.

Und die Stimmung hob es ebenso spürbar an.

 

Als Kiyoshi sein Glas geleert hatte und es wieder auf den Tisch stellte, ließ er sich auf mein Bett fallen und streckte alle Viere von sich. Mit offenen Armen sah er zu mir hoch.

»Wenigstens Kuscheln«, bettelte er schon fast und sah mich eindringlich an. Wer könnte bei dem Blick schon nein sagen?

Vorsichtig ließ ich mich zu ihm aufs Bett sinken, legte mich neben ihn und schlang feste die Arme um seinen dürren Körper.

Während ich liebevoll über seine Arme strich, musterte ich die herausstehenden Knochen.

»Hast du wieder abgenommen?«, fragte ich vorsichtig.

Kiyoshi zog nur die Schultern hoch. »Keine Ahnung.«

»Du siehst nur so dünn aus... Dünner als sonst. Kannst du überhaupt zunehmen?«

»Ja, schon. Aber nur, wenn ich menschliches Essen mit Blut zu mir nehme. Also Dinge, wo Fett und Kohlenhydrate enthalten sind.«

»Dann solltest du das mal tun ...«, forderte ich ihn auf und strich über die Knochen an seinem Rücken.

»Mal schauen.«

Vorsichtig verdrehte ich meine Augen und strich über seine Wange. »Vielleicht schaffen wir es, eine Tablette in das Chili zu schmeißen, ohne dass Mom es merkt. Dann gönnen wir uns nachher eine Schüssel, wenn sie im Bett ist.«

»Es gibt Chili?«, fragte Kiyoshi nach und lächelte leicht. »Das sah immer ziemlich eklig aus. Aber es riecht lecker. So nach Gewürzen.«

»Es ist auch wirklich lecker! Meine Mom macht das beste Chili überhaupt!«, lachte ich und spielte mit Kiyoshis Fingern. »Ich hol uns dann einfach zwei Teller, wenn sie im Bett ist und wir versuchen es mal.«

Kiyoshi nickte und legte seinen Kopf auf meine Brust. »Ich versuch's. Vielleicht schmeckt es ja sogar gut.«

»Davon bin ich überzeugt.«

 

Ich spürte regelrecht, wie ich mich entspannte, die Anspannung vom Tag verflog und ich Kiyoshis Nähe genoss. Das Kuscheln auf einer 90cm Matratze stellte sich in meinen letzten Beziehungen als außerordentlich schwierig heraus. Mit Kiyoshi schien noch die Hälfte der Matratze frei zu sein. Sachte strich ich über seine Arme. Die weiße Haut strahlte wieder wie frisch poliert. Nur einzelne weiße Härchen deuteten auf einen Organismus hin.

Als Kiyoshis Atem auf meiner Haut aufhöre und ich ihm ins ruhende Gesicht sah, verspürte ich immer mehr den Drang, ebenfalls zu schlafen.

Nicht mehr Atmen.

Wie das wohl war?

Einfach aufhören zu können? Keinen Herzschlag mehr zu haben? Tot zu sein?

Je länger ich auf sein schlafendes Gesicht starrte, desto müder wurde ich.

Doch kurz bevor ich auch meine Augen schloss, dachte ich an Mom, wie sie den Tisch deckte. Außerdem würde sie Kiyoshis Anwesenheit in meinem Bett in keinster Weise tolerieren. Sei es wegen der Inzucht- oder der Vampirgeschichte.

 

Etwas genervt, nicht schlafen zu können, erhob ich mich wieder und sah in Kiyoshis Augen, die sofort aufschlugen, als er Bewegungen vernahm.

»Packen wir mal so langsam die Koffer aus, hm?«, schlug ich vor, doch erntete nur einen trotzigen Blick.

»Nein, ich will noch ein bisschen deine Nähe«, quengelte er und streckte abermals seine Hände nach mir aus.

Ein leises Lachen entfuhr meinen Lippen, als er an meinem Hemd zupfte und mich zu sich auf das Bett zog. »Na schön...«

 

Mit geschlossenen Augen kuschelte ich mich an Kiyoshi ran und genoss sein langsames Fingerspiel an meinen Haaren.

Je länger wir dort lagen, desto mehr stieg in mir ein Gefühl der Angst.

Oder Unruhe.

Wie aus dem Nichts.

 

 

Dass das nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen wäre.

Angst

Nach nur wenigen Minuten hörte ich Mom rufen, dass das Essen fertig war.

So schnell war ich noch nie aus dem Bett gekommen, wie zu dem Zeitpunkt, in dem ich mich an das nähernde Gespräch erinnerte.

»Puh, okay... Wir schaffen das, richtig?«, vergewisserte ich mich bei Kiyoshi, der sein Hemd richtete.

»Natürlich. Was will sie denn schon machen?«

»Dich wieder nach Hause schicken?«

Als Kiyoshi nicht antwortete, zog ich scharf die Luft ein. Doch ehe ich weiter hysterisch vor mir her reden konnte, stand er auf, küsste meine Lippen und schüttelte den Kopf.

»Das wird sie nicht tun.«

 

Woher Kiyoshi die Ruhe nahm, war mir unbegreiflich, doch er schlenderte gelassen ins Wohnzimmer und lächelte Mom an.

»Hier, Kiyoshi. Ich habe dir ein Glas Wasser hingestellt«, bemerkte sie recht kurz angebunden und deutete auf einen spärlich gedeckten Platz mit einem Glas Wasser in der Mitte. Kiyoshi nickte nur und bedankte sich leise.

»Mhm, Mom, das riecht wirklich gut!«, lobte ich sie, um eine unangenehme Stimmung zu vermeiden, und schob den Stuhl von Kiyoshis Platz beiseite, sodass er sich setzen konnte; was mir natürlich nur einen verwunderten Blick von Mom bescherte.

Ja, für Kiyoshi war ich ein Gentleman.

Für ihn schiebe ich auch Stühle zur Seite, sodass er sich setzen konnte.

Auch bei mir bedankte er sich leise und höflich, lächelte mich an und verfolgte meine Handlungen neugierig.

»Gut … «, murmelte meine Mutter, drehte sich zur Küche um, sah weiterhin nervös durch den Raum, als würde sie überlegen, was sie vergessen haben könnte.

»Mom … setz dich doch«, schlug ich ihr vor und schob auch ihren Stuhl beiseite, sodass sie sich auf ihn setzen konnte. Mit einem Lächeln deutete ich ihr an, dass man auf sie wartete.

Nervös erwiderte sie mein Lächeln, setzte sich auf den Stuhl und ließ sich heranschieben. »Danke, Hiro... Wow, hätte ich gewusst, dass du mit solchen Manieren wiederkommen würdest, hätte ich dich schon eher zu deinem Vater geschickt...«

Ich wägte nur mit dem Kopf ab. Vielleicht stimmte das sogar. Durch Vater habe ich meine Mutter lieben gelernt. Dass sie mal ihre Phasen hatte, war in Ordnung. Im Großen und Ganzen war sie eine gute Frau.

Und wieso ihr das nicht ganz zufällig passend zum Essen zeigen, wenn ein unangenehmes Gespräch anstand?

»Nimm dir, Hiro.« Damit reichte sie mir den Kochlöffel.

Einen Moment überlegte ich, ob ich ihn überhaupt annehmen sollte. Doch je länger ich wartete, desto unsicherer wurde Mom. »Alles klar, mein Schatz?«

»Jap«, antwortete ich schnell und nahm ungeschickt den Kochlöffel, um das Chili umzurühren. »War nur in Gedanken.«

Ich spürte Kiyoshi auf mich starren. Er war nervös und wechselte den Blick zwischen mir und dem Chili.

Ja, was sollte ich jetzt tun? Ihr die Wahrheit sagen? Einfach mal was essen?

Todesmutig häufte ich etwas Chili auf meinen Teller. Als er zur Hälfte gefüllt war, reichte ich den Kochlöffel an meine Mutter weiter.

»Mehr nicht?«, fragte sie nach. »Du isst mir doch sonst die Haare vom Kopf.«

Ein leises Glucksen durchfuhr meinen Rachen. »Ich... hab schon in der Mall eine Kleinigkeit gegessen, sorry... Ich nehme mir aber gerne nach, wenn ich noch Hunger habe.«

Mit kaltem Schweiß auf der Stirn sah ich zu ihr. Alles, was sie tat, war misstrauisch im Chili rühren.

»Du hast schon was gegessen? Hmh«, sagte sie mit diesem gewissen spitzen Unterton. »Hiro... du brütest mir doch keine Essstörung aus, oder?«

 

Ha.

 

»Mom, bitte. Denk jetzt nicht wieder an deine Arbeit«, ermahnte ich sie gespielt genervt und stocherte in meinem Chili rum. »Ich weiß, dass viele Drogenjunkies Essstörungen haben, aber … davon bin ich nicht betroffen.«

»Ich weiß nicht so recht. Du und Drogen seid euch ja auch schon näher gekommen«, bemerkte sie gereizt und lud schließlich ihren eigenen Teller mit Chili voll.

»Mom... das ist doch schon ewig her...«

»Schlimm genug, dass es überhaupt stattgefunden hat! Jiro ist ein wirklich schlechter Einfluss! Ohne ihn wärst du doch nie an so etwas ran gekommen«, meckerte sie in fünf Oktaven höher und pfefferte den Kochlöffel in die Schüssel zurück.

»Müssen wir das jetzt besprechen...?«, fragte ich kleinlaut und sah verstohlen zu Kiyoshi. Der grinste nur in sich rein und schwankte sein Glas Wasser.

»Wie sieht es mit dir aus, Kiyoshi? Hast du auch solche tollen Drogenexzesse wie Hiro?«, fragte Mom spitz als hätte sie meine Bitte nicht vernommen und hob beide Augenbrauen, während sie Kiyoshi durchbohrend anstarrte. Als würde sie ihn auf dem Verhör in der Mangel haben.

Doch der lachte nur leise und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe einmal ein Bier getrunken... Und ein Glas Wein. Mehr nicht.«

Gerade noch wollte ich mir einen Löffel Chili in den Mund stecken, da fiel mir das Chili vom Löffel, weil ich ihn vor Entsetzen nicht in meinem Mund geschoben hatte. »Was?!«

»Sehr löblich«, kam es nur von meiner Mutter, die überrascht nickte und anfing zu essen.

»Du hast noch nie so richtig Alkohol getrunken?«, platzte es regelrecht aus mir heraus. Ich dachte mir schon, dass er nicht auf meinem Niveau war, was das feiern anging, aber so gar nicht? »Nicht mal mit Kat und Ichiru?«

»Nein … so etwas machen die nicht.« Kiyoshi trank einen Schluck von seinem Wasser, sah dann wieder in meine Augen. »Wenn wir... Alkohol trinken... Dauert das sehr lange, bis der wieder draußen ist. Weil wir ja keine Blutzirkulation haben.«

Ich nickte interessiert und ließ den Löffel wieder in den Teller sinken. »Das macht natürlich Sinn ...«

Doch ehe ich Kiyoshi erneut über Alkohol ausfragen wollte, räusperte sich meine Mutter. Ein Blick in ihre Richtung verriet mir, dass sie das Thema Blut, Alkohol und Vampire nicht am Esstisch haben wollte.

Gut, dachte ich, dann unterhalten wir uns eben nicht. Früher oder später würde ich schon noch was aus Kiyoshi herausbekommen. Über ihn und seine brave Vergangenheit.

 

Es dauerte nicht lange, da spürte ich Moms Augen auf meiner Hand.

»Hiro, bitte iss, sonst mache ich mir Sorgen.«

Ja, natürlich, machte sie sich Sorgen. Aber nicht, weil ich eventuell von meinem Bruder gebissen wurde, sondern weil ich Magersüchtig werden könnte.

»Keine Angst, Mom. Ich trainiere noch. So dünn wie Kiyoshi will ich nicht werden.« Dabei deutete ich mit einer Kopfbewegung auf Kiyoshi, der mir sofort einen vernichtenden Blick schenkte.

Sicher, er konnte nichts für seine Körperstatue. Wer weiß, wie ich später aussehen werde, dachte ich, konnte mir aber trotzdem keinen giftigen Kommentar verkneifen. »Obwohl ich ein bisschen über seine dünnen Beine neidisch bin.«

»Nein, Zwerg«, war alles, was ich als Antwort zu hören bekam. Und ich wusste sofort, worauf das Nein bezogen war: Keine Strümpfe.

Trotzdem ich also das Thema wieder gekonnt von mir weg lenken konnte, bleib meine Mutter penetrant.

Es half nichts, ich musste essen.

Also schaufelte ich meinen Löffel mit Chili voll und steckte ihn mir nervös in den Mund.

Während ich vor mir hin kaute, spürte ich einen leichten Geschmack auf meiner Zunge. Er war nicht ansatzweise so intensiv, wie ich ihn in Erinnerung hatte, doch schmeckte es noch nicht nach Erde, so wie Kiyoshi immer berichtet hatte. Es schmeckte... nach Kantinenessen. Lasch, einfach Stückchen im Mund, die Essen darstellen sollten.

»Lecker, Mom«, murmelte ich noch mit vollem Mund und schluckte es schlussendlich runter. Ehe ich mich versah, spürte ich einen dicken Klumpen meine Kehle hinunterlaufen. Das fühlte sich in der Tat wie ein Erdklumpen an.

Okay, dachte ich, es ist doch eklig.

»Freut mich«, hörte ich noch von meiner Mom, die zufrieden lächelte und weiter ihre Portion aß.

Sobald sie wegsah, schüttete ich mir ein halbes Glas Wasser in den Mund. Kiyoshi grinste und presste wissend die Lippen aufeinander – wahrscheinlich froh darum, dass er nicht in meiner Haut steckte.

 

Es dauerte fast 20 Minuten, bis ich meine absolut mickrige Portion in den Mund geführt hatte und laut verkündete, satt zu sein.

Meine Mutter hob nur eine Augenbraue und schüttelte den Kopf. »Du isst wie ein Spatz, Hiro. Ich hoffe, das ist nur heute so.«

Enttäuscht darüber, dass noch so viel vom Chili übrigen geblieben ist, legte sie ein Cellophanpapier über die Schüssel und stellte sie in den Kühlschrank. Mit einem aufmunternden Kommentar brachte ich das dreckige Geschirr in die Küche.

»Ich esse vielleicht nachher noch einen Teller. Du kennst doch meinen Mitternachtssnack.«

Als keine Antwort kam, sondern nur ein passiv-aggressives Einräumen der Spülmaschine, entschloss ich die Küche auf schnellem Fuß zu verlassen.

Kiyoshi war bereits dabei den Koffer auszupacken und platzierte seine Sachen so gut er konnte neben meinen.

Die Zimmertür rastete ein, ich seufzte laut los.

»Und? War sehr schlimm?«, fragte Kiyoshi neugierig und hielt für einen Moment in seiner Bewegung inne. Als ich auf ihn zukam und mein Kinn auf seine Schulter legte, zuckte ich mit den Schultern.

»Es schmeckte nach Erde …«

»Hab ich dir doch gesagt.«

»Ja, aber … bisher hat noch alles relativ nach Essen geschmeckt. Es war das erste Mal, dass ...« Ich konnte den Satz nicht vollenden. Stattdessen blickte ich mit traurigem Blick aus dem Fenster. Die Sonne war bereits untergegangen. Nur noch die Lichter der Straße erhellten die Stadt.

»Mach dir nichts draus. Wir gehen uns nachher was holen und probieren das mit der Pille aus. Vielleicht klappt's ja!«

»Selbst wenn«, seufzte ich und ließ Kiyoshi los, sodass er weiter seine Sachen einräumen konnte. »Wie soll ich Mom davon überzeugen, dass ich mir vorher eine extra Würzung ins Essen machen muss, damit es essbar wird? Schon vergessen: Die Pille wird blutrot, sobald sie mit Wasser in Berührung kommt? Ich kann mir ihr Aufschreien schon vorstellen, wenn sie das blutrote Essen zu Gesicht bekommt.«

Kiyoshi packte still seine Pullover und Hemden weg, schloss den Koffer und stellte ihn unter meinen Schreibtisch. Erst, als er sich auf mein Bett setzte, begann er zu antworten.

»Wenn es funktioniert, kann ich wenigstens mit euch essen und sie wird ruhiger. Und je nach Essensform... wird es bestimmt nicht auffallen, ob bei dir auch eine Tablette drin ist oder nicht.«

»Na, also in jeglichen Suppen wird es schon auffallen. Ganz zu schweigen von hellen Speisen wie Pudding, Kartoffelpüree, Sushi... Das kann ich vergessen.«

Seufzend ließ ich mich neben Kiyoshi aufs Bett sinken und umklammerte sofort seine Taille.

»Aber zum Beispiel in allen Fleischgerichten kannst du es gut verbergen.«

Ich wusste, dass Kiyoshi mich nur aufmuntern wollte. Dass er mich lediglich dazu überzeugen wollte, dass Vampirsein nicht nur Scheiße war.

Doch während ich so in seine Augen blickte, die Iris und die Pupille genauestens betrachtete, spürte ich, dass er sich diese Dinge genauso oft einreden musste, um sie zu glauben. Als Kiyoshi und ich uns im Wald schlussendlich unsere Liebe gestanden hatten, erfuhr ich ebenso um seine Depression. Ein Leben lang nur gelitten zu haben, unter sich selbst, den Gedanken und den Tatsachen, dass er kein normaler Junge war. Selbst unter Vampiren war er sonderbar – denn Reinblütler gab es nicht oft. Sogar selten. Eigentlich fast nie.

Als stetiger Außenseiter zu gelten muss in der Tat wehtun. Zudem war Kiyoshi nicht der einfachste Mann. Nicht nur bedingt durch seinen psychischen Zustand, sondern auch durch seine niemals vorhersehbaren Launen, machte er es Dritten schwer, sich ihm zu nähern.

Bis heute verstand ich nicht, was der Auslöser für seine Gefühle für mich waren. Immerhin schmähte er jeden. Und zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit ließ er mich genau diese generelle Ablehnung zu jedem ganz genau spüren.

Nur irgendwann … da drehte sich das Blatt. Er biss mich, fühlte sich verantwortlich für mich und kümmerte sich um meine Probleme. Er wurde mein Mentor und achtete auf mich; seinen Schützling. Dass es im Endeffekt genau umgekehrt werden würde, hätte auch niemand gedacht.

Kiyoshi blieb nun unter meinen Fittichen – bis sich die Situation beruhigt hätte.

 

Vincent.

Dieser Mann hinterließ in meinem Kopf eine Welle von negativen Gedanken. Wie er Kiyoshi aufspießen wollte. Wie er ihn verspottete. Ihn umbringen wollte.

Und ehe ich mich versah, spürte ich nach der Welle der Angst eine Welle der Wut. Wenn ich nur die Kraft hätte, würde ich ihn bekämpfen. Ihn vielleicht sogar quälen für das, was er meinem Bruder angetan hatte.

Ihn töten.

 

»Hiro? Alles in Ordnung? Du bist so … abwesend...«, murmelte Kiyoshis schließlich in die Stille und ließ mich aus meinen Gedanken herausschrecken.

»Sorry … ich war nur … in Gedanken.«

»Das bist du in letzter Zeit häufig«, bemerkte mein Bruder und rollte sich zu mir, sodass ich mich auf den Rücken legen musste. Ich spürte sein komplettes Gewicht auf meinem Körper, als er sich auf mir räkelte. »So still kenne ich dich ja gar nicht.«

Seine Aussage hinterließ in meinem Gesicht ein müdes Grinsen.

»Du hast Recht. Ich bin nachdenklicher geworden... Aber es gibt auch wesentlich mehr in meinem Leben, worüber ich so nachdenken kann … und muss. Vorher waren das eher einfachere Dinge.«

»Nämlich?«, hakte Kiyoshi nach und lächelte mich interessiert an. Ach, da war es wieder. Dieses glückliche Lächeln, welches er nur mir schenkte. Welches nur mir gehörte.

»Ach«, begann ich und sah bei kurz zu den Fotos an meiner Wand, wo meine Freunde und ich uns teilweise auf Partys befanden. »Ob ich heute Saufen gehe, oder morgen... Ob ich wieder drehen sollte oder lieber doch Schachtel... Ob ich Jiro anrufe und mich mit ihm treffe, oder... nein, Hausaufgaben habe ich nie gemacht, also gab's da eigentlich nie ein Oder, haha«, spaßte ich und kratzte mich am Kopf.

Doch Kiyoshis Blick trübte sich. »Du denkst auch wirklich nur ans Trinken. Und ans Rauchen? Seit wann rauchst du?«

Ein leises Seufzen entfuhr mir. »Hin und wieder... habe ich eben mal Geraucht und Getrunken. Mehr Getrunken als Geraucht, aber meistens beides.«

Während Kiyoshis Blick sich immer wieder verfinsterte, versuchte ich die Stimmung mit einem nervösen Lachen zu kaschieren. »Hey, komm schon! Ich war eben viel unterwegs … da lässt man sich schon mal zu Dingen verleiten.«

»Es waren also die anderen Schuld?«

Ich dachte, er wollte einfach nur ein bisschen über mich erfahren? Und jetzt stellte er mich wieder vor den Pranger.

»Nein, nein ...«

Kiyoshis Blick blieb mahnend. Da fiel mir nur Konter ein.

»Dafür warst du noch nie betrunken, wenn ich das richtig verstanden habe«, bemerkte ich spitz und hob beide Augenbrauen.

»Ich glaube auch nicht, dass das etwas ist, was man im Leben erreicht haben sollte.« Die Aussage war klar und deutlich. Vorurteile gegen etwas, was man noch nie ausprobiert hatte.

Ich verdrehte die Augen. »Oh bitte, Kiyoshi. Einmal muss man die Dinge ausprobiert haben, um zu wissen, wie es ist! Alkohol kann witzig sein, glaube mir!«

»Na ja …«, murmelte er vor sich hin und kuschelte sich auf meine Brust. »Ich bin eben nicht so … wie du. Ständig gut gelaunt und... beliebt.«

»Das hat nichts mit gut gelaunt und Beliebtheit zu tun. Viele Alkoholiker sind unbeliebt und unglücklich. Das ist alles Einstellung und Willen.«

»Der Vergleich hinkt ein wenig, Hiro.«

»Whatever. Alles, was ich damit meine, ist, dass du nicht super gut gelaunt sein musst, um dich zu besaufen. Mann kann auch ohne Spaß Alkohol haben.«

»Heißt der Spruch nicht eigentlich -«

»Ja ja.«

 

Da lachte er leise und ließ seine Fingerspitzen über meine Brust gleiten.

Wir lagen einfach da und starrten die Wand an. Hin und wieder küssten wir uns auf die Lippen, sagten aber nichts.

Erst nach einigen Minuten hörte ich es kurz in meiner Tasche vibrieren.

»Oh mein Handy... Total vergessen.«

Vorsichtig stieg ich aus dem Bett und kramte mein Handy raus, welches noch von der Nachricht am Bildschirm leuchtete. »Jiro?«, stutzte ich überrascht und tippte auf die Nachricht.

»Dein Kumpel?«, fragte Kiyoshi weniger erfreut über eine Störung unserer Kuschelrunde.

Ich nickte. »Ja eine SMS. Hast du eigentlich Dad Bescheid gegeben, dass wir angekommen sind?«

»Nein.«

»Mach das mal bitte.«

»Kannst du gerne übernehmen.«

Mit diesen Worten drehte er sich schnippig um und rollte sich auf die Seite, sodass ich nur noch seinen Rücken sehen konnte.

Ein leises Seufzen entfuhr meinen Lippe, als ich mich wieder der Nachricht zuwandte.

 

»Hey Alter, alles fit? Bist du wieder im Lande? Meine Mom hat sich das Bein gebrochen, deswegen sind wir wieder zu Hause! Doch keine drei Wochen Nagasaki … Was soll's! Wollen wir dann mal die Woche an den See? Dann kannst du mir alles erzählen! Bin schon neugierig... ;-)«

 

Meine Augenbrauen zogen sich wie von selber hoch; ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

Ich freute mich wahnsinnig. Jiro war wieder zu Hause! Natürlich tat mir seine Mom leid, was ich ihm auch sofort schrieb, aber an sich kam es sowohl mir als auch ihm wohl recht gelegen, dass er Urlaub frühzeitig sein Ende nahm.

»Jiro ist wieder zu Hause! Wollen wir uns morgen mit ihm treffen?«, fragte ich Kiyoshi, der mir immer noch den Rücken zugewendet hatte.

»Mh«, war alles, was von ihm kam.

»Komm schon, Jiro ist nett. Du wirst ihn mögen.«

»Mal gucken …«, murmelte er niedergeschlagen, als würde er meinen Standpunkt nicht teilen.

Trotz Kiyoshis Unwohlsein, sagte ich Jiro direkt zu einem Treffen zu.

 

»Hey Jiro! Das tut mir aber sehr Leid für deine Mom, gute Besserung an dieser Stelle. Und gerne können wir uns treffen, wie sieht's mit morgen aus? Ich würde dann auch einen Überraschungsgast mitbringen ;-)«

 

Welcher das sein würde, überließ ich mal seiner Fantasie. Aber mit ein bisschen Grips würde er schon dahinter kommen.

Als ich das Handy weglegte und mich wieder zu Kiyoshi lehnte, drehte der sich gerade wieder auf den Rücken und sah direkt in meine Augen.

»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, sich mit deinem Freund zu treffen.«

»Wieso nicht?«, fragte ich neugierig und streichelte seine zarte Wange.

Ob er überhaupt einen Bartwuchs hatte?

»Na ja … du weißt doch wie das mit meiner Anwesenheit ist … sie macht Leute nervös.«

»Jiro mit Sicherheit nicht. Jiro ist... sagen wir … eher einfacher gestrickt. Der wird das zwar merken, aber dem keine große Beachtung schenken.«

Kiyoshis Augen zogen sich zu Schlitzen.

»Redest du immer so über deine Freunde? Du ziehst nur über sie her.«

»...« Ich presste meine Lippen aufeinander und formte sie zu einer strengen Linie. Nein, dachte ich, schlecht reden tue ich nicht. Nur die Wahrheit sagen. Und versuchen Kiyoshi zu beruhigen.

»Jiro ist ein toller Freund und er wird für alles Verständnis haben«, fügte ich hinzu und hob beide Augenbrauen. »Lern ihn kennen und entscheide dann. Wenn ihr beiden euch nicht riechen könnt... Könnt ihr euch ja immer noch aus dem Weg gehen.«

Kiyoshi nickte nur stumm und mied meine Augen. Es war ihm sichtlich unangenehm neue Leute kennen zu lernen. Natürlich war das in seiner Situation noch einmal etwas anderes... Aber bitte, Jiro und ablehnend? Niemals.

 

Auf einmal klopfte es zaghaft an der Tür.

 

»Ja?«, fragte ich in Richtung der Tür; Kiyoshis Arm dabei von mir lösend.

»Hiro? … Kommst du mal bitte raus?«, hörte ich die Stimme meiner Mutter.

»Ja, sicher...«

Ohne weiter drüber nachzudenken, öffnete ich die Tür und sah in die besorgten Augen meiner Mutter, die sofort in mein Zimmer spähten und Kiyoshi auf meinem Bett liegen sahen.

»Ich ziehe mich gleich zurück und lese noch etwas. Ich werde das Sofa herrichten, damit Kiyoshi darin schlafen kann. Dazu möchte ich, dass du mir kurz mit dem Laken hilfst«, sagte sie bestimmend, den Blick nicht von Kiyoshi abgewendet.

»Ach, Mom... Du willst unseren Gast auf dem Sofa schlafen lassen?« Seufzend drehte ich mich zu meinem Bruder um. Der sprang sofort vom Bett und nickte aufrichtig.

»Das ist okay, ich … ich schlafe auf dem Sofa.«

»Das tust du nicht, du schläfst in meinem Bett -«

»Auf keinen Fall!«, platzte es aus dem Mund meiner Mutter. Mit einem Ruck zog sie mich von Kiyoshi weg, aus meinem Zimmer ins Wohnzimmer und drückte mir ein Laken in die Hand. »Hilf mir jetzt.«

 

Ohne weiter widersprechen zu wollen, nahm ich das Laken und breitete es über dem ausgezogenen Sofa aus; stopfte die Enden in die Ritzen und strich es glatt.

»Wirklich... Ich schlafe dann lieber auf dem Sofa. Lass Kiyoshi doch nicht hier schlafen«, sagte ich erneut, doch sowohl meine Mutter als auch Kiyoshi verneinten.

Na gut, dachte ich, dann eben nicht. Manchmal kann man das Glück nicht erzwingen.

 

Als meine Mom zügig die Bettdecke und das Kissen auf dem Sofa herrichtete, warf sie mir hin und wieder einen bösen Blick zu.

Erst, als sie an mir vorbeiging und Kiyoshi ins Bad gehen sah, packte sie mich am Arm und zog mich beiseite.

»Hiro, bitte sag mir, dass das ein schlechter Scherz von euch ist.«

Oh, das Gespräch. Es fing an.

»Ein schlechter Scherz? Was soll ein schlechter Scherz sein?«, stellte ich eine dumme Gegenfrage und mied den Augenkontakt.

»Dein Vater hat mir unschöne Dinge über euch erzählt und... und wenn ich deinen Bruder in deinem Bett liegen sehe... will ich nicht wissen, was ihr beiden da treibt!«

»Na dann. Wenn du es nicht wissen willst ...«, gab ich sarkastisch zurück und schmunzelte leicht. Das handelte mir nur einen festeren Druck an meinem Arm ein.

»Hiro! Antworte mir.«

»Was willst du hören? Dass ich mit Kiyoshi eine Affäre schiebe? Dass ich mit ihm schlafe?«

»Oh Gott, Hiro!«, schrie sie auf einmal los und stieß mich fast schon angeekelt von sich. »Genau das will ich nicht hören!«

»Okay, dann sag ich es nicht.«

Schulternzuckend wollte ich mich in mein Zimmer begeben, da hörte ich sie noch schnattern.

»Hiro, das ist verboten! Das ist Inzucht! Hör sofort auf solche Späße mit mir zu treiben und sag mir, was Sache ist! Wenn das eine ernst zu nehmende Sache ist, muss ich das wissen!«

Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Wie genau wollte sie es denn noch wissen?

»Mom, alles ist gut … Wir benehmen uns doch … «

So eine coole Regelung, wie Vater sie aufgestellt hatte, würde es wohl bei Mom nicht geben. »Alles, was außerhalb dieser vier Wände und in meiner Abwesenheit passiert, kann ich nicht kontrollieren und liegt außerhalb meiner Macht«. Wo er Recht hatte, hatte er Recht.

Aber Mom wäre nicht Mom gewesen, wenn sie das Thema nicht noch zusätzlich aufgebauscht hätte. Sie tat wie immer so, als hätte ich Kiyoshi bereits geschwängert.

»Ich will nicht, dass meine Söhne... das... so was... Außerdem sollst du dich von ihm fernhalten, er ist gefährlich! Wir wissen nicht, was passieren würde, wenn-«

»Mom!«, unterbrach ich sie mit erhobener Stimme. »Er ist direkt neben dir im Bad! Rede nicht so über ihn! Er kann dich hören!«

Sofort verstummte sie und schluckte kräftig.

»Es wird schon nichts passieren, Mom. Keine Angst. Er beißt nicht. Und wenn er doch ein bisschen knabbert, kannst du mir glauben, werd ich schon ein Gummi benutzen, deine Laken sind sicher.«

»Ach du meine Güte!«, schrie sie schrill und wedelte mit den Händen.

Stur ging ich in mein Zimmer und schloss die Tür. Während ich mir meine Sachen auszog, um mich in mein Schlafdress zu begeben, pfefferte ich jedes einzelne Kleidungsstück auf den Boden.

Es war nicht die besonders nette Art, so über ein heikles Thema zu sprechen. Aber wenn ich eins nicht konnte, dann einfühlsam sein, wenn die Schuld bei mir lag. Dann konnte ich nur trotzig werden. Außerdem wusste ich nur zu genau, dass meine Mutter jedes Thema sofort abbrach, wenn es um Sex oder andere schmutzige Sachen ging. Gefühle und Mädchenkram waren ihre top Favoriten. Aber alles danach... auch noch zwischen zwei Männern. On top auch noch der eigene Sohn!

Nein, da endete jedes Gespräch.

Schon damals. Mit den Frauen. Solange ich ihr versprach ein Gummi zu benutzen... War alles in Ordnung.

Ich dachte, es würde auch diesmal funktionieren. Die Sache mit dem Gummi.

 

Es dauerte auch nicht lange, da betrat Kiyoshi recht zögerlich mein Zimmer. Als er meinen leicht genervten Blick sah, schloss er die Tür und räusperte sich nervös.

»Das... war ein sehr lautes Gespräch.«

»Ach«, winkte ich ab, »Das war noch leise. Es sind keine Gegenstände geflogen.«

Kiyoshi seufzte und setzte sich neben mich. »Wenn ich sage, dass es zwischen mir und Vater besser wäre... würde ich lügen.«

»Wir beide sind halt schwierig«, lachte ich leise, »Jeder auf seine Art.«

Mit einer schwungvollen Handbewegung legte ich meinen Arm um Kiyoshis Schultern. Als er sachte seinen Kopf in meine Halskuhle legte, hörte ich ihn abermals seufzen. »Dann … wird das heute Abend... wohl eher nichts, hm?«

Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, was er andeuten wollte.

»... Wieso? Ich habe doch nur versprochen, ein Gummi zu benutzen«, scherzte ich und drückte Kiyoshi an mich. Als er jedoch keine richtige Antwort gab, löste ich mich von ihm und sah in seine Augen. »Was lässt dich das Gegenteil annehmen?«

»Na... ich schlafe doch auf dem Sofa und ...«

Da verdrehte ich die Augen und ließ ihn seinen Satz nicht beenden. »Ja, aber doch nur für eine Stunde oder so... Danach kommst du zu mir... Als würde meine Mom das checken. Die wird nicht prüfen, ob du auch wirklich auf dem Sofa schläfst. Wahrscheinlich wird sie sich überhaupt nicht ins Wohnzimmer trauen.«

»Wirklich?« Sofort strahlten seine Augen und blickten voller Hoffnung zu mir.

»Na, klar. Ich... «

Als ich Luft holte, um den lusterfüllten Satz zu beenden, spürte ich es in meiner Kehle zuschnüren.

Auf einmal bekam ich keine Luft, suchte nach Worten, bekam natürlich keins raus.

Kiyoshis Augen weiteten sich. Mit einem Mal sprang er vom Bett, zog mir das Shirt aus und untersuchte meine Brust. Ich wedelte mit den Armen, rang nach Luft.

 

Was es also schon wieder so weit?

Nein, es...

Es war anders. Mir wurde nicht schwarz vor Augen, ich sah alles klar und deutlich, kein Schmerz.

Ich bekam einfach keine Luft.

 

Erst als Kiyoshi sich mit voller Wucht auf mich fallen ließ, musste ich husten und spürte, wie wieder Luft in meine Lunge floss.

 

»Ah!«, keuchte ich auf und rieb meine Brust. »Wow! Kiyoshi... seit wann... hast du so einen Schlag drauf, haha...«

Doch Kiyoshi blieb fassungslos; sah mich an, als würde ich jeden Moment zerfallen.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Hiro?«

»Ja... alles gut... ich bekam auf einmal keine Luft mehr.« Dabei rieb ich mir nachdenkend die Brust.

Der Blick meines Bruders blieb unergründlich und wurde mit jeder Sekunde ernster.

»Wahrscheinlich fängt dein Körper an, einzelne Signale der afferenten Nerven auszuschalten, sodass deine Medulla Oblongata nicht mehr ihren Tätigkeiten nachgehen kann.«

»Was«, war alles, was ich rausbekam, während ich noch über meine Brust rieb. Kiyoshi und sein Fachgetue.

Er verdrehte die Augen; wahrscheinlich wie immer überrascht, wie dumm ich eigentlich war. »Deine Verwandlung rückt immer näher... Wir sollten Vorbereitungen treffen.«

»Was denn für Vorbereitungen? Beiß mich doch einfach, wenn's so weit ist...«

»Und wenn ich nicht da bin? Oder Mutter bei uns ist und mich abhält? Weil sie denkt, ich will dir was tun? Es zählen Sekunden...«

Nun, er hatte wie immer nicht ganz Unrecht. Hier und da gab es sicherlich brenzlige Situationen, in denen es schwierig werden könnte mich zu beißen. Andererseits vertraute ich Kiyoshi, dass er alles in seiner Macht stehende tun wird, mich zu retten.

»Was schlägst du vor zu tun?«, fragte ich und zog langsam wieder mein T-Shirt an. Doch ehe Kiyoshi antworten konnte, hämmerte es gegen meine Tür.

»Hiro! Zum aller letzten Mal: Kiyoshi soll nicht bei dir schlafen! Also hört mit dem Krach auf und legt euch hin! Ich muss morgen arbeiten!«, plärrte Mom aus dem Wohnzimmer. Ich brüllte nur ein »Ja!« zurück.

Wütend hörte man die Schritte von der Tür wegführen.

 

»Na gut...«, fing Kiyoshi an, als er sich erhob. »Dann...bis gleich?«

»Bis gleich, Yoshi Schatz.«

»...«

 

Nur ein kurzes Lächeln streifte Kiyoshis Lippen, als er aus meiner Tür verschwand und sie leise schloss.

Er ist nicht an die Decke gefahren, dachte ich. Ein gutes Zeichen.

 

Als ich das Licht löschte und mich ins Bett legte, dabei das Windspiel der Bäume aus meinem Fenster betrachtete, dachte ich daran, was passieren würde, wäre ich erst mal ein Vampir.

Solche kurzen Aussetzer kamen häufiger, als gedacht. Mein Körper schien mit aller Kraft dagegen anzukämpfen. Ich war schon immer eine Kämpfernatur, aber so einen Kampf habe ich noch nie ausgetragen...

 

Ob ich am Ende überhaupt noch Ich selbst sein kann? Oder wird auch das Tier die Kontrolle übernehmen – so wie bei Kiyoshi?

Bekanntschaft

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Alte Freunde

»Hadde, Alter Schwede, was geht?«, begrüßte mich Jiro, hörbar erheitert am Telefon.

Es war bereits Nachmittag, die Sonne brach zwischen den Wolken nur noch vereinzelnd durch, sodass die Temperaturen langsam sanken.

»Hallo, Jiro... Wie gehr's dir? Und vor allen Dingen deiner Mom?«, fragte ich weniger enthusiastisch. Kiyoshi saß auf dem roten Sofa, blätterte in einer Zeitschrift und trank dabei ein Glas mit Tablette. Tat so, als würde ich gerade mit niemandem reden. Oder blendete zumindest die Tatsache aus, dass ich gerade telefonierte.

»Super! Meiner Mom nicht so, aber passt schon! So konnten wir früher abreisen, war eh langweilig bei der Familie, du weißt.«

»Haha, ja, weiß ich nur zu gut«, stöhnte ich etwas leidvoll ins Telefon.

»Also? Kommst du noch mit an den See? Der Rest ist auch da!«, da raschelte es und Jiro wurde auf einmal sehr leise, »sogar Lampe mit ihrer neuen Freundin... Na ja! Geschmackssache!«

Da musste ich leise lachen und stellte mir bereits Lampes Ebenbild vor, wie sie mit sich selber rummachen würde.

Doch ein Blick aus dem Fenster sagte mir eindeutig „Nein“ zum See. Trotz Sonnencreme würde es sowohl für mich als auch für Kiyoshi unerträglich in der Sonne werden. Und mir fiel bei Gott keine gute Ausrede ein, wieso ich auf einmal mit Sonnenschirm durch die Gegend rennen würde.

»Sorry, Jiro, eher nicht. Du weißt, ich hab's nicht so mit See...«

»Aber wir haben Alkohol! Und es ist witzig!«, plärrte er ins Telefon und lachte laut los, als ihn jemand ansprach. »Und mit Alkohol konnte ich dich bisher immer locken!«

Da hatte Jiro nicht ganz unrecht, aber Alkohol stand auch noch nie mit meiner Existenz auf einem Niveau. Alkohol und in der Sonne sterben – oder kein Alkohol und im Schatten leben.

»Nee, echt mal. Heute kein See. Geht ihr heute Abend nicht noch irgendwohin? Da würde ich mich anschließen.«

Während ich noch am Esstisch saß und das Ikebana meiner Mutter zerrupfte, schlug Kiyoshi die Zeitschrift zu und stand auf. Als er auf mich zukam und meinen Nacken streichelte, zog ich ihn auf meinen Schoß.

Jiro seufzte enttäuscht ins Telefon.

»Puh, joa, ich denke mal wir gehen wieder in unseren Pub. Da sage ich dir gerne Bescheid, wenn's losgeht.«

»Das wäre super.«

»Und wer ist deine mysteriöse Begleitung, die du angekündigt hast? Hast du jetzt etwa auch ne neue Freundin?« Da lachte Jiro laut los und raschelte laut am Telefon. »Sag nicht, sie ist aus dem Norden! Die Weiber da sollen komisch sein!«

 

Ich schwieg.

Ja, da sind so ungefähr alle ein bisschen komisch. Trotzdem nannte ich Kiyoshi meinen festen Freund. Doch – nein – Jiro war zwar mein bester Freund, aber selbst das war zu krass für ihn zu wissen.

Nicht nur, dass ich schwul geworden bin, sondern auch, dass es mein eigener Bruder war. Nein, nein. Selbst ein Jiro durfte davon nicht erfahren.

»Es ist Kiyoshi. Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, dass es keine neue Freundin ist«, sagte ich salopp und strich über Kiyoshis Rücken. Der warf mir nur einen gespielt verletzten Blick zu und schwang seine langen Haare hinter die Schulter, als würde er alles andere als eine Enttäuschung sein.

»Verarsch mich! Kiyoshi? Dein Bruder? Holy Shit!«, schrie er ins Telefon. Doch ehe er die anderen darüber unterrichten wollte, plapperte ich ihm ins Wort:

»Jiro, hör mal zu! Das soll erst mal noch... unter uns bleiben, hörst du? Kiyoshi ist hier zu Besuch und eigentlich will ich so wenig Aufsehen wie möglich, okay? Lass uns heute Abend für ein bis zwei Stündchen treffen... Dann erzähl ich dir, äh, alles und gut ist, okay?«

»Huh?«, raunte er ins Telefon, »Also ohne die anderen?«

»Vorerst ja. Wäre mir lieber.«

»Na gut... Dann eben nur wir Drei. Bin gespannt, ob ihr wirklich so eineiig seid.«

»Glaube mir, das sind wir. Aber Kiyoshi hat längere Haare, daran wirst du ihn erkennen.«

»Na Gott sei Dank. Dachte schon, das würde wie beim doppelten Lottchen enden.«

Jiro lachte noch ein wenig, versprach mir dann über meinen Bruder zu schweigen und beteuerte mir seine Vorfreude auf den Abend.

Schließlich legte ich auf und warf das Telefon auf das Sofa, um beide Hände um Kiyoshi zu legen.

Der sah mich neugierig an.

»Jiro?«

»Ja, genau.«

»Wie ist er so?«

»Aufbrausend«, beschrieb ich ihn mit einem Wort und lachte zaghaft. »Sehr lieb und immer verständnisvoll. Wie gesagt, du wirst ihn mögen. Und er wird auch dich mögen.« Wenn er selbst Lampe in der Clique duldete... würde er Kiyoshi gleich drei mal dulden.

»Willst du ihm sagen, dass wir zusammen sind?«

»Nein, nein. Das nicht.«

»Wieso nicht?« Kiyoshis Augenbrauen schoben sich zusammen.

»Wieso nicht, fragst du? Na, weil das vielleicht … «, ich holte tief Luft, »Inzucht ist? Wir können nicht einfach so händchenhaltend durch die Gegend laufen...und schon drei Mal nicht miteinander hausieren gehen.«

»Ich denk, Jiro ist so verständnisvoll? Kat hat es auch gut aufgenommen.«

»...« Ich seufzte laut auf. »Jiro würde es auch gut hinnehmen... Aber mir wäre es lieber... Wir warten damit noch ein bisschen. Einfach langsam mit den Pferden, okay?«

»Jiro«, und dabei betonte er seinen Namen recht deutlich, »kann ruhig wissen, dass du mir gehörst.«

Vorsichtig zog ich eine Augenbraue hoch. »Okay... Kiyoshi... lern ihn erst mal kennen, ja? Wenn wir uns alle super verstehen, sage ich ihm gerne die Wahrheit. Aber bis dahin... bist du mein braver Bruder aus dem Norden, okay?«

»Brav? Pah, ich bin alles andere als brav.« Dabei verschränkte er die Arme und sah beleidigt zur Seite. Er war so ungefähr das unberührteste Geschöpf, was ich jemals getroffen hatte. Von seiner dünnen, weißen Erscheinung, die ein unschuldiges Image noch unterstrich, mal ganz abgesehen.

»Sei einfach du selbst. Mach es von der Situation abhängig. Aber bitte: werd nicht unfair gegenüber Jiro.«

»Ich bin nie unfair gegenüber irgendjemanden.«

»Wenn das so ist, muss ich mir ja keine Gedanken machen.«

»Die sind sowieso unnötig.«

Da schwieg ich lieber. Was jetzt genau unnötig war, wollte ich nicht nachfragen. Kiyoshi war zickig, wann immer es um Jiro ging.

War er etwa eifersüchtig?

Auf Jiro?

… Ich wollte das Thema nicht ansprechen, weil er es wahrscheinlich sowieso abgestritten hätte. Er und eifersüchtig? Niemaaaaals.

 

Wir tranken noch etwas Blut aus unseren Gläsern, das Chili komplett vergessen, während wir auf der Couch saßen und etwas Fernsehen schauten.

»Habt ihr eigentlich einen Fernseher bei euch?«, fragte ich beiläufig, das leere Glas auf den Couchtisch stellend.

Kiyoshi verneinte. »Nein, Vater hält nicht so viel davon. Aber ich schaue manchmal über's Internet Fern.«

»Armes Kind«, schmunzelte ich und legte wieder einen Arm um Kiyoshi, sodass er sich an mich heran kuscheln konnte.

Während er grinsend weiter trank, fiel mein Blick auf mein leeres Glas.

Wann genau wurde das zur Normalität? Schon in Kiyoshis Schule? Seitdem ich auf der Toilette zusammengebrochen war? Oder erst zu Hause, nach Vincents Angriff?

Ich trank dieses Blut wie Wasser. Am Morgen schon ein Glas, vorhin, jetzt wieder eins. Der Pillenvorrat reichte noch für etwaige Wochen, ansonsten würde Chloe uns neue schicken.

Aber je mehr ich trank, desto besser ging es mir. Der Geschmack war süßlich herb. Wie ein guter Drink. Ich musste mir eingestehen: es gefiel mir, das Blut zu trinken.

Es gefiel mir schon immer.

 

Trüb sah ich zu Boden.

Im Grunde... wenn man es im Nachhinein betrachtete...

war ich schon immer komisch gewesen. Als Kind das Wundblut geleckt. Als Jugendlicher Schweineblut vom Metzger geholt und darin gebadet – weil man ja cool war. Hatte ich mich geschnitten... habe ich es aus der Wunde gezogen.

Hatte ich schlecht geträumt... habe ich mich am Mond erfreut, der mir Licht schenkte. So blieb ich oft Nächtelang wach, schlief den ganzen Tag und sah frischer aus, als wenn ich mich an den menschlichen Tageszeiten hielt. Ich mied die Sonne, wann immer es ging. Ich wollte eigentlich nur nicht braun werden, aber – eben im Nachhinein betrachtet – fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Sonnenbrand nach nicht einmal einer halben Stunde sprach Bände über meine Genetik.

 

»Was machen wir … wenn ich verwandelt bin?«, fragte ich wie aus dem Nichts, den leeren Blick immer noch auf das Glas haftend.

Kiyoshi erhob sich ein kleines Stück, sah mir in die Augen und seufzte leise. »Keine Ahnung, das wird Vater entscheiden. Wahrscheinlich... wirst du zu uns kommen.«

»Da wartet aber Vincent auf uns.«

»Ja … vielleicht bleiben wir auch hier. Ich hab keine Ahnung.«

Ich nickte vorsichtig, seufzte ebenfalls und strich über Kiyoshis Bein.

 

Vielleicht würde das heute das letzte Treffen mit Jiro sein, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht... nie wieder. Was, wenn ich gehen müsste? Ich dürfte Jiro nichts sagen. Ich dürfte niemandem etwas sagen. Wahrscheinlich müsste ich zu allem Übel noch offiziell sterben, damit ich in Ruhe gehen könnte und niemand Fragen stellte.

 

Als es unangenehm über meinen Rücken schauderte, erhob ich mich und schaltete den Fernseher aus.

»Machen wir uns fertig und gehen schon mal was Alkohol an der Tanke holen. Dann fahren wir in die Stadt.«

»Jiro hat sich doch noch gar nicht gemeldet... «, bemerkte Kiyoshi, stand aber auch vom Sofa auf und richtete seine schwarze, enganliegende Jeans. Er kam eher trottend auf mich zu, strich über meinen Arm und senkte den Blick zu Boden.

»Das passt schon. Ich zeige dir sonst so erst mal die Stadt, bis er eben Zeit hat.«

Mit einem leichten Grinsen drückte ich ihm meine Lippen auf. Erst zurückhaltend, dann forscher, erwiderte Kiyoshi meinen Kuss und presste sich an mich. Sein Atem wurde schneller, abgehackter und schien regelrecht für mich zu existieren. Nur, damit ich seine Lust spürte.

 

Huch, dachte ich, wie konnte diese erotische Stimmung denn jetzt so schnell wieder kommen? Ich wollte ihm doch nur einen normalen Kuss geben...

Als ich mich kurz aus dem Kuss lösen wollte, um Kiyoshi zu fragen, ob wir noch eine schnelle Nummer schieben wollten, sah ich in schwarze Augen.

»M-Moment mal! Wieso verwandelst du dich? Es ist Vollmond!«

Er seufzte, antwortete nicht, sah mich nur erregt an. Mit einiger Kraft drückte er mich auf das Sofa, setzte sich rittlings über mich und begann einen neuen Kuss.

»Kiyoshi!«, mahnte ich meinen Bruder, der in absoluter Ekstase stand.

Hatte ich mich geirrt? War vielleicht erst morgen Vollmond? Oder blieb die Bestie noch den Vollmond über?

Kiyoshi jedenfalls interessierte das absolut gar nicht, bewegte sich auf mir, als würde er es kaum abwarten können, mich erneut reiten zu dürfen.

Doch wie sollte ich es beschreiben? Ich wollte Sex, auf jeden Fall, aber mit Kiyoshi. Nicht mit diesem... willenlosen Tier. Auch wenn es seinen Reiz hatte, ihn mal so richtig für meine bösen Machenschaften zu benutzen, wollte ich mir das für später aufheben. Immerhin hätte ich jeden Monat ganze 15 Tage Zeit ihn als Tier ran zu nehmen.

Aber auch 15 Tage, ihn als Kiyoshi zu nehmen.

 

»Kiyoshi... Hör auf, komm schon«, bat ich meinen Bruder, der bereits anfing meine Sweatshirtjacke auszuziehen. »Wir wollen jetzt los... Ich möchte jetzt nicht.«

Doch Kiyoshi ließ nicht mit sich reden.

Und in diesem Moment bekam ich eine Ahnung vom Gefühl wie es sein musste, gegen seinen Willen verführt zu werden.

Kiyoshi antwortete nicht, ließ sich nichts sagen, griff weiter nach meinen Klamotten und zerrte gewaltsam an ihnen.

Vielleicht, dachte ich, hilft ja ein einfacher Druckabbau... Jedenfalls hatte ihn das bisher immer zurückgeholt.

Ich fackelte nicht lange, begann Kiyoshis Hose aufzuknöpfen und nahm sein bereits hartes Glied in die Hand. Natürlich ließ er alles zu, wurde auf einmal devot und schloss sinnlich die Augen, als ich meine Hand anfing zu bewegen.

»Uh...«, brummte er dunkel durch seine spitzen Zähne, öffnete kurz die schwarzen Augen und presste mir einen Kuss auf die Lippen. Sachte schob er seine Zunge in meinen Mund und benetzte meine Lippen mit seinem Speichel.

Je schneller ich mit meiner Hand wurde, desto lauter wurde sein Gebrumme. Ein richtiges Stöhnen war das nicht, es war das Growlen eines Tieres.

Anzunehmen war also, dass sein tierisches Verhalten zu Vollmond noch einmal verstärkt auftrat. Unschön natürlich, dass wir genau an diesem Abend vorhatten in die Stadt zu gehen – unter Menschen. Unter einer Menge Menschen. Doch just in dem Moment, wo ich mit meinen Gedanken ganz woanders war, spürte ich seine spitzen Krallen in meiner Schulter, seine Zähne an meinen Lippen und ein zuckendes Glied in meiner Hand.

»Ah!«, raunte er laut auf, klammerte sich an mir fest und ergoss sich großzügig in meiner Hand.

Mit noch leichten Bewegungen presste ich den letzten Rest aus ihm heraus. Leicht transparente Flüssigkeit bahnte sich den Weg über meine Hand.

Ohne es wirklich gemerkt zu haben, war mir doch ziemlich heiß geworden. Meinem Bruder einfach mal so einen runter zu holen... war in der Tat aufregend gewesen. Wie alles intime, was wir taten.

»Mh...«

Kiyoshi murmelte etwas vor sich hin, hatte noch immer die Augen geschlossen und strich mit seiner Nase über meine Haut. »Hiro«, flüsterte er meinen Namen.

Als er seine Augen öffnete, blickte ich in weiße, strahlende Augen.

Aha, dachte ich. Das ist also das Geheimnis. Das Tier kommt bei Lust und geht bei Befriedigung. Einfache Sache. Hätte ich das mal früher herausgefunden.

Mit einem sanften Lächeln begrüßte ich meinen Bruder. »Schön, dass du wieder da bist.«

Kiyoshi zuckte zusammen, sah verwirrt in meine Richtung. »Ich war doch gar nicht weg ...«

»Du warst gerade ganz weit weg... Hast du überhaupt mitbekommen, was ich gesagt habe?«

Er öffnete den Mund, wollte schon zum Wort ansetzen – schien dann aber doch noch einmal zu überlegen, was genau passiert sein könnte und schüttelte schlussendlich den Kopf. »Nein... Tut mir Leid. Heute ist das letzte Mal, versprochen! Danach werde ich mehr... Willen über meinen eigenen Körper haben... Nur noch heute.«

Wir beiden schauten aus dem Fenster und erkannten nur wage die Umrisse eines Mondes. »Also bei Vollmond noch einmal so richtig?«

Kiyoshi nickte entschuldigend und sah dabei zu Boden. »Bei Neumond das genaue Gegenteil.«

»Wirklich?«

»Ja … meistens brauche ich kurz vor Neumond sogar fast gar kein Blut. Und es geht mir trotzdem gut.«

»Interessant...«, bemerkte ich überlegend. Also war es wirklich wie in diesen Filmen, wo sie bei Vollmond ausrasten und bei Neumond Kätzchen wurden.

 

In dem Moment vibrierte mein Handy.

Kiyoshi zog schnell seine Hose hoch, wischte beschämt die Reste seines Liebesspiels von sich und meiner Hand, während ich an mein Handy ging.

»Jo, Hero. Ich wär dann bald alleine! Seid ihr schon auf dem Weg?«

Ah, der erwartete Anruf von Jiro.

»Sprungbereit! Wir sind in 20 Minuten da! Irgendeinen Wunsch beim Alkohol?«

»Mhh... Mit Rum kriegst du mich immer.«

»Wunderbar.«

 

Damit legte ich auf, sah in Kiyoshis zusammengezogene Augen, die mich mahnend ansahen. »Ihr wollt wirklich Alkohol kaufen, obwohl wir in eine Bar gehen?«

»In der Bar ist es immer so teuer... Da besaufen wir uns vorher schon, um den Pegel in der Bar zu halten.«

Ein leises Lachen entfuhr meinen Lippen, als Kiyoshi angewidert von meinem Satz seine Schuhe anzog.

»Komm schon, wird lustig!«, ermutigte ich ihn und klopfte ihm auf die Schulter, als ich meine Jacke nahm. »Du musst es uns ja nicht unbedingt gleich tun. Auch wenn ich es sehr interessant fände, dich betrunken zu erleben.«

»Ja, ja«, seufzte er und zog sich einen schwarzen Blazer an, dessen Ärmel er hochkrempelte. »Denk aber dran: Dein Blut zirkuliert nicht mehr wie früher. Du brauchst weniger Alkohol, um betrunken zu werden und... bist auch länger betrunken, weil es länger dauert, den Alkohol abzubauen.«

»Umso besser. Weniger Geld ausgeben.«

»Ich mein's ernst, Hiro. Du kannst auch an einer Alkoholvergiftung sterben.«

»Ernsthaft? Aber man ist doch schon tot.«

»Dein Gehirn ist nicht tot. Aber das wird es, wenn du zu viel Alkohol durch deine Blut-Hirn-Schranke ballerst.«

Mit einem lauten Handschlag auf Kiyoshis Rücken drückte ich ihn aus der Tür. »Ich hab's verstanden, Kiyoshi. Ich passe auf. Du passt auf. Wir alle passen auf.«

»Ich … «, doch weiter kam er nicht. Schnell schloss ich die Haustür ab, richtete meine schwarze Lederjacke und führte Kiyoshi zum Aufzug, wo wir gemeinsam warteten.

 

Da kam sie wieder, die gute Laune. Ich würde gleich endlich wieder mit meinem besten Freund saufen gehen, während mein lieber Bruder dabei wäre.

Und wahrscheinlich nur die Augenbrauen zucken würde. So wie immer.

»Magst du Rum?«, fragte ich meinen Bruder, der stumm auf den Aufzug blickte und immer noch nicht sehr begeistert von meinem Plan des Alkoholtrinkens schien.

»Geht so«, erwiderte er monoton und stieg in die sich öffnenden Türen. Vorsichtig folgte ich und schlang einen Arm um seine Taille, nachdem die Tür sich schloss.

Wahrscheinlich hatte er noch nie Rum getrunken.

»Ich weiß, dass du eher nicht so viel Spaß daran hast, besinnungslos trinken zu gehen... Aber wenigstens heute? Für mich?« Mit diesem Satz lächelte ich mein süßestes Lächeln, was ich in petto hatte. Bei Mom funktionierte das immer.

Kiyoshi hingegen lehnte sich gegen mich und sah zu mir auf; strich dabei sanft, ja, fast verführend über meine Brust. »Ich versuche es. Aber versprich mir, dass wir … aufeinander aufpassen, okay?«

»Na klar«, flüsterte ich, »auf dich pass ich sowieso auf. Heute ist Vollmond.«

»Ja ...«

Kiyoshis Blick senkte sich ein Stück. Er schien auf einmal nachdenklich zu werden, behielt die Nähe zu mir allerdings bei. Wahrscheinlich setzte ich ihn unbewusst einer viel zu großen Gefahr aus. Ein etwas unwohles Gefühl schlich auch in mir herum. Ich wollte nicht, dass Kiyoshi seine Sinne verlieren und dem Tier schlussendlich komplett nachgeben würde. Gar nicht auszumalen, was eventuell noch andere Menschen für schaden nehmen könnten.

Als sich die Aufzugtür öffnete und wir heraustraten, bekam ich eine SMS von Jiro, dass er vor unserem Pub warten würde und die anderen bereits weitergezogen wären.

Ausgezeichnet.

 

Wir schlenderten die Straße entlang und betrachteten die Autos auf der Hauptstraße vorbeifahren. Die Straßenbahn mieden wir weiterhin.

Irgendwie verging mir schon die Lust, sie zu nutzen, als ich sie an unserer Haltestelle stehen sah. Die Menschen, die sich dort hineinquetschten, laut miteinander sprachen und alle möglichen Düfte an sich trugen, ließen in mir ungute Gefühle aufsteigen.

Außerdem, so legte ich mir die Ausrede zurecht, würden wir eher an einem Kiosk vorbeikommen, um Alkohol zu kaufen.

Doch je weiter wir gingen...

... desto größer wurde das Gefühl verfolgt zu werden. Als ich mich umsah, sah ich nur junge Menschen; lachend und trinkend.

 

Das Gefühl wurde stärker, je mehr wir uns der Stadt näherten. Kiyoshi sah betrübt auf den Boden und sagte nichts, also schob ich das dumpfe Gefühl eigener Irritation zu.

 

»Hier gehen wir kurz rein«, schlug ich Kiyoshi vor und zog ihn in einen recht modernen und großen Laden nahe der Innenstadt. Er war schlauchförmig von der Straße weg ausgerichtet und verkaufte Snacks, Alkohol, Zigaretten und sogar einige Plüschtiere und Souvenirs. Eher wie eine Tankstelle – nur ohne Tankstelle.

Kiyoshis Blick ging anmutig durch den Raum. Mit langsamen Schritten folgte er meinen und berührte hier und da eine Flasche oder Dose.

Nicht weiter auf ihn achtend ging ich an den Glasschrank im hinteren Bereich des Kiosks und deutete auf eine braune Flasche. »Hallo? Könnte ich hiervon etwas haben?«

Ein alter, ausländisch aussehender Mann setzte sich in Bewegung und kam auf mich zu. Mit einem kleinen Akzent fragte er mich, welche Flasche ich genau haben wollte und schloss nach meiner Identifikation den Glasschrank auf, um mir das bräunliche Gesöff zu reichen.

»Danke«, murmelte ich und ging Richtung Kasse. Kiyoshi stand noch immer vor einigen Dosen und bewunderte die bunten Etiketten. Lächelnd ging ich auf ihn zu.

»Möchtest du noch etwas haben? Vielleicht etwas zum Spülen?«, fragte ich wie eine besorgte Mutter und strich über seinen Rücken.

Doch Kiyoshi nahm sich eine Dose Energy Drink und drehte sie in seinen Händen. »Der Alkohol wird eh nach Erde schmecken...«

»Wirklich? Selbst Alkohol?«, fragte ich erstaunt und betrachtete die Glasflasche.

Als ich sein Nicken vernahm, verstummte ich schlagartig. Selbst Alkohol würde nach Erde schmecken? Es blieb einem auch wirklich nichts erspart...

»Was ist das hier?«, fragte Kiyoshi schließlich und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn und die Dose.

»Energy Drink. Da ist Koffein und Taurin drin. Man wird wacher und... vielleicht etwas aufgedreht.«

Mein Bruder zog die Augenbrauen zusammen und stellte die Dose wieder weg. »Lieber nicht.«

»Nimm sie ruhig mit, Jiro trinkt das auch. Wenn's dir nicht schmeckt... wovon ich mal ausgehe... geben wir sie Jiro.« Mit diesen Worten griff ich nach einer großen Dose Energy Drink und ging mit beiden Waren zur Kasse. Kiyoshi folgte mir nur stumm und stellte sich halb hinter mich; das unwohle Gefühl fast schon ausstrahlend, so stark ging es von ihm aus.

Ein etwas rundlicher Mann nahm beide Waren von der Theke und kassierte sie ab. Da fiel mein Blick ins Zigarettenregal. »Und eine Schachtel Djarum Black bitte«, forderte ich den Mann auf mir eine schwarze Schachtel Zigaretten zu geben. Der Kassierer tat wortlos, was von ihm verlangt war und hielt stumm die Hand für mein Geld offen. Mit einem Blick erhaschte ich den Betrag von der Kasse und bezahlte recht passend, sodass ich Portemonnaie und Kippen in meine Hosentaschen steckte, Kiyoshi die Dose reichte und selber die Glasflasche nahm.

Seufzend ging ich aus dem Laden und wartete kurz, bis Kiyoshi folgte.

Dann sah ich den entsetzten Blick.

»Du rauchst also immer noch? Ich dachte, das war alles früher?«, fragte er sichtlich aufgebracht über die Tatsache, dass ich mir gerade Kippen gekauft hatte.

Doch ich winkte lässig ab. »Hin und wieder vielleicht mal eine beim Feiern. Jiro raucht stärker. Der mag die schwarzen gerne, deswegen dachte ich, bring ich ihm welche mit.«

»Lüg doch nicht! Du rauchst die doch selber!«, fauchte mich Kiyoshi an, als wäre er die Sittenpolizei persönlich.

»Ganz ruhig«, hob ich beide Hände, eine mit dem Rum in der Hand, und versuchte die Situation zu beruhigen. »Ich hab doch zugegeben, dass ich manchmal eine mitrauche. Hast du mich die Woche rauchen sehen? Es ist also keine Sucht... es ist Genuss.«

»So fängt das aber an!«

»Und wenn schon? Willst du mir sagen, dass ich auch an Lungenkrebs sterben könnte?«

»...«

Da schwieg er und drehte die Dose nachdenklich in seinen Händen. Ein Blick auf den Boden zeigte mir deutlich, dass ich wohl genau den Punkt getroffen hatte, um den es sonst gehen würde. Rauchen war schlecht, selbstverständlich, aber für jemanden, der keine Zellteilung mehr hatte... wurde Rauchen auf einmal eine leichte Sache.

»Mir ist's egal, ob die Lunge schwarz vom Teer ist. Ich guck sie mir ja nicht an.«

»... man stinkt aber...«, murmelte Kiyoshi, als würde dieses Argument seinen Standpunkt noch retten können.

»Du wirst es überleben. Ich kau danach auch einen Kaugummi, versprochen.«

Kiyoshis Blick blieb auf der Straße. Mit einem Mal drehte er seinen Kopf, schwenkte seine Haare hinter die Schulter und rümpfte die Nase.

»Hast ja Recht«, pfiff Kiyoshi aufgebracht und setzte einen schnellen Schritt an, sodass er mich beim Gehen überholte, »Ich darf dich ja eh nicht küssen. Also rauch so viel zu willst; ich werd's eh nicht schmecken oder riechen.«

Mit einem leichten Seufzen folgte ich seinem schnellen Schritt und griff mir hilflos in den Nacken. »Bitte, sei fair... Ich habe dir doch erklärt, wieso das nicht geht... Kannst du das denn nicht nachvollziehen?«

»Nein!«, zischte er mir divenhaft zu.

Divenhaft? Ja.

So schoss es mir durch den Kopf.

Kiyoshi konnte eine wirkliche Diva werden.

Nein, er war eine Diva.

Alles musste nach seinem Kopf gehen. Tat es das nicht, wurde er zickig. Gefiel ihm etwas nicht, wurde er zickig.

Wie ein verlorener Freund lief ich der wütenden Freundin hinterher und versuchte ihn zu beschwichtigen.

»Kiyoshi, chill, bitte. Wenn du weiterhin so schlechte Laune hast... dann lassen wir das heute lieber.«

»Ist schon okay, lass uns saufen gehen! Wird schon witzig sein! Und hey, wieso sollte ich dann nicht auch eine Rauchen? Spiel den schlechten Einfluss, Hiro! Vielleicht werde ich ja dann so wie du: immer gut gelaunt!«

Kiyoshi wurde immer gereizter, mit jedem Wort, was er mir an den Kopf warf. Schlussendlich blieb er stehen, riss mir die Rumflasche aus der Hand, öffnete sie schlagartig und trank einige große Schlucke aus ihr.

An seinem Blick konnte man sehen, dass es brannte. An meinem wie überrascht ich war.

»H-Hey... hast du nicht gerade noch gesagt „langsam“?«

Doch ehe ich ihm die Flasche vom Mund ziehen konnte, setzte er ab und hustete vom starken Alkohol. Angewidert reichte er mir die Flasche und deutete mit seinem Kinn an, dass ich ihm das ruhig nachmachen könnte.

Mit leichtem Schulterzucken setzte ich die Flasche ebenso an den Mund und trank drei Schlucke. Mehr war nicht drin, denn um ehrlich zu sein: es schmeckte widerlich.

»Das... schmeckt ja wirklich nach Erde...«, gab ich enttäuscht von mir und sah in die Flasche. Sonst schmeckte es nach süßlichem Alkohol, etwas scharf, aber an sich süß. Kiyoshi hingegen zuckte nur mit den Schultern. »Ist vielleicht ein Grund«, und dabei zog er gereizt die Augenbraue hoch, »wieso ich nie so viel Alkohol getrunken habe!«

»Pf!«, prustete ich los. »Das wird mich definitiv nicht aufhalten!«

Da packte mich der Mut und ich trank erneut zwei Schlucke. Noch merkte ich nichts vom Alkohol, aber klar, dachte ich. So war das auch schon zu Menschenzeiten.

Vorsichtig schloss ich die Flasche, aus der bereits gut ein Viertel fehlte, und stellte sie an den Straßenrand. Einige Menschen beeilten sich bereits in die Innenstadt, viele grölten und einige Jugendliche schienen extrem betrunken zu sein.

Kiyoshi sah sich unwohl um. Erst, als ich ihm eine Zigarette hinhielt, hielt er inne und sah in meine Augen.

Seine Hand bewegte sich, nahm jedoch keine Zigarette aus der Schachtel. Ich schmunzelte genervt.

»Doch anders überlegt? Sind deine fünf Minuten vorbei?«, fragte ich etwas gereizt von Kiyoshis Anfall.

Als er die Augenbrauen zusammen schob und weiterhin zögerte einen Glimmstängel zu nehmen, packte ich die Schachtel wieder weg. »Später vielleicht«, fügte ich hinzu und nahm die Rumflasche vom Bürgersteig, um den Gang in die Stadt fortzusetzen.

Kiyoshi nickte stumm und folgte. Und als würde er sich entschuldigen wollen, griff er nach meinem kleinen Finger und umschloss ihn mit seinen restlichen. Wie ein reumütiges Kind lief er neben mir her und behielt den Blick gen Boden.

Ich ließ es einfach zu. Die Menschen um uns herum wurden immer betrunkener, die Nacht immer dunkler. Niemand würde auf unsere Hände achten.

Und wenn doch: Who cares.

Freuden der Nacht

Je näher wir dem Pub kamen, desto ruhiger wurde Kiyoshi. Er umschloss noch immer meinen Finger und umklammerte die Dose, als könne sie ihm Schutz vor dem Ungewissen geben.

»Wo ist der Pub?«, fragte er schließlich und gesellte sich auf meine Höhe beim Gehen.

»Gleich da hinten. Wir sind gleich da«, grinste ich ihn an, voller Vorfreude auf Jiro. Die Rumflasche klimperte gegen meine Reißverschlüsse und läutete wie Kirchenglocken eine wahrlich schöne Zeit ein.

 

Wir bogen in eine volle Gasse ein, wo viele Punks und Metaller auf dem Bürgersteig und der Straße saßen und tranken. Sie unterhielten sich lautstark, rauchten und pöbelten etwas. Kiyoshis Blick wurde trüb und verängstigt zugleich.

»Keine Angst. Das sind alles liebe Menschen«, beschwichtigte ich ihn und nahm seine Hand schlussendlich komplett in meine.

»Irgendwie glaube ich dir das nicht«, murmelte er vor sich hin und betrachtete die Gestalten weiterhin argwöhnisch. Auf einmal stolperte er über eine kleine Erhöhung des Pflasters und musste einen Ausfallschritt nach vorne machen, um nicht zu fallen.

»Huch! Bist du schon betrunken?«, lachte ich, ihn feste am Arm haltend, sodass er wieder zum Stehen kam. Kiyoshi schüttelte sofort den Kopf, lächelte aber amüsiert über sich selber.

»Nein, Vampire sind nur auch manchmal schusselig.«

Kiyoshi und schusselig? Der war doch schon angetrunken, das roch ich doch ohne ihm näher gekommen zu sein. Jemand, der sonst so anmutig über den Boden glitt, stolperte nicht.

»Natürlich...«, verdrehte ich die Augen und musterte Kiyoshis Auftreten. »Okay, wir werden gleich zu Jiro gehen, aber vorher eine Bitte.«

»Was ist es diesmal?«, fragte er genervt und ließ meine Hand los, um sich mir gegenüber zu stellen.

»Das Wort „Vampir“ wird heute nicht mehr fallen. Okay? Außer es passt in den Kontext. Aber sonst – no go.«

»Schon klar, Hiro. Sonst noch was? Soll ich mir eine Papiertüte über den Kopf stülpen, damit du dich auch damit nicht beschäftigen musst?« Kiyoshis Unterton wurde wieder spitzzüngig.

»Yoshi, aus. Ruhe jetzt, du bist gut gelaunt und hast Spaß«, befahl ich ihm und wedelte mich meinen Händen vor sein Gesicht, als könne ich ihn verzaubern. Kiyoshis ernster Blick blieb haften, wechselte aber schlagartig in ein leises Lachen, als ich resigniert aufgab ihn zu bezaubern.

»Ich versuch's ...«

 

Mit großen Schritten näherte ich mich dem Pub, Kiyoshi direkt hinter mir. Die Leute um uns herum starrten uns auf einmal an, als wären wir Aliens.

Natürlich, dachte ich. Die Aura. Bei Vollmond bestimmt noch einmal schlimmer.

 

Da erspähte ich ihn. Den schmächtigen, aber großen jungen Mann; der mit den vielen Piercings im Gesicht und den hoch geschlossenen DocMartens.

»Jiro!«, begrüßte ich ihn mit erhobener Hand. Freundlich winkte ich ihm zu, als er mich erspähte. Sofort grinste er und kam mit offenen Armen auf mich zu.

»Mein Held!«, lachte Jiro, sichtlich angetrunken und drückte mich feste an sich, als wir uns in der Masse erreichten.

Sein Körper war so warm.

Oder war meiner so kalt?

Jiros Duft floss durch meine Nase, ließ mich erschaudern. Ich spürte mehr Speichel in meinem Mund fließen. Die Zähne wuchsen.

Nein!

 

»Mensch, wie geht’s dir?«, fragte er belustigt über die Tatsache, dass ich nichts sagte und löste sich von mir. Anscheinend bekam er nichts von meinem inneren Tumult mit.

»Super... Danke. Und wie geht’s dir? Schon gut getrunken?«

Jiro kicherte und nickte abermals. Seine vielen Armbänder und Ketten klimperten zu seinen Bewegungen und ließen mich ruhiger werden. Jiro war nicht meine Beute. Er war mein Freund.

»Mir geht’s klasse. Ey, Lampes Freundin war echt komisch. Ich glaub, das wird nicht lange halten«, führte er mich sofort in die verpassten Geschehnisse ein. »Und wusstest du? Roku hat's endlich gesagt.«

»Was hat er gesagt?«, hakte ich nach, Jiros ernsten Blick nicht ganz deutend.

»Dass er schwul ist.«

»Oh«, bekam ich nur leise raus. Harte News. Doch ich lachte verkrampft. »Na ja... Hat es irgendwen überhaupt überrascht?«

Jiros Lachen hallte wieder auf und ließ mich aufatmen. »Nee, man. Alle haben nur genickt und sich ihren Teil gedacht. Kyo hingegen blieb etwas verbissen. Kam mir jedenfalls so vor.«

»Ärger im Paradies?«

»Wahrscheinlich...«

Damit knuffte er mich in die Seite. Auf der einen Seite war es schön, wieder mit Jiro zu reden; so locker und ungezwungen. Doch es war nicht wie vor einer Woche. Es war anders.

Gezwungen.

Ich hatte Angst, ihm wehzutun.

Außerdem machte mich dieses Thema unruhig. Vor einer Woche hätte ich mit Jiro gelacht, mich lustig gemacht, wahrscheinlich noch mit Augenzwinkern gesagt »Na, dann warten wir mal ab, wann wir an der Reihe sind«.

Und nun? Hatte ich Angst, Jiro würde es bemerken. Dass ich auch für die andere Liga spielte. Denn bei mir würde es niemand mit einem zarten Lächeln hinnehmen. Bei mir würden sie an die Decke gehen. Hiro und schwul? Der Weiberheld?

Und dann auch noch... der eigene Bruder?

 

Da erinnerte ich mich an die auf einmal vergessene Person.

»Jiro, das hier äh...«

Damit drehte ich mich um und blickte in angespannte, aber neugierige Augen, die bisher nur auf Jiro gerichtet waren.

»Das hier ist Kiyoshi.«

Ich ging einen kleinen Schritt zur Seite, sodass Jiro freie Sicht auf ihn hatte.

Kiyoshi brachte wie immer kein Wort raus, starrte Jiro einfach nur stumm an und schien wie erstarrt. Seinem Blick nach zu urteilen, konnte er mit dem Mann vor ihm recht wenig anfangen.

»Woah...«, murmelte Jiro und kam einen Schritt auf Kiyoshi zu. Er wechselte den Blick zwischen mir und ihm. Immer wieder, bis das Grinsen in seinem Gesicht immer breiter wurde und er schließlich loslachte. »Holy Shit! Das war sonst immer nur auf Drogen so! Und ich schwör, ich hab heute noch nichts genommen! Hammer hart, Hiro! Du hast'n Zwilling!«, prustete er raus und klopfte Kiyoshi auf die Schulter.

Eine sonst nette Geste von Jiro, aber Kiyoshi schien sich absolut nicht wohlzufühlen. Er zog seine Schulter weg und sah angewidert in eine andere Richtung. Die Stimmung generell schien abzurutschen. Doch ehe ich zu Wort kam, bekam Kiyoshi seinen Mund auf.

»Hallo Jiro … freut mich dich kennen zu lernen.« Anders als Jiros Worte, klangen seine weniger erfreut. Ganz im Gegenteil; sogar etwas angewidert. Mittlerweile kannte ich die Eigenarten meines Bruders. Und das war das Lächeln, was er nur Leuten schenkte, die er nicht mochte.

Doch Jiro, wie er eben war, ließ sich davon nicht beirren, schüttelte Kiyoshis Hand, ohne dass er sie ausgestreckt hatte, und schien feste zuzudrücken.

»Freut mich auch! … Mensch, hast du kalte Hände...Ist dir kalt? Sollen wir reingehen?«, fragte er sofort besorgt und sah bestätigend zu mir.

»Nein, geht schon. Ich hab immer kalte Hände.« Kiyoshis anmutiger Ton wurde immer härter. Fast wie zu Beginn, wo ich ihn kennenlernte. Unmut, Unbehagen, Unwohlsein.

»Der hat die typische Frauenkrankheit... Kalte Hände, kalte Füße«, nahm ich Kiyoshi auf den Arm, legte eine Hand auf seine Hüfte und zog ihn an mich. Eine nette Geste, um ihm zu zeigen, dass er dem Feind nicht alleine gegenüberstand.

»Haha, verstehe! Na, dann können wir ja noch eine in Ruhe rauchen und den Rum killen«, deutete Jiro auf die Flasche in meiner Hand. Ich nickte und reichte sie ihm.

»Haben schon was getrunken... Aber deinen Pegel haben wir noch nicht erreicht«, scherzte ich und schraubte die Flasche auf. Jiro nahm sie dankend an, trank einen guten Schluck draus und nickte. »Lecker!«

Na ja, schoss es mir sofort durch den Kopf. Aber hey, was tut man nicht alles, um betrunken zu werden?

Also nahm ich die Flasche wieder entgegen, trank so viel ich konnte und reichte sie an Kiyoshi weiter, der sie nur widerwillig annahm.

»Du musst nicht, wenn du nicht willst...«, flüsterte ich ihm zu, während er in die Flasche starrte.

»Ich will aber ...«, murmelte er zurück und trank weiter Schlucke der braunen Flüssigkeit. Erst nach mindestens 10 Schlucken setzte er ab. Ehrfürchtig vor Kiyoshis Einsatz, nahm ich die Flasche wieder in die Hand und schraubte sie zu. In dem Moment roch ich frischen Rauch und blickte zu Jiro, der sich bereits eine Zigarette angezündet hatte. Ich zögerte, stellte die Flasche dann doch ab und zog die Zigarettenschachtel aus meiner Hose.

»Oh, Hiro! Die Guten? Hat heute jemand Geburtstag?«, kicherte Jiro belustigt und deutete auf die schwarzen Glimmstängel. Belustigt nahm ich eine aus der Schachtel und schüttelte den Kopf.

»Nicht doch... Ich wollte mir nur mal wieder was gönnen.«

Ich musste mich nicht einmal mehr umdrehen, um Kiyoshis enttäuschten Blick wahrzunehmen. Trotzdem drehte ich mich zu ihm und bot ihm eine an.

Erst als Kiyoshi zaghaft eine Zigarette nahm und sie ehrfürchtig vor seinen Mund hielt, hob ich überrascht beide Augenbrauen; steckte die Packung weg und legte wieder einen Arm um seine Taille. Ich hatte das Gefühl, dass ihm meine Gestik gefiel. Dass ich der Welt indirekt zeigte, dass wir zusammen waren.

Jiro hielt uns ein Feuerzeug hin, welches ich dankend annahm und meine Zigarette entzündete. Ich hoffte innerlich Kiyoshi so gezeigt zu haben, wie man es machte, hielt ihm dann das bereits entzündete Feuer hin.

Mit seinen dünnen, weißen Fingern hielt er die schwarze Zigarette an seine Lippen, hielt das Ende in die Flamme und pustete kurz Rauch aus, als sie brannte.

Als ich das Feuerzeug wieder in Jiros Richtung reichte, bemerkte ich erst, wie sehr mir der Anblick gefiel.

Kiyoshis weiße Figur, die blasse Haut, die langen, schmalen Finger. Und dann die schwarze Zigarette, die vor seinem Gesicht rauchte, hauchten ihn in eine noch unheimlichere, aber zugleich anziehendere Atmosphäre als sonst.

Vorsichtig führte er den Glimmstängel an seinen Mund, zog leicht daran und schien sich zu konzentrieren. Als er den Rauch einsog, husten musste und sich schüchtern die Hand vor den Mund legte, grinste ich zufrieden.

Der Anfängerhusten. Wenigstens das bisschen Menschlichkeit war ihm geblieben.

»Rauchst wohl nicht oft«, kam es von Jiro, der seine Zigarette schon fast aufgeraucht hatte. »Ist auch besser so«, grinste er und zwinkerte mir zu. Nur ein leichtes Nicken kam von meiner Seite.

Psht, Jiro. Offiziell rauche ich nicht viel. Lass ihn in dem Glauben.

»Ehrlich gesagt«, bemerkte Kiyoshi, mit einem weniger harschen Ton als zuvor, »ist das meine Erste.«

»Oho!« Jiro schien überrascht. »Hat dich dein böser Bruder zum Rauchen animiert?«

»Auch hier ehrlich gesagt: Ja.« Kiyoshis Augenbrauen hoben sich ein Stück, sahen etwas vorwurfsvoll in meine Richtung. Ich grinste nur vor mich hin und strich über seine Taille.

War ich schon angeheitert? Oder war ich einfach gut drauf? Rauchend mit meinem Bruder in der Innenstadt vor der Stammkneipe zu stehen... war in der Tat erheiternd. Hätte ich das vor ein paar Tagen noch gedacht?

Nein, vor ein paar Tagen hatte ich um mein Leben gefürchtet. Und jetzt auf einmal... war alles weg.

Kiyoshi pustete mir auf einmal Rauch ins Gesicht, während ich noch vor mich hin grinste.

Jiro lachte nur.

»Ihr beiden kennt euch also echt erst seit einer Woche? Ich wünschte, ich würde mich so gut mit meiner Familie verstehen...«, bemerkte Jiro am Rande und trank noch einmal vom Rum.

Ein heißer Schreck durchfuhr meinen Körper. Schlagartig nahm ich meine Hand von Kiyoshis Taille.

»Ja, also... eine Woche um genau zu sein, ja. Aber wie soll ich sagen? Es hat sofort... funktioniert.«

Kiyoshi lächelte mich glücklich an, die Pupillen etwas geweitet. Erst, als er sich näher an mich stellte und mir einen Kuss auf die Wange gab, war ich mir sicher: er war betrunken.

»Oh mein Gott, wie süß ist das bitte?«, lachte Jiro herzhaft auf und reichte die Rumflasche weiter. »Hiro, ich hätte niemals gedacht, dass du als alt eingesessenes Einzelkind dich so gut mit deinem Bruder verstehen würdest.«

»Ich auch nicht«, musste ich zugeben. In der Tat... hätte ich das bis vor kurzem auch noch gedacht.

Kiyoshi nahm noch ein paar gute Schlucke vom Rum, reichte ihn mir und drückte die Zigarette gekonnt im Aschenbecher aus, der vor dem Pub stand.

Mit kräftigen Schlucken leerte ich die Flasche und stellte sie in eine dunkle Ecke. Nicht mein Problem, dachte ich. Nur Kiyoshis schob die Augenbrauen zusammen, als wäre er von dieser Art Entsorgung nicht begeistert.

»Gehen wir rein?«, fragte Jiro und deutete auf die Kneipe.

Mit leichtem Nicken nahm ich Kiyoshi am Arm und zog ihn mit mir in den stickigen Raum, aus dem bereits der Geruch von Alkohol herausströmte.

Der Pub war klein, vielleicht bot er für rund 100 Leute Platz. Die Kellner waren allesamt tattowiert, gepierced oder zumindest schwarz gekleidet. Aus Lautsprechern kam laute Metalmusik. Dazu spielte auf zwei großen Fernsehern das dazugehörige Video.

Leider war es recht befüllt, sodass Jiro, Kiyoshi und ich uns an die Bar quetschten. Meine Laune erhellte sich abermals, als ich in Kiyoshis angewidertes Gesicht sah.

»Nicht so dein Etablissement, hm?«, fragte ich, während Jiro uns Getränke bestellte.

»Ja«, gab er wie aus der Pistole geschossen zu und sah sich um, als könne ihn jederzeit jemand niederstechen.

»Wir bleiben sicher nicht lange. Bisschen unterhalten, dann gehen wir, okay?«

»Schon okay... Unterhalte dich ruhig... mit Jiro.« Kiyoshis Blick wurde wieder ernster, sah in Jiros Richtung, der neben normalem Bier auch gleich Tequila bestellt hatte.

»Ich wusste nicht, ob du das magst, aber Tequila Gold trinken eigentlich alle«, gab Jiro zu verstehen und schob auch Kiyoshi ein kleines Glas hin.

»Ich, äh«, murmelte er vor sich hin, betrachtete das Glas missmutig und nahm langsam die Orangenscheibe in die Hand. »Was ist das?«

»Das ist Tequila, das hier eine Orange und darauf ist Zimt.«

»Und was macht man damit?«

Jiro kicherte schon neben mir, hielt die Orange bereit.

»Du schleckst den Zimt ab, trinkst den Tequila und beißt in die Orange«, erklärte ich meinem ahnungslosen Bruder und zeigte ihm, wie man sich die Dinge zurechthielt.

»Noch nie Tequila getrunken?«, fragte Jiro und beugte sich zu uns rüber. Kiyoshi schüttelte schnell den Kopf und nahm Orange und Glas in die Hand. Seine Hände zitterten etwas.

Wie konnte das sein?

Anspannung?

Jiro prostete uns zu, leckte den Zimt ab, kippte sich den Alkohol hinter die Birne und biss schaudernd in die Orange. Ich tat es ihm gleich, den Blick immer auf Kiyoshi gerichtet, der es ebenso tat.

 

Als das zweite Bier über den Tresen ging, gewöhnte ich mich an den Erdgeschmack. Selbst Kiyoshi verzog keine Miene mehr, als er das Bier trank.

»Also hau raus... Wie kam das? Dass du zu deinem Dad bist... und Kiyoshi kennen gelernt hast!«, fragte Jiro sichtlich interessiert. Doch trotzdem sein Interesse von Echtheit zeugte, schien er keine ausführliche Version hören zu wollen.

»Puh...«, seufzte ich, als wüsste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Oh, ich wusste genau wo ich beginnen könnte. Bei der Angst? Oder bei der Panik? Vielleicht beim schlechten Gefühl? »Also wie es Anfing, weißt du ja. Mom kam mit der Schnapsidee und schob mich auch direkt letzte Woche ab.«

Da lachte Jiro auf, winkte ab, ich solle nicht so über meine Mom reden. Kiyoshi hingegen verzog keine Miene, hing mir aber auf den Lippen, als könne er meine Version der Woche kaum erwarten zu hören.

»Mein Dad ist ganz nett, vielleicht hier und da ein bisschen konservativ. Aber ne große Villa und schicke Autos sollte man nicht unterschätzen«, protzte ich und schwankte das Bier in meinem Glas hin und her.

»Also ist dein Dad echt reich?«, hakte Jiro nach.

»Schätze mal. Zumindest so arm wie wir ist er nicht.«

»Krass. Und, Kiyoshi? Wie ist es so … mittel-reich zu sein?«

Doch Kiyoshi reagierte nicht auf die Frage. Stattdessen bekam Jiro einen leicht verletzten Blick zugeworfen, als wäre die Frage nicht ansatzweise höflich gewesen zu fragen.

»Äh«, mischte ich mich schnell ein und nahm Kiyoshi vorsichtig in den Arm. »Kiyoshi und ich haben uns zuerst auch nicht so verstanden... Ein bisschen rumgeprügelt haben wir uns auch schon.«

Jiro lachte abermals und hob beide Augenbrauen. »Hero, dich hätte ich auch nicht so gerne als Bruder, man. Du schlägst alles, was dir nicht passt, haha!«

Ich schluckte stumm, versuchte das Lächeln aufrecht zu halten. Kiyoshi hingegen schien bei der Aussage etwas aufzulockern. »Wirklich?«, fragte er leise. »Du prügelst dich also gerne?«

»Na ja... Gerne kann man das nicht nennen, aber es kam... eben häufig dazu.« Verlegen kratzte ich mich im Nacken.

Doch Jiro fiel nichts besseres ein, als die Glut weiter zu schüren. »Ach, jetzt untertreibst du! Weißt du noch dieser Yuma? Aus der Parallelklasse? Man, der hat die Schule gewechselt!«

»Mhhm«, brummte ich nickend und erinnerte mich wage an einen kleinen Streber mit Brille und Pickeln, den ich einmal über den Schulzaun geworfen hatte, weil er mich dumm genannt hatte. Ja … keine schönen Erinnerungen. Jedenfalls keine, auf die ich stolz war.

»Hiro... was hast du getan?«, fragte Kiyoshi entsetzt, während er sich an meine Brust lehnte und offensichtlich meine Berührungen genoss.

»Das... äh... erklär ich dir ein ander mal, okay?«, versuchte ich dem Thema auszuweichen, deutet dabei Jiro mit einem aussagekräftigen Augenaufschlag an, dass ich es gerne dabei belassen würde.

»Hero ist eben niemand, mit dem man sich gerne anlegen will. Aber wie mir scheint... versteht ihr euch beiden ja jetzt blendend!« Jiros Blick musterte uns eindringlich. Vorsichtig, ganz langsam, so als würde ich aus eigenem Willen – und nicht, weil Jiro es indirekt ansprach – die Hand von Kiyoshis Hüfte nehmen, ließ ich sie zu mir zurückfallen.

»Wir verstehen uns gut, ja. Auch wenn wir hier und da... leichte Meinungsverschiedenheiten haben.«

Kiyoshi grinste mich sofort an und schüttelte den Kopf, trank sein Bier schneller als gedacht und stellte es lautstark auf den Tresen.

»Jiro«, begann er, »wo wir bei dem Thema sind. Darf ich deine Meinung zu etwas haben?«

Da wurde nicht nur Jiro hellhörig.

»Na klar, schieß los«, grinste mein bester Freund und lehnte entspannt gegen den Tresen.

Kiyoshi lehnte sich ebenfalls an das Stück Holz und verschränkte gespielt locker die Arme. Mit einer lässigen Handbewegung deutete er auf mich. »Glaubst du, Hiro würden Latexstrümpfe stehen?«

Jiro brach in lautes Gelächter aus, haute einmal kurz auf den Tresen. »Was? Latexstrümpfe?! Niemals!«

Nickend fuhr ich mit meiner Zunge über meine Zähne. Gut gespielt, Kiyoshi. Gut gespielt.

»Also eigentlich«, hob ich meinen Zeigefinger und tat so, als würde ich etwas richtig stellen, »sollte die Frage eher lauten: Würden sie Kiyoshi stehen?«

Doch mein Bruder schüttelte energisch den Kopf. »Bestimmt nicht, Hiro. Ich ziehe so etwas nicht an!«

»Nicht mal, wenn ich dich lieb darum bitten würde?«

Da verstummte Jiro schlagartig und schob die Augenbrauen zusammen. »Alter, du willst deinen Bruder in Latexfummel sehen? Was ist los mit dir? Ein paar Schläge auf den Kopf bekommen?« Dabei sah er kurz zu Kiyoshi. »Nix gegen dich.«

Ich schluckte, entfernte mich noch ein kleines Stück von meinem Bruder. Etwas in meinem Kopf pochte auf einmal auf. Ob es der Alkohol oder die Angst war – es ließ mich kalten Schweiß produzieren.

»Das... Kiyoshi und ich machen nur Witze... das ist so ein Insider, weißt du? Wir haben die gestern Nachmittag im Headshop gesehen... du weißt schon... in unserem Laden«, versuchte ich meine unüberlegte Bitte an Kiyoshi zu rechtfertigen.

»Ach so... ey, trotzdem, Hiro... Haha, lass mal gut sein mit den Latexfummeln. Du weißt, wie sie bisher darauf reagiert haben.«

Mit sie meinte Jiro wohl meine Exfreundinnen.

Ja, in der Tat wollte keiner bei Lack und Leder mitmachen. Nicht mal die eine Gothicbraut.

»Ich gewöhn's mir ab. Kiyoshi hilft mir dabei, indem er mir auf die Finger haut, wenn ich so was in der Hand habe.«

»Hoffentlich haut er dir auch bei den Frauen mal auf die Finger! Du hast einfach kein Händchen für Weiber«, schoss Jiro über's Ziel hinaus und erntete nur ein böses Knurren von Kiyoshi. »Keine Angst. Das werde ich mit Vorliebe tun.«

Jiro verstand die zweideutige Antwort von Kiyoshi natürlich nicht so ganz und lachte einfach amüsiert weiter.

 

Der Abend ging recht zäh von statten. Jiro machte hier und da einige Witze, trotzdem wurde es nicht wirklich warm um uns. Kiyoshi trank zwar ein Bier nach dem anderen mit, hielt sich aber mit den Shots zurück. Auch ich lehnte Jiros Angebot öfter ab, als von mir gewohnt war.

Heute, dachte ich, durfte ich mich nicht gehen lassen. Kiyoshis Instinkte waren noch wach; ein Vernachlässigen könnte böse enden.

Jiro merkte das natürlich irgendwann, trotzdem er schon ziemlich betrunken war und bereits eine halbe Schachtel geraucht hatte.

»Jo, Hero«, begann er, als er sich noch eine Zigarette vor dem Pub anzündete, während Kiyoshi und ich nur daneben standen. Es blieb bei einer Zigarette. Ich wollte meinen Bruder nicht weiter verführen und spielte gutes Vorbild.

»Morgen gehen wir alle noch einmal feiern. Da hat so ein neuer Club aufgemacht, den wollten wir mal aufmischen.«

Genüsslich pustete er den Rauch in die längst stiller gewordene Gasse. Wir näherten uns knapp 1 Uhr.

»Club? Ernsthaft?«, hakte ich nach und schob meine Hände in die Hosentaschen. Kühl, dachte ich. Und war gleichzeitig erleichtert, dass ich noch ein Empfinden für Temperaturen hatte.

»Ja, so ein Club halt. Ganz nett, hat da hinten aufgemacht, wo vorher das Engels war.«

»Engels? Das klingt aber nett«, fügte Kiyoshi hinzu und lächelte leise.

Doch ich schüttelte sofort den Kopf. »Nee, nicht nett. Da haben sie sich nur geprügelt.«

»Also warst du dabei?«, fragte er natürlich sofort spitzzüngig. Ich seufzte nur. »Natürlich...«, war alles, was mir noch zu dem Thema einfiel. Ein Augenrollen folgte.

»Seid ihr dabei?«, lud uns Jiro ein und rauchte auf. Ich wägte ab, Kiyoshi hingegen nickte eifrig.

»Wieso nicht?«

»Äh... willst du hin?« Vorsichtig presste ich meine Lippen aufeinander und sah vergewissernd zu meinem noch lächelnden Bruder. Der blieb bei seiner Entscheidung.

»Ja, klar. Ein Club klingt zumindest ein bisschen spannender als dieser Pub.«

»Haha, bist wohl nicht so der Metal Fan?«, lachte Jiro und richtete seine Nieten-Lederjacke und begann Richtung Straßenbahn zu gehen.

»Nicht so, ja. Dann noch lieber komischen Elektro.«

Ich verdrehte abermals die Augen. Kiyoshi hörte doch Jazz oder so ein Rotz. Soll mal nicht so abgehoben tun.

»Dann wirst du dich da wohler fühlen!«

Jiro blieb dann an der Haltestelle stehen und schaute nach, wann seine Bahn kommen würde. Grinsend kam er wieder auf uns zu.

»In 5 Minuten kommt meine Fahrt nach Hause. Dann sehen wir uns morgen? Ich schreib dir, Hero. Und die anderen werden sich bestimmt wieder vorher verpissen, denke ich.«

»Gut. Nichts gegen die anderen, aber...«

Doch Jiro nickte sofort, als ich den Einwand bringen wollte.

 Kiyoshi sollte mein kleines Geheimnis bleiben. Zumindest vorerst. Schlimm genug, so jedenfalls aus der Sicht meiner Mutter, dass Jiro eingeweiht war.

»Kommt gut nach Hause ihr zwei. War cool, dich kennen gelernt zu haben, Kiyoshi. Bist'n netter Kerl!«, lobte er meinen stillen Bruder, drückte ihn kurz zum Abschied an sich.

Kiyoshi hingegen fiel nur hilflos in seine Arme, tätschelte ratlos Jiros Schulter und torkelte wieder in meine Richtung, als Jiro ihn losließ. »Ja... dito...«

Schnell verabschiedete ich mich von meinem Kumpel mit einem Handschlag und klopfte ihm männlich auf die Schulter. »Bis morgen. Komm gut Heim!«

 

Mit diesen Worten gingen wir die lange Straße aus der Stadt zurück. Es dauerte auch nicht lange, bis Kiyoshi wieder meine Hand nahm und sie feste drückte.

Das sah ich als Einladung ihn über den Abend zu fragen.

»Und? Hattest du wenigstens ein bisschen Spaß?«

Kiyoshi nickte zögerlich. »Doch, ja. Ein bisschen Kopfschmerzen.«

»Ich auch. Bestimmt vom Alkohol.«

»Dabei haben wir doch... gar nicht so viel getrunken, oder?«

»Das war, denke ich, der Fehler«, scherzte ich und starrte dabei grinsend auf den Boden. »Eins sag ich dir: den morgigen Abend werde ich nüchtern nicht überleben.«

»Wieso? Wegen dem Club?«

»Ja... das geht gar nicht. Mit so was kannst du mich jagen. Mich wundert, dass Jiro da hin will. Normalerweise ist der auch kein Freund von so Lokalitäten. Aber wahrscheinlich will der sich nur mit ein paar Schnöseln prügeln.«

Kiyoshis Augen weiteten sich. »Jiro ist also auch so ein Schläger wie du?«

»Wir sind doch keine Schläger...« Doch konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Streng genommen... waren wir Schläger. Doch, ja. Schnell wechselte ich das Thema: »Magst du Jiro denn? Ist okay, oder?«

»Hm«, brachte er erst zögerlich raus. Kiyoshi schien zu überlegen. »Er wirkt wirklich sehr locker und... ich glaube, was du mit aufbrausend meintest.«

»Ja... er fährt schnell aus der Haut und ist sehr direkt. Aber ich mag das. Auf Dauer weiß man nämlich woran man bei ihm ist. Bei ihm kann man eigentlich in kein Fettnäpfchen treten.«

»Aber ehrlich gesagt«, doch Kiyoshi brachte den Satz nicht zu ende. Er spitzte die Lippen, als wäre das, was er sagen wollte, besser in seinem Mund aufgehoben und nicht in meinen Ohren.

»Sag's ruhig.«

»Hm«, brummte er abermals und wartete, bis wir in unseren Häuserkomplex gingen und ich die Tür hinter uns zum Flur schloss. Vor dem Aufzug kam er dann wieder zu Wort. »Er ist ein bisschen... wie sagt man? Asozial?«

»Wie bitte?«, hakte ich nach und schob sofort die Augenbrauen zusammen, als hätte er nicht nur Jiro, sondern auch mich beleidigt. Doch als Kiyoshi sofort die Hände hob, um sich zu entschuldigen, winkte ich ab. »Okay, verstehe schon... Ja, er ist nicht wie ihr. Aber das bin ich auch nicht, wie du weißt.«

»So meinte ich das auch nicht... Ich komme einfach nie unter Leute, da...ist mir sein Verhalten eben neu.«

Da schwieg ich. Natürlich kannte Kiyoshi wenig Leute und die, die er kannte, waren hochgestochene Pisser.

 

Als ich meine eigenen Gedanken in meinem Kopf widerhallen ließ, seufzte ich leise.

»Vielleicht sind wir ein bisschen assi, ja. Mom und ich... Jiro... die anderen. Aber hey, passt schon. So fühlt sich Leben an.«

Da Kiyoshi die ganze Aufzugfahrt nichts mehr darauf antwortete, hatte ich vermutlich einen wunden Punkt erreicht. Kiyoshi wollte leben. Wie ein Mensch und in keiner abgeschotteten Welt voller Geld und Wohlsein. Er wollte mal das Leben spüren.

Das sah ich ihm einfach an.

Doch je mehr er über mein Leben zu erfahren schien, desto größer wurde die Abneigung gegen ein menschliches Leben. Sicher, nicht jedes Leben war gleich und das von Mom und mir war mit Sicherheit einer der wenigen Leben, die man unbedingt als Vorzeigefamilie nehmen würde – trotzdem fühlte ich mich wohl. Trotzdem war es vor allen Dingen auch Kiyoshis Familie. Er gehörte mit dazu.

 

Als wir leise die Wohnung betraten, fand ich einen kleinen Zettel am Esstisch. Meine Mom hatte mir eine kleine Notiz geschrieben:

 

Hallo Schatz, im Kühlschrank ist noch etwas Chili von gestern, iss das doch bitte auf, dann ist es weg. Kiyoshi habe ich stilles Mineralwasser gekauft, das steht neben dem Kühlschrank. Schlaf gut und bis morgen! Kussi

 

Vorsichtig reichte ich den Zettel an Kiyoshi weiter, der sich gerade den Blazer auszog. Schnell las er ihn durch und deutete mit dem Kinn mein Zimmer an. Ich nickte, schlich mich an der Couch vorbei, lauschte noch einmal, ob Mom auch wirklich schlafen würde und öffnete bei Gewissheit die Tür.

Mein Zimmer war dunkel und wurde nur durch das Mondlicht erhellt. Ich beließ das Licht einfach aus und warf meine Lederjacke über den Schreibtischstuhl. Schnell zog ich die Schublade auf und nahm das silberne Pillendöschen an mich, in dem die Blutpillen lagerten.

Kiyoshi hingegen stand schon in der Küche und hatte aus dem Kühlschrank die große Schüssel mit dem Chili herausgezogen.

Als ich dazustieß grinste er.

»Ganz schön viel. Und das sollst du alleine leer machen?«, fragte er sichtlich amüsiert. Ich nickte und sah überrascht in die Schüssel.

»Glaube mir... vor einer Woche hätte ich dir die auch geleert.«

»Ernsthaft? Davon … ernährt sich doch noch eine dreiköpfige Familie!«

»Wenn du dabei alle drei Personen spielst, gebe ich dir Recht«, scherzte ich, kniff ihm in den Hintern und holte zwei Schüsseln aus dem Schrank. Kiyoshi kicherte sofort auf und zog an meinem Shirt.

Vorsichtig spitzte er die Lippen.

»Aber psht«, deutete ich ein leises Verhalten an und drückte ihm wie gewünscht meine Lippen auf.

Sie schmeckten anders als sonst. Verruchter. Vielleicht vom Alkohol und der einen Kippe. Dem Tequila. Der Orange, dem Zimt. Dem Kräuterschnaps und dem Bier.

Es gefiel mir, das musste ich gestehen.

Als Kiyoshis zarte Hand auf meine Brust wanderte, die Schüssel Chili losließ und die andere folgte, wurde mir warm. Bemüht leise zu sein, zog ich ihn an mich. Der Kuss wurde intensiver, leidenschaftlicher. Und erst, als ich mit beiden Händen seinen Hintern begrapschte, löste er sich von mir und kicherte.

»Besser nicht hier, oder?«, vergewisserte er sich und bekam das zweideutige Grinsen im Gesicht.

»Doch, hier in der Küche. Ich steh drauf, wenn Mom uns dabei zusehen kann«, scherzte ich, bemüht, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. »Hier, nimm dir, so viel wie du magst und geh in mein Zimmer. Wir essen lieber da.«

Kiyoshi nickte und schaufelte sich mit einem Löffel eine kleine Portion Pampe in seine Schüssel. Erst, als mein tadelnder Blick auf dem Löffel haften blieb, schaufelte er etwas nach.

Zufrieden über die immer noch mickrige, aber für Kiyoshi reichliche Portion, füllte auch ich meine Schüssel, sodass nur noch eine kleine Menge in der großen Schüssel übrig blieb.

Leise huschten wir von der Küche in mein Zimmer und schlossen die Tür. Als ich das Licht einschalten wollte, hörte ich Kiyoshi flüstern.

»Lass. Ich mach das hier an.«

Damit holte er eine große, schwarze Kerze aus meinem Schrank, stellte sie akkurat auf einen runden Untersetzer, der nur für diese Kerze gemacht zu sein schien, und zündete sie an. Ein warmes Licht erhellte den Raum und schien mehr als ausreichend für eine Mahlzeit zu sein.

Grinsend setzte ich mir auf mein Bett und platzierte die Schüssel auf meinem Schoß. »Du und deine Okkulten Sachen.«

»Kerzenlicht ist einfach angenehmer im Auge, findest du nicht?«

»Schon, aber wieso muss sie schwarz sein? Und... ist das Patschuli?«

Kiyoshi nickte eifrig und setzte sich neben mich aufs Bett, die Schüssel ebenfalls nah bei sich. »Riecht gut, oder?«

»Du machst mir hier keine Räucherküche aus meinem Zimmer, ist das klar? Ich will noch in Ruhe schlafen können!«

»Ja, Chef. Keine Räucherküche.« Kiyoshi verdrehte nur die Augen, als würde ich der Kulturbanause schlechthin sein. »Ich dachte, du magst es...«

»Ich mag es auch, Yoshi. Aber bitte... nicht übertreiben. So was macht mir Kopfschmerzen.«

»Nenn mich nicht so...«, murmelte er, während er die Pillendose aus meiner Hosentasche zog. »Ich mag das nicht. Nenn mich lieber... weiß nicht. Anders einfach.«

Erwartungsvoll schob ich ihm meine Schüssel entgegen, in die er sofort eine Pille fallen ließ; gefolgt von seiner eigenen. Das Chili verfärbte sich nach einigem Rühren dunkelrot.

»Ich weiß, dass du Yoshi nicht magst. Deswegen sag ich es doch«, neckte ihn ihn und küsste seine Lippen. Doch wie erwartet verzog Kiyoshi keine Miene. Stattdessen blieb der verurteilende Blick auf mir haften. »Soll ich dich also lieber Schatz nennen?«, hakte ich nach.

Kiyoshi verstummte, rührte in seinem Chili und zuckte kurz mit den Schultern, als wüsste er selber nicht, ob ihm das gefallen würde. »Weiß nicht. Vielleicht?«

Doch ich schüttelte den Kopf. »Yoshi. Eindeutig.«

Klar, Kiyoshi knuffte mich sofort in die Seite und sah schnippig zur Seite. Trotzdem konnte er ein leichtes Mundwinkelzucken nicht abstreiten.

 

Nach einigem Rühren nahm ich den ersten Bissen vom dunkelroten Chili. Als es meine Zunge berührte und sich im Mundraum verteilte, musste ich erstaunt zu Kiyoshi hinüberblicken.

»Ziemlich gut«, gestand ich. »Zwar hat das geschmacklich so überhaupt nichts mit Chili zu tun, trotzdem … ein interessanter Geschmack.« Damit schluckte ich den Bissen runter. Als auch kein Erdgeschmack folgte, sondern lediglich ein kühles, erfrischendes Gefühl, wie ich es vom normalen Trinken her kannte, akzeptierte ich die Tatsache, dass ich von nun an Speisen mit der Tablette zu mir nehmen konnte. »Doch, ist gut.«

Auch Kiyoshi begann zu essen und nickte langsam. »Es schmeckt wirklich nur... nach der Bluttablette.«

»Mhm, aber das war ja abzusehen. Besser als Erde.«

»Ja, besser als Erde.«

 

Kichernd saßen wir noch die restlichen Minuten auf meinem Bett und mümmelten das Chili von Mom.

Das war schön.

Jemand war bei mir. Tag und Nacht. Und es war mein Bruder.

Früher hatte ich mir immer einen Bruder gewünscht. Einen größeren zwar, aber ein gleichaltriger war genauso super.

Denn Kiyoshi und ich verstanden uns super. Trotz der Strapazen. Trotzdem wir heimlich um 2 Uhr nachts essen mussten, weil wir sonst nicht konnten.

 

Als wir fertig waren und Kiyoshi mit der Hand auf dem Bauch stöhnend im Bett lag, brachte ich das Geschirr weg. Leise räumte ich es in die Spülmaschine ein. Wahrscheinlich würde ich ihr morgen berichten, dass Kiyoshi nun mitessen könnte, solange er sich vorher eine Pille schmeißen dürfte. Unterdessen überlegte ich auch, was ich zum Essen vorschlagen könnte, dass ich es ihm gleichtun könnte, ohne dass es Mom merken würde.

Doch während ich so überlegte, blieb ich am Sofa stehen und stockte.

Es war abgezogen.

 

Ein kurzer Blick zum Zimmer meiner Mutter ließ mich in meiner Starre verharren.

Hatte sie es abgezogen? Vergessen wieder aufzuziehen?

 

Oder... bewusst nicht aufgezogen?

 

Auf einmal klapperten die Rollläden des großen Fensters, welches zum Balkon führte. Lautes Gekrächze von großen Vögeln ertönte.

Flügelschlagen war deutlich zu hören.

Als ich verstört in die Küche ging, um aus dem Fenster, welches nicht zugezogen war, zu sehen, vernahm  ich eine Schar schwarzer Vögel. Weit weg am Himmel flogen sie über die Schwärze der Nacht und hinterließen bei mir Gänsehaut. Der Mond schien hell auf meine Haut. Vorsichtig hob ich meine Hand und drehte sie im Licht, als wäre sie kostbar. Meine Haut schimmerte, wie Porzellan. Nur vereinzelte Haare, wie fein gesponnenes Garn, lagen auf meinen Armen. Blau-grüne Adern stachen heraus und ließen mich ...

... tot wirken.

Das Flügelschlagen wurde wieder lauter und erhaschte meine Aufmerksamkeit. Die Vögel verließen mein Sichtfeld; stattdessen heulten Streifenwagen unter unserer Wohnung auf.

Da schauderte es über meinen Rücken.

 

Ich konnte es hören.

So weit weg.

 

Da war etwas in der Stadt.

Kontrollverlust

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Geständnis

Auf einmal klackte es.

 

»Hallo ihr beiden! Seid ihr noch zu Hause? Ich bin wieder da!«

 

Fuck.

Kiyoshi kniff sofort die Augen zu, ließ sich komplett auf mir sinken und entließ einen aufgestauten Seufzer, als mein Glied völlig in ihm verschwunden war.

Mitten im Akt kam Mom nach Hause.

»Sie kommt ungelegen«, knurrte Kiyoshi sichtlich genervt von der Tatsache, dass Mom gerade das Wohnzimmer betreten hatte.

»Ja ...« Sehr ungelegen sogar. Ich steckte nicht nur mitten in meinem Bruder drin, sondern badete auch mit ihm zusammen, sodass es eigentlich keine Möglichkeit gab in der kleinen Wohnung zu beteuern, dass wir nichts unanständiges taten.

Also räusperte ich mich und holte tief Luft. »Hallo Mom! Wir sind im Bad!«

Kiyoshis Blick rügte mich eindringlich, doch ein Schulterzucken meinerseits ließ ihn verstummen. Was hätte ich sonst tun sollen? Schweigen?

»Im Bad? Beide? Was macht ihr da?« Ich hörte Moms Schritte näher kommen. Die Tür war zwar geschlossen, aber nicht verschlossen. Wieso auch? Bis gerade eben waren wir noch alleine gewesen.

»Äh... Baden?«, formulierte ich die Antwort in eine Frage und räusperte mich kurz. Kiyoshi bewegte sich unterdessen etwas auf mir. Mit einer hektischen Bewegung brachte ich ihn zum stillen sitzen. Das war absolut keine hilfreiche Idee von ihm, mich jetzt zu reiten!

»Baden?« Moms Ton wurde spitz. »Zusammen?«

Kiyoshi seufzte stöhnend in mein Ohr. Ja, natürlich, mir war jetzt auch nach köperlicher Vereinung, aber vor der Tür stand Mom! Raffte er das nicht? War ich der einzige, der so nervös war gleich in flagranti erwischt zu werden?

»Kann man ... so sagen.« Abermals räusperte ich mich, als würden mir die richtigen Worte nur durch anständiges Husten aus dem Mund fallen. Mom hingeben stieß einen gereizten Seufzer aus.

»Ich hoffe, das ist ein Scherz.«

»Ja, Mom. Voll witzig, oder?«

»Hiro!«, schrie sie nun gegen die Tür. »Du kommst sofort aus dem Bad!«

Ein Zusammenzucken meinerseits war noch untertrieben. Selbst Kiyoshi blieb auf einmal still und klammerte sich nur noch spärlich an meinem Körper.

Das war's wohl.

Ende der Fahnenstange.

 

»Ja«, sagte ich reumütig. So leise, dass man es kaum verstand, so laut, dass es Mom zum Gehen animierte. Mein Liebster sah mich traurig an, streichelte dann meine Wange.

Wir hatten so viel verstecken können und nun? Wegen so eine Eskapade fliegte nun alles auf?

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren küssten wir uns auf die Lippen. Vielleicht war es vorerst der letzte.

Langsam erhob sich Kiyoshi von mir und stieg aus der Wanne. Meine Erregung schlaffte unterdessen gänzlich ab, sodass ich keinerlei Probleme hatte auch raus zu gehen. Nur ein Handtuch verdeckte meine Hüften, welches ich gut festknotete. Kiyoshi blieb ratlos im Raum stehen.

»Bade ruhig noch was. Das kann jetzt was dauern.« Mit einem hoffnungsvollen Lächeln deutete ich zur Badewanne. »Du wirst hören, wenn die Luft rein ist.«

Doch Kiyoshi konnte mein Lächeln nicht teilen. Er nickte zwar, presste noch ein »Es tut mir Leid« raus und verstummte sofort wieder, ehe er sich in das warme Wasser setzte.

 

Mit einem leichten Seufzer setzte ich mich in Bewegung und öffnete die Tür. Rauchschwaden der stickigen und angeheizten Luft verließen mit mir das Zimmer und verdünnisierten sich in der klaren Luft des Wohnzimmers. Kühle Luft strömte mir entgegen.

Mom saß auf dem Balkon und sah stur auf die Straße.

Räuspert kam ich auf sie zu.

»Hey, Mom. Äh-«

Doch sie ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen, drehte sich nur scharfsinnig um und schnauzte mich mit voller Kraft an. »Was denkst du dir eigentlich dabei, hä? Zusammen baden? Ich hör wohl nicht recht! Ihr seid keine 5 mehr!«

Mein Blick fuhr zur Seite und fixierte eine Balkonblüte. »Wir haben viel nachzuholen, hm...«

»Hiro, verarsch mich nicht immer so!«, brüllte sie weiter. Wenn Mom ausfällig wurde und ihre guten Manieren während eines Gesprächs vergaß, wusste ich, war's ernst. »Ich dachte wirklich ... nein, ich habe gebetet, dass dein Vater mir nur Vermutungen über dich und Kiyoshi weitergibt! Aber was muss ich alles miterleben? Er schläft bei dir im Bett, dein Bett knarzt regelrecht, wie es das letzte Mal bei deiner Freundin getan hat und jetzt? Badet ihr zusammen? Hiro, du sagst mir jetzt sofort was da läuft oder ich schicke ihn umgehend nach Hause!«

Die letzten Worte hallten schmerzvoll in meiner Brust, sodass ich die Frau, die mich sonst wie ein Engel auf Erden behandelte, verletzt ansah. »Bitte nicht ... Mom!«

»Dann rede!«, forderte sie streng ein. Ihr Blick weichte nicht auf. Sie wurde nicht wieder lieb. Sie blieb eisern.

Eine Straßenbahn fuhr ihren Weg durch die Straße und bimmelte ein paar Jugendliche von den Schienen, die laut lachten. Die Vögel um mich herum piepsten, die Ampeln vibrierten, der Wind wehte die Blätter. Und ein großer Vogel umkreiste unser Gebäude.

»Hörst du mir zu? Hallo? Bist du auf Drogen?«, fragte meine Mutter ungeniert und rüttelte an meinen Schultern. Doch so schnell sie mich anfasste, so schnell ließ sie auch los. Ein elektrisierender Schlag, so wie ich es kannte, durchfuhr auch meinen Körper. Beschämt sah ich zu Boden.

»Nein, Mom, ich bin nüchtern. Nicht mal geraucht hab ich.« Ein leises Seufzen durchfuhr meine trockenen Lippen. Ich suchte nach Worten. Was genau sollte ich ihr jetzt sagen? Dass ich Kiyoshi liebte? Dass ich ein Vampir werden würde? Es schon zur Hälfte war? Dass wir vorhin ein Kaninchen auseinander genommen hatten?

»Also ...«, begann ich, brach jedoch wieder ab. Ich bekam keinen Satz zustande. Wie ich bereits erwähnte: Sobald es um mich ging, ich der Schuldige war oder Gefühle eine Rolle spielten, kannte ich nur zwei Zustände: Schweigen oder vorwerfend und gemein werden.

Mom seufzte nur und schloss leise die Balkontür, als wüsste sie, dass Kiyoshi aus dem Bad heraus lauschen würde.

»Wie ernst ist es?«

Da war er wieder. Der ruhige Ton. Der "ich bin jetzt am Telefon und habe einen Liebeskummerpatienten an der Strippe und muss ihm helfen"-Ton. Mein Blick sprach wohl Bände.

»Sehr ernst«, gab ich ihr zu verstehen und nickte. Unsicher tastete ich meine Hüften ab. Natürlich nur ein Handtuch. Eine Kippe wäre jetzt schön gewesen. Einfach zur Beruhigung.

»Oh, Hiro ... Wie konnte das passieren?«

»Ich hab keine Ahnung, Mom. Wahrscheinlich, weil er einfach wie ein fremder Mann für mich ist.«

Endlich, dachte ich. Endlich kam mal ein Satz aus mir raus. Und die relativ ruhige Art von meiner Mutter entspannte die Stimmung immens. Auf einmal war ich sau froh, dass sie in einer Beratungsstelle arbeitete. Dass sie Verständnis für meine Probleme hatte. Oder es zumindest glaubhaft heucheln konnte.

»Damals am Telefon habe ich dich gefragt, ob du ihn liebst... Erinnerst du dich?«, begann sie und hob beide Augenbrauen, um meine Bestätigung einzuholen. Ich nickte. Und als hätte sie das zufrieden gestimmt, sprach sie ruhig weiter. »Ich frage dich jetzt noch einmal und ich möchte eine ernste und ehrliche Antwort von dir hören: Liebst du ihn?«

Ich fühlte mich erniedrigt. Auf der einen Seite, weil meine gefühlte zwei Köpfe kleinere Mutter vor mir stand und sich größer anfühlte, als ich war. Und auf der anderen Seite, dass ich das erste Mal in meinem Leben meiner Mutter gegenüber gestehen musste, was ich mir selber nie eingestanden hätte. Was früher niemals über meine Lippen gekommen war. Was ich niemals auch nur einer Person gebeichtet hätte.

»Ja. Sehr sogar. Ich habe mich in ihn verliebt.«

Ich zitterte am ganzen Körper und wartete Moms Reaktion ab. Zögerlich sah ich zu ihr und versuchte Tränen zurückzuhalten.

Sie presste enttäuscht die Lippen aufeinander. Kein Umarmen. Kein Trösten. Einfach ein enttäuschter Blick.

»Ach, Hiro... Ich muss dir... ich muss dir nicht erzählen, dass das nicht geht, oder?«

»Mom, du verstehst das nicht! Das-«, platzte es aus mir raus, doch sie hob ihre "Jetzt rede ich"-Hand.

»Kiyoshi ist dein Bruder. Dass ihr euch gern habt ist schön zu hören, aber nicht auf dieser Ebene. Das ist Inzucht, Hiro«, sprach sie ehrfürchtig vor ihren eigenen Worten und wurde zum Ende hin immer leiser.

»Ich weiß«, stimmte ich ihr knapp zu und wollte schon wieder Luft holen, um mich zu verteidigen, um die Situation weiter zu erklären - doch sie ließ mich nicht.

»Ich will auch nicht weiter bohren, das Geständnis reicht mir. Aber eins will ich auch noch ehrlich von dir hören: Hattet ihr Sex? Habt ihr miteinander geschlafen?«

Müde schlossen sich meine Lider. Zittrig entließ ich abermals heißen Atem aus meinem Mund. Wieso musste sie das Fragen? Wieso stand das auf einmal zur Debatte? Es hat sie doch sonst nie interessiert, wo ich meinen Penis hatte...

»Ja, haben wir.« Das Geständnis tat weh. Ich fühlte mich so offenbart. Auch noch leicht bekleidet auf dem Balkon vor meiner rügenden Mutter. Ich fühlte mich... nackt. Ausgezogen. Seelisch angreifbar.

»Verdammt, Hiro!«, zischte sie mir böse zu. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«

»Doch, Mom.«

Ich wusste nicht, woher meine Ruhe kam. Es war wohl die Enttäuschung, endlich alles gesagt zu haben. Die Enttäuschung darüber, dass es jetzt vorbei sein würde. Kiyoshi und ich könnten niemanden mehr täuschen. Zumindest Mom nicht mehr. Die hatte für solche Sachen ein Auge. Und wie mir schien auch ein gutes Gedächtnis.

»Hat er dich gebissen, Hiro? Während des Sex? Hat er dich ausgesaugt?«

Sie wurde hektisch. Und wahrscheinlich erinnerte sie sich an den einen Abend bei Vater, wo ich noch schwächlich ins Telefon ächzte, dass es mir nicht gut ginge. Sie ahnte es.

»Nein. Nur so ... geknabbert.«

»Geknabbert? Was heißt geknabbert?«

»Boah«, begann ich schnippig, »was man halt beim Sex macht! Mal jemanden anknabbern! Und ja: vielleicht ist da auch mal Blut geflossen, aber nichts geschah ohne meine Einwilligung!«

Da erstarrte sie förmlich in ihrer Statue und sah mich entsetzt an. »Er hat... von dir getrunken?«

Ihre Worte klangen wie die eines Predigers, der zum ersten Mal in die Augen von Satan blickte.

»Ja. Und es war geil«, benannte ich die Dinge beim Namen. Ich fühlte mich auf einmal überlegener als zuvor. Es war eine Sache, die Mom Angst machte. Die ich kannte und in der ich mich gut auskannte. Ich hatte wieder die Überhand.

»Du... machst das... nie wieder, verstanden?«, drohte sie mir in einem leisen, fast beängstigenden Ton. Das Gefühl der Überhand schwand wieder sehr rasch.

Ich zuckte nur mit den Schultern. »Wahrscheinlich werde ich auch nie wieder mit ihm schlafen dürfen. Dann hat sich das Knabbern auch erledigt.«

»Ich bitte doch drum! Hiro... Ich will nicht, dass meine Söhne- « Da brach sie ihren Satz ab und fasste sich an die Stirn. Für eine Mutter zweier Söhne, von denen einer ein Vampir war, der zweite im Kommen, die auch noch bekanntlich schwul waren, sicherlich nicht einfach zu verarbeiten.

»Sorry, Mom. Glaube mir... es hat mich genauso überrascht wie dich ...«

Da lachte sie verzweifelt auf. »Wie kann man sich in seinen eigenen Bruder verlieben? Hiro, ich hatte gehofft, dass es nur die vampirische Aura ist, die dich in seinen Bann gezogen hat, aber nun!«

Abermals warf sie ihre Hände über den Kopf. Ich wusste nicht mehr, was ich noch sagen sollte. Sie hingegen fand noch viele weitere Worte, die sie benutzte, um mich weiter in die Ecke der Scham zu treiben.

»Ich kann froh sein, dass es kein Mädchen geworden ist, sonst hättest du sie wohl noch geschwängert! Aber was kommt als nächstes? Wollt ihr auch noch heiraten? Ihr seid eine Woche zusammen! Das lässt hoffentlich nach, sobald Kiyoshi und du wieder getrennt seid! Was hast du dir nur dabei gedacht, deinen Bruder zu verführen?«

 

Irgendwann schob sich die Balkontür auf. Kiyoshi kam mit gesenktem Blick zu uns raus und legte einen Bademantel um meine Schultern. Dankbar blickte ich in seine Augen und lächelte sogar ein Stück. Mein Liebster erwiderte die Geste. Fast verloren sah er in meine Augen.

Mom hingegen schwieg auf einmal und sah uns beide an. »Hört auf... Bitte! Ihr seid Brüder! Verwandt!«, klagte sie abermals und verschränkte ihre Arme. Es war, als stände sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

»Mutter«, begann Kiyoshi leise und dreht sich von mir weg, um auf sie zuzugehen. Vorsichtig streckte er seine blasse Hand nach ihr aus. Der schwarze Stoff seines Hemdes ließ ihn blasser als sonst aussehen. Vielleicht war es auch die bereits untergehende Sonne am Horizont, die uns alle in ein rot-violettes Licht tunkte. War der Tag wirklich schon bald zu Ende? Wieso verging die Zeit so schnell?

Kiyoshis Finger nahmen sanft Moms Hand in seine und drückten sie sanft. »Mutter bitte, verstehe doch, dass... – Hiroshi ist alles für mich geworden. Er ist wie ein Segen für mich. Ein Engel, der mir Halt gibt.«

Kiyoshis Worte rührten mich zutiefst. Besonders stark, weil er sie nicht mir, sondern Mom sagte. Einer dritten Person, jemand, der das Band zwischen uns nicht verstehen konnte.

»Ich liebe ihn und... ich bin Schuld, dass ich ihn zu dummen Dingen verführt habe. Aber im Nachhinein«, und dabei drehte er sich noch einmal lächelnd zu mir um, »habe ich erfahren, dass er mich genauso sehr liebt. Dass diese Liebe eine brüderliche übersteigt. Und ich danke euch für jeden Tag, den ich mit ihm verbringen darf.«

Langsam drehte er sich wieder zu Mom. Die starrte noch immer wie völlig aus dem Ruder geraten auf Kiyoshis blassen Arm, der ihre Hand liebevoll drückte. Eine Geste, die er sonst nur mir zeigte. Als Mom weiterhin auf eine Antwort warten ließ, fuhr Kiyoshi einfach ruhig fort.

»Ich weiß, und Hiro auch, dass du und Vater euch Sorgen macht. Dass das offiziell verboten ist und... niemand gerne hört, dass die eigenen Kinder ... homosexuell geworden sind, aber«, und damit holte er tief Luft, setzte seinen sanftesten Blick ein, den er je hatte, »... bitte lass mich hier bleiben. Bei dir. Und Hiro! Ich brauche euch. Besonders meinen Bruder. Ohne ihn wüsste ich nicht mehr, was ich tun sollte.«

Da regte sich etwas in Moms Blick. Sie presste ihre Lippen aufeinander, sah verletzt in die Augen ihres Erstgeborenen und schluckte. Sofort suchten ihre Augen auch meine. Ich stand etwas Abseits, soweit das der kleine Balkon erlaubte, in meinem Bademantel und betrachtete das Schauspiel.

»Ich ...«, begann sie leise und löste sich langsam von Kiyoshis Griff. »Ich habe nichts gegen Homosexualität. Und auch nichts dagegen, dass meine beiden Söhne... mir wohl keine Enkelkinder schenken können, aber...« Sie rang mit den Tränen, während sie uns betrachtete. »Wieso macht ihr es uns so schwer...? Euer Vater und ich... wir sind am Ende unseres Lateins.«

»Mom, wir haben nur eine Bitte an euch beiden: Lasst uns. Wir wissen, was wir tun. Wir leben es nicht aus. Wir verstecken es. Wir werden es niemals publik machen. Niemand wird je davon erfahren, aber ...«, und da machte ich Halt. Kiyoshi nahm meine Worte auf und führte sie fort, während er wieder ein kleines Stück zu mir zurücktrat und meine Hand nahm.

»... wir brauchen einander. Wir wollen nicht getrennt werden.«

Unsere Blicke trafen sich. Sehnsuchtsvoll sahen wir in die jeweils gegenüberliegenden Augen. Mom schien auf einmal nicht mehr anwesend zu sein.

Ein leichtes Lächeln schlich sich auf Kiyoshis Lippen. Dieses konnte ich nur erwidern. Da legte ich wie weggetreten eine Hand auf Kiyoshis Wange und küsste sanft seine Lippen.

»Das nennt ihr also ... es nicht publik machen?«, ächzte Mom auf einmal los und schniefte auf. Sofort trennten sich unsere Lippen voneinander; entsetzt sah ich in ihre Richtung.

»Mom, nicht weinen... Es nimmt doch niemand Schaden!«, versuchte ich sie zu beruhigen und kam auf sie zu. Doch sie schlug meine Hand weg und schüttelte den Kopf, während sie sich akribisch genau die Tränen unter ihren stark geschminkten Augen wegwischte.

»Ich werde mit Fudo reden. Und dann entscheiden wir. Ich sehe... wie sehr ihr einander braucht. Aber trotzdem kann ich euch nicht versprechen, dass wir das so stehen lassen können. Das bedarf.... Zeit.«

Mit diesen Worten schlängelte sie sich an uns vorbei, als seien wir zwei Aussätzige.

 

Stille trat ein, als sie sich in ihr Zimmer verzog und die Tür schloss.

Ich hörte Kiyoshi leise ausatmen. Die Anspannung verflog. Wenn auch nur für einen Moment.

»Meinst du... es lief gut?«, fragte er zögerlich und tastete wieder nach meiner Hand. Bestimmend griff ich nach seinen Fingern und drückte sie.

»Ging so.« Ich schüttelte nachdenklich den Kopf. »Normalerweise... weint sie nicht vor mir. Nicht mal, als sie mich mit Drogen erwischt und aus der Klinik fischen musste... da wurden ihre Augen glasig, aber nicht mehr... «

Ich seufzte. Kiyoshi hingegen sah das als gefundenes Fressen, das Thema wieder auf mich zu lenken.

»Sie musste dich wegen Drogenkonsum aus der Klinik holen? Hiro! Was hast du dir denn geschmissen?«

»Man, irgendwelche Pillen, weiß nicht mehr!«, fauchte ich sofort los und wedelte mit der freien Hand. »Ist doch egal! Jedenfalls ... hat sie es nicht schlecht aufgenommen. Es hätte schlimmer sein können, denke ich. Aber auch besser. Wir werden abwarten müssen.«

Ich hatte wirklich gehofft, dass sie es mit dem einen Spruch hingenommen hätte.

"So toll sind sie nicht".

Mag sein, aber Kiyoshi war so toll. Auch wenn er seine Eigenarten hatte; abgehoben und eitel, ein bisschen sexsüchtig war und vielleicht ein Stück seiner Jugend nachzuholen hatte: Er war trotzdem perfekt. Das machte ihn eigentlich erst perfekt: seine Macken.

 

»Dann... warten wir?« Kiyoshis Augen trafen meine. Als sie sich leicht verengten, vernahm ich ein strahlendes Lächeln in seinem Gesicht. Seine weißen Zähne glänzten in der untergehenden Sonne.

»Was macht dich so glücklich?«, fragte ich und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es war wahrlich ansteckend.

»Du ...«, säuselte er und küsste meine Lippen. »Wir haben uns vor Mutter geküsst... Ist das nicht krass?«

Eine leichte Röte trieb sich mir ins Gesicht. »Stimmt ... Oh man, da habe ich wieder mal nicht nachgedacht ...«

»Nein, das war perfekt. Es war der perfekte Moment mich zu küssen! So hat sie gesehen... dass wir es wirklich ernst meinen!«

»Ich kann nur hoffen, dass sie das nicht noch weiter verstört hat.« Mein Seufzen wurde lauter, als Kiyoshi sich dicht an mich stellte.

»Ich denke nicht.«

Wir küssten uns erneut auf dem Balkon. Liebevoll wanderten seine Hände um meinen Nacken und drückten mich an ihn. Meine lagen ruhend auf seiner Taille.

»Gut siehst du aus...«, murmelte ich und küsste ihn abermals auf die Lippen.

Sehnsuchtsvoll seufzte er gegen meinen Mund. »Danke...«

Dabei zupfte ich an seinem Hemd. Schließlich löste ich mich etwas von ihm. »So schick. Wieso? Gibt es was zu feiern?«

Da hob Kiyoshi eine Augenbraue und sah mich etwas überrascht an. »Wir wollten doch heute Abend mit Jiro weg, oder nicht? In diesen Club.«

Sofort raunte ich genervt auf und ließ mich zur Seite gegen das Geländer fallen. »Ach ja! Och nee!« Kiyoshi lachte nur.

»Das habe ich verdrängt...«, gestand ich und kratzte mich an der Brust; schob dabei meinen Bademantel zur Seite und gab meinen nackten Körper preis.

Kiyoshis Zunge fuhr auf einmal über seine Lippen. Als er sich an mich lehnte und eine Hand fast unbemerkt in meinen Schritt wanderte, brach ich jeglichen Gedanken über den Club ab und sah zu meinem Bruder.

»Und... was wird das?«, fragte ich recht leidenschaftlich und strich über Kiyoshis blasse Wangen, die sich sofort danach röteten.

»Eine Fortsetzung?«, säuselte er mir ins Ohr und rieb mein Glied. Es dauerte nicht lange und wurde steif.

Etwas angespannt ließ ich meinen Kiefer knacken, sah an Kiyoshi vorbei und deutete auf mein Zimmer. »Aber nicht hier. Die Nachbarn sollen nicht wissen, wie groß mein Schwanz ist. Oder deiner.«

Ein leichtes Kichern entfuhr meinem Bruder, als er divenhaft mit erhobenen Armen durch das Wohnzimmer lief und die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Ich folgte nur langsam, mein steifes Glied dabei im Zaun haltend. Als ich die Tür schloss und den Vorhang zuzog, den Bademantel ins Bad warf und Kiyoshi nackig in mein Zimmer folgte, lag der schon ausgezogen auf meinem Bett.

Das erntete nur ein belustigtes Kopfschütteln meinerseits. »Du kleines Biest ...«

Grinsend schloss ich die Tür, ging auf meinen erregten Bruder zu und ließ es abermals geschehen.

Den göttlichen Sex.

 

Als die Sonne unterging und ich mit Kiyoshi zufrieden im Bett lag, vibrierte mein Handy. Jiro.

»Jo, Alter, wie sieht's aus? Heute Abend? 23 Uhr? Ich warte vorm Eingang! Hab auch Schnaps gekauft ;-)«

 

Ich grinste und antwortete, dass wir um 23 Uhr dabei wären, trotzdem meine Laune deswegen nicht sonderlich gehoben war. Mehr Schlecht als Recht, zugegebenermaßen.

»Geht es dir denn besser?«, erkundigte sich Kiyoshi, der sich noch nackig an meinen Körper schmiegte. »Hörst du noch diese Dinge?«

Ich nickte, wog aber mit dem Kopf ab. »Ich versuche es auszublenden. Es geht schon besser als heute früh und heute Nacht. Ich scheine mich daran zu gewöhnen.«

»Davon gehe ich auch aus... Irgendwann hörst du das alles nicht mehr, sondern nur noch das, was du auch hören möchtest.«

Ein zuversichtliches Lächeln meines Bruders ließ mich es gleichtun. »Ich denke auch. Ansonsten werden die Stimmen eben mit Alkohol ruhig gestellt«, spaßte ich und streckte alle Viere von mir. Hier und da knackten die Knochen.

»Nicht so viel, okay?«, bat mich mein Liebster. Besorgt sah er auf meinen nackten Körper, von dem ich die Decke gestrichen hatte.

»Wieso? Heute ist abnehmender Mond... du wirst kein Tier, ich fühl mich wieder besser...«

Doch Kiyoshis Blick blieb unergründlich.

»Komm schon«, versuchte ich es weiter, »das bin ich Jiro schuldig!«

»Du bist ihm doch kein Besäufnis schuldig«, mahnte mich Kiyoshi und verdrehte die Augen. »Wenn Vater wüsste, in was für Sachen du mich ziehen würdest.«

»Umso besser, dass er es nicht weiß, oder?« Sofort knuffte ich ihn in die Seite. Spielerisch versteht sich.

»Hattest du dich jetzt eigentlich bei ihm gemeldet?«, fragte ich in den Raum, während ich mich langsam anzog. Die enge Shorts um meine Hüfte ziehend. .. Die saß auch mal enger ...

»Nee. Du?«

»Oh man, nein. Hoffentlich hat Mom ihm Bescheid gegeben...«

»Gehe ich mal schwer von aus, sonst hätte er schon längst verängstigt angerufen.«

Ich nickte und suchte mir ein paar Klamotten raus. Ein normales Shirt mit der Lederjacke würde reichen. Dazu die neue, alte Hose aus dem Norden. Ich liebte sie über alles. Sei es wegen ihres Aussehens oder der Erinnerungen, die ich mit ihr trug.

Während ich an meinem Regal stand und mir Nietenarmbänder und Halsketten anzog, stand Kiyoshi ebenfalls angezogen neben mir und bewunderte meinen Schmuck.

»Magst du davon was anziehen?«, fragte ich unverblühmt, während Kiyoshi sich einen Ring ansah.

»Äh, oh nein ...«, lachte er nervös. »Das ist mehr so dein Style... Ich bin der Lederbandtyp, weiß du doch.«

Natürlich wusste ich das noch. Wie er an dem Laden stand und sich die Holz- und Lederarmbänder ansah, als wären es heilige Stücke.

»Irgendwann kaufe ich dir ein schönes. Mit einem Holzanhänger.«

Dieser Satz zauberte eines der wunderbarsten Lächeln auf Kiyoshis Lippen und ließen mich erschaudern. Dieses Zeichen, etwas Gutes gesagt zu haben, ließ mich aufatmen. Auch wenn alles um uns herum den Bach runtergehen würde: solange Kiyoshi mich noch so anlächeln könnte, wäre es in Ordnung.

 

Erst, als wir uns im Wohnzimmer die Schuhe anziehen wollten, fiel mir die leere Küche auf. Die dunklen Zimmer. Die ruhige Wohnung.

»Mom ist weg?«, fragte ich rhetorisch, nicht auf eine Antwort wartend. »Eigentlich... wollten wir heute doch auch Steak essen«, stellte ich traurig fest und ging in die Küche. Als ich den Kühlschrank aufmachte, sah ich die Stücke Fleisch liegen. Geplant war es also. Die jüngsten Ereignisse jedoch schienen das Fleisch in Vergessenheit geraten zu haben.

»Sie verließ die Wohnung wohl, als wir noch miteinander beschäftigt waren.«

»Konnte es wohl nicht mehr hören, haha«, lachte ich nervös und kratzte mich im Nacken. Dabei waren wir dieses Mal wirklich leise gewesen!

»Frage mich nur... wo sie hin ist.«

Vielleicht zu einer Freundin? Einer Arbeitskollegin?

Vielleicht auch einfach in die Stadt, um mal einen kühlen Kopf zu bekommen.

 

Auf dem Weg nach unten, ging ich noch in der Waschküche vorbei und schmiss eine Waschmaschine an. Es dauert ein bisschen, bis wir herausgefunden hatten, was genau wir drücken mussten, aber irgendwann lief sie. Beruhigt, dass ich es geschafft hatte, Wäsche zu waschen, ging ich mit Kiyoshi an der Hand hoch. Die würde ich morgen hoch holen und aufhängen, dachte ich mir und summte vor mich hin.

Kiyoshi hingegen blieb still, sah in den Innenhof, an dem wir vorbeigingen. »Ihr Auto ist weg.«

»Vielleicht ist sie irgendwohin gefahren. Manchmal macht sie das, wenn wir Streit hatten.«

Manchmal war gut. Das war bisher zwei Mal vorgekommen. Und da hatten wir noch nicht einmal richtig Krach. Aber es war ihr Verhalten, mit schwierigen Dingen umzugehen. Erst einmal fliehen, dann darüber nachdenken und sich der Sache noch einmal stellen, wenn sie sich gewachsen dafür fühlte.

 

Als ich mit Kiyoshi an der Hand die lange Straße zur Stadt entlang schlenderte, bemerkte ich hier und da verwirrte Blicke. Natürlich sah es komisch aus, wenn Zwillinge, ausgewachsen, männlich, händchenhaltend durch die Straßen liefen. Aber was soll's.

Who cares.

Just in dem Moment blieb Kiyoshi stehen. Ich tat es ihm gleich und sah ihn verwundert an.

»Was ist?«

Sein Blick galt einer Seitengasse. Sie war gut mit Menschen gefüllt, trotzdem es Sonntag war. Doch in der Ferienzeit machte man anscheinend keinen Unterschied bei den Wochentagen. Die Leute lachten, sauften und gröhlten wie wild rum.

»Spürst du das?«, fragte er und konnte seinen Blick nicht abwenden.

»Nicht wirklich ...«, murmelte ich und lauschte.

Doch nichts war zu vernehmen. Die Leute um uns herum waren zu laut.

Kiyoshi zögerte, nickte dann aber zustimmend und lächelte. »Dann hab ich mir das wohl eingebildet.«

 

Mit diesen Worten gingen wir weiter in die volle Innenstadt.

Erst, als ich den großen Vogel am Himmel sah, wurde mir bewusst, dass das nicht mehr Zufall sein konnte.

 

Strahlendes Wiedersehen

»Weißt du, wo der Club ist?«, fragte Kiyoshi, der seinen Blazer etwas nervös richtete. Ich nickte, suchte aber trotzdem etwas verloren durch die Gegend.

»Ja, äh, hier irgendwo war der... «

Nach kurzem Suchen fand ich dann den glitzernden Schuppen, aus dem bereits laute Hip-Hop Musik ertönte. Meine Laune sank rapide, je näher wir kamen.

»Cool sieht's aus«, bemerkte mein Bruder und drückte meine Hand.

»Na ja...« Mein Blick schweifte durch die Menschenmenge. Die Schlange zum Eintreten war relativ lang. Wahrscheinlich müssten wir uns ebenfalls dort anstellen. Das gefiel mir bereits überhaupt nicht. Entweder ich kam in einen Club rein oder nicht. Ich bin doch hier nicht beim Bäcker!

»Ich glaube, da ist Jiro.« In dem Moment zeigte Kiyoshi auf die schmale Figur meines besten Freundes, der locker an der Wand stand und auf seinem Handy tippte. Wie immer am Rauchen und alle Piercings in seinem Gesicht. Die Lederjacke, welche mit Patches und Stachelnieten versehen war, lag locker auf seinen Schultern.

Entweder wollte er heute wirklich noch jemanden verprügeln oder einfach nur auffallen. Denn mit seiner punkigen Erscheinung traf er regelrecht auf abwertende Blicke. Doch Jiro kümmerte das absolut nicht.

»Jiro!«, rief ich ihn und hob eine Hand zur Begrüßung. Er sah vom Handy auf und lächelte breit. Sofort kam er auf uns zu und drückt meine Hand.

»Nice, schön, dass du hier bist, Hero. Hi, Kiyoshi!«, begrüßte er auch meinen Bruder und reichte ihm die Hand. Zögerlich nahm er sie an und drückte sie leicht. Die beiden waren sich immer noch nicht so warm.

 »Und hier willst du rein?«, fragte ich leicht genervt. Die Leute um uns herum waren Schnösel, Bonzen und irgendwelche komischen anderen Leute, die gerne so wären, wie die anderen. Nur wir drei: Wir fielen auf.

»Klar, hab doch gesagt, ich will den Laden mal aufmischen. So ein paar Schnösel vermöbeln macht sicher Spaß.«

»Oh man, Jiro, du übertreibst ...« Trotzdem lachte ich amüsiert auf, als wir uns in die Schlange stellten.

Kiyoshi blieb wieder sehr still. Während ich mit Jiro hier und da ein bisschen redete, zündeten wir uns eine Zigarette an. Kiyoshi nahm keine. Schüttelte nur den Kopf und lächelte, als würde es einfach tolerieren, dass ich der Schmacht nicht widerstehen konnte. Dabei empfand ich seine Erscheinung damals als wirklich umwerfend.

 

Nach gefühlten Stunden hatten wir es endlich in den Club geschafft. Zwar nervte mich bereits der hohe Eintritt, doch riss ich mich zusammen. Im Club selber war alles nobel eingerichtet. Plüschsitze, große Sessel, Lacktheke, Lackbar, gestriegelte Barkeeper und überall rosa-rote Neonleuchten.

»Sicher, dass das hier kein Bordell ist?«, spaßte ich und legte einen Arm um Kiyoshis Taille. Hier und da sahen mich einige Weiber an, dessen Blicke ich nicht einmal würdigte. Kiyoshi hingegen sah schüchtern durch die Gegend und schien die Blicke der Leute quasi aufzusaugen.

»Bisher sieht's doch ganz okay aus«, lachte Jiro, reichte mir und Kiyoshi dann kleine Schnapsflaschen. Hastig öffnete er seine und trank den Inhalt unbemerkt aus.

Ich folgte dieser Geste und sah zu meinem Bruder, der noch zögerlich auf die kleine Flasche sah.

»Das ist Feigenlikör.«

»Ja, ich sehe es«, gab er mir zu verstehen, dass er lesen konnte. Schließlich schraubte er die Flasche auf und seufzte. »Auf ein bisschen Erde.«

Damit prostete er mir traurig zu und trank in einem Schluck die transparente Flüssigkeit. Jiros Blick haftete auf uns.

»Ein bisschen Erde?«, hakte er nach. Ich winkte ab und trank ebenfalls das Fläschchen und stellte es in eine dunkle Ecke.

»Is'n Insider.« Ein müdes Lächeln streifte meine Lippen. Ein trauriger Insider wohl bemerkt. Der Geschmack der Erde machte sich immer weiter in meinem Mund breit. Ein hilfloser Blick zu meinem Bruder verriet mir, dass auch er eher unter dem Alkohol litt, als ihn zu genießen. Aber die Erfahrung hatte gezeigt: Einfach genügend trinken, irgendwann würde man sich schon daran gewöhnen können.

 

Es dauerte nicht lange, da standen bereits Tequila und andere Schnäpse vor unseren Mündern. Jiro gab hier und da mal eine Runde aus, störte sich nicht weiter an Kiyoshis stillem Verhalten und pöbelte hier und da einen Schnösel an.

Der Alkoholpegel stieg rapide an und ich spürte zum ersten Mal eine heiße Welle der Trunkenheit. Auch Kiyoshi schien auf einmal cooler zu sein, denn seine Zunge lockerte sich immens.

»Also gehst du auf die Privatschule?«, fragte Jiro und kniff dabei die Augen zusammen, als müsse er sich genauestens konzentrieren.

»Ja, genau. Ist ganz okay, aber Schule eben. Also wenn ich könnte, würde ich mich lieber mit Hiro irgendwo absetzen und in den Tag hineinleben ... auf Schule scheißen«, murmelte er vor sich hin und kippte sich erneut den Wodka in die Kehle.

Ich stand nur mit Kippe daneben und beobachtete das Gelalle der beiden. Schmunzelnd, aber doch zugleich überrascht, verfolgte ich das Schauspiel.

»Das klingt voll cool. Ich wollte auch mal mit Hiro irgendwohin abhauen. Aber hatte dann doch nicht die Eier dafür ...«

»Du? Mit Hiro? Alleine?« Kiyoshis Stimme wurde auf einmal gereizt.

»Ja, man! Ey, Hiro und ich... wir sind so was wie... Bros. Du bist sein richtiger Bruder, ich bin der Bruder in Spe«, damit legte Jiro einen Arm um mich und zündete sich gekonnt mit einer Hand eine Kippe an. Ich belächelte den Satz einfach. Doch Kiyoshis zog mir wütend die Schachtel Kippen aus der Tasche und zündete sich ebenfalls eine an.

Kiyoshi und freiwillig am Rauchen? Jetzt wurde es gefährlich.

»Hiro ist mein Bruder, ja... und er gehört mir... Sorry, Jiro, aber nur ich darf an diesen Mann Hand anlegen.«

Mit diesen Worten betatschte er meine Brust.

»Okay, Kiyoshi... das... ist langsam genug, oder?«, murmelte ich ihm zu und nahm bewusst grob seine Hand von mir. Doch Kiyoshi blieb eisern, rauchte weiter betrunken seine Zigarette.

»Es ist genug? Du wolltest mich mit Jiro betrügen?«, lallte er los.

»Haha, Kiyoshi... ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht mal, dass es dich gibt... « Sofort legte ich meine Stirn in Falten. Dass Jiro jetzt derjenige war, der uns amüsiert zuschaute, fiel unter den Tisch. Somit griff ich nach Kiyoshis Taille und drückte ihn an mich.

»Na gut...«, säuselte er vor sich hin und grinste, als wäre das alles nur ein Spiel gewesen und er hatte kein Wort ernst gemeint. Dann drehte er sich zu Jiro und klopfte ihm liebevoll auf die Schulter. »Nix gegen dich... du bist ok... aber Hiro liebt mich.«

»Das ist auch vollkommen okay«, fügte Jiro grinsend hinzu, nicht wissend, wie genau Kiyoshi das mit dem lieben meinte.

 

Auf einmal stellte sich eine Frau neben uns.

Sie hatte lange blonde Haare und zwirbelte sie um ihren Finger. Ein enges, schwarzes Kleid deutete ihre schmale, aber mit Rundungen versehene Figur an. Ihre rot angemalten Lippen deuteten ein Grinsen an, welches einzig und allein Jiro galt.

»Hallo, Süßer. Ich mag Männer mit Ausstrahlung. Seid ihr Drei alleine? Oder gehört ihr einer größeren Gruppe an.«

Zwar beachtete sie mich und Kiyoshi kurz, schenkte uns aber keinen weiter würdigen Blick. Jiro hingegen rauchte lässig an seiner Zigarette, als wüsste er, was jetzt kommen würde.

»Wir sind alleine. Und du? Frau mit der besonderen Aura?«

Sein Lächeln wurde verschmitzt, geradezu anzüglich. Ich dachte, ich versah mich, doch die Dame kam Jiro sogar noch etwas näher.

Normalerweise wäre ich dann gegangen, hätte ihn mit der Dame allein gelassen, aufs Klo gehen sehen und mit dicker Hose wiederkommen.

Doch diese Frau war seltsam. Sie gefiel mir nicht. Und das nicht nur vom Aussehen her.

»Oh... Ich komme vom VIP Bereich. Da sind ein paar Freund von mir. Wir kommen eigentlich nicht von hier, aber machen etwas Urlaub.« Jedes ihrer Worte klang erotisch, geradezu anzüglich.

Kiyoshi zischte mir auf einmal zu.

Als ich zu ihm sah, deutete er mit seiner Zunge seine Zähne an. Ich verstand erst nicht, doch als ich mich wieder zu der Dame drehte, sah ich, was er meinte.

Strahlend weiße Zähne, umrahmt von rotem Lippenstift.

Und neben der absolut perfekt geformten Vorderzähne ragten zwei zu lang geratene Schneidezähne hervor.

Sie waren nur unweigerlich länger als die restlichen Zähne, fielen wahrscheinlich einem normalen Menschen nicht auf. Doch ihre Aura, ihr Verhalten, ihr Bezirzen und ihre Art mischten sich alle zu einem zusammen: Vampir.

»Hier?« Vorsichtig nahm ich Kiyoshi kurz beiseite und flüsterte ihm kaum hörbar mit dem umliegenden Krach zu. »Wir sind hier im Süden!«

»Hast sie doch gehört! Sie kommt nicht von hier! Sie stinkt sogar wie einige aus meiner Stufe... ich erkenne ihren Geruch...«

Doch ehe ich Jiro abhalten konnte, sich weiter auf sie einzulassen, winkte er mir schon zu. Er ging mit der Dame weg. »Nein, nein!«, rief ich noch hinterher, da war er schon weg. »Fuck!«

Kiyoshi hingegen zögerte nicht lange, schnappte sich meine Hand und zog mich in die Richtung, in die die beiden verschwunden waren.

»Sie hat doch erzählt, dass sie aus dem VIP Bereich kam!«

»Ja, aber da kommen wir doch nicht rein, Kiyoshi!«

»Ich komm überall rein!«, pöhnte er, sichtlich betrunken. Die Zigarette immer noch in der Hand, warf er sie schließlich beiseite und stellte sich an die Absperrung vom VIP Bereich.

»Fuck, siehst du das?«, rief ich erneut auf und zeigte auf Rose. Ja, die Rose. Die Rose von Kiyoshis Stufe. Aus der Akademie für Vampire.

»Die scheinen hier ja richtiges Familientreffen abzuhalten!«

»Bei so einem Nobelschuppen... Hätte ich mir denken können«, gab Kiyoshi von sich und rümpfte nur die Nase. »Dann ist die andere auch nicht weit weg.«

»Ich glaube, da hinten sitzt Jiro!« Damit deutete ich auf einen schwarzhaarigen Mann, der von einer blonden Frau bezirzt wurde. »Wie schamlos sie sich einfach Menschen angeln und zu sich holen... Pah!«

»Ich verstehe nicht, wie sie das machen wollen, ohne die Menschen zu töten... Wahrscheinlich schlafen sie mit ihnen und... lassen sie im glauben, das sei beim Sex passiert.«

»Oder sie setzen sie unter Drogen.«

»Ja ...« Kiyoshi schluckte. Ohne weiter zu zögern hechtete er zur Security und lugte in den VIP Bereich.

»Hi«, grinste er sofort wie der schönste Mann auf Erden. »Kann man da noch rein?«

Doch der Securitymann blieb eisern. »Nur mit Ausweis.«

»Und wie kommt man an den Ausweis?« Kiyoshi flirtete den Mann regelrecht an! Seine langen Wimpern klimperten fast zum Takt der lauten Musik. Der halbe Schrank alias Security lachte dann auf und schüttelte den Kopf.

»Keine Chance, Kleiner. Die Ausweise wurden vorher schon verteilt.«

»Hm. Weil das ist doof. Da drin ist ein Freund von uns, der hatte auch keinen Ausweis und wurde von einer Blondine reingebeten.«

»Dann hat er Glück gehabt«, gab der Schrank kurz zu verstehen und wendete sich von Kiyoshi ab. Doch der blieb stur und packte den Mann am Arm. Da spürte selbst ich, dass er alle Geschütze seiner vampirischen Aura einsetzte.

Konnte das wirklich sein? Mein lieber Bruder vom Lande flirtete sich in den VIP Bereich eines Nobelclubs?

Er überraschte mich immer wieder.

»Ich kenne da drin auch jemanden. Wenn die das Okay geben... dürfen wir dann auch rein?«

»Süßer, verpiss dich und lass mich in Ruhe. Kein Ausweis, kein Reinkommen!« Der Schrank grinste süffisant, wissend, dass er darüber entscheiden würde, selbst wenn wir dort drin jemanden kennen würden.

»Hey, sorry«, funkte ich schließlich dazwischen und griff nach meinem Bruder. »Wir vermissen nur unseren Kumpel, der hier eigentlich nicht drin sein sollte. Aber wir finden einen Weg.«

Damit zog ich Kiyoshi protestierend weg.

»Hallo? Ich hatte ihn fast soweit!«, rief er, als wir den Club mit Stempel verließen.

»Das sah man«, sagte ich spitz und holte mein Handy raus. Ich schrieb Jiro eine SMS in der Hoffnung, er würde sie lesen. Er dürfte sich auf keinen Fall mit dieser Frau alleine irgendwohin begeben. Das könnte sein Tod sein. Oder zumindest eine unschöne Nacht mit sich ziehen.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir ein verschwommenes 1 Uhr. Als ich eine Zigarette herauskramte, bemerkte ich erst, wie betrunken ich war. Aber es war ein gutes Gefühl. Es ließ mich ruhig werden. Die Sache mit Jiro war schlimm, aber irgendwo okay. Der würde das Pferd schon schaukeln.

Kiyoshi nahm sich ohne Worte ebenfalls eine Zigarette und begann zu rauchen. Genervt sah er an mir vorbei. Wie eine Frau hielt er die Zigarette in die Höhe, während sein Ellebogen in der Hüfte ruhte. »Ich hätte das geschafft!«

»Ja klar.« Damit verdrehte ich die Augen. Mit einem Schwung zog ich ihn an mich ran. Ein leichtes Lächeln durchstreifte mein Gesicht. »Ich war überrascht wie gut du flirten kannst... wo hast du das gelernt?«

»Von meinem Meister«, kicherte Kiyoshi wie ausgewechselt und strich mit seiner Nase über meine. Um uns herum scharrten sich weitere Betrunkene, Leute mit Drinks und schenkten uns keine große Aufmerksamkeit.

»Der da wäre?«

»Na, du, wer sonst!«

Da lachte ich auf. »Du hast mich doch noch nie richtig flirten gesehen ...«

»Ach... mir hast du schon früh genug schöne Augen gemacht.«

Mit diesen Worten küsste er mich. Er redete wirres Zeug, das war mir klar. Woher sollte er wissen, wie ich flirtete? Durch Facebook, oder was?

Sein Kuss wurde schnell bestimmender, verlangender. Ich konnte noch so betrunken sein, doch Sex in der Öffentlichkeit würde nur auf den Toiletten klar gehen. Und selbst da hatte ich meine Schwierigkeiten konzentriert bei der Sache zu bleiben. Von der immer noch fast unerträglichen Geräuschkulisse mal ganz zu schweigen.

»Kiyoshi... benimm dich«, mahnte ich ihn. Doch der kicherte nur, küsste mich erneut, rauchte, küsste und rauchte. Er genoss es, sich so öffentlich mit mir zu zeigen. Er schien auch seit dem Gespräch mit Jiro etwas erleichterter. Jiro hatte natürlich absolut nichts von dem verstanden, was Kiyoshi ihm vermitteln wollte, doch für meinen Bruder schien alles geklärt.

»Hiro ... Küss mich«, forderte er mich auf, als er seinen Zigarettenstummel wegwarf. Mit noch einem letzten Zug an meiner Kippe, hob ich die Augenbrauen.

»Wir küssen uns doch ...« Gekonnt schnipste ich den Stummel weg und wendete mich wieder meiner Leidenschaft zu. »Oder willst du mal einen richtigen Kuss?«

»Jaaa«, stöhnte er schon fast in mein Ohr und öffnete willig seinen Mund; nur darauf wartend, dass ich ihm meine Zunge in den Hals steckte.

Also fackelte ich nicht lange und tat, wie von mir verlangt. Unsere Zungen fanden schnell zusammen, spielten miteinander, rieben und benetzten den jeweils anderen mit Speichel. Unsere Körper schienen erhitzt, streiften ebenfalls aneinander und reagierten auf den jeweils anderen.

Ich öffnete hier und da die Augen, sah einige Clubgänger verwirrt schauen, ob wir auch wirklich Zwillinge waren, taten es dann als Irrsinn ab und gingen weiter.

Erst, als ich eine bekannte Stimme vernahm, löste ich mich keuchend von meinem Bruder.

»Hero? Scheiße, was macht ihr da?«, fragte Jiro, sichtlich entsetzt darüber, was er gerade gesehen hatte.

Ich spürte, wie mir schlecht wurde. Kiyoshi hingegen wankte noch ein wenig in meinen Armen, sah konzentriert zu Jiro, als würde er ihn nicht richtig erkennen. Doch mein Magen drehte sich abermals, der Alkohol tat sei übriges.

»Was«, fragte ich, als würde ich nicht verstehen, was Jiro meinte. Ehe ich mich versah, fing Jiro an laut zu lachen.

»Oh man, Hero, wie besoffen bist du, dass du mit deinem eigenen Bruder knutschst?«

Der Alkohol! Na sicher!

Ich war zwar davon überzeugt, dass kein Mensch der Welt so betrunken sein könnte, dass er freiwillig mit seinem Bruder rummachen würde, aber ich ließ Jiro im Glauben, es wäre genau so gelaufen.

»Boah, ja... äh, sorry, ich bin echt dicht. Wo ist deine Blondine?«, lenkte ich das Thema schnell ab. Kiyoshi schwieg und umarmte mich feste, um sein Kinn auf meiner Schulter abzulegen.

»Die ist noch im VIP Bereich. Ich hab gefragt, ob ich euch mitnehmen darf... Ich will euch hier nicht so blöd stehen lassen.«

»Das ist aber nett von dir«, spottete ich etwas gereizt und deutete auf den Schrank beim Eingang des VIP Bereichs. »Hat uns auch nicht reingelassen.«

»Mit denen hier schon.« Jiro holte aus seiner Hosentasche zwei pinke Bändchen aus Plastik. »Mit denen kommt ihr hier überall rein. Hat Tina mir gegeben.«

»Schätze mal Tina ist deine neue Flamme?«

»Haha, ja. Sie ist okay. Nicht ganz so mein Typ, aber für eine Nacht?«

Ich ließ mir das Band umlegen, nahm dann das für Kiyoshi an und band es um sein schmales Handgelenk. Selbst auf dem kleinsten Loch schien es viel zu groß für ihn zu sein.

»Halt dich von ihr fern«, zischte Kiyoshi auf einmal los. Ich seufzte.

»Hä?«, raunte Jiro zurück, als hätte er sich verhört.

»Was er damit sagen will ...«, ich seufzte leise und kam auf Jiro zu. »Die ist ein bisschen komisch drauf. Kiyoshi und ich kennen sie. Die ist aus dem Norden. Im VIP Bereich sind noch andere Weiber aus dem Norden. Die scheinen hier Urlaub zu machen oder so ... Lass dich also lieber nicht auf die ein.«

Jiros Blick blieb auf meinem Gesicht haften, als würde er mir für verrückt erklären.

»Schön locker bleiben, Alter. Du hast gerade deine Zunge in deinem Bruder gehabt. Ich glaube, da komm ich mit ein paar komischen Weibern klar.«

Ich zog scharf die Luft ein. »Ich weiß, aber das ist nicht dasselbe, glaube mir, das-«

Doch da war Jiro schon weg. Mit schnellen Schritten entzündete er sich eine weitere Zigarette, deutete dem Schrank irgendetwas an und zeigte auf uns. Lustlos und etwas demotiviert folgten Kiyoshi und ich Jiros Schritten in den VIP Bereich. Mit einem knirschenden Gesicht ließ uns der Securitymann hinter die Absperrung.

Kiyoshi musste ihm natürlich die Zunge rausstrecken. Wie ein Kind, dachte ich. Wie ein erwachsenes Kind!

 

Der VIP Bereich war noch plüschiger als die normalen Floors. Die Musik hier war zwar die gleiche, trotzdem schienen die Menschen hier etwas ausgelassener. Williger und betrunkener. Einige Mädchen tanzten auf den Tischen, andere unterhielten sich tuschelnd auf ihren weichen Bänken. Andere lagen knustchend in der Ecke.

Der abgetrennte Bereich war wie ein Hufeisen angelegt, sodass man nicht in alle Ecken sehen konnte, ohne direkt dorthin zu laufen. Rose und andere Tussis unterhielten sich rege an der Bar, wo sie eine große Flasche Champagner stehen hatten.

Jeder auf der beschissenen Bonzenschule hatte wohl Geld. Geld, in dem sie alle schwammen, als wäre es Wasser.

Jiros Schritte wurden langsamer, als er den Tisch von Tina erreichte.

»Tina kommt eigentlich gar nicht von hier. Hat ausländische Eltern. Ich glaube, Österreich oder so.«

»Aha«, gab ich knapp zu verstehen, dass mich das überhaupt nicht interessierte. Vielmehr, wohin sie heute noch vorhatte ihre scheiß Zähne zu stecken.

Die aufgetakelte Blondine tratschte noch hier und da mit weiteren Mädchen, bis sie Jiro entdeckte und sich wieder zu ihm gesellte. Sofort schenkte sie ihm ein Wodka-E ein.

Kiyoshi blieb starr stehen und sah sich verstohlen um. »Hiro... hier sind fast nur Vampire ...«

Als ich mich ebenfalls umsah, bemerkte ich, was Kiyoshi bereits angesprochen hatte: Weiße Gesichter, ebene Hautbilder, perfekt gestylte Haare, mystische Aura. Dieser Club schien ein neuer Insidertipp zwischen den Vampiren gewesen zu sein. Verwundert darüber, dass sie sich dafür alle in den Süden trauten, sah ich hier und dort einige bekannte Gesichter. Alle aus Kiyoshis Schule.

Und als wäre die Uhr danach gestellt worden, sprach uns auch schon Rose an.

»Nein!«, schrie sie, »Kiyoshi? Hiroshi? Hier? In diesem Club??«

Sofort kam sie auf ihren Stilettos angelaufen. »Oh my god, Sam guck dir das an!«

Und als gäbe es die beiden nur im Doppelpack, stöckelte die zweite Dame an. Da standen die beiden Schwestern vor uns und musterten uns eindringlich. Kiyoshis Statue wurde auf einmal starr und bäumte sich auf. Wo er sonst kleiner als ich wirkte, kam er schnell auf meine Größe gewachsen. Jetzt wäre sein Typ gefragt gewesen. Nobel und Angesehen. Reinblütler eben.

»Hey«, begrüßte Sam uns und leckte sich über die Lippen. »Und Hiroshi? Immer noch ein Mensch?«

Ich gab ihr nur eine nicht eindeutige Kopfbewegung und sah sofort weg. »Geht dich nichts an.«

»Also das, was ich spüre, ist zumindest noch menschlich.« Rose kam wieder auf mich zu und strich über meine Brust. Mit einer wahnsinnig schnellen Handbewegung wurde sie von mir geklatscht.

»Finger weg«, zischte Kiyoshi nüchtern und schlecht gelaunt, als hätte er niemals Alkohol getrunken. »Verpisst euch.«

Rose und Sam sahen entsetzt aus. »Kiyoshi? Seit wann... so ruppig? So kennt man dich gar nicht!«

In der Tat, bemerkte ich in meinem Kopf. So kannte man Kiyoshi nicht. Es war auch für mich das erste Mal ihn so offen Reden zu hören. Sowohl zu Jiro als auch zu den beiden Weibern. Verpisst euch war normalerweise nicht in seinem Repertoire vorhanden. Schon gar nicht, wenn er sich Respekt verschaffen wollte.

»Hey, Leute«, kam Jiro dazwischen, »Ganz ruhig. Wir sind hier alle nur zum feiern.«

»Achja?«, fauchte Kiyoshi sofort los. »Ist es also auch feiern, wenn sie dich anmachen, nur um dich auszusaugen? Hm?!«

Sofort presste ich Kiyoshis Gesicht gegen meine Schulter. Der verstummte sofort und verstand wohl, dass selbst ein betrunkener Jiro diesen Satz missverstehen könnte.

»Aussaugen? Haha, oh man, Hero, dein Bruder hat wirklich ein bisschen über den Durst getrunken. Oder habt ihr euch was geschmissen?«

»Nein ... « Leider nicht, fügte ich gedanklich hinzu und dachte an die Strapazen nach, die wir bereits durchlebt hatten. Jetzt auch noch das: Ein Haufen Vampire und mein Kumpel mittendrin.

Jiro ließ sich nicht weiter beirren und setzte sich zwischen Tina und einer anderen Dame. Rose und Sam hingegen schmunzelten weiterhin.

»Habt ja ganz schön für Aufregung gesorgt, ihr beiden. Und scheint damit auch noch nicht aufgehört zu haben«, bemerkte Rose und sah sich um. Einige der VIP Gäste hatten uns bereits bemerkt. Sie starrten zu uns rüber, musterten sowohl mich, als auch Kiyoshi, der noch immer stumm an meiner Brust stand.

»Lasst uns einfach in Ruhe. Wir sind nur hier, wie mein Kumpel schon sagte, um ein bisschen Spaß zu haben.« Mein ton war bewundernswert ruhig. Der Drang sich eine weitere Zigarette anzuzünden wurde immens.

»Wir wollen auch nur Spaß«, beteuerte Sam und kam wieder einen Schritt näher. »So wie alle hier. Also lasst uns Spaß haben.«

Doch ehe ihre Hand mit den gemachten Nägeln auch nur in die Nähe von mir kam, klatschte Kiyoshi sie wieder weg.

»Aber nicht solchen Spaß«, mahnte er die Schwestern. Die zogen schließlich genervt von uns ab.

Als sie außer Sichtweite waren, bemerkte ich erst, wie sehr Kiyoshi wankte. Vorsichtig nahm ich mit ihm am Tisch von Tina Platz. Jiro wirkte immer belustigter, schien sich regelrecht von Tina einlullen zu lassen. Und Kiyoshi schüttete sich bereits weiteren Alkohol ein. Alkohol, der uns eigentlich nicht gehörte, aber auf dem Tisch stand. Wodka-E... Mit mehr Wodka als Energy.

»Kiyoshi, lass mal gut sein. Wir haben genug getrunken heute«, raunte ich ihm ins Ohr und nahm ihm die Wodkaflasche ab. Doch Kiyoshi zuckte nur mit den Schultern.

»Wir sind doch hier, um Spaß zu haben.« Dabei betonte er Spaß besonders stark, als wäre es der Grund, sich abschießen zu können. Der ironische Grund, den hier jeder hatte.

»Schon, aber... Hier sind doch überall... Na ja.« Doch ich verstummte. Kiyoshi trank bereits einige Schlucke von seinem selbstgemischten Gesöff. Jiro knutschte mit Tina rum.

Na wunderbar, dachte ich. Kann's noch besser werden?

 

Und wann immer ich dies dachte, wurde es besser. Oder schlechter. Je nachdem wie man es betrachtete.

Kiyoshi nahm bestimmend meine Zigaretten, steckte sich eine an und deutete auf den Ausgang. Hastig eilte er los, ohne auf mich zu warten. Ich seufzte sofort los und dachte mir schon, wohin das führen würde. Ein Blick zu Jiro, der sich kurz von Tina gelöst hatte, sagte mir, dass er gleich folgen würde, um ebenfalls noch eine zu Rauchen.

Also nahm ich das Glas von Kiyoshi mit, schüttet noch etwas Energy rein, sodass es nicht zu viel Alkohol werden würde und trank selber noch einen guten Schluck. Schlussendlich stellte ich das leere Glas weg und wankte Kiyoshi hinterher nach draußen in die kühle Luft.

Der stand mit der Zigarette zwischen den dürren Fingern an einer Mauer und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

Ja, genau das hatte ich erwartet.

Schnell eilte ich zu ihm hin und streifte die langen Haare aus seinem Gesicht. Gott sei Dank waren sie noch nicht feucht.

Kiyoshi röchelte hier und da, spuckte reine Flüssigkeit aus und hustete. Natürlich kamen keine Brocken oder derartiges raus. Wie auch? Wir hatten seit über 24 Stunden nichts gegessen. Stattdessen roch es nach hochprozentigem Alkohol.

Es dauerte auch nicht lange, bis sich Kiyoshi wieder aufrichtete und sich über den Mund wischte. Sofort danach steckte er sich die Zigarette an und rauchte hastig auf Lunge.

Das ging schnell, dachte ich. Die Abhängigkeit schien ihm im Gesicht zu stehen.

Schweigend rauchten wir, bis er sich zögerlich in meinen Arm fallen ließ. »Hiro ... ich will mit dir schlafen.«

»Das geht jetzt aber nicht, Kiyoshi«, sagte ich sanft und strich einzelne Strähnen aus seinem Gesicht. »Später.«

»Immer weist du mich ab«, murmelte er vor sich hin, während er hastig weiterrauchte.

»Sieh dich doch um, es geht nicht. Hier sind überall Leute!«

Ich fühlte mich so betrunken, wie noch nie. Trotzdem fasste ich klarere Gedanken, als in früheren Eskapaden. Es schien, als wäre nur mein Körper betrunken. Nicht mein Geist.

Just in dem Moment grinste mich Kiyoshi wieder an und äffte mich nach. »Hier sind überall Leute, blabla!«

Das ließ mich ebenfalls lächeln. Kiyoshi ging es wieder besser. Für einen kurzen Moment hatte ich Angst, er würde mir an einer Alkoholvergiftung sterben, so wie er da in meinen Armen hing und sich trotzdem den fast puren Wodka in die Birne kippte.

Als Kiyoshi sich wieder an mich drückte, küssten wir uns zögerlich. Er schmeckte nur nach Rauch, kein Anzeichen von Erbrochenem. Wahrscheinlich, weil es nur Magensaft und Alkohol war.

Der Kuss wurde intensiver, bis ich seine Zunge spürte. Jiro war mir egal geworden. Der dachte eh, wir hätten uns was geworfen. Und wenn Rose und Sam uns sehen würden? Denen würde doch eh niemand glauben. Zwei so schnatternden Hühnern.

 

Doch wer hätte gedacht, dass es genau die Person war, die uns erwischte, von der es niemand erwartet hätte. Mit der ich wirklich als aller letztes gerechnet hätte.

 

Unruhe

Gut, im nachhinein hätte ich als erstes mit ihm rechnen sollen, wenn schon Rose und Sam anwesend waren. Und der gefühlte Rest der High Society der Academy Red Rose.

 

»Ich glaube, ich bin im falschen Film«, giftete es neben uns in einer bizarren Stimme.

Kiyoshi fuhr sofort herum und blickte in die eisblauen Augen von dem wohl bei uns unbeliebtesten Vampir des Jahrhunderts.

»Alexander?!«, rief er deutlich zu hören und starrte perplex in die Richtung des stämmigen Mannes. Seine langen schwarzen, leicht gewellten Haare lagen ihm locker über die Schulter. Ein dunkelgraues Hemd zierte seine zugegeben gut trainierte Brust. Erst als ich realisierte, wer da vor mir stand, zischte Kiyoshi bereits los. »Wieso wundert es mich nicht, dass du Lackaffe auch hier bist?«

»Na, na! Was ist denn mit unserem lieben Papa-Söhnchen los? Hast du etwa mal Alkohol getrunken? Haha!«, spottete Alexander und schob die Hände in seine Hosentasche. »Und rauchen tust du auch? Was ist Hiroshi nur für ein schlechter Einfluss! Zahlst du es ihm so heim? Dass er dich gebissen hat? Willst du ihn dafür in die Abhängigkeit treiben?«

Alexanders Augen formten sich zu Schlitzen, die mich finster beobachteten.

Das konnte doch wohl alles nicht wahr sein! Das nächste Mal, so schwor ich mir, würde ich meinem Bauchgefühl nachgeben und mich nie wieder zu solchen Clubs verleiten lassen.

»Geht dich nichts an, lass uns in Frieden«, raunte ich ihm entgegen und mied so gut es ging seine kalten, blauen Augen. Sie stachen in der Tat recht unangenehm in unsere Richtung. Er schien nüchtern zu sein. Vollends nüchtern.

»Was macht ihr überhaupt alle hier?«, stellte Kiyoshi eine wohl offensichtliche Frage, während er weiter seine Kippe rauchte. Etwas amüsiert über das eher asoziale Verhalten meines Bruders, steckte Alexander sich eine Zigarillo an. Natürlich, der feine Herr würde ja niemals normale scheiß Zigaretten rauchen. Wenn schon, dann richtig.

»Ferien. Seitdem du und dein toller Noneternal Bruder in unserer Schule für Aufregung gesorgt haben, ist sie für's erste dicht gemacht worden. Zwangsferien sozusagen. Und da dachte ich... fahre ich mal wieder meine Familie besuchen.«

»Du hast ernsthaft Familie hier im Süden?«, spottete ich über die scheinbar blöde Ausrede von Alexander. Doch der ließ sich nicht beirren und rauchte genüsslich an seiner Zigarre.

»Ja, so etwas haben wir auch. Familie. Und zwar nicht so auseinander gerupft wie bei euch.«

Kiyoshi sprang sofort einen Schritt auf Alexander zu und knurrte ihn gefährlich an. »Halt ja deinen Mund!«

Doch es lief nicht ansatzweise so, wie in der Schule, wo Kiyoshi einen ruhigen Kopf hatte. Hier schien Alexander die Ruhe selbst zu sein; nicht weiter darauf achtend, wer da vor ihm fast aus Rage im Dreieck sprang. Hier war Kiyoshi nur ein Typ, der ziemlich betrunken rumpöbelte.

Und irgendwo gefiel mir das. So erlebte er auch einmal Machtlosigkeit. Wie es war, nicht immer der Beste und Schönste von allem zu sein.

Trotzdem war mir sofort bewusst, dass Kiyoshi so etwas nicht in die Schublade "Erfahrungen", sondern in die "Erniedrigungen, Verluste und Versagen"-Schubalde stecken würde.

»Dann ist ja nett, dass du Familie hier hast und feiern gehst. Schönen Abend noch«, raunte ich schroff und zog Kiyoshi ein Stück von Alexander weg. Doch der schien noch in Stichel-Stimmung zu sein.

»Wieso seid ihr denn hier, in fremdem Metier? Ist doch normalerweise bestimmt nicht... eure Preisklasse«, zischte Alexander recht gekonnt in meine Richtung.

Okay, dachte ich mir, da reißt auch mein Faden. Mit aufgebäumten Schultern trat ich neben Alexander. Er war nur ein kaum bemerkbares Stückchen größer als ich und Kiyoshi, sodass der Augenkontakt nicht schwer fiel. Meine Kippe war längst erloschen, sodass ich den Stummel auf den Boden gleiten ließ. Kiyoshi schnaubte ebenfalls aus.

»Oho, der Noneternal greift mal zur Tat«, kam Alexander gar nicht aus dem Spotten heraus. »Was willst du tun? Mir ins Gesicht schlagen? So wie es das Gesindel von der Straße tut?«

Da brach er in Gelächter aus und ehe ich mich noch zurückhalten konnte, schlug ich ihm schon ins Gesicht. Es war ein harter, kurzer Schlag. Gekonnt, Seitenhieb.

Kiyoshi quiekte auf und hielt sich die Hände vor den Mund, als hätte er noch nie eine Schlägerei gesehen. Alexander hingegen wankte nur ein kleines Stück zur Seite und hielt sich die Wange. Die Leute um uns herum nahmen sofort Abstand.

»Was hast du gesagt? Wiederhol das noch einmal«, mahnte ich ihn brummend und stemmte meine Fäuste abermals angriffslustig nach vorne.

Alexander lachte, holte aus und schubste mich mit Kraft gegen eine Mauer. Kiyoshi trat sofort zwischen uns und wehrte sich gegen Alexanders Griffe.

»Finger weg von ihm, du Arschgesicht!«, kreischte er schon fast mädchenhaft vor sich hin und wusste wohl nicht ganz wohin mit seinen Händen.

 

Auf einmal zog jemand Alexander an der Schulter von uns weg.

Es war Jiro.

Und obwohl er körperlich kleiner als Alexander war, sah er ihm überlegen und dominant in die Augen.

»Wer bist du und was haben deine Drecksgriffel an meinen Freunden zu suchen?«

Der schwarzhaarige Vampir ließ sofort seine Hände von Kiyoshi und mir los und drehte sich zu Jiro um, als hätte er gerade ein neues Opfer gefunden. Mit abfälligem Blick musterte er Jiros Erscheinung.

»Das geht dich Punk so rein gar nichts an. Wie haben die dich überhaupt hier reingelassen? So Gesindel wie dich braucht man hier nicht.«

»Ich hab mich wohl verhört, Schnösel.« Jiro stellte sich aufbäumend vor Alexander. Oh nein, dachte ich. Ohhhh nein!

Es war zwar genau das Szenario, was ich mir immer in meinem Kopf ausgemalt hatte, wenn Alexander uns piesacken kam, doch die Realität sah anders aus. Jiro würde keine Chance haben. Nicht gegen einen Vampir. Nicht gegen Alexander.

»Was zum Geier ist das überhaupt in deinem Gesicht? Mit der Menge an Metall reagierst du doch auf jeden Starkmagneten«, lachte Alexander sofort los und rauchte genüsslich seine Zigarre, die noch immer aufglimmte, als hätte sie niemals einen kleinen Streit mitgemacht.

»Lass gut sein, Jiro«, bat ich meinen Kumpel um Nachsicht, doch der blieb eisern; verschränkte sogar die Arme.

»Wüsste nicht, was ich hier gut sein lassen müsste. Ich wollte heute doch noch einen Schnösel verdreschen. Der hier bietet sich ja regelrecht an!«

»Nein, nein«, begann ich und stellte mich zwischen die beiden Streithähne. »Das war ein blödes Missverständnis. Wir kennen den, er ist aus Kiyoshis Schule. Also lass mal lieber stecken.«

»Was?«, platzte es aus Jiro raus. »Ihr kennt die Bonze hier?! Was ist das für eine furchtbare Schule, auf der du bist, Kiyoshi?«

Doch ehe mein Bruder sich verteidigen konnte, spielte Alexander wieder die erste Geige im Gespräch. »Immerhin gehen wir auf eine Schule und genießen Bildung. Ich weiß ja nicht, ob du so etwas in der Gosse kennst...«

»Okay, Alexander, es reicht, ja? Niemand lebt hier auf der Straße!«, pöbelte ich meinen Feind an. Der gab mir nur einen giftigen Blick; frei nach dem Motto, ich sollte mal schön den Mund halten, sonst setzte es was.

Jiro hingegen fühlte sich nur noch mehr angestachelt, als vorher. »Weißt du was? Ich kenne Bildung. Aber kennst du auch Gossensprache?« Mit diesen Worten flog Jiros Faust gegen Alexanders Brust. Doch wie erwartet, wankte der nicht einmal nach hinten, sondern steckte den Schlag gekonnt weg. Erneut versuchte Jiro auf ihn einzuschlagen, was Alexander mit Leichtigkeit abfing.

Dann ging die Schlägerei los. Jiro dreschte weiter auf Alexander sein, der verteidigte sich; zugegeben nicht mit voller Kraft, sonst hätte Jiro bereits nach wenigen Sekunden tot auf dem Boden gelegen. Stattdessen schien der Vampir einen Heidenspaß bei der Prügelei mit meinem Kumpel gehabt zu haben.

Als die Zigarre den Boden erreichte und verglimmte, kamen endlich Schränke von der Security und trennten die beiden Prügeljungs.

Jiro wurde rausgeschmissen, Alexander durfte bleiben. Natürlich, dachte ich mir, ist der Punk schuld. Nicht die Bonze.

»Man sieht sich«, rief uns Alexander belustig hinterher. »Und bring doch deinen Freund wieder mit. Wenn er so gern eine Abreibung hätte!«

 

 

Kiyoshi lief schlurfend neben mir her, während ich Jiro etwas stützte. Er war nicht schwer verletzt, aber einfach schwach. Und wahrscheinlich nicht minder gedemütigt über seine Niederlage.

»Ich habe dir doch gesagt, lass es«, seufzte ich sofort los, als es stiller um uns wurde.

Flügelschläge ertönten durch die Gassen.

»Ja, ja«, murmelte Jiro und schüttelte den Kopf. »Was ein Arschloch.«

»Da sagst du was«, kam es von Kiyoshi, der sich abermals eine Kippe ansteckte. Mit erhobenen Augenbrauen sah ich mahnend zu ihm herüber. Doch alles, was er mir schenkte, war ein affektierter Blick, dass ich nicht in der Position wäre, ihn zu maßregeln.

»Schaffst du es noch nach Hause? Oder willst du bei uns pennen?«, fragte ich leise, während sich Jiro aufrichtete. Der negierte dankend und deutete auf die einfahrende Straßenbahn. »Geht schon, ist ja schon hier. Meine Kutsche nach Hause.«

Jiro bedankte sich für den Abend, obwohl er mehr schlecht als recht endete.

»Komm gut heim«, murmelte Kiyoshi, der sogar von Jiro zum Abschied gedrückt wurde. Gemeinsame Feinde schweißten eben zusammen.

 

Auf dem Weg nach Hause gingen wir die lange Straße entlang, nahmen uns an die Hand und starrten jeweils auf den Boden, als könne er uns noch ein Stück mehr aufheitern. 

»Das war ein scheiß Abend«, murmelte ich vor mich hin. Kiyoshi nickte nur stumm, schien immer noch betrunken und absolut dicht zu sein. Kein Wort schien ihn mehr richtig zu erreichen. Und alles, wonach ich sehnte, war unser Bett.

Da kamen sie wieder.

Flügelschläge.

So nah.

Kurz vor unserem Wohnhaus blieb ich stehen. Ich hörte sie abermals und ehe ich den Kopf in den Himmel strecken wollte, hickste Kiyoshi auf.

»Was ist das?«, fragte er und deutete auf eine schwarze Gestalt am Ende der Straße. Weit weg. Fast nicht erkennbar.

»Ich -«, begann ich und schluckte. Über dieser Gestalt schwirrte der Vogel, der uns schon etwas länger beobachtet hatte. Beide schienen uns zu beobachten. Das Gesicht in unsere Richtung gedreht.

Wie in einem Horrorfilm regte sie sich nicht. So als wäre sie nur ein Einbildung.

»Lass uns gehen«, befahl ich hektisch und ging einige Schritte schneller zu unserem Wohnhaus. Die Gestalt begann sich zu bewegen. Kam auf uns zu.

Je schneller wir wurden, desto schneller wurde auch sie.

»Fuck!«, entfuhr mir. Das fühlte sich gar nicht gut an!

 

Klack!

Die Tür zum Wohnhaus fiel nach uns zu. Kiyoshi und ich eilten die Treppen hoch. Wie am Nachmittag fühlten sich fünf Stockwerke wie nichts an. Trotzdem etwas außer Atem schloss ich hektisch die Tür zur Wohnung auf. Hastig betraten wir die Wohnung, die ruhig und dunkel auf uns wirkte. Doch Moms Schuhe standen an der Tür, sodass ich davon ausgehen konnte, dass sie wieder da war und schlief. Schnell zog ich mit einer einzigen Handbewegung die Vorhänge und Rollläden zu.

Erst, als Kiyoshi den Schlüssel zur Tür umdrehte und erleichtert aufatmete, dass wir in Sicherheit waren, atmete ich auf.

»Shit, was war das? Werden wir paranoid?«, hauchte ich atemlos in den ruhigen Raum. Kiyoshi schüttelte schnell den Kopf.

»Hab's doch auch gesehen ...«, murmelte er. Doch ehe er mir weiter antworten konnte, würgte er, rannte schnell ins Bad, klappte den Klodeckel hoch und erbrach weitere Flüssigkeit. Schnell folgte ich ihm und hielt seine Haare hoch.

Die Rennaktion war wohl zu viel für seinen kleinen Magen gewesen.

»Zu viel Alkohol und Kippen, hm?«, bemerkte ich spitz und klopfte beruhigend auf Kiyoshis Schulter. Der röchelte genervt in die Schüssel und schien sich einen Kommentar zu verkneifen.

Nach gefühlten Minuten erhob er sich endlich und wischte sich mit Klopapier den Mund ab.

Erschöpft ließ ich mich neben ihm fallen und lehnte gegen die Badewanne, die noch immer angenehm nach Badelotion roch. Kiyoshi spülte traurig Papier und Kotze runter. Auch in seinem Gesicht sah ich Erschöpfung. Das sonst von Glanz und ebener Haut strahlende Gesicht war nun mit dunklen Rändern und einigen roten Flecken gezeichnet. Er sah nicht gut aus. Eher leidend.

Vorsichtig ergriff ich seine Hand und drückte sie. Kiyoshi schien wirklich nicht mehr halb so anmutig wie sonst zu sein. Sowohl sein Antlitz als auch seine Art zu reden hatten sich mit dem Alkohol geändert. Locker, Salopp, nicht weiter nachdenkend. Vielleicht war es eine willkommene Abwechslung für ihn gewesen. Auf der anderen Seite wirkte er voller Reue. Gerade jetzt, nach dem Kotzen. Und wer kannte das nicht? Die Reue nach dem Trinken?

 

»Glaubst du ... das war Vincent?«, sprach Kiyoshi das unaussprechliche an. Leise und fast nicht hörbar formulierte er die trockenen Worte in seinem gereizten Mund.

Ich schluckte, spürte den Alkohol in mir. Alles drehte sich und als sein Name fiel... um das gefühlte Doppelte.

»Weiß nicht. Kann schon sein. Eine schwarze Gestalt... die uns anscheinend verfolgt...«

»Hast du nicht von Vögeln erzählt? Gestern?« Kiyoshi lehnte sich schließlich an mich heran und hielt schwächlich meine Hand.

»Ja ... da waren Vögel. Heute Nachmittag auch ein einzige großer. Er schien mich zu beobachten. Er war immer bei uns, kreiste über unser Anwesen.«

»Vielleicht war es... sein Vogel.«

»Ich hoffe nicht... wie konnte er so schnell herausfinden, wo wir uns befanden?«

»Vielleicht hat jemand geredet ...«

Vermutlich, dachte ich. Fluggesellschaften wohl eher nicht, aber ... Vincent traute ich zu, dass er jemanden erpresst hätte. Kat, Ichiru, Yagate. Einen von denen, wenn's hart auf hart käme. Und natürlich hätten die geplaudert, wo wir uns gefänden.

Auf einmal wurde Kiyoshis Kopf schwer, rollte förmlich von meiner Schulter. Sofort stand ich auf und half meinem Bruder auf die Beine.

»Was auch immer es ist, wir werden es früh genug erfahren. Im Moment können wir nichts machen. Warten wir ab, was passiert. Wenn der Vogel weiterhin über uns kreist, werden wir Vater informieren.«

Kiyoshi nickte ermüdet und blickte in den Spiegel. Sofort brummte er unangenehm berührt auf und sah weg. Genau das sollte man auch nicht tun. In den Spiegel schauen, nachdem man gesoffen, gebrochen und sich geprügelt hatte.

»Gehen wir schlafen.«

 

Mit diesen Worten putzten wir uns die Zähne, gemeinsam vorm Spiegel. Ich ging sogar auf Toilette, solange Kiyoshi noch vorm Spiegel stand und seine Haare kämmte.

Es war, als wären jegliche Hemmungen gefallen. Nach diesem Abend, so dachte ich mir, würde es keine Geheimnisse mehr geben. Krank sein, Kotzen, Waschen ... Jegliche schwächliche Position hatten wir schon durch.

Jedenfalls dachte ich das.

 

Die Nacht war unruhig und nicht sehr erholsam. Ich versuchte auf etwaige Geräusche zu achten, die sich um uns befanden. Flügelschläge oder Schritte. Erst nach gefühlten Stunden schlief ich vor Erschöpfung ein.

Und das nicht einmal lange.

Jiros SMS weckte mich auf. Um 8 Uhr früh schrieb er bereits die erste SMS, gefolgt von einer Zweiten. Müde und immer noch schlaftrunken tippte ich auf das leuchtende Display. Kiyoshi schlief tief und fest in meiner Armkuhle seinen Rausch aus.

 

»Morgen, Hero ... Hoffe, ihr beiden seid noch gut heim gekommen. Scheiße, ich hab vielleicht schmerzende Knochen. Dieser Alexander war echt das Letzte!! Nie wieder in diesen Schuppen! Lieber chillen am See oder so ... Meld dich doch, wenn du wach bist.«

 

Die zweite SMS las ich mit weniger Schmunzeln.

 

»Shit, habt ihr das schon mitbekommen? Es kam gerade in den Nachrichten! Da gab's wohl noch voll den Aufstand... Irgend so ein Typ hat da wohl einige abgestochen oder so! Tina war im Fernsehen!«

 

Mit einem Mal wurde ich wacher. In dem Club? Oder wo? Wer hat wen zusammen gestochen? Diese Vampirin war dabei? Bei den Toten oder bei den Abstechenden?

Ich schrieb Jiro nur kurz zurück, dass ich noch etwas schlafen und mir das später ansehen würde. Da hörte ich Geklapper aus der Küche. Es war Mom.

Sicherlich würde sie gleich in die Arbeit fahren. Immerhin hatte eine neue Woche begonnen.

Müde und mit geschlossenen Augen, lauschte ich den Geräuschen um mich herum. Vögel, Autos, Mom. Wasser, ein Trampeln im oberen Stockwerk. Solch sensible Ohren machten mich verrückt. Sie ließen mich kaum schlafen.

Auch jetzt konnte ich kaum ein Auge zu tun. Hier und da nickte ich mal weg, kam trotzdem nicht zur Ruhe.

Nach mehreren Stunden, bewegte sich Kiyoshi und wachte auf. Er brummte kurz, sah sich um und setzt sich schlussendlich auf. Mit einer sanften Handbewegung strich er mir über meine nackte Brust, was auch mich aus meinem Halbschlaf aufweckte.

»Hiro«, begrüßte er mich leise. »Wie geht es dir?«

Kiyoshis Blick war müde und immer noch geschafft von letzter Nacht. Trotzdem umwoben seine Lippen ein leichtes Lächeln.

»Ganz okay ... und dir?«

Mein Gegenüber nickte nur stumm und legte sich wieder auf meine Brust. Da spürte ich sein schlaffes Geschlecht an meinem Bein. Wir hatten also nackig beieinander geschlafen. So genau konnte ich mich da gar nicht mehr dran erinnern, dass wir uns wirklich ausgezogen hatten.

Ein Seufzen entfuhr seinen Lippen. »Entschuldige wegen gestern. Das war zu viel.«

»Macht doch nichts ... Jeder hat schon mal wegen Alkohol gekotzt. Oder zumindest... über den Durst getrunken.«

Doch Kiyoshi ließ sich nicht umstimmen. »Nein, das war einfach gedankenlos von mir. Außerdem habe ich Alexander angepöbelt. Und dich. Und Jiro ... Eigentlich jeden.«

Da musste ich grinsen. »Und du hast den Securitymann vom VIP Bereich bezirzt.«

»Bitte... erinnere mich nicht daran!«, stöhnte er entsetzt auf und fasste sich an seine kalte Stirn.

»War witzig. So habe ich mal eine ... andere Seite von dir kennen gelernt.«

»Eine ziemlich Peinliche.« Da musste er husten. Und es klang nach keinem gesunden Husten. Ganz im Gegenteil: Es war der typische Raucherhusten.

»Shit, hustest du jetzt schon wie ein alter Mann?«, spaßte ich und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.

»Zu viel geraucht ...«, gab er kleinlaut zu verstehen, dass auch er den Ursprung des Problems erkannt hatte. »Heute keine Kippen mehr.«

»Sind eh alle ...«, seufzte ich und zeigte auf die leere Schachtel, die noch auf meinem Schreibtisch lag. Kiyoshi starrte sie wie seinen Todfeind an, zu dem er ein Stockholmsyndrom aufgebaut hatte.

Schließlich sah er mich wieder ernster an. »Hast du schon mit Jiro gesprochen? Wie geht's ihm?«

Ich nickte und kramte mein Handy raus. »Ihm scheint es soweit gut zu gehen. Knochenschmerzen hat er. Wohl hier und da doch ein paar Schläge zu viel einkassiert.«

Kiyoshi schüttelte nur den Kopf. »Wenn Jiro es nicht so darauf angelegt hätte, könnten wir Alexander wenigstens wegen Körperverletzung anzeigen!«

Ein leichtes Schmunzeln durchfuhr meine Lippen. »Lass mal. Ich glaube, Jiro hatte auch seinen Spaß am Prügeln, auch wenn er verloren hat. Eine richtige Prügelei, wo er am Ende verletzt auf dem Boden läge ... da würde ich an eine Anzeige denken.«

»Du musst es wissen«, raunte mich Kiyoshi fast böswillig an. »Prügelheini.«

»Hey«, mahnte ich ihn. »Das war früher. Lange her!«

»Ja, ja.«

Ich wollte schon die Begebenheit aus dem Club ansprechen, die mir Jiro voller Entsetzen geschildert hatte, da hörte ich noch immer Klappern aus dem Wohnzimmer.

Ein heißer Schreck durchfuhr mich.

Einbrecher?

Kiyoshi setzt sich ebenfalls auf und starrte zur Tür. Schließlich flüsterte er mir erstarrt zu. »Ist noch wer hier? Geht Mutter nicht arbeiten?«

»Doch ... eigentlich schon... «, säuselte ich zurück, erhob mich langsam aus dem Bett, zog mir schnell eine Unterhose an und bewaffnete mich mit einer leeren Wasserflasche aus Glas. Kiyoshi zog sich ebenfalls eine Unterhose an und tapste hinter mich. Als das Geräusch näher an unsere Tür kam, erfasste ich den Griff.

Für einen Moment hielt ich den Atem an, hörte Schritte im Wohnzimmer. Da war tatsächlich jemand!

Nach der gestrigen Geschichte mit dem schwarzen Mann, zog sich sofort alles in mir zusammen. Scheiße, was, wenn er das war? Er hatte uns in dieses Wohnhaus laufen sehen! Er wüsste sicherlich schnell, welche Wohnung uns gehörte.

Kiyoshi blieb mit gefestigtem Blick am Fenster stehen und nickte mir zu. Mit einer leichten Handbewegung legte er eine Hand auf mein Bettpfosten. Als würde er den im Notfall abreißen und zur Verteidigung einsetzen.

Ein Nicken meinerseits sollte ihm andeuten, dass ich nun die Tür öffnen würde.

Ich fühlte mich wie in einem Computerspiel. Einer dieser Shooter.

 

Mit einem Ruck öffnete ich die Tür, hob die Glasflasche und stürmte ins Wohnzimmer. Ehe ich die Person erkennen konnte, setzte ich die Flasche zum Schlag an.

Doch so schnell, wie ich die Person als Person erkannte, so schnell ließ ich meine Arme erstarren.

»Mom?!«, rief ich.

Meine Bewegungen liefen für ihr menschliches Auge viel zu schnell ab, sodass sie erst erschrak, als sie mich mit erhobener Glasflasche hinter sich stehen sah.

»Hiro!«, schrie sie wie am Spieß. »Was machst du da? Willst du mich erschlagen?«

In diesem Moment hörte ich Kiyoshis schon aus meinem Zimmer eilen; ohne Bettpfosten.

»Mutter? Du bist noch hier?«, fragte er, wesentlich weniger im Schockzustand, als ich es war. Erst nach Sekunden ließ ich die Glasflasche sinken.

»Ja, aber das ist doch kein Grund auf mich los zu gehen!« Als wäre sie den Tränen nahe, dass ihr eigenen Sohn nun völlig am Durchdrehen war, ging sie einige Schritte von uns weg. Kiyoshi blieb auf meiner Höhe stehen und krallte sich an meinem Arm fest.

»Nein, nein«, fing ich sofort an. »Wir dachten ... du wärst ein Einbrecher oder so ... Normalerweise wärst du doch jetzt auf der Arbeit, oder nicht?«

Ein paranoiodes Gefühl machte sich breit. Die schwarze Gestalt lag uns einfach noch zu tief in den Knochen. Aber auch so hätte ich nie geahnt, dass Mom doch zu Hause geblieben wäre. Auch früher wäre ich mit Glasflasche bewaffnet aus der Tür gerannt in dem Glauben, es könnte ein Einbrecher sein.

»Ich habe mir frei genommen ... «, murmelte sie. »Um noch einmal genau nachzudenken. In Ruhe.«

Da verstummte ich. Kiyoshi ebenfalls. Wir sahen beide zu Boden; nur der magere Kontakt an meinem Arm und Kiyoshis Händen ließ mich entspannt bleiben.

Mom hingegen sah das gar nicht gerne. Unsere Zweisamkeit. Unsere Berührungen. Und dass wir halbnackt vor ihr standen.

»Ich hätte einfach keinen Kopf für... die Probleme anderer«, erklärte sie sich weiter und setzte sich schlussendlich in Bewegung, um in die Küche zu gehen. »Außerdem haben wir die Steaks gestern nicht gegessen. Die mache ich jetzt, dann gibt es die zum Mittag.«

»Jetzt schon?«, fragte ich, immer noch etwas gerädert. Doch ein kurzer Blick auf die Uhr sagte mir, dass es bereits 13 Uhr war. »Oh, okay ...«, murmelte ich, als hätte mir jemand geantwortet.

Kiyoshis zubbelte kurz an meinem Arm, sah mich eindringlich an. Angst machte sich in seinen Augen breit. Doch ich schüttelte den Kopf. Nein, Mom würde ihn nicht zurückschicken. Niemals. Sie dachte drüber nach, das war ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich würde sie noch Vater darüber unterrichten. Wenn sie das nicht schon getan hätte. Und da der auch noch nicht wutentbrannt angerufen hatte und Kiyoshi zurückverlangte ... schien es bisher ganz gut zu laufen.

Vorsichtig näherte ich mich der Küche, stellte die leere Flasche neben den Kühlschrank ab, nahm mir eine Neue und spähte kurz zu Mom, wie sie das Fleisch würzte.

»Danke für's Essenmachen«, bedankte ich mich fast reumütig. Das handelte mir nur einen verwirrten Blick ein und wahrscheinlich die sofortige Erkenntnis, dass ich nun jede Möglichkeit nutzen würde, mich einzuschleimen, nur, um sie zu beschwichtigen.

»Du sollst mir ja nicht verhungern. Die Brötchen hast du nämlich immer noch nicht gegessen.«

»Ja, ich weiß ... wir haben lange geschlafen und -«

»Hiro, bitte ... Iss was. Du machst mir Sorgen.«

Verstummt nickte ich. Ich mache mir selber Sorgen, dachte ich und machte einen schnellen Abgang aus der Küche.

Kiyoshi wartete noch an meiner Zimmertür und hatte seinen nackten Oberkörper mit seinen Armen umschlungen. Leise huschten wir wieder ins Zimmer.

»Peinlich«, murmelte mein Bruder und zog sich ein T-Shirt an.

»Ach, wieso? Selbst Schuld, wenn sie uns nicht darüber unterrichtet ...« Klar, wahrscheinlich wollte sie uns ausschlafen lassen, aber sonst kam sie auch wegen jeder Kacke in mein Zimmer!

Konzentriert schüttete ich Wasser in unsere zwei Gläser und warf zwei Tabletten hinterher. Eins reichte ich Kiyoshi, der es dankend annahm und gleich verschlang, als wäre es die Oase in der Wüste.

Ich trank es ebenfalls gierig aus und seufzte zufrieden, als das Blut wie ein Segen durch meine Kehle floss. Nach dem ganzen Erdgeschmack von gestern eine willkommene Abwechslung.

Ohne weiter zu zögern setzte ich mich neben Kiyoshi, drückte ihm einen Kuss auf und zog mein Handy vom Nachttischschränkchen.

»Ich ruf jetzt mal Jiro an.«

»Okay?«, fragte Kiyoshi etwas verwirrt, dass ich das mit einem Kuss ankündigte.

Es tutete schon, weswegen ich nur meine Schultern hoch zog. Wer weiß, was er mir jetzt wegen der Clubgeschichte erzählen würde.

»Hero«, begrüßte mich Jiro in einer wie immer gut gelaunten Tonlage. »Alles fit?«

»Den Umständen entsprechend«, lachte ich und streichelte dabei über Kiyoshis Rücken. »Und bei dir?«

»Ich lebe, das ist die Hauptsache«, spaßte er. »Hast du schon Nachrichten geguckt?«

»Nee noch nicht. Wir sind gerade erst aufgestanden.«

»End krass«, dabei wurde seine Stimme dunkel und kam ein Stückchen näher ans Telefon. »Kurz nachdem wir gegangen sind scheint da jemand Amok gelaufen zu sein. Klar, bei so Eröffnungen und so ... Jedenfalls sind dabei echt ein paar umgekommen.«

»Wirklich? Das ist ... krass ...«, murmelte ich und hielt das Telefon nah an Kiyoshis Ohr, sodass er mithören konnte.

»Ja und weißt du was? Im Fernsehen haben sie dann die Gesichter der Toten gezeigt. Und da war Tina dabei! Ist das nicht gruselig? Man, scheiße, ich hatte noch ihre Zunge im Hals und dann ist die tot!«

Ich schluckte. In der Tat war das heftig. Aber mal davon abgesehen: Tina war ein Vampir. Vampire bringt man nicht einfach so um. Die waren zähes Rohfleisch.

»Weiß man, wer da Amok gelaufen ist?«

»Nee, anscheinend einer der Gäste selbst, so heißt es. Jemand von denen hatte eine Knarre mit und hat wie wild um sich geschossen.«

Kiyoshis löste sich auf einmal von mir und schüttelte den Kopf. Wieso er das tat wusste ich nicht ganz, doch ich fragte einfach weiter.

»Also starben die alle an Schusswunden?«

»Schätze ja, so genau haben die das nicht gesagt.«

»Mh«, brummte ich. Natürlich würden die keine genaue Obduktion im Fernsehen bringen.

»Jedenfalls krass ... eigentlich wollte ich mich heute Abend mit den anderen noch einmal in der Stadt treffen. Jetzt trau ich mich ehrlich gesagt nicht mehr.« Jiro gluckste kurz, als wäre das nicht nur das einzige, wieso er die Innenstadt erst einmal mied. »Und keinen Bock auf diesen Alexander. Was ein Arschgesicht. Wieso kennt ihr so komische Leute?«

»Wie du vielleicht gemerkt hast, verstehen wir uns auch nicht so gut mit ihm.«

»Ja... das habe ich gemerkt.«

 

Wir unterhielten uns noch ein wenig über den gestrigen Abend, dass er an sich ja doch ganz nett war und wir gut betrunken waren. Dass Kiyoshi der wohl einzige war, dem die Brühe wieder vorne raus kam, verschwieg ich. Schließlich legten wir auf.

»Wir müssen Alexander finden«, prustete Kiyoshi sofort raus, ehe ich das Handy weglegen konnte.

»Was? Wieso?«

»Er war noch da. Jiro meinte, es geschah kurz nachdem wir gegangen waren. Und soweit ich das verstanden habe, war Alexander nicht bei den Toten dabei. Das heißt, er kann uns vielleicht sagen, was passiert ist.«

Ich seufzte. »Ja, ich würde auch gerne wissen, was passiert ist, aber meinst du nicht, dass das ... eher... egal ist?«

»Hiro!«, rief er aufgebracht; seine Augen weiteten sich um das doppelte. »Da sind Vampire gestorben! Vampire sterben nicht einfach bei Schusswunden. Selbst wenn du ihnen in den Kopf schießt ... dauert es, bis sie verbluten. In der Regel schaffen es die meisten zu entkommen und sich selber zu heilen, indem sie Blut trinken. Bei so vielen potentiellen Opfern? Das war ein professioneller Mord.«

Bei seinen letzten Worten schauderte es mir doch über den Rücken.

Dann klickte es.

»Du meinst ... die schwarze Gestalt von gestern?«

»Vielleicht ...«, murmelte er mysteriös vor sich hin. »Deswegen müssen wir Alexander finden. Er wird uns sagen können, was geschehen ist.«

»Okay«, seufzte ich. »Suchen wir Alexander.«

 

Auch wenn mir das so gar nicht passte.

Rüge

Es dauerte nicht lange, da rief Mom uns zum Essen. Mittlerweile saßen wir ratlos auf meinem Bett, durchforsteten das Internet nach Infos.

»Es sind tatsächlich nur Vampire«, murmelte ich vor mich hin. Alle Schüler unseres Internats. Und alle von diesem einem Tisch, wo Tina dran saß.

»Mit Sicherheit haben die krumme Sachen gedreht. Allein, dass sie Jiro einfach so mit zu sich genommen haben.«

»Du meinst, dass es eine Hunterstrafe war?«

»Anzunehmen.« Kiyoshi schien richtig aufzublühen, je mehr er sich der Sache annahm. Als könne er damit Vincent auf die Spur kommen. Und ihn zur Strecke bringen.

»Kommt ihr endlich? Das Essen wird kalt!«, rief Mom durch die Tür und hämmerte dagegen.

»Ja-ha!«, rief ich zurück und seufzte sofort entnervt auf. Ich hatte null Hunger. Trotzdem nahm ich die silberne Pillendose an mich und steckte sie Kiyoshi zu.

»Ich lenk sie ab ... du steckst mir heimlich die Pillen ins Fleisch, okay?«, schlug ich vor. Kiyoshi nickte sofort und grinste.

»Wird hoffentlich so gut schmecken wie das Chili.«

»Mit Sicherheit«, grinste ich und nahm Kiyoshi an die Hand. Unüberlegt gingen wir aus meinem Zimmer zu Mom an den Tisch. Die hob nur eine Augenbraue und starrte auf unsere Hände. Räuspernd ließ ich meinen Bruder los.

»Lecker sieht das aus, Mom«, lobte ich sie, wo es gerade wieder passte ein Lob anzubringen.

»Setz dich einfach und iss, du Heuchler«, brummte sie mir zu. Ich sah an ihren Mundwinkeln, dass sie das nicht ernst meinte. Trotzdem ließ es mich wissen, dass ich es auch nicht übertreiben sollte.

»Kiyoshi, ich war mir nicht sicher, ob du ... das Steak essen kannst... ich habe es mal fast roh gelassen, aber wenn du nicht magst, lass stehen.« Da kam sie wieder raus, die liebliche Mutterstimme.

Doch Kiyoshi nickte eifrig. »Doch, esse ich gerne. Ich habe hier meine Tabletten, wenn ich die dazunehme... kann ich eigentlich fast alles essen.«

»Oh, wirklich?« Da wurde sie hellhörig. »Fast alles?«

»Ja«, nickte Kiyoshi eifrig, auf einmal der absolut brave Sohn. »Es verfärbt sich... wohl dann nur rot.«

Da schluckte meine Mutter. »Ach, verstehe. Solche Tabletten sind das.« Sie machte eine Handbewegung, als solle sich Kiyoshi nicht davon abhalten lassen, zu essen.

Nur mir warf sie wieder einen bösen Blick zu.

»Iss«, befahl sie.

»Ja, ja.« Vorsichtig nahm ich das Besteck in die Hände und schnitt das zarte Fleisch klein. Es gab Gemüse dazu, das würde sich natürlich als schwieriger herausstellen zu essen, doch hey ... wer nach Erde schmeckendes Bier saufen kann, kann auch nach Erde schmeckendes Gemüse essen. Als ich mir das erste Fleischstück in den Mund schob, war ich positiv überrascht, dass man sogar ein wenig das Blut herausschmeckte. Gar nicht so erdig.

»Ach, Mom... ich hol mir noch eine Cola zum Essen, magst du auch eine haben?«, fragte ich höflich, doch sie negierte.

»Nein, danke, Schatz. Trink nicht so viel Cola.«

»Sicher, sicher ...«, damit stand ich auf und zwinkerte hinterm Rücken meiner Mutter Kiyoshi zu. Als ich in der Küche stand, kramte ich ein Glas raus und tat so, als wüsste ich nicht wo die Cola stände. »Haben wir keine Cola mehr?«, rief ich dümmlich und schob einige Plastiktüten über die Colaflaschen.

»Doch, neben dem Kühlschrank«, antwortete meine Mutter.

Seufz, steh doch endlich auf...

»Hä, ich find keine«, jaulte ich und raschelte mit dem Fuß in den Plastiktüten. Da müsste ich mir vorher andere Sachen überlegen, wie ich sie von meinem Essen weglocken könnte.

Doch da stand sie entnervt auf und kam auf mich zu. »Mensch, Hiro, da sind sie doch!« Sofort bückte sie sich neben den Kühlschrank und zog eine Flasche heraus.

»Ach so, hab ich gar nicht gesehen«, murmelte ich und nahm sie dankend an. Als sie schon wieder den Rückweg antreten wollte, hob ich noch die Hand. »Äh, Mom!«

Sie blieb stehen und horchte auf. »Ja?«

»Wir, äh... sind heute Abend wohl auch wieder unterwegs. Einen alten Kumpel besuchen, ist das okay?«

Sie zuckte die Schultern, als wäre meine Frage völlig sinnlos gewesen. »Natürlich. Du fragst mich doch sonst nie um Erlaubnis.«

»Ja, puh, ich dachte nur, weil ... da gestern in der Innenstadt ein bisschen Radau war.«

»Radau? Hab ich gar nicht mitbekommen.« Ihre Ohren wurden spitz. »Da hast du aber nicht deine Finger drin gehabt, oder?«

»Nein, nein. Ausnahmsweise nicht, haha«, scherzte ich und winkte ab. Also bis zum Mord würde es noch ein weiter Weg sein, dachte ich.

Da hörte ich Kiyoshi sich räuspern. Ein Zeichen, dass wir wieder kommen könnten. Perfekt!

»Ja, gut«, sagte ich salopp, zuckte mit den Schultern und ging wieder ins Wohnzimmer. Mom folgte. Und sofort sah ich kleine Einschnitte in meinem Steak aus denen etwas Blut quoll. Aber nicht auffällig. Eher ... appetitlich.

»Guten übrigens«, wünschte ich allen einen guten Appetit und schnitt mir das blutunterlaufene Steak zurecht, sodass ich es Mundgerecht essen konnte. Auch Kiyoshis Steak blutete wie ein gerade abgeschlachtetes Rindvieh. Doch wir genossen das. Mom hingegen bediente sich ihrer Schuhsohle.

»Hiro, dein Steak sieht noch so blutig aus. Soll ich es noch einmal anbraten?«

»Nein«, kam wie aus der Pistole geschossen. »Es ist perfekt. Richtig schön saftig... « Mit diesen Worten steckte ich mir noch ein lecker schmeckendes Stück Fleisch in den Mund. Ich glaubte, mein Leibgericht gefunden zu haben.

Moms Blick hingegen sah etwas angewidert in meine Richtung. »Sicher? Es ... ist fast so blutig, wie das von Kiyoshi. Haha, du bekommst aber nicht wieder deine ... Anwandlungen?«

Ich hielt inne. »Was für Anwandlungen?«

»Oh, bitte! Erinnerst du dich noch, wo ich dich hinterm Haus erwischt habe, wie du mit Jiro zusammen dem schwarzen Herrn einen Igel oder so opfern wolltest? Ihr habt... Blut getrunken und solche Sachen!«

»Ach ja, ich erinnere mich«, gab ich kurz zurück. Die Aktion bescherte mir zwei Sitzungen beim Jugendpsychologen. »Nein, solche Anwandlungen habe ich nicht mehr, keine Angst. Es schmeckt einfach gut.«

Kiyoshis Blick hingegen haftete wie Sekundenkleber an mir. Seine Augen fragten ein deutliches »Du hast was getan?«.

»Na, schön ... «, gab Mom recht mulmig zu verstehen. Dann ließ sie mich essen.

Sie konnte es nicht abstreiten. Niemand konnte das. Auch in mir schlummerte lange Zeit das Gen der Blutsauger.

Auch ich hatte immer eine ganz besondere Bindung zum Blut. Zum Lebenssaft der anderen.

 

Als wir aufgegessen hatten und ich das Gemüse zwischen den Fleischstücken zwischengequetscht hatte, half Kiyoshi noch mit abräumen. Mom hatte sich derweilen kurz zurückgezogen, weil ihr Diensthandy klingelte und wohl ihr Typ verlangt wurde.

In der Küche kicherte Kiyoshi auf einmal auf.

»Dem dunklen Herrn, so, so.«

»Ist lange her, okay? Ich war jung und verwirrt.«

»Das bist du doch immer noch.« Kiyoshi sah mich mit einem breiten Grinsen an.

»Vielleicht verwirrt, aber nicht mehr jung!«, gab ich zu meiner Verteidigung zu verstehen und knuffte Kiyoshi in die Seite. Als wir uns noch ein wenig amüsierten, bedankte ich mich bei meinem Liebsten für die Hilfe beim Essen.

»Selbstverständlich«, antwortete er und küsste meine Wange. Ein sanftes Nasestreicheln folgte. Irgendwann spürte ich dann seine kalten Hände an meiner Brust.

»Kiyoshi, benimm dich«, scherzte ich und küsste ihn kurz auf den Mund.

»Ich benehme mich ... ich taste nur ab, ob es dir gut geht oder ob der dunkle Herr dich schon vereinnahmt hat.«

Da musste selbst ich lachen, als Kiyoshi meinen rechten Brustmuskel knetete. »Red dich nur raus, du Biest.«

 

»Ihr beiden«, räusperte sich meine Mom. »könnt ruhig ins Zimmer gehen, ich mach das.«

Mit diesen Worten scheuchte sie uns aus der Küche und hob nur beide Augenbrauen, als wir uns ein Grinsen unterdrücken mussten. Sorry, Mom. Wir sind zwei frisch verliebte Idioten... Da kann man nicht lange ernst bleiben.

Doch umso besser, dass wir ins Zimmer gingen, denn so hörte ich mein Handy vibrieren. Es war Jiro.

»Jiro? Hi!«, ging in ran. Es raschelte und dauerte einen Moment, bis Jiro sich meldete.

»Jo, Hero. Habt ihr heute Nachmittag Zeit? Wir wollten Grillen gehen und... die anderen wollen dich mal wieder sehen.«

»Oh«, bekam ich nur raus. Natürlich ... die anderen.

»Keine Zeit oder keine Lust?«, hakte Jiro meinem "Oh" nach, als wäre schon klar, dass es eine Absage war.

»Wann trefft ihr euch denn?«, stellte ich die Gegenfrage und blickte in Kiyoshis eher lustloses Gesicht.

»So um 5 oder 6. Nicht so früh.«

»Ach so, okay. Ich denke so um 6 klingt gut.« Ich würde es dann einfach auf gekonnte 7 schieben. Dann wäre die Sonne bereits so stark gebrochen, dass wir ohne Schutz herumlaufen könnten. »Aber die anderen ... wegen Kiyoshi... «

»Bring ihn doch einfach mit, Hero. Die anderen werden dir schon nicht den Kopf abreißen, dass sie nicht die ersten waren, die es erfahren haben.« Jiro klang irgendwie genervt. Nicht so lustig drauf, wie er sonst war.

»Okay, ich bring ihn mit. Wird schon, hast ja Recht.« Ich seufzte leise, Jiro tat es mir gleich.

»Hoffentlich geht es am See gut...«, murmelte er.

»Wieso?«

»Da ist heute auch irgendwas ... Roku hat's mir erzählt, der wohnt ja da in der Nähe. Irgendein Fest. Aber wir verziehen uns in eine dunkle Ecke.«

»Der See ist groß, da wird uns schon keiner Stören.«

»Du weißt, was ich meine ...«

Jiro hatte Angst vor einem Anschlag. Er schien sichtlich darunter zu leiden, dass eine Frau, mit der er noch geflirtet hatte, nur rund 3 Stunden später abgemurkst wurde. Zudem wusste er ja nicht einmal die Tatsachen, die Kiyoshi und ich kannten.

»Es wird nichts passieren. Wieso sollte jemand an einer Pfütze Amok laufen?«

»Keine Ahnung, ist eben so ein Fest in der Nähe. Ich weiß selber, dass ich übertreibe.«

»Bisschen«, gab ich kichernd zu. Jiro seufzte dann verlegen und lachte, verabschiedete sich und legte auf.

»Grillen? Wir haben doch jetzt erst Fleisch gegessen«, fragte Kiyoshi und sah mich mit großen Augen von meinem Bett aus an. »Außerdem wollten wir Alexander suchen.«

Ich verdrehte die Augen und setzte mich neben Kiyoshi, umarmte seine hagere Figur und küsste seinen Nacken. »Alexander läuft nicht weg. Notfalls wissen wir ja, wo er im Norden wohnt. Wir werden ihn schon finden... Und Fleisch... kann man nie genug essen.«

»Du Tier!«, spaßte Kiyoshi und versuchte sich aus meinem Griff zu winden.

»Sagt der Richtige!«

 

Natürlich hatte Jiro irgendwo Recht. Es war gefährlich. Aber nicht, weil da ein Fest war, sondern weil zwei Vampire, die auch noch offiziell gesucht wurden, sich unter Menschen begaben. Was auch immer in diesem Club vorgefallen war, es sollte nur so aussehen, als wäre einer der Gäste Amok gelaufen.

In Wirklichkeit war es wohl eher ein Mord. Entweder es war einer der Gäste oder jemand von außen schlachtete die Vampire ab. Dass Alexander nicht unter den Toten war ließ auf zwei Dinge schließen: Entweder er war nicht mehr anwesend oder nicht in eine Straftat verwickelt gewesen, sodass er verschont blieb. Denn nicht alle Vampire wurden getötet. Rose und Sam waren ebenfalls nicht bei den Toten dabei gewesen.

 

Kiyoshi und beschlossen noch etwas zu dösen, bis wir losgehen würden. Eingekuschelt in mein Bett, lagen wir im Halbschlaf mit der Decke bis unters Kinn gezogen noch für einige Minuten still. Irgendwann tastete Kiyoshi meine Haut ab.

»Hiro?«, flüsterte er in die Stille.

»Mh?«, brummte ich als Antwort und öffnete ein wenig meine Augen.

»Ich hab ein ungutes Gefühl wegen heute Abend.«

Sofort öffnete ich meine Augen ein Stück mehr. Kiyoshi lag an meiner Brust und sah mich nervös an. »Als würde uns diese Gestalt finden, sobald wir das Haus verlassen würden.«

Zähneknirschend nickte ich und streichelte über Kiyoshis knochige Schulter. »Kann schon sein. Aber wir können nicht unser Leben in dieser Wohnung verbringen.«

»Aber hast du denn keine Angst, dass es Vincent sein könnte?«

»Wenn er es wäre... hätte er uns nicht schon längst in unserer Wohnung besucht, um uns abzumurksen? Wieso sollte er auf einmal Fair Play heucheln?«

Kiyoshis Aufregung schien mit diesem einen Satz verflogen zu sein. Er wurde nachdenklich, sah an mir vorbei und knabberte kurz an seinem Finger, welchen er wie ein Kleinkind am Mund hatte.

»Hast ja Recht ... hoffentlich passiert nichts.«

»Wir haben Jiro dabei«, spaßte ich. »Der verteidigt uns.«

»Jiro wäre doch innerhalb einer Sekunde tot!«

Da verdrehte ich die Augen. Ja, sicher, Kiyoshi. Es war auch nur ein Witz.

 

Zaghaft klopfte es an unser Zimmer. Hellhörig setzte ich mich ein bisschen auf. »Ja?«

»Seid ihr beiden wach?«, fragte Mom sehr zaghaft.

»Ja, doch ...«, murmelte ich und stand auf, schlurfte zur Tür und öffnete sie. Vor ihr stand sie mit dem Telefon in der Hand.

»Euer Vater würde euch gerne sprechen.«

»Dad?« Verwundert nahm ich den Hörer in die Hand. Und erst, als ich seine dunkle Stimme, die Kiyoshis so ähnlich war, hörte, fing ich das Zittern an. Das erste Mal ein Telefonat mit ihm.

»Hallo? Hiroshi?«

»Dad, hi«, begrüßte ich ihn, bemüht um einen lockeren Tonfall. Doch der meines Vaters wirkte nicht ansatzweise so locker, wie meiner. Ganz im Gegenteil: Er schien gereizt.

»Hallo Hiroshi. Schön dich zu hören. Ist Kiyoshi bei dir?«

»Äh, ja. Sitzt neben mir.«

Vorsichtig ließ ich mich neben meinem Bruder nieder, der neugierig auf das Telefon starrte. Mom blieb an meiner Tür stehen. Etwas verloren sah sie zu uns. Als hätte sie Angst, es würde aus dem Ruder laufen.

»Dann kann er mich ja hören.«

»Ich denke.« Ein Blick zu Kiyoshi zeigte mir ein deutliches Nicken.

»Dann fackel ich auch nicht lange rum: Eure Mutter hat mir erzählt, was ihr beiden so treibt und ich glaube mich deutlich genug ausgedrückt zu haben, was eure Beziehung anging.«

Ich schluckte. Natürlich ... wieso sollte er auch sonst anrufen.. Bestimmt nicht, um einfach nur zu fragen, wie es uns ging.

»Dad, das -« Doch er ließ mich nicht ausreden.

»Ai hat mir erzählt, dass ihr beiden euch offiziell dazu geäußert habt, miteinander«, da seufzte er, als wäre es eine Schande für ihn, ein solches Wort überhaupt in den Mund zu nehmen, »geschlafen zu haben. Ich hoffe, ihr beiden wisst, dass das Inzucht ist.«

»Wissen wir«, gab ich kleinlaut, ja, fast heiser von mir. Wir sind ja nicht blöd. Aber hallo? Wer sucht sich denn aus, in wen er sich verliebt? Klar, die Gedanken kamen mir auch oft. Vielleicht war es nur eine Phase. Vielleicht war es die typische Jugenddummheit. Aber vielleicht eben auch nicht.

Vielleicht war es Liebe. Und zwar eine ernst gemeinte.

Kiyoshi sah mich traurig an, drückte sofort meine Hand, um zu zeigen, dass er mir beistand.

»Dann wisst ihr auch, dass das keine Zukunft haben wird. Ai beteuerte mir, dass ihr versprochen habt, es nicht öffentlich zu machen. Natürlich können wir nicht mehr tun, als euch davon abraten, die Beziehung weiterzuführen.« Vaters Ton klang gereizt, wütend, sauer und nicht minder enttäuscht von seinen eignen Söhnen. »Als eure Eltern versuchen wir Entscheidungen der Kinder zu respektieren, aber das geht eindeutig zu weit. Ai ist am Ende ihres Lateins und ich bin kurz davor Kiyoshi wieder hierher zu holen.«

»Nein! Bitte!«, rief ich ins Telefon. »Bitte nicht, Dad!«

Da verstummte er. Meine Stimme zitterte, ich klang verzweifelt und wahrscheinlich für ihn kurz vor den Tränen. »Ich brauche Kiyoshi hier... und er braucht mich. Seitdem wir uns haben, geht es uns gut. Besser denn je... niemand muss sich mehr wehtun. Und wir schaden doch niemandem mit unserer Beziehung ... oder etwa doch?«

Er schwieg weiterhin. Kiyoshi legt unterdessen seinen Kopf auf meine Schulter und drückte mich feste an sich. Mir war von Anfang an klar, dass das keine einfache Beziehung werden würde. Nicht nur, weil Kiyoshi ein Vampir, etwas launisch und depressiv war, sondern auch, weil er mein Bruder war. Mein Zwilling noch dazu.

Vater schien keine weiteren Worte für mich übrig zu haben und forderte energisch meine Mutter zurück ans Telefon. Die stand das ganze Gespräch über am Türrahmen und bangte mit. Aufgewühlt nahm sie das Telefon wieder entgegen und hauchte Vaters Namen ins Mikrofon. Dann seufzte sie laut und schloss meine Tür, obwohl ich noch vor ihr stand.

Ein Telefonat, was mich und Kiyoshi wohl nichts anging. Eltern eben.

»Oh je«, seufzte mein Bruder und spielte an seinen Haaren. »Das hörte sich nicht gut an.«

»Kein Elternteil hört gerne Inzucht«, murmelte ich vor mir hin, während ich noch vor der Tür stand und versuchte einzelne Wortfetzen von Mom zu erhaschen. Sachen wie »Ich hab dir doch gesagt, dass es ihnen ernst ist« und »Keine Ahnung, was wir tun können« zeigten deutlich, dass Mom sich nicht gegen uns stellte. Ganz im Gegenteil: sie kämpfte wie immer für die Liebe. Ihr Job war ihr Lebensinhalt. Ihre Mission. Und wie schon erwähnt: ich war das erste Mal in meinem Leben froh, dass sie in einer Beratungsstelle arbeitete und die Arbeit mit in mein Privatleben zog.

»Machen wir uns fertig, oder?«, fragte ich rhetorisch und begann bereits Handy, Schlüssel und Portemonnaie in meine Hose zu stopfen. Kiyoshi blieb jedoch regungslos auf dem Bett sitzen.

»Was ist?«, fragte ich und sah in sein betrübtes Gesicht.

»Wir machen irgendwie allen nur noch Sorgen ... Von wegen, niemand nimmt Schaden. Seitdem wir beide uns kennen«, doch da verstummte er. Sah nur noch traurig auf den Boden und zuckte mit den Schultern, als sei alles gesagt.

»So darfst du nicht denken. Klar, hier und da haben wir ein bisschen Mist gebaut, aber ...«, und damit kniete ich mich vor seine Beine, »... ich bin glücklicher, als ich es je war. Manchmal muss man Opfer bringen ... um das wahre Glück zu finden.«

Ein zartes Lächeln umspielte Kiyoshis Lippen. Vorsichtig und ganz zärtlich strich er über meine Wangen, beugte sich vor und küsste meine Lippen. So kalt und weich. Wie immer. Wie immer perfekt, dachte ich.

Der Kuss intensivierte sich, wurde verlangender und lustvoller. Kiyoshis Zunge glitt in meinen Mund und suchte meine. Ich richtete mich ein Stück auf und umarmte seinen schmalen Körper, strich über das herausstehende Rückgrad.

Doch als meine Leidenschaft anfing mir ins Ohr zu stöhnen und begann mit den Händen in meine T-Shirtöffnung zu fahren, hielt ich ihn auf Abstand.

»Wir wollten los«, brach ich die Stimmung, sodass Kiyoshi nur missmutig losließ.

»Du bist so ein Stimmungskiller«, raunte er mir entgegen und erhob sich. »Ich frage mich, wann du mal auf mich zukommst.«

»Du musst mir nur eine Chance geben, wenn wir auch Zeit dafür haben«, zwinkerte ich ihm zu. Sobald wir nur fünf Minuten für uns hatten, klebten seine Hände doch schon an meiner Haut. Aber ich verstand was er meinte. In letzter Zeit gestaltete sich die Liebe eben schwieriger. Wir konnten froh sein, dass wir überhaupt zusammen sein durften.

Es hätte auch anders laufen können.

 

Eine gewisse Unruhe machte sich in mir breit, je länger wir an der Haltestelle standen. Die Straßenbahn hatte Verspätung und zum Laufen wäre der See zu weit entfernt gewesen. Also standen wir wie zwei Schwerverbrecher auf der Flucht am Bahnsteig und sahen uns verstohlen um.

»Hörst du was?«, fragte mich Kiyoshi im Minutentakt. Immer wieder schüttelte ich den Kopf. Natürlich hörte ich hier und da Vögel zwitschern oder Schritte anderer Menschen, aber es waren nicht die Laute, die mich sonst erschaudern ließen. Es war ein ganz bestimmter Flügelschlag und ein ganz bestimmter Schritt, die mich in Rage versetzen.

Die Menschen um uns herum mieden uns ebenfalls wie Aussätzige. Sie spürten unsere Aura; und wahrscheinlich unser Unbehagen. Als nach fast 7 Minuten Verspätung die Straßenbahn einfuhr, war sie selbstverständlich brechendvoll.

»Das wird... eine sehr lange... und sehr unangenehme Fahrt«, murmelte ich vor mich hin.

»Hiro, das können wir nicht bringen ...« Kiyoshi zog an meiner Lederjacke. Wir ließen die Leute um uns herum als erstes einsteigen, dann folgte ich.

»Wir schaffen das.«

»Kann uns Mom nicht fahren?«, fragte Kiyoshi nervös. Er schien der Sache weniger gewachsen zu sein als ich. Oder ich überschätzte mich wie immer.

»Ich ... äh...«

Je länger ich überlegte, desto unruhiger wurde es um uns herum. Ich ließ von der Tür ab, die zuging und schlussendlich mit der Straßenbahn aus unserem Blickfeld verschwand.

»Fragen wir Mom ...«, murmelte ich. »Dann müssen wir es aber auf dich schieben.«

»Das ist schon okay. Hauptsache nicht in diese volle Bahn.«

Ich nickte.

 

Während ich den Schlüssel zur Tür für den Wohnkomplex suchte, lehnte sich Kiyoshi an mich.

»Wollen wir da wirklich hin?«, fragte er erneut.

»Quengelst du etwa?«, fragte ich amüsiert, während ich die Tür aufschloss und uns Einlass gebot.

»Mein Gefühl ebbt eben nicht ab.«

»Ja, ich weiß, was du meinst ... Vielleicht kann ich Mom überzeugen, dass sie uns das Auto sogar gibt. Dann sind wir nicht auf andere angewiesen und können fahren, wann wir wollen.«

Kiyoshi stutzt und blieb auf der Treppe stehen. »Du hast einen Führerschein?« Seine Augen wurden rund wie Kugeln und starrten mich interessiert an.

»Ja ...?«, fragte ich unsicher und klimperte mit meinen Schlüsseln. »Hatte vor nem Jahr einen guten Job. Hab da einiges angespart gehabt, sodass ich ihn letztes Jahr machen konnte.«

Kiyoshi blieb immer noch bewundernd an der Treppe stehen. »Cool! Ich will mal mit dir Fahren!«

Immer noch leicht verunsichert lächelte ich. »Das wird sich bestimmt einrichten lassen.« Er schien wohl keinen Führerschein zu haben. Sicherlich sah Vater darin keinen Nutzen. Mamoru würde ihn überall hin fahren.

Als wir oben ankamen, hörte ich meine Mom wieder laut diskutieren.

»Fudo, ich will die ganze Wahrheit! Nicht deine aufgetischte Halbwahrheit«, schrie sie. Wahrscheinlich ins Telefon. Ich seufzte und drehte mich zu Kiyoshi, der nur die Schultern hochzog.

Schlechter Moment, hm? Aber wer kam denn gestern in einem noch schlechteren Moment nach Hause? Pah!

Ohne zu zögern schloss ich die Tür auf und trat ein. Mom stand am Balkonfenster und hielt das Telefon nah an ihren Mund, das Gesicht wütend verzogen.

»Wenn ich das weiter machen soll, dann-« Da verstummte sie. Sah zu uns rüber und schien überrascht, dass wir wieder an der Tür standen.

»Alles okay?«, fragte sie sofort, als sei etwas passiert. »Nein, nicht du, Fudo, die Jungs stehen gerade wieder an der Tür, warte mal kurz.«

Damit kam sie zu uns und musterte eindringlich unsere Figur.

»Äh ... wir wollten fragen, ob du uns fahren kannst... zum See... weil die Straßenbahn sehr voll war und«, damit drehte ich mich zu Kiyoshi, »wir das lieber nicht riskieren wollen.«

Mein Bruder senkte den Blick, als täten ihm die Umstände leid. Wir waren schon zwei Lügner ... Und Vater, wie es aus dem Gespräch herausging, ebenfalls. Es lag einfach in der Familie.

Ich konnte mir auch schon denken, worum es ging. Millionen Fragen von Mom. Wieso Kiyoshi eigentlich da war. Wieso ich mein blutiges Steak genoss. Wieso keiner ein Wort darüber verlor, dass auch ich mich nur zu dunklen Zeiten raustraute und meine Haut trotzdem an Glanz gewann.

»Zum See?«, wiederholte sie und raunte auf, als wäre es ihr nicht gerade Recht zu Fahren.

»Du kannst uns auch den Schlüssel geben, ich fahr-«

»Nein.«

Sofort presste ich die Lippen aufeinander und formte eine strenge Linie. War ja klar. Einmal durfte ich fahren. Mit ihr nebenan. Seither nie wieder.

»Fudo? Ich ruf dich später zurück, ich muss die Jungs kurz fahren. Ja... Hm... Ja, da kannst du drauf wetten!«

Schlussendlich legte sie genervt auf, warf das Telefon auf den Tisch und zog sich stöhnend die Schuhe an.

»Ist das ... wirklich okay?«, fragte ich räuspernd, während sie hektisch ihre Schlüssel beisammen suchte und angespannt zur Tür rannte.

»Ja, schon okay. Macht es dann aber nicht zu spät!«

»Zurück können wir ja... mit der Bahn«, murmelte Kiyoshi, um nicht ganz aus der Sache gerissen zu werden. Doch alles, was er als Antwort bekam, war ein böser Blick meiner Mutter. Wahrscheinlich wollte sie um jeden Preis verhindern, dass er einen Menschen anfiel.

Dabei wäre wahrscheinlich ich wieder derjenige, der sich nicht zusammenreißen könnte.

Ob sie mich auch so widerwärtig und abfällig behandeln würde wie Kiyoshi? Wenn sie es herausfindet?

 

Die Autofahrt verlief regelrecht mit einer Totenstille. Mom raste wie ein Verrückte über die Straßen und schenkte uns keinen Blick durch den Rückspiegel. Ich saß neben Kiyoshi und hielt seine Hand. Wahrscheinlich missfiel ihr auch das.

»Hast du Streit mit Dad?«, fragte ich schließlich in die Stille, als wir kurz vor dem See waren.

»Nein, nur ein bisschen Diskussion.«

»Wegen uns?«

Da knirschte sie mit den Zähnen, als wolle sie eher nicht drüber reden. »Ein bisschen.«

»Verstehe. Ist wohl 'ne Sache zwischen dir und ihm, hm?«

»Ja«, antwortete sie knapp und fuhr auf den Schotterparkplatz, wo eine Menge Autos parkten. »So viele Autos? Ist heute irgendwas?«

»Anscheinend eine Feier. Jiro hatte davon berichtet«, klärte ich sie auf, während ich mich abschnallte.

»Na gut ... passt auf euch auf.« Dabei schenkte sie mir einen vielsagenden Blick, dass ich eher auf Kiyoshi als auf mich selber aufpassen sollte.

»Machen wir.« Mit einem kurzen Lächeln bedankte ich mich für's Fahren und schloss die Autotür.

Winkend sahen wir sie weiterfahren.

»War sie sauer?«, fragte Kiyoshi, nahm meine Hand und setzte sich mit mir in Bewegung.

»Ja, ein bisschen. Wahrscheinlich kriegt sie langsam spitz, dass wir ihr alle etwas verschweigen.«

»Dass du ein Vampir bist«, gab mein Bruder nickend zu und seufzte traurig. »Was sie wohl machen wird, wenn sie es herausfindet?«

»Böse sein, weinen und dann wieder böse sein. Dann wird sie sowohl dir als auch mir die Schuld geben, dann sich selber und dann wird sie wohl damit leben.«

Kiyoshi lachte amüsiert auf und drückte meine Hand. »Das kann ich mir gut bei ihr vorstellen.«

 

Das Ufer des Sees war in der Tat recht befüllt. Das Stück Wasser schimmerte silbrig im faden Licht. Man konnte gut an das andere Ende sehen, trotzdem bettete er sich in große Grünflächen mit ein paar Bäumen. Die Feier, oder mehr Veranstaltung, schien noble Gäste zu empfangen. Viele liefen mit Champagnergläsern oder Weingläsern rum, unterhielten sich rege und trugen teure Kleidung. Hier und da spielten Kinder auf dem Rasen, schrieen.

Nur vereinzelte Leute, die auf ihren Handtüchern saßen, schienen normale Besucher des Sees zu sein und genossen die sanfte Jazz Musik, die aus den Lautsprechern der kleinen Bühne tönte.

Am Ende des Rasenstücks, bevor der See seine Rundung machte, sah ich unsere Leute. Alle waren versammelt, ein riesiger Pulk. Fast so, als wäre die Klasse anwesend.

 

Und nicht nur die.

 

Ein Vogel kreiste über den See. Flügelschläge.

Zufälle

»Du hast gesagt, ihr seht euch alle nicht so ähnlich ... Die sehen alle gleich aus ...«, bemerkte Kiyoshi und deutete auf den Pulk meiner Freunde. Ich seufzte belustigt und schüttelte den Kopf.

»Ja, doch, vielleicht vom Kleidungsstil, aber schau mal, Jiro erkennst du doch.«

Der hopste bereits angetrunken um den Grill und schien die Glut wie einen Gott zu beschwören. Die schwere Nietenlederjacke klapperte dabei im Takt seiner Bewegungen.

Doch ehe wir uns der Gruppe näherten, quietschte ein Mädchen auf.

Als ich mich umdrehte, sah ich Natasha zwischen anderen Mädchen sitzen, erstarrt zu uns starrend. Sie tuschelte sofort mit einigen ihren Weibern, die ebenso entsetzt zu uns starrten.

Super, dachte ich. Nicht nur, weil ich sie das letzte Mal mit ihrer Schwester angeknurrt hatte, sondern auch, weil sie zum ersten Mal Kiyoshi sah, der noch an meiner Hand hing. Aber so verkrampft wie er sie hielt... ließ ich ihn lieber nicht los. Sollen sie ruhig tuscheln. Bei Natashas Geschichten ging es eh immer wie bei Sodom und Gomorra zu; da würde auch niemand eine Vampirstory von Zwillingen aus ihrem Mund glauben.

»Das ist doch die eine... aus der Mall«, bestätigte Kiyoshi und sah schüchtern zu ihr.

»Ja, Natasha... Heute scheinen wirklich alle anwesend zu sein. Stell dich auf viele Fragen ein.«

Langsam trotteten wir weiter und ehe ich mich versah, rumpelte mich eine kleine, dickliche Gestalt von hinten an. Sie umarmte mich feste und schnürte mir fast die Luft ab.

»Hiro!«, schrie sie und ließ mich wieder los. Kiyoshi hatte vor Schreck meine Hand losgelassen und ging einen Schritt von mir. Als ich mich umdrehte, um die Person zu sehen, die mich wie ein Sumoringer quetschte, fielen mir sofort die roten Haare auf.

»Lampe... Mensch... Schön, dich zu sehen!«, knirschte ich durch meine Zähne und setzte ein Lächeln auf.

»Haha, tu nicht so, du kleine Ratte«, rief sie viel zu laut und zwickte mich in die Seite. »Wo warst du die letzten zwei Tage? Keinen Bock auf uns gehabt?«

Je lauter Lampe wurde, desto höher wurde die Aufmerksamkeit auf mich. Und Kiyoshi, der noch immer ängstlich hinter mir stand.

»Tja, wie das so ist ...«, murmelte ich und hob eine Augenbraue, als ich Roku und Kyo sah, die dicht beieinander standen. Kyo schien sich eher unwohl zu fühlen, während Roku immer seinen Augenkontakt suchte. Gab wohl wirklich Ärger im Paradies. Dabei ... dachte ich immer, die beiden würden ein gutes Paar abgeben.

»Wer ist das?«, fragte Lampe frech und zeigte auf Kiyoshi, der wie erstarrt hinter mir stehen blieb und kein Wort raus brachte. Stattdessen versprühte er die unnahbare Aura. Wahrscheinlich war ihm Lampe noch unsympathischer als Jiro. Doch in diesem Fall hatte ich sofortiges Verständnis. Immerhin mochte ich Lampe auch nicht. Mit ihren knallroten Haaren, den Piercings im Gesicht, den Tattoos, dem etwas ungepflegten Äußeren. Jiro war auch ein Punk. Trotzdem wusch er sich. Und achtete auf sein Äußeres. Und auf seine Manieren. Lampe hingegen war nicht nur stilistisch ein Punk, sondern auch in ihrer Einstellung.

»Das hier... ist Kiyoshi.« Damit schob ich ihn vor mich und deutete mit einer Handbewegung an, dass es sich um die vorgeschobene Person handelte. Kiyoshi selbst sah eher verängstigt in die Ruhe. Denn zu Lampe gesellte sich nun auch Jiro; andere sahen verstohlen rüber.

»Scheiße, ist das dein Klon?«, platzte es aus Lampe heraus. Doch ehe ich sie wegen ihrer unfreundlichen Art ankacken konnte, korrigierte Jiro ihre Aussage.

»Zwilling«, sprach er freundlich mit zwei Bier in der Hand, welche er an uns weiterreichte. »Kiyoshi ist sein Zwilling.«

»Verarschst du mich?«, schrie Lampe laut auf. »Hiro hat nen Zwilling?«

Und schon drehten sich alle zu uns um, starrten nicht nur mich, sondern auch Kiyoshi an.

»Ich wusste es selbst nicht... bis vor einer Woche«, erklärte ich und zog Kiyoshi an mich ran, der immer noch kein Wort rausbrachte und stattdessen sein Bier trank. Jiro grinste wissend vor sich hin.

»Kiyoshi ist ein bisschen schüchtern, hat aber nen guten Schlag drauf.« Kichernd näherte sich Jiro und klopfte meinem Bruder auf die Schulter. Der zeigte zum ersten Mal, seitdem wir angekommen waren, dass noch Leben in ihm steckte und lächelte zögerlich.

»Oh fuck, man, jetzt haben wir noch mehr Zwillinge hier!«

»Ja, aber diesmal echte«, spaßte Jiro und deutete auf Roku und Kyo, die sich nur langsam näherten.

Eine zögerliche Umarmung zur Begrüßung folgte, Kiyoshi gaben sie nur die Hand. Gerade Roku schien etwas zurückhaltender als sonst. Wahrscheinlich stand ihm das Geständnis noch im Nacken.

Doch wie sollte ich es beschreiben? Mein Lächeln war aufrichtiger, als das, was ich Kyo schenkte. Denn ich fühlte mit ihm. Es war nicht einfach... Ganz im Gegenteil.

Zu meiner Vermutung hin, bestätigte Jiro mir sogar im späteren Verlauf des Abends, dass Roku heimlich auf Kyo stand. Und Kyo ihm bisher noch keine Antwort gegeben hatte.

»Mies«, murmelte ich, Kiyoshi dabei in meinem Arm haltend. Der saß zwischen meinen Beinen und lehnte an meiner Brust, spielte ein Spiel auf meinem Handy und trank hier und da ein paar Schlucke Bier.

»Ja, aber ich denke, Kyo wird nachgeben. Bisher geht er Roku nämlich nicht aus dem Weg. Ich denke, er braucht einfach seine Zeit, bis er es für sich herausgefunden hat.«

»Haha, schön gesagt ...« Unsicher schwank ich mein Bier. Sollte ich es ihm sagen? ... Jetzt? Wo wir schon mal beim Thema waren? Kiyoshi schien das ja nur Recht zu kommen. Der wich nicht von meiner Seite und nahm, wann immer eine Frau mit mir redete, meine Hand und drückte sie recht deutlich.

Auf einmal machte jemand Lautsprecher an sein Handy und spielte laute Musik. Die Grillplatte lief auf Hochtouren und verströmte einen angenehmen Duft. Nein, dachte ich, die Stimmung war zu gut, als sie mit einem so blöden Geständnis zu stören.

Und während wir uns alle nett unterhielten, bei guter Metalmusik und Fleischgeruch, spürte man die Gäste von der Fete unruhig werden. Es missfiel ihnen eindeutig, dass hier so ein paar Punks rumlungerten und laut Musik spielten, Dreck machten und unangenehm auffielen.

Es dauerte auch nicht lange, bis der erste von der Feier rüberkam. Ein junger Mann, vielleicht Ende 20, schlicht gekleidet, kam schnellen Schrittes auf unsere Gruppe zu. Kiyoshi blickte vom Handy auf und starrte den Mann an, der sich rege mit Lampe unterhielt.

»Er ist einer«, gab er knapp zu verstehen.

»Wirklich?«

»Ja.«

»Wer ist was?«, fragte Jiro, der Kiyoshis Aussage natürlich mitbekommen hatte.

»Ach, nix.« Mit einem zarten Lächeln versuchte ich Jiros Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes zu lenken.

»... Du bist ganz schön blass geworden. Ich bin voll neidisch«, bemerkte Jiro dann nur spitz und berührte ehrfürchtig meine Wange. Wie von der Tarantel gestochen, setzte sich Kiyoshi auf und funkelte Jiro an. Eine leichte Handbewegung meinerseits, die sich um Kiyoshis Brust legte und ihn wieder an mich drückte, ließ ihn stumm bleiben.

Tz, tz. So eifersüchtig.

Jiro hingegen schmunzelte nur, sah mich fragend an. Alles, was ich ihm geben konnte, war ein Schulterzucken. Als wäre es halt so ...

Der Mann von der Feier ging raunend davon, fluchte auf dem Weg zurück und gestikulierte mit den Händen. Wenn er ein Vampir war... waren da sicherlich auch mehr.

»Meinst du, da sind noch mehr?«, fragte ich Kiyoshi, der nun aufrecht neben mir saß und interessiert in die Richtung der Gruppe blickte.

»Schätzungsweise ja. Kann mir nicht vorstellen, dass er der Einzige war.«

»Was die wohl hier machen?«

»Sieht ganz nach einem typischen "Sehen und Gesehen Werden" Fest aus. Wo man sein Geld zeigt. Oder eben das, was man davon gekauft hat.«

»Das klingt ziemlich scheiße«, funkte sich Jiro wieder rein und trank sein Bier aus. »Kann mir diesen Alexander da gut vorstellen.«

Ich wurde hellhörig. »Stimmt. Eigentlich... keine schlechte Idee, oder?« Mein Blick fiel zu Kiyoshi, der schon die ganze Zeit nach ihm Ausschau zu halten schien.

»Wir können uns ja mal umsehen«, schlug er vor und stand auf. Ich tat es ihm gleich und sah zu Jiro.

»Du bleibst wohl besser hier«, schlug ich ihm vor, doch ehe ich mich versah, stand er neben mir.

»Vergiss es, den schnapp ich mir.« Mit einer lockeren Faust schlug er gegen meinen Rücken. »Der soll mir noch einmal unter die Augen kommen. Dieser scheiß Schnösel!«

»Bitte keine Schlägerei«, bat ich leise und hob beide Augenbrauen. »Mit Alexander ist nicht zu spaßen.«

»Mit mir auch nicht«, knurrte er und setzte sich in Bewegung Richtung Feier. Kiyoshi hob nur eine Augenbraue und folgte ihm, wenn auch eher widerwillig.

Als wir die Feier erreichten, sahen uns einige Gäste schon verwirrt an. Andere zogen sogar ihre Augenbrauen hoch und rümpften die Nase. Dabei hatten wir sogar einen Reinblütler dabei. Doch Kiyoshi schien undercover unterwegs zu sein: niemand bemerkte uns wegen unserer Aura.

 

»Na, sieh mal einer an, wer sich hier hin verlaufen hat«, flüsterte Jiro und zeigte mit dem Finger auf Alexander, der in schwarzer Jeans und Anzugjacke mit einem Glas Wein (wahrscheinlich war es kein Wein) neben einer Traube Menschen stand und gelangweilt drein blickte.

»Jiro, du kannst jetzt nicht zu ihm hingehen und ihm eine reinhauen«, mahnte ich ihn und deutete auf seine bereits geballten Fäuste.

»Nenn mir einen Grund, wieso nicht.«

»Weil wir hier in geschlossener Gesellschaft sind und .. er anscheinend dazugehört. Schlägst du auf ihn ein, wirst du gleich 10 weitere Fäuste im Gesicht haben.«

Kiyoshi verdrehte weiterhin die Augen und stierte zu Alexander, der uns noch nicht bemerkt hatte.

Alles, was Jiro tat, war die Nase rümpfen und die Arme zu verschränken. »Von mir aus ...«

Erst als ich mich umdrehte, war Kiyoshi verschwunden. Schnell stolperte ich in seine Richtung, die er eingeschlagen hatte. Leise ging er hinter die Bühne und sah sich um.

»Was machst du?«, fragte ich aufgebracht, als Kiyoshi auch noch anfing, Taschen zu durchwühlen.

»Ich suche etwas, womit ich Alexanders Aufmerksamkeit erregen könnte... Ohne die anderen.«

»Willst du ihn also weglocken?«

»Ja, klar. Wir können uns hier doch nicht ruhig unterhalten. Außerdem sollte Jiro... ebenfalls nicht dabei sein.«

»Hast ja Recht.« Nicht nur wegen der Vampirgeschichte. Sondern auch wegen Schlägereigefahr.

Doch ehe ich mich versah, hörte ich laute Stimmen. Jiro stand direkt neben Alexander, der ihn wohl aufgrund seiner wesentlich auffälligen Statue wahrgenommen hatte und auf ihn zuging. Spöttisch sahen sie sich an, grinsten hämisch, stichelten wahrscheinlich schon.

»Lass gut sein, Kiyoshi«, seufzte ich meinem Bruder entgegen, der seinen Kopf aus den Taschen der Leute nahm. »Wir haben seine Aufmerksamkeit bereits.«

»Der Typ macht uns echt nur Ärger«, raunte er auf und verschwand mit mir aus dem Bühnenzelt. Alexander schien ruhig sein Glas auszutrinken, während Jiro kurz vorm Platzen stand.

»Ich weißt nicht, wieso du mir nachläufst«, gab Alexander von sich und stellte affektiert sein Glas weg.

»Wie bitte? Ich laufe dir nach? Auf welcher Droge bist du? Schwachsinn oder Verwirrtheit?«, konterte Jiro und steckte seine Hände in die Hosentasche. Mit lautem Geklimper seiner Nieten kam er ein Stück auf Alexander zu. Es dauerte auch nicht lange, bis sie sich wieder fast Brust an Brust standen und kurz vor einem Hahnenkampf waren.

»Okay, hallo, Schluss jetzt«, ging ich dazwischen und zog sowohl Jiro als auch Alexander etwas zur Seite. Sofort bekam ich einen pikierten Handschlag von Alexander.

»Fass mich nicht an, du Mischling!«

»Mischling?! Ich hör wohl nicht Recht!«, entfuhr es dann auch mir, wurde jedoch von einer kalten Hand zurückgehalten. Kiyoshi schien wie immer der ruhige Pol zu sein. Zumindest schauspielerte es ausgezeichnet.

»Alexander, wir müssen mit dir reden.«

»Ich aber nicht mit euch«, gab er schnippig zu verstehen und richtete seinen Blazer. Ein böser Blick in Richtung Jiro ließ uns wieder aus dem Geschehen drängen.

»Es geht um gestern«, ließ Kiyoshi nicht locker und stellte sich in sein Sichtfeld. Genervt, aber doch zugleich wissend, um was es ging, sah Alexander in die Augen meines Bruders. Für einen Moment schien er zu überlegen, die Ernsthaftigkeit der Situation ausmachend.

»Na schön. Aber ohne den!« Mit einem leichten Kinnnicken deutete er zu Jiro, der wie immer Hummeln im Hintern hatte, sich endlich mit Alexander zu prügeln.

»Ja, sicher ...« Damit setzte sich Kiyoshi in Gang, trottete über die flache Wiese in Richtung eines abgelegenen Baumes, wo sich keine Gäste befanden. Jiro hingegen sah entsetzt zu mir.

»Ernsthaft? Ihr wollt alleine mit dem Reden? Was ist los mit dir, Hiro?«

»Mit mir ist nichts ... es geht sich um gestern. Wir glauben, Alexander hat gesehen, was passiert ist.«

»Okay? Und? Erstens: Was interessiert euch das, ihr seid nicht die Mordkommission? Und zweitens: Wieso darf ich dann nicht dabei sein?«

Jiros Einwände waren in der Tat handfest. Trotzdem blieb ich standhaft und vertröstete ihn auf ein klärendes Gespräch, sobald wir mehr von Alexander erfahren hätten. Sicherlich würde ich ihm nicht alles erzählen, aber eine abgedroschene Version dürfte ihm reichen.

Als ich zu Kiyoshi und Alexander trottete und bereits eine hagere Stimmung spürte, schob ich meine Hände in die Hosentaschen.

»Also, was ist los?«, begann Alexander, als ich mich neben ihn stellte und dabei Kiyoshi fixierte. Der fackelte auch nicht lange mit seiner Frage.

»Wer hat die Leute umgebracht?«

»Keine Ahnung.« Damit zuckte er mit den Schultern, als wäre nichts vorgefallen. »Ich war draußen, hab euch gehen sehen. Als ich wieder rein kam, war eine miese Stimmung, also bin ich wieder raus, hab mich mit ein paar Leuten unterhalten. Irgendwann... so zwischen 20 und 30 Minuten hörte man Schüsse. Die Menschen strömten raus, einige von uns ebenfalls. Ich konnte niemanden sehen, aber es wird gemunkelt... Dass es ein Hunter war.«

»Also doch ...«, murmelte ich und sah zu Boden. Wenn es ein Hunter war... dann mit Sicherheit ein sehr aggressiver. Der uns auch auflauerte. Vielleicht waren es sogar zwei oder drei auf einmal, die hier ihr Unwesen trieben.

»"Also doch"? Es wird nur gemunkelt. Keiner hat handfeste Beweise. Denn nur die Polizei hat danach das Schlachtfeld gesehen. Jegliche Informationen bleiben geheim.«

»Schreit doch ziemlich nach einem Hunter, findest du nicht?«, fragte ich den schwarzhaarigen Mann, der mit seinen eisblauen Augen in meine Richtung starrte.

»Wie gesagt: Keine Ahnung. Ich kann euch da nicht weiterhelfen. Jeder hier schiebt jetzt Panik, dass es ein Hunter war. Die Leute dort irgendwie bestrafen wollte. Doch meines Wissens nach haben die nichts falsch gemacht. Flirten geht nicht gegen die Regeln.«

»Haben sie vielleicht jemanden umgebracht?«, wollte Kiyoshi wissen und kam einen Schritt auf uns zu. Dicht an mich gedrängt fixierte er Alexanders Gesicht.

»Nicht, dass ich wüsste. Ich weiß sowieso nicht, was schon wieder los ist. Ich dachte erst, es sei wegen euch gewesen. Aber wieso dann gleich 12 Leute sterben mussten... Wenn man doch eigentlich nach euch sucht? Das verstehe ich nicht.«

»Wir werden auch von einer schwarzen Gestalt verfolgt«, gab ich preis. Kiyoshi knuffte mich erst in die Seite, als solle ich das erst ein mal geheim halten, doch Alexander ging so neutral und ruhig an die Sache, dass er in mir Vertrauen weckte. Ihm könnten wir es erzählen. Vielleicht wüsste er dahingehend etwas. Oder könnte uns sogar helfen.

»Das wundert mich nicht«, summte er mit einem süffisanten Grinsen. »Vincent ist nicht dumm. Er wird hier und da seine Informationen bekommen haben, wohin ihr seid. Dass ihr allerdings auch noch einfach zur Mutter fahrt... das war nachlässig. Ihr hättet euch wenigstens für ein paar Monate in die Berge flüchten sollen. Oder in eine andere Großstadt. Eben dort, wo man euch eher nicht erwartet hätte.«

Kiyoshi knirschte etwas mit den Zähnen. »Es ist eben nicht so einfach mit dem mal eben verschwinden.«

»Wieso? Dein Dad hat genug Geld.«

»Darum geht es auch nicht«, funkte ich wieder dazwischen und sah Alexander eindringlich an. »Ich habe hier noch ein Privatleben. Und eine Mutter. Und alle wissen nichts davon.«

»Ach?« Sofort grinste Alexander schelmisch auf. »Der Punk weiß nichts davon? Interessant. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, wieso er mich so ungeniert anpöbelt.«

»Hey, lass ihn einfach in Ruhe, okay?«, schaltete ich mich ein, bevor er wieder zurück zu Jiro gehen wollte, der Abseits von der Fete an einem anderen Baum stand. »Er weiß nicht, wie stark du als Vampir bist. Es wäre unfair ihm gegenüber.«

»Meine Güte, Hiroshi, ich würde ihn schon nicht umbringen. Und ich werde mich hüten ihm näher zu kommen, als notwendig.« Mit einem schelmischen Grinsen drehte er uns den Rücken zu und schlenderte zu Jiro. Offensichtlich ging es ihm nur um eine Abreibung, die auch aus Jiros Sicht mehr als Willkommen war.

Kiyoshi drehte sich zu mir und deutete noch kurz zu Alexander. »Wenn er auch nicht weiß, wer es war... können wir nur vermuten.«

»Ja«, brummte ich und sah in den sich verdunkelnden Himmel. Nur die Lichter der Feier und die Glut des Grills erhellten die Umgebung am See. Er glitzerte ruhig. Die Stimmung um uns herum schien sich zu entspannen. Die Leute wurden betrunken, einige davon torkelten schon. Unsere Gruppe war hauptsächlich am Essen, sodass eine gefräßige Stille eintrat. Erst als die ersten Schläge flogen, schien die ruhige Atmosphäre zerstört.

Jiro torkelte ein kleines Stück nach hinten, stichelte trotzdem weiter. »Für eine Bonze, die wahrscheinlich ihre Hände noch nie in Spülwasser hatte, hast du einen passablen Schlag!«

»Pah«, raunte Alexander und holte erneut aus, verfehlte seinen Gegner jedoch. »Pass auf, was du sagst, sonst reiß ich dir jedes Piercing einzeln aus deinem Gesicht!«

»Schnauze!«, schrie er und packte Alexander am Kragen. Kiyoshi und ich stellten uns recht amüsiert nebenan und betrachteten das Schauspiel.

»Was meinst du... wie weit sie gehen?«

»Wahrscheinlich bis Jiro am Boden liegt und Alexander Blut ins Gesicht spuckt«, seufzte ich und schüttelte den Kopf. »Davor müssen wir eingreifen.«

»Auf jeden Fall!« Kiyoshi wurde nervös. »Alexander darf nicht mit Jiros Blut in Verbindung kommen!«

»Wird schon nicht passieren ...«, raunte ich und beobachtete die beiden genau. Wie sie sich auf dem Boden wälzten.

Bis der Horizont sich verschwärzte.

 

Im Hintergrund vernahm ich eine dunkle Gestalt.

 

Sie kam näher.

 

Mir verschlug es die Sprache. Alexander und Jiro prügelten sich weiter, bis Jiro am Boden landete und von Alexanders Fäusten überrumpelt wurde. Erst dann bekam ich die nötige Luft, Kiyoshi anzusprechen, ihn auf die dunkle Gestalt am Ende des Sees aufmerksam zu machen.

»Kiyoshi... da«, hauchte ich fast zu leise und deutete auf den Horizont.

»Ist das- Ist das etwa?«, stotterte mein Bruder und fixierte ebenfalls die Szenerie hinter Alexander und Jiro. Die Feier um uns herum wurde auf einmal laut, die Gäste sangen und tanzten, ließen sich gänzlich aus. Niemand vernahm, was wir sahen.

»Wir müssen gehen ... fliehen!« Sofort packte ich Kiyoshis Hand, zog ihn mit mir. In dem Moment wurden die beiden Prügelheinis aufmerksam, sahen uns wegrennen und rafften sich auf.

»Wohin gehen die? Hey!«, rief Jiro uns hinterher. »Hiro? Wohin?«

Doch ich konnte nicht antworten. Ehrlich gesagt empfand ich pure Panik, wusste nicht wohin ich gehen sollte. Kiyoshi rannte hinter mir her, den See entlang. Alexander und Jiro blieben wie versteinert auf der Stelle stehen, bis sie uns doch folgten. Jiro, weil ich wegrannte, Alexander, weil er uns folgen wollte.

 

Dann ging alles ganz schnell

Ein Windschlag durchstreifte mein Gesicht, ich hörte Kiyoshi aufkreischen, Wasser bewegte sich, Jiro schrie, Alexander packte mich am Arm, hielt mich vom Fall ab. Ein Vogel flog an mir vorbei, hinter uns und landete auf einem Arm.

Der Arm war in schwarzem Leder verhüllt, welches länglich in einem Mantel endete. Lange schwarze Haare lagen sachte auf den Schultern des Mannes, der den Greifvogel wieder von sich fliegen ließ.

»Vincent«, flüsterte ich, halb auf dem Boden kniend. Alexander hielt meinen Arm fest, als wäre er selber erstarrt. Jiro blieb vor uns stehen, sah dann Kiyoshi im See schwimmen.

»Fuck, ist alles okay?«, rief er ihm zu, doch Kiyoshi schwamm so schnell er konnte ans Ufer, ohne zu antworten.

»Wer ist das?«, rief Jiro uns zu, half Kiyoshi aus dem Wasser. Ich blieb in meiner Starre, sah nur zum großgewachsenen Mann, der mit seinen schweren Boots auf uns zusteuerte.

»Ein Feind«, murmelte Alexander, ebenfalls erstarrt und atmete flach. Mit einem Ruck zog er mich wieder auf die Beine. »Ich will damit nichts zu tun haben, das ist mir zu heiß! Verschwindet endlich! Wenn ihr flieht, könnt ihr Glück haben, dass er euch wenigstens heute nicht erwischt!«

»Was? Der Mann ist hinter euch her? Hiro, was ist los?«, schrie mein bester Freund nun völlig hilflos. Doch ehe ich antworten konnte, sprang Kiyoshi die letzten Meter aus dem Wasser, packte mich am Arm und zog mich weg. Alexander lief in eine andere Richtung, Jiro blieb stehen und wunderte sich, was passierte.

Als ich mich umdrehte, sah ich Vincent direkt vor Jiro stehen. »Nein!«, rief ich und machte abrupt Halt. »Nein! Das darf er nicht!«

»Lass ihn, er wird ihm nichts tun!«, schrie Kiyoshi verzweifelt, packte mich an der Brust und zerrte mich von den beiden weg.

Vincents Hand fuhr aus, packte Jiro am Kragen und zog ihn hoch. Es sah aus, als würde er ihn eindringlich beobachten. Jiro zitterte am ganzen Körper, half sich selber, indem er sich an Vincents groben Handschuhen festhielt.

»L-Lass mich los!«, wimmerte mein Freund und strampelte wie verrückt mit den Beinen. »Lass los!«

Doch Vincent blieb eisern. Einzig und allein seine Augen bohrten weiter und suchten in Jiros Anzeichen der Menschlichkeit. Ich wehrte mich weiterhin gegen Kiyoshis Griff. Die Angst um Jiros Leben wuchs in mir, machte mich blind und versetzte mich in Rage. Vincent war dafür bekannt, dass er sich seine eigenen Regeln schrieb. Wieso sollte er dann nicht auch vor Menschen Halt machen, die mit den gesuchten Verbrechern befreundet waren?

»Wir müssen fliehen!«, zischte mir Kiyoshi zu. »Dem wird nichts passieren, komm jetzt!« Damit zerrte er mich zu einer Reihe von Bäumen und Büschen, die uns eventuell hätten Schutz bieten können. Doch in dem Moment pfefferte Vincent Jiros Körper wie ein Sack Reis in die Ecke, gegen einen Stein, der sich am See befand, sodass er bewusstlos ins Wasser fiel.

Durch das zweite Plätschern wurden nun die anderen Gäste aufmerksam. Sie sahen Vincent, fingen an zu schreien und liefen weg. Panik brach aus.

»Fuck nein!«, rief ich völlig panisch, riss mich von Kiyoshi los und rannte zu Vincent und dem See, wo der bewusstlose Jiro kurz vorm Ertrinken stand.

»Nein! Hiro!« Kiyoshis Stimme hallte noch nach, verstummte plötzlich in einem Piepsen in meinen Ohren. Etwas hartes knallte gegen meinen Kopf und ließ mich zu Boden fallen.

Vincent hatte mich am Kopf getroffen, machte einen Ausfallschritt und schlug weiter auf mich ein. Die Fäuste trafen mich schmerzhaft in den Rippen, an den Schultern und im Gesicht.

»Du mieser Noneternal! Hast wohl geglaubt, du könntest dich einfach so mit deinem Bruder aus dem Staub machen, huh?«, raunte Vincent gefährlich, während ich nicht ein einziges Wort vernahm.

Kiyoshi nahm Anlauf, packte all seinen Mut zusammen und stürzte sich auf Vincents Körper. Schüsse fielen.

Der Hunter hatte seine Schusswaffen gezogen und streifte Kiyoshi am Arm. Doch mein Bruder kämpfte weiter, verbittert kratzte und biss er Vincents Haut, nur um ihn von mir wegzulocken. Es dauerte einen Moment bis ich wieder Laute vernahm und keine Sternchen mein Sichtfeld vereinnahmten.

»Nein!«, murmelte ich, sah zum See und entdeckte niemanden mehr. Nicht einmal Wasser bewegte sich. Ein Gefühl zwischen Panik und Übelkeit lief mir zwischen die Knochen. Erst als Kiyoshi aufschrie, lenkte er meine Aufmerksamkeit auf ihn. Ich wusste nicht, was ich tun sollte! Kiyoshi zur Hilfe eilen? Jiro am Grund des Sees suchen? Vincent angreifen?

Mein Bruder fiel unsachte zu Boden, hielt sich den Arm und robbte weinerlich von seinem Feind weg.

»Du Missgeburt, ich werde dich zurück zur Hölle schicken, woher zu kamst!«, schrie Vincent und lud erneut seine Waffe. »So wie die anderen niederen Blutsauger. Wieso hält sich niemand von euch an die Regeln?«

Kiyoshi robbte weiter, rappelte sich wieder auf und konnte einem Schuss gerade so noch ausweichen. Schnell sprang er in einen Baum, hüpfte gekonnt von Ast zu Ast und landete schließlich hinter mir.

»Hiro! Bist du verletzt?«, rief er mir zu, rutschte die letzten Meter über den Rasen und half mir auf.

»Es geht, was ist mit dir?«, stotterte ich und musterte meinen Bruder, der nicht nur dreckig, sondern auch blutig war.

»Schon okay ... «

Ein kurzer Moment ließ uns vergessen, wo wir uns noch einmal befanden. Seine Augen strahlten Hitze aus, Panik, Unsicherheit. Angst. Es war, als könnten wir uns schon irgendwie helfen, nur wie?

»Runter!«, rief ich, drückte Kiyoshi ins Gras und schmeckte dabei selber etwas Grünzeug. Vincent schoss erneut und traf den Baum hinter uns. Als ich mich kurz zum Einschuss umdrehte, sah ich eine hellblaue Flüssigkeit herauslaufen.

»Was zum-?«, fragte ich in die Aufregung. Es blieb nicht viel Zeit, so kniff ich die Kugel aus dem Holz und setzte mich mit Kiyoshi in Bewegung. Ich steuerte auf den See zu, untersuchte ihn.

»Wo wollt ihr hin, Blutsauger? Ihr könnt mir nicht ewig entfliehen!«, schrie die düstere Stimme uns nach.

Jiro, Jiro! Wo war er nur? Am Grund des Sees? Ein schneller Blick zu unserer Gruppe sagte mir, dass auch sie fluchtartig verschwunden waren. Nur noch Grill und einzelne Bierflaschen standen noch dort und deuteten auf einen feucht-fröhlichen Abend hin.

Tränen stiegen in mir auf.

Jiro! War tot? Einfach so? Vincent hatte ihn umgebracht!

Kiyoshi neben mir redete auf mich ein, sein Mund bewegte sich; doch ich verstand nichts. Meine Ohren piepsten, ließen mich nichts Hören. Die Brust schien mir zu zerschlagen, so sehr hämmerte mein Herz gegen die Rippen. Alles tat weh, doch Schmerzen empfand ich keine. Nur ein dumpfes Gefühl von Machtlosigkeit.

 

Nur der Gedanke, dass ich lieber auf Kiyoshi hätte hören sollen. Mit dem schlechten Gefühl ...

Flucht

Vincent schien an diesem Abend die Ruhe weg zu haben. Er genoss es regelrecht uns in der Mangel zu haben. Wahrscheinlich hatte er nur auf den Moment gewartet, in dem wir einen Fehler gemacht hätten.

Ich entschuldigte mich tausendfach bei Mom. Bei Dad. Und bei Kiyoshi, weil ich mich einfach nicht bewegen konnte und somit unsere Flucht hinauszögerte.

»Komm jetzt!«, schrie er mich panisch an, packte meine Arme und zerrte mich weg. Doch ich fiel nur zur Seite und wechselte die Blicke zwischen dem See und Vincent. Wenn Jiro gestorben ist ... dann wusste ich nicht mehr weiter. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Tatsache leben sollte. Dass ich Schuld war. Dass ich ihn dieser Gefahr ausgesetzt hatte!

»Sterbt endlich, ihr Verräter!«, ertönte es. Ich blickte mich um, sah die Waffe auf uns gerichtet.

Der Lauf zeige auf uns. Visierte uns an.

Da durchzog es meinen Körper wie spitze Messerstiche.

Ich sprang hoch, auf die Beine, packte Kiyoshi, zog ihn mit mir und rannte wie noch nie. Mein Bruder hatte Schwierigkeiten zu folgen, blieb aber an meiner Hand.

Das Gras und das Gebüsch gaben unseren Körpern nach. Ein anderer Körper schien uns hektisch zu folgen. Immer wieder fielen Schüsse.

Ich glaubte sogar, einmal getroffen worden zu sein. Doch ich spürte nichts. Einfach rein gar nichts. Meine Beine bewegten sich von alleine. Das Adrenalin in meinem Körper ließ mich flüchten. Vor Vincent. Vor dem Tod.

Ein Ast blieb an meinem Bein hängen, riss meine Jeans auf, Blut folgte. Ich roch es. Dann roch ich auch das restliche Blut an mir. Ein kurzer Blick runter zeigte mir, dass ich in der Tat angeschossen wurde. Durch den linken Oberschenkel.

Kiyoshi atmete nicht, rannte einfach nur. Hätte ich ihn nicht an der Hand gehabt, hätte ich nicht gewusst, ob er bei mir gewesen wäre.

 

Es dauerte Minuten bis wir ein hohes Maisfeld erreichten, in dem wir verschwinden konnten. Ich wollte es schon durchlaufen, einfach weiter fliehen, da zog mich Kiyoshi runter, sodass ich auf den Boden flog und hart mit dem Gesicht aufkam. Kiyoshi selbst legte sich ebenfalls nah an den Boden ran und lauschte.

Wir blieben still. Regten uns nicht.

Unsere Augen trafen sich. In meinen sammelten sich Tränen, Kiyoshis waren längst rot und knatschig.

 

Schritte.

Flügelschläge.

Weitere Schritte.

Es war, als würde er Brummen. Ein Warnschuss folgte.

Schlussendlich trat Stille ein.

Die Schritte entfernten sich.

 

Ich atmete aus. Zittrig und dem Erbrechen nahe. Mein ganzer Körper begann zu zittern, zu schmerzen und zu frieren. Es hatte angefangen leicht zu nieseln. Wir lagen inmitten von Matsch. Doch all das hatte ich ausgeblendet. Nur das Fliehen zählte.

Und wir waren entkommen. Ein weiteres Mal. Gerade so.

 

Doch Jiro...

Jiro!

 

Ich schluchzte auf. Kiyoshi kam auf mich zugekrochen, heulte ebenfalls und drang sich an meinen Körper ran. Einige Würmer tummelten sich um uns, Käfer und andere seltsame Dinge. Doch all das störte nicht. Alles wurde egal. Erst, als ich Kiyoshi in meinen Armen hielt, seinen bebenden Körper an mir spürte, sah ich seine Blessuren. Schnittwunden, blaue Flecken, Kratzer und Schürfwunden. Ein Streifschuss am Arm. So etwas würde erst verheilen, wenn wir trinken würden. Doch wie? Doch wo? Es war zu gefährlich Mom anzurufen. Vincent würde nur darauf warten, dass wir das taten. Doch ein zittriger Griff in meine Hose zeigte mir, dass mein Handy komplett zerstört worden war. Da ging nichts mehr.

Für eine Weile blieben wir noch erschöpft auf dem matschigen Boden liegen, bis wir uns umblickten und entschieden, zu gehen. Ein schmerzvolles Stöhnen entfuhr mir, als wir uns erhoben.

»Geht's?«, war das erste, was Kiyoshi durch seine schmalen Lippen bekam. Er stützte mich, hielt mich auf den Beinen, während ich mit ihm humpelnd das Feld verließ. Wir standen inmitten einer Landstraße, um uns herum war fast nichts. Wir erkannten noch die einzelnen Bäume um den See. Genau auf der anderen Seite würde die Straßenbahn fahren. Doch selbst die wäre zeitnah zu gefährlich gewesen. Wer weiß, wo er sich aufhielt. Wer weiß, wo der Vogel war, um uns zu beobachten. Vielleicht hatte er uns schon gesehen?

Mein Bein blutete wie Sau. Es tat richtig weh. Keine Ahnung, wie ich es geschafft hatte mit dieser Wunde noch einen halben Marathon zu laufen, doch jetzt konnte ich nicht einmal mehr zwei Schritte nebeneinander setzen. Meine Augen waren voller Tränen, ließen mich keinen Meter weit sehen. Kratzer und Schwellungen kamen auf einmal zum Vorschein.

»Wo... gehen wir hin?«, fragte ich müde und heiser. Kiyoshi zitterte selber, war triefendnass und zog die Nase hoch. Schließlich schüttelte er den Kopf und sah sich um.

»Ich weiß nicht ...«, flüsterte er. Am Ende der Straße waren ein paar Häuser. Ich spielte schon mit dem Gedanken, dort einfach zu klingeln, nach Hilfe zu fragen und erst einmal in Sicherheit zu sein. Doch Kiyoshi machte sich bereits auf, wieder zum See zu gehen. »Dort wird er uns wohl am wenigstens erwarten.«

Immer wieder blickte ich in den dunklen Himmel. Der Mond war von Wolken verschleiert; es nieselte immer noch. Doch man hörte keine Vögel. Nicht einen einzigen.

Am See angekommen, setzten wir uns an einen Baum. Die Feierlichkeiten waren erloschen, keine Menschenseele mehr sichtbar. Da fiel mein Blick auf den See. Ich konnte nicht anders, als erneut in Tränen auszubrechen. Kiyoshi schlang sofort seine Arme um mich und drückte meinen Kopf an seine nasse Brust. Jetzt wäre es zu spät gewesen. Selbst wenn ich jetzt getaucht wäre... selbst, wenn ich jetzt nach ihm gesucht hätte, hätte ich nur seinen Leichnam gefunden.

»Fuck, Kiyoshi, was ist nur passiert? Ich hätte sterben sollen! Nicht er!«, schluchzte ich verzweifelt in die nassen Klamotten meines Bruders, der verzweifelt versuchte mich mit Streicheleinheiten zu beruhigen.

»Sag doch so etwas nicht, Hiro!«

»Doch! Es ist meine Schuld! Ich habe ein Menschenleben auf dem Gewissen! Auch noch das von Jiro! Er ... er hatte noch so viel vor! Es ist nicht fair!« Ich hickste immer wieder auf, holte Luft, hustete, verschluckte mich, wimmerte weiter. »Er war so ein lieber Mensch... wieso er?!«

Kiyoshi schwieg einfach nur, regte mich immer wieder dazu an, leise zu sein, ehe Vincent uns hören würde. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Trauer zu schlucken. Nichts mehr zu sagen. Die Tränen im Regen laufen zu lassen und den Blick auf dem See lassen.

 

Die Zeit verging wie Gummi. Kiyoshi und ich lagen zusammen im Arm und seufzten jeweils im Minutentakt. Unsere Körper schmerzten. Die Wunden bluteten. Und nirgendwo eine Gelegenheit Nahrung zu sich zu nehmen, sodass die Wunden heilen könnten.

Irgendwann tastete ich müde mein Bein ab. Ich spürte es unterhalb der Wunde nicht mehr. »Meinst du ... sie müssen es abnehmen?«, murmelte ich wie auf Droge. Mein eigener Körper setzte mich wahrscheinlich in eine Art Dämmerschlaf, um die Schmerzen so gering wie möglich zu halten.

»Sicher nicht ... Das ist eine Schusswunde. So wie ich das sehe auch noch ein Durchschuss. Es muss einfach nur heilen«, säuselte Kiyoshi in mein Ohr und strich über mein Bein. »Das wird schon wieder.«

Doch nichts würde wieder so werden, wie vorher. Ich hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen. Das meines besten Freundes.

Kiyoshi lehnte weiterhin schwächlich neben mir am Baum. Die Tropfen des Regens träufelten auf uns herab und hinterließen eine unangenehme kühle Nässe. Wie spät es wohl geworden war? Ob wir schon nach Mitternacht hatten?

Das Wasser plätscherte leise vor sich hin. Einige Geräusche, weit entfernt, ließen auf die Nähe einer Stadt schließen. Ja, die Innenstadt. Ob wir langsam die Straßenbahn nach Hause nehmen könnten? Ich hatte kein Handy, nichts, ich konnte niemandem Bescheid geben. Und was würde Mom zu der Wunde sagen? Sie würde austicken... würde Antworten verlangen ...

»Wann können wir gehen?«, fragte ich müde und nickte hier und da weg. Obwohl ich mich noch lange nicht wohl fühlte und die Angst tief in mir drin saß, wollte ich einfach schlafen. Ins Bett. Mich ausruhen. Die Wunden heilen lassen.

»Ich weiß nicht ... vielleicht in ein paar Minuten.« Kiyoshis Stimme klang gedämpft, als ringe er selber mit dem Schlaf. Die Aufregung, die Anspannung – beides auf einmal weg – und herein platzte die Müdigkeit. Außerdem wollte ich von diesem See weg. Ich wollte auch nicht daran denken, was in der Zeitung stehen würde. Was sie berichten würden ... was sie über die Leiche schreiben würden.

»Bitte, lass uns gehen«, bettelte ich traurig und erhob mich, so gut es ging.

»Und wohin?«, fragte Kiyoshi mit einem verzweifelten Unterton. »Zu Mutter können wir nicht! Dort wartet er doch nur auf uns!«

Gerade so hatte ich mich auf die Beine gestemmt, da kippte ich wieder weg, als Kiyoshi den Einwand brachte. Ja, sicher ... wir konnten nicht zurück. Jedenfalls jetzt noch nicht ...

»Shit!«, war alles, was ich rausbekam. »Wir haben nichts! Nicht mal ein funktionierendes Handy!« Ich kam aus dem Fluchen gar nicht mehr raus. Mein Bruder saß nur traurig neben mir und strich sich abermals über die Streifschusswunde.

»Wie viel Geld hast du mit? Ich glaube, ich habe so um die 6500 Yen ...«

»Geld?«, raunte ich, wie aus den Gedanken gezogen. Vorsichtig ging ich in die Schräglage, um an mein Portemonnaie zu kommen. »Auch... so ... nein, eher nur 5400 Yen. Wieso?«

»Vielleicht können wir in die Stadt fahren und uns dort ein Hotelzimmer nehmen... Oder eine Pension. Nur, damit wir nicht im Wald übernachten müssen!«

Ich schluckte. Waren wir jetzt also auf der Flucht? Verdammte Scheiße!

»Wir können es versuchen. Fraglich ob sie zwei verwundete Jungs nehmen ...«

»Wieso sollten sie nicht?«

»Na«, und damit gestikulierte ich wie wild in der Luft rum, »die werden sicherlich nicht einfach die Schultern zucken, wenn wir blutend dahin kommen! Sie werden einen Krankenwagen rufen oder derartiges!«

Helle Augen sanken zu Boden. »Das wäre nicht gut«, stellte er fest und knibbelte bereits eine Kruste von seinem Bein.

Es sah einfach aussichtslos aus. Wir konnten nirgendwohin, so wie wir aussahen. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, bei den Häusern zu klingeln und sie einfach in den Keller zu sperren, sodass wir für eine Nacht ruhig wohnen könnten. Ohne Aufsehen zu erregen. Doch je mehr ich mich in diesen Gedanken verhaderte, desto absurder wurden die Ideen. Umbringen könnte ich sie, im Garten vergraben, oder gleich trinken. Kiyoshi hingegen schien wie immer die Ruhe selbst zu sein; behielt die Fassung, suchte wahrscheinlich nach wirklichen Lösungen und nach keinen Halbideen.

 

Es knackte im Unterholz.

 

Sofort fuhren wir um, machten uns zum Kampf bereit. In nur einem Bruchteil einer Sekunde waren wir wieder auf 180. Die Knochen und Muskeln bereit wieder loszulegen.

Vincent wartete und er war hier, um uns zu töten. Ich würde bis an meine Grenzen kämpfen! Niemals würde ich mich geschlagen geben!

Doch es war nicht Vincent, der aus dem Gebüsch trat. Es war ein anderer schwarzhaariger Mann, der langsam aus einem Gebüsch kam.

»Wusste ich doch, dass ihr hier noch seid«, murmelte Alexander und kam auf uns zu. Seine Klamotten waren triefnass. Stand er also schon länger im Regen?

»Alexander? Was... machst du noch hier?«, murmelte Kiyoshi und sackte sofort in sich zusammen, als er erkannte, dass es nicht Vincent war.

»... spielt das eine Rolle?«, fragte er schnippig und sah zur Seite, als wäre es ihm peinlich noch immer am See zu sein. »Kommt mit. Das Auto steht dahinten.«

»Auto? ... Was für ein Auto?«, hakte ich nach und hinkte mit meinem Bein ein paar Schritte hinter ihm her.

»Na, mein Auto. Wir fahren zu mir. Ihr werdet nicht nach Hause können. Vorerst jedenfalls nicht. Macht schon, ehe ich es mir anders überlege.«

»Was?«, war alles, was ich heiser aus meinen Lippen bekam. Alexander half uns? Wirklich? Ich dachte immer, er hasste uns ... und besonders Kiyoshi. Aber selbst den schien er mitnehmen zu wollen. Tatsächlich kam Alexander dann auf mich zu und stützte mich auf einer Seite, schnauzte dann Kiyoshi zusammen, er solle sich zusammenreißen und noch rund 100 Meter gehen. Alexander half uns ... als wäre es ihm selbst zuwider. Aber er half. Und dessen war ich so dankbar, dass ich fast in Ohnmacht gefallen wäre, endlich in Sicherheit zu sein.

Ächzend und stöhnend erreichten wir einen teuren BMW. Er war zwar klein und ganz sicher kein Mittelklassewagen, trotzdem groß genug, um uns zu transportieren. Ganz zu schweigen vom Kleinwagen meiner Mutter.

»Kiyoshi steigt bei mir vorne ein. Hiro, pass auf, wenn du dich hinsetzt. Heb ihn vielleicht ein kleines Stück an.«

»Anheben? Wen?«, fragte ich verwirrt und konnte mich kaum auf den Beinen halten, stützte mich am Auto fest. Und als Alexander die Tür öffnete, dachte ich, ich falle erneut um.

»J-Jiro ...«, flüsterte ich, hob eine Hand und legte sie zittrig auf seine nasse Stirn. Er lag bewusstlos, wie tot, auf der Rückbank und blutete an der Stirn. Wahrscheinlich vom Aufprall auf dem Stein. Wie apathisch strich ich über sein Gesicht, welches so weit weg schien. Er atmete. Flach, aber es war eine Atmung.

»Er hat viel Wasser geschluckt. Aber er war vorhin kurz wach und konnte mich schon anpöbeln. Es geht ihm also gut«, erwiderte Alexander und ging auf die Fahrerseite. Kiyoshi half mir noch, mich in meiner Trance ins Auto zu setzen, platzierte Jiros Kopf auf meinen Schoß und schnallte mich an, als wäre ich ein kleines Kind. Auf einmal schien die Eifersucht vergessen und nur die Tatsache zählte, dass Jiro nicht tot war.

Er lebte. Er war nicht tot. Ich war kein Mörder.

Mit schnellen Schritten setzte sich Kiyoshi neben Alexander, der den Motor startete und den See mit etwas erhöhter Geschwindigkeit verließ. Während der Fahrt strich ich immer wieder über Jiros Körper. Er war kalt und nass. Seine Lippen blau und die Augen dunkel unterlaufen. Hätte Alexander nichts Gegenteiliges behauptet, hätte ich angenommen, er wäre doch gestorben. Wie ein Leiche lag er in meinen Armen. Kiyoshis Stimme nahm ich nur am Rande wahr; viel zu sehr beschäftigte mich der schwache Jiro und der Gedanke, kein Mörder gewesen zu sein.

»Hast du ihn gerettet?«, fragte mein Bruder knapp ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Alexander fuhr durch ein kleines Dorf, weiter vom Stadtkern entfernt.

»Kann man so sagen«, knirschte er durch seine Zähne, als sei es ihm im Nachhinein nicht Recht gewesen, genau das getan zu haben.

»Bist du ihm also in den See nachgesprungen?«

»Wieso fragst du? Wie hätte ich es sonst tun sollen?« Alexanders Unterton ließ auf Ablehnung schließen.

»Ich weiß nicht... ich dachte, du hasst ihn.«

»Nur, weil ich sein mickriges Leben gerettet habe, heißt es nicht, dass ich ihn auf einmal mag.«

Kiyoshi formte seine Lippen zu einem leichten Lächeln. »Ach so. Meine nächste Frage wäre nämlich gewesen, wieso du uns rettest.«

»Ich bin dazu verpflichtet, schon vergessen?«

Da verstummte der Weißhaarige für einen Moment. Dachte darüber nach, dass jeder Vampir dazu verpflichtet war einen Reiblütler über sein eigenes Leben zu stellen, und schluckte letztendlich einen Kloß runter. »Niemand hätte dir nachweisen können, dass du es nicht getan hättest.«

»Mit Jiro habe ich mir das aber eingehandelt.« Alexander knirschte erneut mit den Zähnen. »Ich lasse euch bei mir übernachten. Morgen seid ihr nicht mehr mein Problem, klar?«

»Klar«, murmelte Kiyoshi und nickte, den Blick weiterhin auf der Straße. Es war, als hätte Alexander ohne nachzudenken Jiro gerettet. Trotzdem er ihn wahrscheinlich abgrundtief verabscheute, so war er kein Unmensch. Kein Arschloch, was sich einen feuchten Kehricht um das Leben anderer scherte. So war es sicherlich auch der Grund, wieso er seine zwei Erzfeinde rettete. Oder ihnen zumindest zu einer gelungenen Flucht verhalf. Bei Alexander würde uns sicherlich niemand erwarten, dachte ich und strich weiter über die schwarzen Haare von Jiro.

 

Als wir ankamen, war das Anwesen bereits hell erleuchtet. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir wahrscheinlich zum ersten Mal mit Alexanders Familie in Kontakt treten würden. Doch der stieg gelassen aus seinem Auto, ging nach hinten, öffnete die Tür und zog Jiro an der Hüfte aus seinem Auto. Der brummte nur kurz auf, ließ sich aber ohne jegliche Umstände über die Schulter werfen. Alexander schien stärker und kräftiger zu sein, als ich ihn immer in Erinnerung hatte. Kiyoshi kam ebenfalls nach hinten und verhalf mir auf die Beine. Sicherlich konnte er mich nicht so einfach über die Schulter werfen. Wohl eher umgekehrt.

Alexander ging zum Tor, schloss es auf und deutete uns an, dass wir folgen sollten. »Wir gehen in das Separée.«

Welches Separée, dachte ich und humpelte mit Kiyoshis Hilfe hinter ihm her. Wir gingen einen schmalen Gartenweg entlang, der liebevoll bepflanzt war. Aufgrund der Dunkelheit erkannte ich nicht viel, trotzdem schien er gepflegt gewesen zu sein. Etwas anderes hatte ich in Alexanders Zweitanwesen auch nicht erwartet. In der Tat näherten wir uns einem zweiten Teil des Hauses. Wie ein Apartment stand es alleinig im Garten und zeugte von wesentlich geringerer Größe als die große Villa im Vordergrund.

»Das ist unser Gästehaus. Zurzeit schlafe ich hier, um meine Ruhe zu haben ... Aber für eine Nacht halte ich es auch mit euch aus.« Wieder einmal klang Alexander eher genervt, als hilfsbereit. Trotzdem unternahm er alles, dass wir in Sicherheit waren.

Als er die Tür zum kleineren Apartment öffnete, strömte ein wirklich angenehmer Duft heraus. Eine Mischung zwischen Vanille und Moschus. Süßlich-herb, fast wie ein gutes Parfüm. Erst jetzt bemerkte ich, wie gepflegt Alexander nicht nur mit sich, sondern auch mit seinen Sachen umging. Das Zimmer war gemütlich eingerichtet. Mit Schafsfell auf dem Boden, einem kleinen Karmin, ein großes Bett mit einer Sitzecke. Davor ein riesiger Flatscreen Fernseher. In einer Nische versteckte sich sogar eine Mini-Küche.

»Das Bad ist hier«, sagte Alexander und knippste das Licht zu einem geräumigen, modernen Bad ein. Es befand sich direkt neben dem Eingang und verlief schlauchartig neben der Kochnische. »Vielleicht wollt ihr erst einmal eure Wunden reinigen. Ich kümmere mich derweil um Ersatzkleidung und ... Nahrung.«

Mit diesen Worten legte er Jiro auf das Sofa ab, platzierte ein Kissen unter seinem Kopf. In diesem Moment schlug der Verletzte kurz seine Augen auf und erkannte Alexander sofort. »Schnösel?«, fragte er sichtlich erschöpft.

»Schnauze, Punk. Schlaf weiter«, befahl Alexander schon fast liebevoll; auch wenn seine Worte absolut nicht lieblich klangen. Mit einem Ruck zog er Jiro die nasse Lederjacke aus. Dann die Boots, an denen er lange schnüren musste. Ich konnte meine Augen fast nicht von Jiro abwenden, bis mich Kiyoshi ins Bad führte und mich auf dem Klodeckel platzierte. Etwas überfordert suchte er einen Waschlappen und machte ihn mit warmen Wasser feucht.

»Zieh dich aus, Hiro... ich wasche deine Wunden«, sagte Kiyoshi mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »Oder soll ich dir beim Ausziehen helfen?«

»Geht schon«, murmelte ich, als ich anfing mich aus meiner Jacke zu quetschen. Alles an mir war zerstört, dreckig oder einfach nur nass.

Nur in Unterhose bekleidet saß ich auf dem Klodeckel und betrachtete Kiyoshi, der mich liebevoll abwusch. Konzentriert ging er über meine zerschlissene Haut.

»Wenn ich .. nicht so schwach wäre ... und nicht so etwas furchtbares passiert wäre ... würde ich glaube ich gerne mit dir schlafen«, seufzte ich belustigt und sah Kiyoshi weiterhin mit dem Waschlappen hantieren. Das ließ ihn lächeln.

»Schon okay ... ich meinte es vorhin nicht als Vorwurf... Wir haben genug Sex.«

»Okay ...«, murmelte ich erneut, bekam kaum noch ein anständiges Wort raus. Kiyoshi zog sich unterdessen ebenfalls aus und wusch seine Wunden mit ab. Ich half ihm beim Rücken und an Stellen, an die er nicht rankam.

»Deine wunderschöne Haut«, bemängelte ich die vielen Kratzer und Wunden an seiner Porzellanhaut.

»Das geht weg. Wirst sehen ... da bleibt nichts von übrig.«

Ich nahm das einfach mal so hin, nicht weiter fragend, woher er das so gut wusste. Vorsichtig beugte ich mich vor, den Halt an Kiyoshis Schultern suchend, um nicht vom Klo zu kippen, und küsste seinen Nacken. Eine leichte Gänsehaut ging von dieser Stelle aus, sodass ich seine Haut erneut küsste. Und dann wieder. Immer wieder. Es fühlte sich gut an und es beruhigte mich. Es ließ mich für einen Moment vergessen, dass ich den weißen Marmorboden mit Blut befleckte, da mein Bein noch immer blutete.

»Was macht ihr da?«, fragte Alexander perplex und sah uns Liebkosungen austauschen. Kiyoshi reagierte schneller als ich und entzog sich meinem Griff.

»Nichts ... nur geschaut, wo unsere Wunden sind«, erklärte er hektisch und half mir wieder auf die Beine. »Entschuldige den Dreck, den wir hier machen. Morgen putzen wir.«

»Quatsch. Das macht die Putzfrau. Legt die dreckigen Sachen einfach in die Badewanne. Ich hab hier einige Sachen für euch, die könnt ihr anziehen. Für dich, Kiyoshi, sind sie wohl ein wenig groß.«

»Das macht absolut nichts ...« Mit einem sanften Lächeln schien auch mein Bruder froh über Alexanders Hilfe zu sein. Sowieso schien es zwischen uns keinerlei Streit mehr zu geben.

Wie war das noch einmal mit den gemeinsamen Feinden?

Als wir in den Wohnbereich zurückkehrten, lag Jiro noch immer halb ausgezogen auf dem Sofa und schien zu schlafen. Um ihn herum befanden sich einige Handtücher, eins davon um seine Stirn gewickelt.

»Geht es ihm besser?« Meine Stimme klang wie nicht von dieser Welt, so verzerrt und heiser wie sie war. Hin und wieder musste ich husten. War ich etwa erkältet? Oder war das einfach noch von der Anspannung? Hatte ich ein paar Käfer geschluckt?

»Er fällt immer wieder in seinen Schlaf zurück. Ich bin kein Arzt, also ... schätze ich mal ist er einfach unterkühlt und schwach. Die Wunde an seinem Kopf ist jedenfalls nicht tief und muss nicht genäht werden.«

Ein erleichtertes Seufzen entfuhr mir. Kiyoshi setzte mich auf dem zweiten, kleineren Sofa neben Jiro ab und reichte mir einige Klamotten, die Alexander uns bereitgestellt hatte. Ein warmer Pullover und eine Jogginghose für jeweils jeden. Wahrscheinlich alles unglaublich teures Zeug. Jedenfalls saß es wie angegossen und fühlte sich absolut weich und flauschig an. Erst jetzt bemerkte ich, dass Alexander selbst noch in seinen nassen Klamotten steckte und sogar noch die dreckigen Schuhe trug. Doch ehe ich etwas sagen konnte, nahm er Jiro wieder in die Arme, packte ihn auf die Schulter und trug ihn ins Bad.

»Kommst du klar? Soll ich dir helfen?«, fragte Kiyoshi höflich und sah dabei verstohlen zu mir, da ich keinerlei Hilfe mehr benötigte; angezogen und gewaschen war.

»Nein, danke«, kam es schroff aus dem Badezimmer. Alexanders Stimmung erreichte den Nullpunkt, jedenfalls machte es diesen Anschein.

Während ich Schrubben und Wasser plätschern aus dem Bad hörte, sah ich mich um. Kleinigkeiten hingen an der Wand. Doch so gemütlich wie das Zimmer eingerichtet war, so war es auch ... austauschbar. In diesem Anwesen schien Alexanders Familie wirklich nur ein paar Mal im Jahr zu wohnen, sonst wäre dieses Zimmer persönlicher. Keine Bücher, keine CDs. Nicht einmal Schmuck lag irgendwo rum. Keine DVDs oder andere etwaige Dinge, die man sich so aufstellen würde. Selbst das Bild, was über dem Bett hing, sah wie von einem Architekten ausgesucht aus. Entweder hatte Alexander den Geschmack eines Puristen oder ... lebte eben einfach nicht oft hier.

Kiyoshi zog sich ebenfalls an und wie erwartet waren die Kleidungsstücke viel zu groß. Obwohl er meine Körpergröße vorwies, so war er doch beträchtlich schmaler gebaut. Der Pullover schlackerte, die Jogginghose wurde nur von seinen zwei Hüftknochen getragen. Ansonsten rutschte sie ebenfalls. Doch mein Bruder schien sich nicht darum zu kümmern. Stattdessen kuschelte er sich neben mich auf das Sofa.

»Was sollen wir eigentlich mit deinem Bein machen?«, fragte er sofort angeheizt, als er einige Blutflecken noch am Boden sah.

»Ich ... wir sollten einfach mal etwas trinken... dann würde das schon gehen, oder?«, fragte ich unsicher und schob die Jogginghose ein Stück runter, sodass man meinen linken Oberschenkel sehen konnte. Es blutete nicht mehr so stark, trotzdem war die Wunde groß und rot. Man konnte rohes Fleisch erkennen.

»Alexander?«, rief Kiyoshi sofort den Namen unseres Gastgebers. »Hast du Tabletten hier?«

»Nein«, kam es sofort zurück. »Im Kühlschrank sind Packungen. Nehmt die.«

Packungen? Ich wusste nicht genau, was ich mir darunter vorstellen konnte, doch Kiyoshi hob nur eine Augenbraue, stand auf und ging an die kleine Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm seufzend zwei solcher Pakete in die Hand. Als er wiederkam und mir eine Packung reichte, erschrak ich etwas.

»Das sind doch ... Bluttransfusionen... wie man sie im Krankenhaus bekommt!«

»Ja ... will nicht wissen, woher Alexander die hat, aber ... ist im Moment das Beste, was man uns geben kann.« Mit diesen Worten kappte er den kleinen Schlauch und begann zu saugen. Die rote Flüssigkeit bahnte sich ihren Weg durch den Schlauch wie durch einen Strohhalm und endete in Kiyoshis Mund. Ich tat es ihm gleich, wenn auch ziemlich ungeschickt, und saugte so gut es ging, sodass ich den Lebenssaft in meinem Mund spürte. Es tat gut, endlich etwas zu trinken; so gut, dass ich für einen Moment die Augen schloss, während ich einen halben Liter Blut austrank, als wäre es nur ein kleiner Schluck gewesen. Durstig betrachtete ich die leere Plastikhülle in meiner Hand. Sofort spürte ich eine entspannende Welle meinen Körper durchstreifen. Mir war, als wären bereits einige kleine Wunden komplett verheilt. Selbst die große Schusswunde schien kleiner zu werden. Was ein Wunderzeug.

Auch Kiyoshi trank hastig aus, nahm die leeren Blutpackungen und legte sie feinsäuberlich auf die Theke der Küche.

In dem Moment kam auch Alexander mit Jiro wieder aus dem Bad. Halbwegs trocken, gewaschen und in frischen Klamotten. Auf einmal wirkte Jiro ganz anders ... in so braven Pullis und Jogginghosen. Und nach der Reinigung schien wieder mehr Leben in sein Gesicht gekommen zu sein. Er brummte sogar erneut auf, als Alexander ihn in sein Bett legte.

In sein Bett?

»Ich schiebe euch das Sofa aus. Dann könnt ihr darauf schlafen. Leider habe ich nur dünne Decken hier... aber ihr beiden ... geht ja eh auf Tuchfühlung und wärmt euch, so wie ich das vorhin verstanden habe.« Alexander rümpfte die Nase und begann an dem Sofa zu ziehen, auf welchem Jiro vorher noch gelegen hatte.

»Das«, begann Kiyoshi, verstummte aber sofort. Eine leichte Röte trieb sich auf seine Wangen. »Danke, Alexander. Das ist mehr, als wir erwartet haben ... «

»Denke ich mir«, kam nur knapp über seine Lippen, während er auf das ausgezogene Sofa Kissen und zwei dünne Decken warf, die vorher brav zusammen gefaltet waren.

»Sag mal ...«, murmelte ich müde. »Kann ich kurz telefonieren? Oder eine SMS schreiben? ... Damit unsere Mom nicht ausrastet?«

Ohne überhaupt eine Antwort zu bekommen, zog Alexander sein Handy aus der Hosentasche und warf es mir zu. Ich kam direkt zum Ziffernblatt, sodass ich auch die Uhrzeit lesen konnte. Mitternacht. Nein, dachte ich, da schreibe ich lieber eine SMS. Also formulierte ich lieb und brav, dass wir bei einem Freund übernachten würden und mein Handy ins Wasser gefallen sei, sie deswegen mich nur über diese Nummer erreichen könnte, die genau diesem Freund gehörte. In der Hoffnung, sie würde mir diese kleine Lüge abkaufen, reichte ich es Alexander zurück. Der seufzte und streifte sich seine nassen Klamotten ab.

»Ich geh noch schnell ins Bad ... «, murmelte er und verschwand für einen Moment. Auch er schien erschöpft; von Vincent, Jiro und uns.

Kiyoshi kroch langsam und vorsichtig auf das Schlafsofa und half mir mit meinem Bein. Schnell zog ich die Jogginghose wieder hoch. Die Wunde schloss sich tatsächlich. Zumindest soweit, dass ich keine Angst haben musste, alles voll zu bluten. Und mein Bein schien ich auch behalten zu dürfen. So langsam kam wieder Gefühl in die Zehen.

Mit einem leichten Seufzen ließ ich mich in die Kissen fallen und streckte eine Hand nach meinem Bruder aus. Der lehnte sich kurz über mich und küsste meine Lippen. Das erhaschte mir ein Lächeln.

»Meinst du, Alexander hat's gerafft?«, flüsterte ich ihm kaum hörbar zu.

»Glaube schon«, murmelte Kiyoshi zurück und streichelte meine Wangen. »Immerhin hat er auch unser Gespräch über Sex mitbekommen. Die Tür war offen.«

Ein leises Kichern entfuhr uns beiden. Mir schwebte zwar kurz im Kopf herum, dass Alexander besser dicht hält, aber was hätte er schon davon, uns zu verpfeifen? Vor allen Dingen an wen? An wen, der es sich nicht eh schon dachte?

Es dauert auch nicht lange, da kam er aus dem Bad zurück. Er selber trug nur ein T-Shirt und seine Unterwäsche. Nun konnte ich wirklich annehmen, dass er trainierte. Solche Muskeln bekam man nicht vom Nichtstun.

Jiro lag wie tot in seinem Bett, dicht an der Wand liegend und schlief bereits. Oder immer noch. Alexander tat sich keinen Abriss und legte sich einfach dazu.

»Schlafen wir aus... oder?«, fragte er rhetorisch und knippste das Licht aus. »Und wehe, ich höre unangebrachte Geräusche! Ihr fliegt hochkant raus!« Sein böses Zischen ließ mich zusammenzucken. Okay, er wusste es. Das war nun klar.

»Wir benehmen uns«, kam von meinem Liebhaber, der sich an mich kuschelte, bedacht, sich nicht auf meine Wunden zu legen. »Danke, Alexander.«

»Ja, danke dir. Auch danke... im Namen von Jiro.«

Mehr als ein genervtes Seufzen bekamen wir nicht. Die Decke aus dem Bett raschelte kurz, verstummte dann.

Stille trat ein. Ich horchte noch einmal auf, kurz bevor ich wegnickte. Der Schwäche meines Körpers nachgab.

 

Die Angst blieb. Wir waren gerade so mit Schrammen davon gekommen. Und nun saßen nicht nur Kiyoshi und ich im Boot. Nein, da saßen noch ein weiterer Vampir und ein Mensch mit drin, die so absolut nichts damit zu tun hatten.

Aber Vincent schrieb seine eigenen Regeln.

Und das wurde mir nach dieser Nacht erst so richtig bewusst.

Kein Entrinnen

Vogelzwitschern

Flügelschläge.

»Nein!«, hauchte ich sofort und saß senkrecht im Bett. Ein Blick aus dem zugezogenen Fenster zeigte mir, dass es helllichter Tag war. Mein Atem war abgehackt, meine Hände zitterten und meine Augen suchten nach einer schwarzen Gestalt. Paranoid drehte ich mich auf dem Sofa in jede Richtung.

Doch es war nichts. Weder Flügelschläge noch Vögel im generellen. Hier und da raschelten die Bäume im Wind, doch nichts dergleichen wies auf die Anwesenheit eines Hunters hin. Kein Jäger. Die Gejagten waren alleine.

Als ich mich umblickte, schliefen noch alle. Kiyoshi neben mir eingerollt, seine Haare ganz wüst und verfilzt auf seinen Schultern. Einige Wunden waren noch deutlich zu sehen, schienen jedoch abzuheilen. Alexander lag auf dem Rücken und hatte den Kopf von uns zu Jiro weggedreht. Auch er schien noch tief und fest zu schlafen. Und Jiro? Der schnarchte sogar ganz leise. Er lebte.

Gott, er lebte. Noch immer lag es mir im Mark, dass ich ein Mörder hätte gewesen sein können. Der Mörder meines besten Freundes.

Leise schlich ich mich aus dem Bett, suchte meine Sachen zusammen. Mein Bein stach ein wenig, als würde die Wunde noch nicht komplett geheilt sein. Als ich die Jogginghose ein Stück runter zog, sah ich, dass sie aufgeplatzt war. Eine leichte Kruste verhinderte ein ausbluten, trotzdem schien mir ein unnötiges Bewegen nicht vorteilhaft. Trotzdem ... ich brauchte etwas zur Beruhigung. Die Geräusche um mich herum machten mich verrückt. Seit zwei Tagen nun konnte ich kaum ein Auge zu machen. Jetzt war ich auch noch verletzt. Nichts, absolut nichts ließ mich zur Ruhe kommen.

Ich humpelte ins Bad, sah in den Spiegel. Kratzer, blaue Flecken und einige andere Schwellungen zierten Gesicht und Hals. So konnte ich unmöglich unter die Augen von Mom treten. Ich überlegte, ob ich noch eine Blutkonserve trinken sollte, doch stand mir der Magen bereits gedreht im Körper. Mir war schlecht – von was? Von wahrscheinlich allem.

»Was machst du?«, fragte eine heisere Stimme hinter mir. Eisblaue Augen starrten mich an.

»Konnte nicht mehr schlafen ... wollte ... ein bisschen rausgehen, oder so«, murmelte ich und deutete auf die Welt außerhalb des Fensters. Alexander hob nur eine Augenbraue.

»Bei helllichtem Tag? Die Sonne scheint ... das würde ich dir nicht raten. Es sei denn, du hast jetzt schon keine Lust mehr zu leben, dann nur zu.« Da schmunzelte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab sicher noch irgendwo zwei Leichensäcke rumliegen.«

»Wieso zwei?«, fragte ich perplex, schaltete dann aber sofort, als Alexander ins Wohnzimmer auf meinen schlafenden Bruder sah. Natürlich...

»Alexander?«, seufzte ich höflich seinen Namen und sah ihm eindringlich in die Augen. Als er mich abwarten ansah, räusperte ich mich und sah verstohlen auf den Boden. »Du hast nicht zufällig ... Zigaretten hier? Oder Alkohol? Oder irgendetwas ... was mich kurz entspannen lässt?« Mit einem verzweifelten Lächeln versuchte ich Alexander von meiner miserablen Lage zu überzeugen. Die zitternden Hände und die Augenringe bis zum Mundwinkel sagten im Grunde schon genug.

»Kippen«, gab er knapp wieder und deutete mir mit einer Kopfbewegung an, dass ich ihm folgen sollte. Ohne weiter zu fragen, humpelte ich ihm hinterher. Sein Weg führte hinter die Kochnische in eine Art Abstellkammer. Dort kramte er eine Schachtel Zigaretten raus, dessen Marke ich absolut nicht kannte. Wahrscheinlich irgendein besonderer Tabak, den man nur durch Connections bekam.

»Gehen wir ins Dachgeschoss«, flüsterte er und stolzierte an mir vorbei.

Dachgeschoss?, fuhr es mir in den Kopf, als ich mich umblickte und weder eine Treppe noch einen anderen Weg nach oben zu kommen sah.

Doch ehe ich mich weiter wundern konnte, zog Alexander mit einer Hand eine Holztreppe kurz vor der Haustür runter. Interessant, dachte ich. Ein gutes Versteck. In der Tat kamen mir schon einzelne vertraute Gerüche entgegen. Kalter Rauch und eine leichte Note von Alkohol. Alexander trieb es hier wohl auf seine Weise exzessiv mit den schönen Dingen des Lebens: heimlich und unentdeckt.

Es dauerte einen Moment, bis ich die Kraft fand, die komplette Treppe hochzuklettern, schaffte es aber letztendlich mit einiger Überwindung auf den hölzernen Dielenboden.

»Sei leise. Der Holzboden knackt«, gab mir Alexander zu verstehen und hockte sich an ein Schrägfenster, welches er mit einer schnellen Handbewegung öffnete, um sich nicht zu verbrennen. Auf dem Dachboden standen nur alte Möbel und ein kleiner Schrank. Wahrscheinlich deponierte er hier auch seinen Alkohol.

Als ich mich neben Alexander an die Wand anlehnte, mit zittrigen Händen nach der Kippe griff, die er mir reichte, streckte ich beide Beine aus und rieb neben meiner Wunde. Es juckte und tat einfach nur weh. Meine Haut war bleich, verwundet und furchtbar sensibel.

»Du bist ein ganz schönes Häufchen Elend«, bemerkte mein Nachbar und reichte mir Feuer, nachdem er sich ebenfalls eine Zigarette angezündet hatte. »Sind es die Wunden oder deine Verwandlung?«

»Keine Ahnung«, seufzte ich, als ich den ersten Zug des Sargnagels tätigte. »Wahrscheinlich beides.«

Unsere Stimmen hörten sich in meinen Ohren so weit weg an, als wären sie aufgenommen worden und schlussendlich auf einem alten Kassettenrekorder abgespielt worden.

»Ich hab noch nie einen Noneternal von nahem gesehen ... geschweige denn seine Verwandlung miterlebt.« Alexanders Blick blieb interessiert auf mir haften. Ich musste nur wehleidig grinsen.

»Und? Bin ich ein gutes Wissenschaftsobjekt?«

»Das werden wir sehen, wenn du erst mal verwandelt bist«, gab er schmunzelnd zurück und drehte seinen Kopf wieder weg. Wir starrten beide auf die gegenüberliegende Wand, welche schräg nach oben verlief und mit einer Holztäfelung verkleidet war.

»Schön ist es hier ... Gehst du öfter hier hoch?«, fragte ich unverblühmt, um mein Zittern zu ignorieren. Auch die Zigarette schien nicht wirklich zu helfen.

»Kann man so sagen.«

»Eltern sehen wohl nicht so gerne, dass du rauchst?«

Da lachte Alexander leise auf. Doch anstatt mir zu antworten, kicherte er einfach weiter, schüttelte verzweifelt den Kopf und kratzte sich im Nacken.

»Meine Eltern sehen mich im generellen nicht gerne.«

Das kam unerwartet.

»Gar nicht? ... Bist du alleine hier?«

»Ja. Das Haus hier gehört meiner Tante. Sie ist ein Mensch.«

Das ließ mich aufhorchen. Ein Mensch? Tante? Also irgendeine Schwester der Eltern war ein Menschen? Doch jetzt erinnerte ich mich, dass Kiyoshi da mal was erwähnte. Dass Alexander zwar reich, doch sein Status innerhalb des Vampirclans nicht sehr hoch war. Geld alleine brachte ihm wohl nicht viel, wenn es letztendlich auf den Stand ankäme. Wahrscheinlich war er wie ich: verwandelt.

»Deine Eltern sind aber Vampire?«, hakte ich nach, den Moment ausnutzend, dass Alexander mal etwas über sich erzählte, ohne gleich arrogant zu werden.

»Ja, schon.«

»Leben die im Norden?«

»Wo sonst?«, gab er schnippig zurück und zog stark an der Zigarette. Als er abaschen wollte, schob er einen kleinen Aschenbecher in die Mitte von uns zwei. Tatsächlich war der mit einigen Zigarettenstummeln gefüllt. »Meine Tante lässt mich hier manchmal herkommen, wenn es ein bisschen Stress da oben gibt. Und den gibt es ja zurzeit.«

»Wegen Vincent, hm?«

»Ja. Und jetzt haben wir ihn hier. Direkt auf unseren Fersen. Toll gemacht, ihr zwei.«

Ich lachte leise. »Ich weiß ... es gab tausend andere Wege, ihm zu entkommen. Und wir wählten den Dümmsten.«

»Allerdings!«, zischte er mir zu. »Jetzt seid vor allen Dingen nicht nur ihr in der Sache drin, sondern auch Jiro und ich! Weiß immer noch nicht, was mich geritten hat, euch zu helfen!« Seine Stimme wurde immer lauter. Tatsächlich kaufte ich ihm ab, dass er das aus reinem Affekt getan hatte, anstatt darüber nachzudenken.

»Danke noch mal«, murmelte ich versöhnend. »Dass du Jiro aus dem Wasser gezogen hast. Ich dachte wirklich, er wäre tot.«

Das Thema wollte er wohl noch weniger hören und rauchte einfach still weiter. Nur seine Mundwinkel zeigten mir, dass ihm genau diese Tatsache missfiel.

»Soll ich Jiro nichts sagen?«, bot ich lächelnd an. »Dass du sein Retter bist?«

Alexanders Kopf senkte sich. »Ja. Wäre mir lieb.«

»Klar. Ich sag's Kiyoshi, dass er auch schweigen soll.«

»Gut.«

Da trat wieder Stille zwischen uns ein. Mein Bein schmerzte nur noch ein bisschen, das Zittern verringerte sich auf ein Minimum. Gott sei Dank, dachte ich. Wenigstens das ließ mich in Ruhe. Die Geräusche blieben jedoch. Das Pochen in meinem Kopf. Mein ganzer Körper fühlte sich schwach.

»Hiro?«, hörte ich die zaghafte Stimme aus dem Wohnzimmer. »Hiro, wo bist du?« Kiyoshi klang traurig und schien wie ein kleiner Hund nach mir zu suchen.

»Hier oben«, rief ich wohl etwas zu laut, denn sofort danach hörte ich Jiros Stimme.

»Fuck!«, war alles, was er rief. Das zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen. Er fluchte. Wahrscheinlich, weil ihm alles wehtat. Doch es tat gut, seine Stimme zu hören, ihn lebendig zu vernehmen.

Man hörte kleine Schritte auf der Treppe zum Dachgeschoss, als ich einen weißen, verstrubbelten Haarschopf sah, der sehnsüchtig nach mir suchte.

»Hiro!«, rief er erst freudestrahlend, öffnete aber sofort rügend seinen Mund. »Du rauchst!«

»Haha, ja ... sorry ...« Ein reumütiges Lächeln besänftigte jedoch sofort die Miene meines Bruders, sodass er auf allen Vieren zu Alexander und mir kam. Liebevoll setzte er sich an meine Seite und streichelte meinen Arm. »Geht's dir besser?«

»Ein bisschen ja ...«, murmelte ich noch, bis Jiro genervt von unten rief.

»Scheiße, seid ihr jetzt alle da oben? Wo sind wir? Und raucht ihr etwa? Ich will auch eine Kippe!«

»Dieser Mann ist viel zu fordernd«, raunte Alexander genervt und verschränkte die Arme, die Zigarette dabei über seinen Arm haltend.

»Das ist eben Jiro ...«, kicherte ich und sah bereits die schwarzen Haare aus dem Treppenloch lugen.

»Aha, wusste ich's doch!« Mit leicht abgehackten Bewegungen ächzte er auf den Dielenboden und kam ebenfalls auf allen Vieren auf uns zu. Leise ließ er sich auf seinen Hintern fallen und saß uns dreien gegenüber. »Wer hat Zigaretten?«

Schweigend warf Alexander die Kippen in Jiros Schoß und behielt die genervte Mimik bei.

»Danke«, murmelte Jiro und nahm sich einen Glimmstängel aus der silbernen Verpackung. Mit dem danebenliegendem Feuerzeug zündete er sie sich an. »Kriegste auch wieder«, versicherte er, dass er niemals schnorren würde.

»Kann ich drauf verzichten«, schnauzte Alexander zurück und rauchte schlussendlich auf. Kiyoshi und ich beobachteten das Schauspiel recht amüsiert. Hier und da klaute mir mein Bruder die Zigarette und rauchte sie schließlich auf. Da hatte ich ja was angerichtete ... Ich wollte ihn doch nicht zum Raucher machen!

»Was ist gestern passiert, man?«, fragte Jiro ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen und blickte in unseren blassen, ermüdeten Gesichter. »Der Typ war ja voll krass drauf! Hatte der ne Knarre mit? Ja, oder?«

»Äh ... «, begann ich, da Jiros Blick in meinen Augen haften blieb, als wäre ich derjenige, der die Pflicht hatte, ihn aufzuklären. »Ja, doch. Der war ... von einer ... Gangsterclique und ... «

»Man, erzähl ihm doch keinen Scheiß«, fuhr Alexander mich von der Seite an.

»Wir spielen hier aber nicht mit offenen Karten!«, plärrte nun auch Kiyoshi dazwischen und sah Alexander böswillig an. »Jiro sollte so schnell es geht aus der Nummer gebracht werden!«

»Ach, und wie soll das gehen? Vincent wird ihn wieder erkennen und ihn zur Rede stellen. Und glaube mir, wenn er nicht weiß, wo ihr seid, wird er so schnell nichts mehr sagen können!«

Ein quietschender Ton entfuhr Jiro. »Wie bitte? Der Typ würde mich umlegen?«

»Mit Sicherheit«, knurrte Alexander und zog sich noch eine Zigarette aus der Schachtel, als sei das alles zu viel für ihn. Da hob sich Jiros Blick und sah mich wieder auffordernd an.

»Weißt du ... «, begann ich, nicht wissend, wohin ich diesen Satz bringen sollte. »Die Sache ist ein bisschen verkehrt und -«

»"Verkehrt"? Bringst du ihm gerade die Sache mit Kiyoshi bei oder die wirklich wichtigen Dinge?«, kam mir Alexander dazwischen. Seine direkte und gleichzeitig genervte Art brachte mich aus dem Konzept.

»Hey, das mit Kiyoshi ist noch mal eine ganz andere Baustelle, okay? Nenn das nicht verkehrt!«

»Das ist es aber ganz schön.« Und damit nickte Alexander, als würde er sich selber zustimmen.

»Was ist denn mit Kiyoshi?«, fragte Jiro mit einem leicht verzweifelten Unterton; sah dabei in die Richtung meines Bruders. Doch der winkte ab, als wäre das jetzt gerade nicht Thema.

»Jiro, wie soll ich es dir sagen ... wir ... haben da ein kleines Problem mit einem Mann, der ... als Hauptberuf jagt und-«

»Der jagt euch?« Jiro klang auf einmal ungläubig. »Mit Waffen und allem? Öffentlich?«

»Kann man so sagen, ja«, murmelte ich und zuckte dabei mit den Schultern. »Aber er jagt... im Moment so gut wie jeden und deswegen bist du auch in Gefahr, weil du mit uns in Verbindung gebracht wirst.«

»Oh man, Hiro, sag's jetzt ...«, bettelte Alexander schon fast um die Wahrheit, als ginge es hier um das Geständnis schwul zu sein. Und nicht darum, dass meine Zeit gekommen war. Ewig zu leben. So wie die anderen Anwesenden hier.

»Was denn?«, rief Jiro hysterisch und schleuderte fast die Zigarette in die Luft.

»Wir sind ...«

»... Vampire.«, vollendete Kiyoshi meinen Satz und spitzte die Lippen zu einer geraden Linie, um die Ernsthaftigkeit in seinem Satz zu unterstreichen.

Alexander raunte sofort genervt auf, so als wäre er erleichtert, dass es endlich einer gesagt hätte und drückte seine zweite hastig gerauchte Zigarette im vollen Aschenbecher aus.

Doch Jiro blieb still. Er wechselte den Augenkontakt mit jedem von uns und hob schlussendlich eine Augenbraue.

»Vampire?«, fragte er nach, als hätte er nicht ganz richtig verstanden. »Blutsauger... so was ja?«

Ich nickte vorsichtig und war mir auf einmal auch nicht mehr so sicher, ob man uns wirklich so nennen könnte. Doch wie sonst? Das war nun mal ... der offizielle Begriff für das, was wir waren.

»Das is'n Witz, oder?« Jiros Mundwinkel zuckten und hoben sich zu einem amüsierten Lächeln. »Mensch, Hiro, ich weiß, dass du gerne einer wärst und ... du hast das auch echt immer glaubhaft gespielt, aber ... findest du nicht, dass es jetzt mal reicht? Also... ich mein ... ihr alle? ... Vampire? Seid ihr so ne Sekte? Oder Religion? Trinkt ihr auch so Blut und so?«

Jiros Lachen war ein unsicheres, aber doch belustigtes Lachen, als wären wir alle nicht ganz dicht, von uns zu behaupten, wir seien Vampire.

»Oh man«, seufzte Alexander und verschränkte seine Arme, überschlug seine Beine und schüttelte den Kopf. »Und ich dachte die ganze Zeit, er spielt diese Dummheit nur. Dabei ist die echt.«

»He!«, rief Jiro sofort angegriffen. »Was hast du gesagt?«

»Okay!«, ging ich dazwischen, um weitere Prügeleien zu vermeiden. »Alles gut!«

Kiyoshi hingegen raunte ebenfalls genervt auf und begab sich auf die dürren Beine. »Ich geh mich frisch machen.« Damit klopfte er Jiro noch einmal auf die Schulter und kletterte die schmale Treppe ins Wohnzimmer zurück.

»Gute Idee«, begann auch Alexander und schob den Aschenbecher beiseite, sodass er ebenfalls den Weg zur Treppe gehen konnte, um Jiro und mich alleine zu lassen.

Mein Blick haftete noch auf den Abgang nach unten, der mir verwehrt blieb, solange Jiro noch auf eine Bestätigung meines Witzes hören wollte.

»Also? Das ist ein Witz, oder Hiro?«, hakte er nach und hob beide Augenbrauen an.

»Jiro ... es ist vielleicht besser, wenn es ein Witz bleibt, ja«, lächelte ich sanft.

»Es ist aber keiner!«, brüllte Alexander von unten und schien das Schlafquartier aufzuräumen. Nicht weiter auf seine Antwort achtend, grinste ich in das Gesicht meines besten Freundes.

»Es reicht ... wenn du weißt, dass es im Moment gefährlich ist in meiner Nähe zu sein.«

»Haha«, begann Jiro unsicher zu lachen, »Das klingt wie aus einer dieser Filme ... «

»Ich mein's ernst, Jiro.«

»Ja, ja. Ich pass auf ... Hat mich ja gestern schon... einige Gehirnzellen gekostet...« Damit fasste er sich an die Stirn, wo noch eine kleine Schramme zu sehen war. »Bin ich in diesen See gefallen? Ich kann mich nicht erinnern.«

»Ja, bist du. Aber wir konnten dich noch rechtzeitig rausziehen.«

»Puh«, grinste er; wahrscheinlich überspielend, dass er selber ein wenig Angst hatte. »Gerade noch mal mit dem Leben davon gekommen.«

»Allerdings!«, rief ich aufgebracht. »Deswegen bleibst du die nächste Zeit besser zu Hause!«

»Zu Hause? ... okay? ... Weil es so gefährlich bei euch Vampiren ist?« Eine affektierte Handbewegung ließ mich wissen, dass er die ganze Story noch immer nicht glaubte. Klar, hätte ich ihm einfach meine Zähne und roten Augen zeigen können, doch wollte ich ihm bei Gewissheit keine Angst machen. Er sollte auch weiterhin mein bester Freund bleiben.

»Ja, genau. Sieh's als Spiel an.«

»Na, von mir aus«, sagte er salopp und zuckte mit den Schultern. »Und was ist jetzt mit Kiyoshi?«

Ich winkte sofort ab. »Das ist nicht so wichtig ...«

»Doch, ist es!«, hörte ich meinen Bruder von unten rufen.

»Kann ich auch mal alleine mit Jiro reden? Bitte?«, schnauzte ich die beiden im unteren Stockwerk an. Mein bester Freund lachte nur amüsiert. Wie immer gut drauf. Keine Situation der Welt könnte ihm das Lachen nehmen. Nicht einmal eine Nahtoderfahrung.

»Schon okay. Ich werde es schon noch erfahren«, damit zwinkerte er mir zu und erhob sich, um den Rücktritt ins Wohnzimmer anzutreten. Ich nickte, dankend, dass er nicht weiter bohrte, und erhob mich ächzend.

»Scheiße, man, alles okay?« Sofort spürte ich zwei stützende Hände, die mir beim Aufstehen halfen.

»Schon okay ... danke. Ist nur mein Bein.«

»Was ist passiert? Mit deinem Bein?« Jiros Sorge schien grenzenlos zu sein, während er mich wie eine Mutter musterte. Klar, er hatte von alldem nichts mitbekommen.

»Ach ... wurde angeschossen, ist aber schon am verheilen.«

»Fuck!«, schrie er los und hielt sich die Hände an den Kopf, als ich schon die Treppe runterstieg, an dessen Ende bereits Kiyoshi mit offenen Armen wartete, um mich zu stützen. »Angeschossen? Holy – Du musst zum Arzt, man!«

Jiro kam gar nicht mehr aus dem Fluchen und Jammern raus, kletterte nebenher runter und wusste nicht, wo er mich anfassen sollte, um mir zu helfen. Immer wieder winkte ich ab und setzte mich schlussendlich ermüdet auf das eingezogene Sofa.

»Du siehst schwach aus«, flüsterte Kiyoshi, während Jiro sich im Hintergrund noch aufregte.

»Ich fühle mich auch schwach.« Mein Blick ging zu Boden. Alles schmerzte, sowohl mein Innerstes, als auch mein Äußerstes.

»Eure Kleidung ist noch dreckig ... und teilweise zerstört. Soll ich sie reinigen lassen?«, fragte Alexander, der sich mittlerweile mit einer Blutkonserve hinter uns gestellt hatte und sie genüsslich trank.

»Das wäre nett, ja ... Aber wir können die auch noch mal anziehen. Zu lange sollten wir hier nicht verweilen.«

»Zurück könnt ihr aber vorerst auch nicht. Der Ort bei eurer Mutter wird sicherlich streng bewacht sein.«

»Fuck, was trinkst du da?«, murmelte Jiro entgeistert, als er die Blutpackung in Alexanders Händen sah.

Doch der verdrehte wie immer genervt die Augen und holte stumm sein Handy, als gäbe es keine Notwendigkeit dem dummen Menschen zu antworten.

»Hier. Ruft doch eure Mutter an. Sie soll euch Wechselsachen einpacken und sie an einen sicheren Ort bringen. Vielleicht ein Bahnhofsschloss?«

Ich nahm zögerlich das Handy an. »Nein, das ist viel zu auffällig. Mom soll ja auch keine dummen Fragen stellen. Sie will ich da als letztes mit reinziehen.«

»Soll sie die Sachen doch hierher bringen«, schlug Kiyoshi vor.

»Nein«, unterbrach Alexander. »Wenn Vincent ihr folgt, wird es unser kleines Versteck finden. Es wird sicherlich nicht lange ein Versteck bleiben, aber solange es eins ist, sollten wir es wahren. Es sollte ein Ort sein, welcher von uns gut erreichbar ist, aber nicht von Vincent.«

»Mein zu Hause«, murmelte Jiro. »Soll deine Mom die Sachen doch zu meiner Mom bringen und ... die bringt mir die Sachen hierher. Ich mein, unsere Mütter kennen sich doch. Ist zumindest nicht weit hergeholt, dass sie sie mal besuchen geht.«

»Das ist eine gute Idee!«, nickte ich zustimmend. »Dann fragt sie auch nicht! Ich sag einfach, dass wir noch unterwegs seien... aber später zu dir gingen und ... da bräuchte ich Wechselsachen. Sie macht das schon.«

»Von mir aus. Aber deine Mutter«, und damit zeigte Alexander auf Jiro, »soll hier nicht direkt halten. Sondern an der Kreuzung. Ich lass die Sachen von meiner Tante holen.«

»Deine Tante wohnt hier?«, wiederholte Jiro mit einer Frage und sah verwirrt zu Alexander. »Nicht deine Eltern?«

Ich bekam das Gespräch nicht mehr vollends mit, da ich bereits die Nummer meiner Mutter gewählt hatte. Kiyoshi neben mir drängte sich dicht an mich, um das Telefonat mit zu verfolgen.

»Hallo?«, ertönte ihre Stimme.

»Mom? Hi, ich bin's!«

»Hiro!«, erklang ihre mahnende Stimme. »Hast du etwa gestern wieder zu viel getrunken?«

»Nein, nein!«, hustete ich ins Mikrofon. »Der Freund wohnt nur direkt am See und ... es hat sich einfach angeboten...«

»So, so! Hat Kiyoshi sich auch benommen?« Bei der Frage verdrehte mein Bruder die Augen, als wäre es eine total unnötige Frage.

»Klar, niemand ... hat Schaden genommen«, murmelte ich. Jedenfalls nicht wegen Kiyoshi. »Du Mom«, begann ich sofort und räusperte mich erneut. »Kannst du mir und Kiyoshi vielleicht ein paar Wechselklamotten bringen?«

»Wieso? Kommt sie euch doch abholen. Ich bin nicht dein Fahrboten, junger Herr.«

»Na klar, nee, so meinte ich das auch nicht!« Argh, wieso musste sie jetzt die strenge Mutter raushängen lassen? »Wir sind noch bei dem Kumpel und gestern hat's voll geregnet. Unsere Sachen sind extrem dreckig und ... ein bisschen kaputt. Und wir wollen ja nicht nackt rumlaufen, haha ...«

»Ich hol euch gerne irgendwo ab -«

»Nein!«, rief ich hier sofort ins Wort. »Wir ... äh- wollen danach noch zu Jiro. Deswegen reicht es, wenn du sie einfach zu Jiro bringst!«

»Hiro, was redest du da? Ich soll euch Wechselklamotten zu Jiro bringen? Was ist denn passiert?« Ah, sie roch die Lüge. Wie immer.

»Nichts, Mom ... Ich bitte dich einfach ... die Sachen zu Jiro zu bringen. Mehr nicht ... wir kommen erst mal nicht nach Hause. Deswegen ...«

»Wie, ihr kommt nicht nach Hause? Hiro, was drehst du da wieder? Drogen? Ich glaube so langsam wirklich, dass du Drogen nimmst! Ich untersuch deine Arme, junger Herr, da kannst du Gift nehmen!«

Aha, sie unterstellte dem eigenen Sohn lieber ein Fixer als in Gefahr zu sein.

»Kannst du gerne tun. Nur bringst du die Sachen zu Jiro? Bitte?«

Sie seufzte sofort genervt. Schwieg und schien sich vom Sofa zu erheben. In dem Moment hörte ich eine Tür knarren.

»Du kannst froh sein, dass ich noch frei habe! Was soll ich euch denn bringen?«

Ein erleichtertes Seufzen entfuhr mir. Eine so haarige Situation verlangte wirklich haarige Lügen. Verdammt, es war wirklich das erste Mal, dass ich meine Mom lieber nicht angelogen hätte. Aber es blieb mir keine andere Wahl!

Ich bestellte einige Klamotten, darunter auch Wechselunterwäsche und Schuhe. Verwundert über die doch gewaltige Anzahl der Kleidung, fragte sie, ob ich verreisen wollen würde. Ob ich mit Kiyoshi durchbrennen wollte.

»Sicher nicht, Mom.«

»Sei ehrlich, Schatz. Du weißt, Mama und Papa sind für alles offen. Auch, wenn euch diese Beziehung so wichtig ist. Glaube mir, ich habe nur gute Worte für euch eingelegt!«

»Danke Mom«, seufzte ich liebevoll ins Telefon. »Das weiß ich sehr zu schätzen. Und wir beide wissen, dass ihr die besten Eltern der Welt seid.«

Da hörte ich leises Kichern neben mir. Kiyoshi schmunzelte, als wäre das nicht ganz so wahr, was ich gesagt hätte. Schwieg aber weiterhin.

»Ach, Hiro ... Was ist denn nur los mit dir? Seitdem du bei deinem Vater warst ... bist du ...«

Sie verstummte. Anscheinend suchte sie nach Worten und fand keine.

»Alles wird wieder gut, Mom. Ich hab nur ein paar Dinge... die mir gerade noch Schwierigkeiten machen. Aber nichts großes! Du hilfst mir sehr, wenn du uns die Klamotten bringst!«

»Schwierigkeiten? Hat es mit den Vampiren zu tun?«, rief sie sofort hysterisch.

»Nein, Mom, alles gut! Ich muss jetzt Schluss machen! Bis dann!« Damit legte ich fast panisch auf. Mit Herzklopfen starrte ich auf das Handy, welches noch kurz das Display der gewählten Nummer zeigte. »Oh, Fuck ... zu viel gesagt.«

»Sie wird es nicht checken«, beruhigte mich Kiyoshi und küsste mich auf die Wange. »Sie bringt uns Sachen, das ist alles, was wir im Moment brauchen.«

»Weiß nicht ... vielleicht noch mehr Kippen«, grinste ich erschöpft und fuhr mir mit den Fingern über die zittrigen Lider.

»Gute Idee. Die kann meine Mom mitbringen«, fuhr Jiro dazwischen, der die ganze Zeit neben uns auf dem anderen Sofa saß und an seiner Jogginghose spielte. »Die ruf ich jetzt an ...«

Damit hielt er die Hand zum Handy. Zögerlich reichte ich es weiter.

»Wo ist Alexander?«, fragte ich und durchsuchte das kleine Zimmer.

»Der ist eben raus. Zu seiner Tante. Wahrscheinlich den Deal klar machen.« Jiro wählte schnell die Nummer von seinem Haus und wartete auf ein Abnehmen.

»Ist dein Handy auch kaputt?«, fragte Kiyoshi leise, als er Jiro mit Alexanders Handy sah. Der nickte nur und deutete aufs Bad, wo auch seine Sachen in der Badewanne lagen.

»Zu nass geworden.«

Als jemand ans Telefon ging, unterhielt sich Jiro mit dieser Person, als wäre er geschäftlich unterwegs. Doch das war Jiros Art zu telefonieren. Nur mit mir alberte er mal am Hörer rum.

Kiyoshi lehnte sich auf meine Brust und schloss für einen Moment die Augen. Auch meine Lider wurden schwer. So genoss ich seine Nähe und die kurze Ruhe. Die Gewissheit für einen Moment in Sicherheit zu sein. Auch wenn das vielleicht kein langer Zustand sein würde.

Gemeinsames Grab

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Shopping Tour

Niemals hätte ich gedacht, dass ich so schnell in Panik ausbrechen würde. Selbst Alexander wurde nervös, ging von Fenster zu Fenster und sah durch die Vorhänge. Jiro krallte sich am Sofa fest und bewegte sich kein Stück, hielt wahrscheinlich den Atem an, um keinen Mucks von sich zu geben. Nur Kiyoshi blieb ruhig auf dem Sofa sitzen und starrte weiterhin aus dem Fenster, als würde er Pferde beim Grasen beobachten. Doch je länger ich ihn kannte, desto mehr wurde mir bewusst, dass das genau seine Art war mit Dingen umzugehen, von denen er sich nichts versprach. Still sitzen bleiben, es über sich ergehen lassen; hilflos in die Ecke starren und warten, bis es vorbei war.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Jiro schließlich in die Stille und schien seinen Atem wieder gefunden zu haben.

»Abwarten?«, schlug ich heiser vor. In der Hoffnung, der Vogel würde wieder verschwinden. Doch die Flügelschläge blieben.

»Warten?«, zischte Alexander mir zu. »Auf was? Den Tod?«

 

Die Flügelschläge stoppten für einen Moment, so auch die Schritte der schweren Boots.

»Es hat aufgehört«, murmelte ich. Alle blieben stumm, lauschten auf irgendwelche anderen Laute in unserer Umgebung, die Aufschluss über Vincents Hergehen geben konnten. Doch nichts kam.

»Wahrscheinlich ... hat sich der Vogel niedergelassen. Und Vincent wartet.«

»Glaubt er allen ernster, wir rennen jetzt raus?«, zischte Kiyoshi und lehnte sich wieder zurück in das Sofa.

»Nein, er wartet ... sicherlich auf den richtigen Zeitpunkt anzugreifen. So wie ich ihn kenne, wird er uns jegliche Fluchtversuche abschneiden wollen.« Alexanders Gedanken klangen ebenso durchdachte, wie die von Vincent. Doch was brachte uns das?

»Ich gehe raus«, sagte er schließlich und schob die Ärmel des Parkas hoch.

»Wie bitte?«, platzte es aus mir heraus. Selbst Jiro sah auf einmal aufgeregt zum Gastgeber. »Du stirbst! Nicht nur, weil Vincent dich abstechen wird, sondern auch, weil die Sonne dich brutzeln wird!«

»Ich ... «, und er schien dabei ganz weit weg in seinen Gedanken zu sein. »... werde so tun, als würde ich in das Haus meiner Tante gehen wollen. Ich gehe dabei den Weg der Veranda entlang, der ist Schattig. In der Zwischenzeit versteckt ihr euch hier. Vincent ... wird auf mich Aufmerksam werden und ... ja, vielleicht wird er mich angreifen, aber so leicht bin ich auch nicht zu haben.«

»... du willst den Lockvogel spielen?«, benannte Kiyoshi die Dinge beim Namen und stand letztendlich doch auf, sodass wir drei nebeneinander standen und ratlos in die Richtung von Alexander starrten.

Der nickte langsam und drehte sich noch einmal zu uns um. »Rennt so schnell ihr könnt weg. Aus dem Fenster, am besten Richtung Innenstadt. Der Weg durch das Feld ist der Kürzeste. In der Stadt könnt ihr euch in der Masse verstecken.«

»M-Moment, was machen wir denn, wenn er dich ... also ... in seinen Fängen hat und- «, da stockte selbst Jiro der Atem. Auf einmal schien er um Alexander besorgt zu sein. Eine Anwandlung, die ich bisher nicht von ihm kannte.

»Ich hab doch gesagt, ich komme zurecht«, schnauzte er meinen Freund unbegründet an. »Ihr flieht. Ich halte ihn auf. Weiter kann ich nicht denken, nur spekulieren. Und das hilft uns nicht!«

Mit diesen Worten ging er zur Tür, richtet erneut seinen Parka. Wahrscheinlich eine hilflose Geste.

Schnell liefen wir alle in eine Ecke, versteckten uns hinter dem Kühlschrank, nah an der Abstellkammer, das Fenster im Blickfeld. Wir mussten abwarten, was passieren würde. Wann Vincent die Aufmerksamkeit vollends auf Alexander gerichtete hatte. Ich bezweifelte für einen Moment, dass das funktionieren würde; Vincent war nicht dumm. Aber vielleicht hatte Alexander ein Ass im Ärmel, welches er als Trumpfkarte spielen wollte.

Als er die Tür öffnete, stach das Sonnenlicht ins Zimmer. Es blendete uns für einen Moment, selbst Jiro hielt sich die Hände vor die Augen. Dann ging Alexander todesfürchtig nach draußen; mit großen Schritten steuerte er die kleine Veranda an, die einen wohltuenden Schatten spendete. Das kleine Haus war vielleicht keine 20 Meter vom großen Anwesen getrennt, trotzdem fühlte sich jeder Schritt wie Höllenqualen an. Alexander verzog keine Miene, ließ sich die Schmerzen auf der Haut nicht anmerken.

»Du!«, rief es auf einmal finster aus den Büschen, aus denen eine schwarze Gestalt schnell, fast fliegend, auf Alexander zustürmte. Der konnte sich kaum bewegen, wollte schon aus der Sonne treten, wurde aber schneller gepackt, als gedacht und befand sich bereits in den Fängen von schwarzen Lederhandschuhen.

Vincent hielt Alexanders Hals feste in seinem Griff und hob ihn an, als wäre er ein Fliegengewicht.

»Du bist einer von ihnen! Wo sind die Brüder?«, hisste er ihm zu; den Körper weiter zur Sonne gerichtet.

Kiyoshi hielt sich vor Entsetzen die Hände vor den Mund. Selbst Jiro brachte seinen Mund nicht mehr zu. Wir drei saßen wie Kinder in Sicherheit und betrachteten durch die noch offene Tür das Schauspiel Alexanders Hinrichtung. Tapfer wand er sich in Vincents Mördergriff; sah ihn gequält durch seine schwarzen Strähnen an. Das wellige Haare schien auf einmal wüst auf seinem Kopf zu hängen.

»Fick dich!«, quetschte er aus seinen Lippen, während er nach Vincent trat. Seine Haut begann zu rauchen. Erste Brandmale taten sich auf. Die Sonne war zu stark, er würde verbrennen!

»Sag mir sofort, wo sie sind, oder ich lasse dich in meiner Hand verbrennen!«, rief Vincent bedrohlich und verengte den Griff um Alexanders Hals. Sein Augenweiß verfärbte sich langsam rot, die Lippen hingegen blasser.

»Ich weiß es nicht«, brummte er kraftlos, kurz vor der Ohnmacht. Sicherlich nicht wegen der Atemnot, vielmehr wegen der Schmerzen.

»Hiro, Hiro, er brennt!«, zischte mir Jiro zu und konnte seine Augen nicht von Alexander nehmen. »Mach doch was!« Panisch zog er an meiner Lederjacke und atmete unregelmäßig.

»Ich -«, begann ich, schüttelte den Kopf und wusste ehrlich gesagt nicht, wie ich es hätte regeln können. Doch ehe ich mich versah, sprang Kiyoshi neben mir auf. Ich griff nach ihm, bekam ihn aber nicht mehr zu packen.

Da schrie Alexander schon auf. Kiyoshi blieb wie erstarrt im Raum stehen, sah ebenso gebannt wie entsetzt zu den beiden im Garten.

Alexander nahm Schwung, trat Vincent mit Kraft ins Gesicht, hinterließ einen Abdruck seiner schweren Stiefel, drehte sich einmal um sich selber, löste sich dabei aus Vincents Griff, der noch unter Schock stand, und landete auf dem Rasen.

»Du bist abscheulicher als der niederste Vampir!«, keifte er Vincent regelrecht an, ging noch einmal auf ihn los und kratzte ihn ins Gesicht. Wahrscheinlich wollte er ihm die Augen auskratzen, schaffte es jedoch nicht ganz, da Vincent bereits auf die Beine kam und Alexanders rauchenden Körper wieder von sich schlug.

Kiyoshi hingegen löste sich aus seiner Starre, rannte raus, packte Alexander an den Armen und zog ihn schnell wieder ins Haus. Ich zögerte nicht lange, schloss die Tür und verriegelte sie; schob eine Kommode davor. Dumm eigentlich; als würde Vincent eine altes Holzmöbelstück abhalten, uns weiter zu verfolgen.

»Ah!«, keuchte Alexander auf, als er von Kiyoshi über den Boden gezogen wurde.

»Schnell, eine Packung«, forderte Kiyoshi Jiro zum Handeln auf, der wie in Schockstarre nur neben dem Sofa stand. Wie erwacht, öffnete er den Kühlschrank, zog schusselig mehrere Packungen heraus, stolperte auf Kiyoshi und Alexander zu und reichte zittrig die Packung weiter.

»Bitte sagt mir ... dass das kein Blut ist!«, stotterte er vor sich hin, während mein Bruder die Plastikdämmung abriss und Alexander das flüssige Gold reichte. Ohne zu zögern sog er die Flüssigkeit auf, trank so schnell er konnte. Sein schmerzverzerrtes Gesicht lenkte fast von den noch immer rauchenden Wunden ab.

Ich blieb noch immer an der Tür stehen und wartete auf Vincents Angriff. Doch der blieb regungslos auf der Wiese stehen und sah sich um. Schlussendlich kam er näher und rief uns mit seiner bebenden Stimme zu.

»Ihr seid gefangen! Ihr könnt nirgendwohin! Also gebt mir die Brüder und ich lasse euch zwei am Leben«, forderte er. Wieso Vincent nun auf einmal uns beide wollte und nicht nur mehr Kiyoshi, verstand ich auch nicht so ganz. Wahrscheinlich, weil ich einem Straftäter bei der Flucht verholfen hatte. Oder weil er mich einfach nicht mochte.

»Vergiss es!«, schrie Jiro vom Sofa aus, zitterte am ganzen Körper und konnte sich kaum auf den Beinen halten. »Ich liefere dir bestimmt nicht meinen Hero aus!«

Ein leichtes Grinsen fuhr über mein Lippen. Ach, Jiro...

»Dann sterbt ihr eben alle vier!« Vincents Worte hallten wie Donner und zogen einen lauten Knall mit sich. Er schlug mit der Rückhand seiner Waffe auf das Fenster ein. Es klirrte laut auf, Splitter fielen zu Boden und ließen mich von der Tür verschwinden.

»Schnell, wir fliehen!«, rief ich den Dreien zu, die noch wie erstarrt neben der Küche standen. Mit einer Handbewegung riss ich noch zwei Blutpackungen vom Boden, Jiro tat es mir gleich, folgte mir am schnellsten. Mit den Schläuchen band ich sie mir um meinen Gürtel, öffnete das bodenlange Fenster und schob die Vorhänge beiseite. Kiyoshi half Alexander noch auf die Beine, der sich bereits etwas erholt hatte, doch noch lange nicht bei Kräften war. Wahrscheinlich kostete es ihn eine Heidenüberwindung noch einmal aufzustehen und zu rennen. Doch so wie ich wie aus dem Nichts Energie schöpfte, tat auch er sein Bestes und folgte uns aus dem Fenster.

Vincent war unterdessen in der Wohnung gelandet, sah dann unsere Flucht und folgte uns so schnell er konnte.

 

Es war ein Rennen auf Zeit.

So schnell hatte ich noch nie einen Sprint hingelegt. Es war, als würde die Welt an mir vorbeirasen. Kiyoshi rannte direkt neben mir durch die anliegenden Büsche und Bäume, bis wir das Feld erreichten.

»Einfach geradeaus!«, rief Alexander und drehte sich kurz um, als er Jiro nicht nachkommen sah.

»Nicht so schnell!«, bettelte der und hatte Mühe mit uns Schritt zu halten. Drei Vampir waren eben doch schneller als ein Menschen. Genau das spürten wir auch bei Vincent. Er lag uns auf den Fersen, doch schien uns im Feld ein wenig verloren zu haben. Nur der Vogel kreiste über uns und schien ihm relativ gute Anweisungen zu geben, wo er uns finden konnte.

Alexander fackelte nicht lange, rannte ein paar Schritte zurück und packte Jiro an der Taille, schmiss ihn wieder einmal über seine Schulter und rannte erneut los.

»Du bist absolut keine Hilfe!«, zischte er meinem Freund zu, der nur kreischend auf der Schulter von Alexander hing und versuchte Halt zu finden.

»Fuck!«, war alles, was ich aus Jiros Mund verstand.

 

Ich hörte nur meinen Atem. Mein Herz. Selbst die Wunde am Bein tat nicht mehr weh. Nichts tat mehr weh. Das Adrenalin und das Cortisol taten ihr übriges. Kiyoshi neben mir fixierte die Pflanzen um uns herum, schob sie gekonnt beiseite.

Der Vogel kreiste noch immer über unsere Köpfe, lotste Vincent zu uns.

»Das macht keinen Sinn, er wird uns weiterhin finden, wenn der Vogel hier fliegt!«, schrie ich fast atemlos zu den anderen, die dicht um mich herum rannten.

»Außerdem brennen wir!«, stellte Kiyoshi fest, als er seine Arme betrachtete. Auch Alexanders Wunden schienen wieder aufzureißen. Zwar gab uns das hohe Maisfeld ein wenig Schatten, konnte jedoch nicht genügend Strahlen abfangen, als das wir in Sicherheit gewesen wären.

Urplötzlich endete das Maisfeld und wir standen an der Straßenbahnhaltestelle. Glück im Unglück musste man haben: die Straßenbahn fuhr ein. Und dieses Mal scheute ich mich nicht zwischen Menschen zu stehen.

Ohne weiter zu zögern, traten wir in die Bahn ein. Die Menschen um uns herum starrten uns wie aufgescheucht an, nahmen Abstand und ließen uns alleine. Alexander ließ Jiro von seiner Schulter runter. Doch der konnte nicht weiter auf seinen Beinen stehen, klammerte sich also an Alexanders Parka, um nicht umzufallen. Der Schock stand ihm noch immer im Gesicht geschrieben.

»Fuck«, entwich es ihm abermals, als die Bahn sich zu bewegen schien. Ein Blick aus dem Fenster sagte mir, dass der Vogel uns folgte. Auch die schwarze Gestalt kam näher. Es war, als würde er der Straßenbahn nachrennen.

»Das kann doch wohl nicht sein Ernst sein!«, jammerte Kiyoshi, der ebenso die Geschehnisse beobachtete wie ich. »Der rennt uns nach?«

»Gib mir eine«, flehte Alexander und zerrte an einer der Packungen an meinem Gürtel.

»Klar!« Schnell band ich sie ab, sodass er sie sofort an sich reißen konnte. Seine Wunden sahen in der Tat nicht gut aus. Verbrennungen zweiten, wenn nicht dritten Grades. Zittrig versuchte er die Plastikkappe abzunehmen, schaffte es aber nicht, da er immer wieder abrutschte. Jiro, der noch immer an seinem Arm klammerte, half ihm, nicht weniger zittrig, und entfernte die Kappe, welche sofort zu Boden fiel. Ohne weiter darüber nachzudenken, dass das wirklich Blut war, was er Alexander hinhielt, packte er den Schlauch und führte ihn zum Mund des schwarzhaarigen. Blaue Augen schlossen sich und genossen die wohltuende Nahrung. Jiros Blick hingegen haftete weiterhin auf der Packung. Wahrscheinlich verstand er so langsam, um was es hier wirklich ging. Dass keiner scherzte. Dass die Wunden auf Alexanders Körper real waren.

Nachdem er die Hälfte der Packung leer getrunken hatte, reichte er diese an uns weiter. Kiyoshi nahm sie dankend an, trank einige Schlucke und ließ mich den Rest austrinken. Jiros Blick sah verzweifelt aus, als auch ich nach dem Blut gierte. Tut mir Leid, Jiro, dachte ich. So war es nun mal ...

Vincent lief noch immer hinter der Bahn her, als wäre es eine Leichtigkeit. Er fiel zwar einige Meter zurück, holte aber schnell auf, als die Straßenbahn kurz hielt, um Fahrgäste ein- und aussteigen zu lassen. Die Panik wurde stärker, als Vincent immer näher kam, selbst als wir weiter in die Stadt fuhren.

»Fuck, was sollen wir tun? Er hat uns gleich! Und er wird uns auf offener Straße hinrichten!«, jappste Kiyoshi und konnte seinen Blick nicht vom Hunter lassen.

»Aber ... ihr könnt nicht länger draußen bleiben«, flüsterte Jiro und sah sich Alexanders Wunden an, die sich langsam wieder schlossen.

»Die Mall«, murmelte ich. »Wir können in die Mall.«

»Bist du verrückt?«, schnauzte mich Alexander an. Seine laute Antwort ließ einige Fahrgäste zusammenzucken. Sie nahmen weiterhin Abstand und schnell fühlte ich mich wie ein Aussätziger. »Willst du noch mehr Menschenleben in Gefahr bringen?«

»Mach nen anderen Vorschlag!«, raunte ich zurück. »Wir können nicht weiter in der Sonne rumlungern! Das tötet uns!«

Die Blicke der Fahrgäste wurden immer nervöser. Das Thema war ihnen suspekt. Verständlich.

»Gibt es denn keinen anderen Ort ... der dunkel ist und ohne Menschen?«, fragte Kiyoshi zögerlich und sah in mein Gesicht, als wüsste ich wie immer die Antwort auf alles.

»Nein! Wir befinden uns in der Innenstadt! Hier ist alles voller Menschen!« Mein Herz raste und hämmerte gegen meine Brust, als würde es jeden Moment herausspringen. »Die Mall, eine andere Möglichkeit haben wir nicht.«

»Und dann? Was machen wir in der Mall?«, raunte Alexander auf.

»Man, keine Ahnung! Besser als nichts, ok?«, schnauzte ich zurück.

Jeder war angespannt. Die Aussichtslosigkeit unserer Situation machte jedem zu schaffen. Eine Lösung für längerfristig gab es nicht. Entweder fliehen oder stellen. Und zum Stellen musste es Nacht werden, dachte ich. Anders ging es nicht.

»Gut, dann eben die Mall«, ging Jiro dazwischen und sah zwischen unseren Blicken hin und her. »Wir finden eine Lösung. Vielleicht ... können wir für's erste dort irgendwo unterkommen ...« In dem Moment knurrte Jiros Magen. Etwas peinlich berührt hielt er sich seinen Bauch. Er hatte seit knapp 24 Stunden nichts gegessen ...

»Wir laufen in die Mall, in den Food Court, du schnappst dir einfach was, egal was, und wir versuchen irgendwo in einem Geschäft uns zu verstecken«, schlug ich vor, lächelte Jiro aufmunternd an, der mir sofort zustimmend zunickte. Trotzdem die Hoffnung sich wieder in unseren Köpfen breit machte, blieben wir angespannt. Noch immer verfolgte und Vincent, der aber nahezu problematisch hinter der Straßenbahn rannte, da ihm auch Autos in die Quere kamen. Die Stadt war hektisch. Das war wohl selbst ein Vincent nicht gewohnt.

Als die Straßenbahn in der Nähe der Mall hielt, hechteten wir aus ihr heraus, als wären Hunde hinter uns her. Vincent schien uns vorerst aus den Augen verloren zu haben, doch der Greifvogel schwirrte noch immer über unsere Köpfe. Vorteil für uns: Er konnte nicht mit in die Mall.

Also rannten wir durch die großen Drehtüren in die ruhige Oase der Shops. Menschen schienen ausgelassen zu kaufen und zu bummeln. Erst als wir den großen Eingangsbereich betraten, schienen sie verstört stehen zu bleiben, um uns anzustarren.

»Zum Food Court«, befahl ich, bekam aber nur ein genervtes Seufzen von Alexander.

»Wie kann man jetzt ans Essen denken?«

»Sorry, dass ich mich nicht nur von ... dem da ernähre!«, raunte Jiro seinem Retter entgegen und deutete auf die zwei Packungen, die er noch an seinem Gürtel trug. Kiyoshi lief an meiner Hand entlang und sah sich verstohlen um.

»Wir scheinen hier für einen Moment sicher zu sein«, bemerkte er und folgte mir in den überfüllten Essensbereich. Dort saßen Kinder, Erwachsene, Ältere und einige Hunde. Wenn Vincent uns hier erwischen würde, wäre das nicht nur für uns gefährlich, nein, es würden in der Tat mehrere Menschen schaden nehmen. Wir mussten so schnell es ging wieder weg hier.

Jiro hechtete sofort zu einem Fastfoodanbieter, der immer fertige Ware im Schaufenster hatte. Dort kaufte er brav zwei Burger und kam schnell auf uns zurück.

»Ich glaube, ich habe noch nie so schnell gegessen«, seufzte er, während er den ersten Burger schon halb im Mund hatte.

»Hoffentlich kotzt du nicht«, spaßte ich und sah Jiro dabei zu, wie er den absolut lecker aussehenden Burger aß. Doch ich wusste: er wäre in meinem Mund auf einmal nicht mehr ansatzweise so lecker, wie er es in Jiros Mund war. Trotzdem reichte er mir ein Stück, als er meinen neugierigen Blick vernahm. Ich schüttelte negierend den Kopf. »Aber danke.«

Enttäuscht blickte Jiro in meine Augen. Es war, als würde er mich darum bitte, dass es nicht wahr wäre. Dass es einfach nicht sein konnte, dass ich nie wieder mit ihm in diesem Food Court sitzen und ausgelassen fressen könnte. So sehr ich mir das Gegenteil wünschte ... es ging nicht mehr.

»Shit«, raunte Alexander auf, als er eine schwarze Gestalt durch die Gänge hechten sah. »Wieso ist der so schnell?«

»Schnell, wir ... wir suchen uns ein großes Kaufhaus!«, stotterte ich in Gedanken, zog Kiyoshi an meiner Hand mit mir und rannte voraus. Alexander und Jiro folgten. Der letzte Burger verschwand dann während des Rennens in seinem Mund.

Vincent erkannte uns sofort und sprintete hinterher. »Ihr Blutsauger!«, schrie er durch die ganze Mall. Die Leute wurden angerempelt, weggeschubst und zur Seite gestoßen; nur damit er durchkam.

Vincent kämpfte nicht für die Menschen. Er kämpfte einfach nur gegen Vampire. Es war ihm egal, ob Menschen dabei schaden nahmen oder nicht. Es war ihm egal, ob man für die eine oder für die andere Seite kämpfte. Hauptsache die Vampire starben.

Unser Weg führte uns immer höher; fast fliegend rannten wir die Rolltreppen hoch. Ich wusste nicht ganz, wieso wir nach oben flohen. Dort wären wir gefangen gewesen! Alle anderen folgten mir, schweigend, wahrscheinlich genau so in Panik versetzt.

»Endstation!«, kam die donnernde Stimme von Vincent, der sich auf einmal uns gegenüber stellte. Nur ein rundes Geländer von vielleicht 10 Metern trennte uns. Hinter uns waren Geschäfte und in egal welche Richtung wir rennen würden: Vincent würde uns entgegenkommen. Wie das eben so mit runden Hindernissen war.

»Und jetzt?«, wimmerte Jiro, klammerte sich an Alexanders Parker fest, als wäre es das einzige, was ihm im Moment Schutz bieten könnte. Und es kam mir so vor, als würde sich der Besitzer des Parkas schützend vor ihn stellen; den Blick nicht von Vincent nehmend. Kiyoshi schluckte ebenfalls, hielt meine Hand feste in seiner.

»Wenn er jetzt das Feuer eröffnet«, flüsterte er, »sind wir geliefert.«

»Im Moment sind wir das auch so«, murmelte ich zurück und beobachtete jede seiner Handlungen.

Vincent schmunzelte etwas außer Atem, als könne er den Sieg förmlich riechen. »Endlich habe ich auch, ihr flinken Biester. Seht eurem Ende ins Gesicht. Es ist gekommen.«

Vorsichtig kam er auf uns zu, wir drehten uns natürlich in dieselbe Richtung, sodass wir ihn auf Abstand hielten. Doch wie von Kiyoshi vorhergesehen, zog er seine große Waffe aus dem Halter.

»Das ist ja wohl ein Witz!«, rief ich ihm laut zu. »Du willst in einer menschengefüllten Mall schießen?«

Natürlich umgaben uns schon lange keine Menschen mehr. Viele waren schreiend davon gelaufen, nahmen Abstand oder kamen uns erst gar nicht näher.

»Ihr macht auch vor nichts Halt ... dann muss ich das auch nicht«, war alles, was er sagte, als er die Waffe entsicherte und auf uns richtete. Er schoss, Kiyoshi und ich bückten uns und hörten den Schuss ins Leere gehen. Eine Scheibe zersprang, zersplitterte hinter uns.

»Runter!«, schrie Alexander auf einmal, packte Jiro an der Hüfte, hob ihn wie immer auf seine Schulter, umklammerte ihn feste und sprang auf das Geländer. Mit einem fiesen Grinsen sah er noch einmal zu Vincent, der ihn bereits mit der Waffe anfixierte, sprang jedoch bevor er schießen konnte. Die Patrone prallte am Geländer ab, landete in einer Leuchte an der Decke und ließ das Licht für einen kurzen Moment aufflackern.

»Neeeeiiin!«, hörte man Jiro entsetzt schreien, als der mit Alexander zusammen fünf Stockwerke tief fiel und in der Mitte eines Kinderbereichs landete. Menschen schrieen auf, Kinder sprangen zur Seite, während der Boden unter Alexanders Füßen nachgab und leicht zersplitterte.

Das alles geschah so schnell, dass mich Kiyoshi ebenfalls zum Geländer zog.

»Bist du verrückt? Ich bin froh, dass ich das eine Stockwerk zu Hause überlebt habe!«, rief ich entsetzt, während ich mich an den Sprung aus meinem Fenster erinnerte, als ich mit Kiyoshi in den Wald verschwinden wollte.

»Jetzt sind es eben fünf!«, raunte mir mein mutiger Bruder zu, der bereits über das Geländer sprang und ohne mit der Wimper zu zucken runter fiel. Nein, er glitt wie immer elegant zu Boden, selbst bei einer Höhe von mehreren Metern.

Ein letzter Blick zu Vincent sagte mir, dass er selber nicht ganz glauben konnte, dass die vier Jugendlichen den Highway to Hell nahmen. Er richtete verzweifelt die Waffe auf mich, schoss, verfehlte mich, da ich mich fallen ließ.

Schreien war gar kein Ausdruck von dem, was ich da von mir gab. Die Luft drang an mir vorbei, schnürte mir fast den Atem ab; mein ganzer Magen drehte sich um. Bungeejumping. Ohne Seil.

Ehe ich mich versah, landete ich auf dem harten Steinboden. Meine Füße fühlten den Stein unter ihnen nachgeben, es knackte, es brach, mein Knie berührte nur sachte die einzelnen Stücke, die übrig vom Boden blieben.

Kurz danach stand ich auf.

Ich war nicht mehr menschlich, nein, es war vorbei. Kein Mensch würde einen solchen Sturz überleben – doch ich stand da, wie gerade von einer Stufe gesprungen.

Vincents Fluchen war durch den schmalen Gang der einzelnen Stockwerke zu hören.

»Er wird die Rolltreppen nehmen müssen, wir haben einen kleinen Vorsprung!«, rief Alexander uns zu, der bereits weiter rannte und Jiro noch immer auf der Schulter trug. Kiyoshi lächelte mich an, nahm meine Hand und folgte den beiden.

»Das hast du gut gemacht!«, lobte er mich für meinen Todesmutigen Sprung.

»Ach«, seufzte ich noch leicht neben der Spur. »Ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt, oder?« Ein zögerliches Lachen folgte.

Obwohl mir absolut nicht zum Lachen war.

Ganz im Gegenteil.

Mein Magen war noch immer gedreht. Mir war übel. Meine Knochen und meine Muskeln taten weh. Nicht vom Sturz – einfach von der stundenlangen Anspannung.

 

Wohin sollte das noch führen?

Endloses Unterfangen

»Wohin laufen wir?«, rief Jiro, sichtlich verstört über die Tatsache, dass er bereits seit Minuten auf Alexanders Schulter lag, als wäre er ein Sack Reis. »Ich sehe Vincent doch gar nicht mehr!«

»Aber er wird gleich wieder da sein!«, antwortete ich ihm und holte Alexander ein Stück ein, bog sofort ab und rannte einen schmalen Gang entlang.

»Hiro!«, schrie Kiyoshi meinen Namen und blieb kurz an der Abzweigung stehen. Auch Alexander stutzte, folgte dann doch unschlüssig.

»Huh? Das ist doch -«, murmelte der schwarzhaarige, ließ den Menschen von seiner Schulter gleiten und gesellte ich zu mir in die Parkgarage. Eine Menge Autos standen unterhalb der Mall und warteten auf ihre Besitzer. Kiyoshi und Jiro folgten nur langsam, standen verwirrt inmitten einer Ausfahrt.

»Und jetzt?«, wisperte mein Bruder und kratzte sich am Arm. Einige Brandwunden schienen noch frisch geblieben zu sein.

 

»Jiro?«, sprach ich meinen besten Freund an, der sofort hellhörig wurde. »Wir klauen jetzt ein Auto.«

Die Gesichtszüge der zwei Vampire entgleisten, während die des Angesprochenen regelrecht anfingen zu leuchteten.

»Oh, Hero ... und ich dachte, du würdest mich das niemals fragen«, scherzte er sichtlich erheitert über die Tatsache, dass ich bereit war mit ihm ein Auto zu knacken und fasste sich berührt an seine Brust. »Wie wunderbar!«

Wie ausgewechselt ging er mit schnellen Schritten an mir vorbei und suchte die Autos ab.

»Das ist nicht euer ernst!«, unterbrach Alexander unser Vorhaben und wollte schon dazwischen gehen, da hielt ihn Kiyoshi mit einer Hand ab.

»Lass sie. Wir brauchen ein Auto«, beschwichtigte er ihn.

»Du lässt das zu? Dass sie ein Auto klauen?« Alexanders Empörung stand ihm zum Kragen.

»Ja«, seufzte Kiyoshi sofort verliebt und sah mir dabei zu, wie ich mich an einen alten Benz zu schaffen machte. Mit einer Scheckkarte versuchte ich das Schloss an der Windschutzscheibe zu knacken. Jiro stand schräg hinter mir und rieb sich die Hände.

»Hero, das ist so aufregend, endlich kommt mal was Gutes bei der Sache rum!«

»Kannst es kaum erwarten, die Zündung zu knacken, hm?«, scherzte ich und bekam schließlich die Tür auf. Alte Modelle klappten einfach noch am besten. Diese neuen und modernen Anlagen waren fast unmöglich zu knacken. Jedenfalls mit Standardwerkzeug.

»Oh baby«, rief er erfreut, als er sich in den Fußraum des Fahrers beugte und anfing, Kabel aus der Verkleidung zu ziehen.

»Ich kann das nicht glauben ... ich bin bei einem Diebstahl dabei ... Erst helfe ich Verbrechern zu entkommen, sitze jetzt selber drin und ... werde auch noch straftätig... obwohl ich gar nichts mache!« Alexander ging vor dem Benz auf und ab, konnte sich nicht beruhigen, wischte sich abermals über die Stirn, als würde er schwitzen.

Nur Kiyoshi blieb wie immer ruhig, grinste mich stolz an und trommelte auf die Motorhaube. Er konnte es sicherlich kaum erwarten, endlich mit mir Auto zu fahren. Auch noch in einem geklauten Benz. So viel Aufregung hatte gewiss bisher noch keiner von uns gehabt.

Und bevor ich Kiyoshi in aller Ruhe einen Kuss geben wollte, sprang der Motor wie von Zauberhand an.

»Tada!«, schrie Jiro und kam aus dem Fußraum gekrochen. »Gut, oder?«, witzelte er und wackelte mit den Hüften, als würde er einen Freudentanz aufführen.

»Ich danke dir vielmals Jiro!«, lachte ich, stieg in den Fahrerraum und war froh, dass mein Freund wirklich gute Elektronikkenntnisse pflegte.

»Was denn, du fährst auch noch? Hast du überhaupt einen Führerschein?«, giftete mich Alexander an, als der näher zum Auto kam.

»Ja und jetzt steig ein! Vincent wird gleich hier sein!«

Kiyoshi nahm den Beifahrerplatz ein, ohne überhaupt jemanden zu fragen, ob er das durfte. Jiro stieg immer noch in seinem Erfolg badend hinten ein, sodass Alexander gezwungen war ebenfalls hinten einzusteigen.

»Wehe ... du baust einen Unfall«, mahnte er mich mit dunkler Stimme und tat wie von ihm verlangt. In dem Moment kam eine Schar Menschen runter gerannt. Sie alle steuerten ihre Autos an, darunter auch ein alter Herr, der den Benz suchte.

»Das muss der Besitzer sein!«, hielt Kiyoshi sich die Hand vor den Mund und schien kalte Füße zu kriegen.

»Mein Wagen!«, rief der Mann aufgebracht und kam so schnell er konnte auf uns zu.

»Wir können jetzt aber nicht anhalten! Die Menschen zeigen deutlich, wer gleich folgen wird!« Mit diesen Worten spielte ich mit dem Gas, legte den Gang ein und bewegte den Wagen.

Alexander drehte genervt die Schreibe runter, lehnte sich raus, sah den Mann eindringlich an, der verzweifelt vor sich hin fluchte.

»Schreiben Sie der Von Hofstätt Familie! Die bezahlen Ihnen das Auto!«, rief er dem Mann noch zu, während ich mit quietschenden Reifen die Ausfahrt fuhr.

»Der was Familie?«, fragte Jiro Alexander, als der das Fenster wieder hochkurbelte.

»Meiner Familie. Wir klauen keine Autos«, knurrte er verbittert.

»Du bist kein Japaner?«, hakte sein Sitznachbar weiter nach. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel sagte mir, dass Alexander da lieber nicht drüber reden wollte.

»Nein«, brummte er nur und starrte mit verschränkten Armen aus dem Fenster.

»Alexanders Familie kommt aus Deutschland«, informierte uns Kiyoshi, der ebenfalls aus dem Fenster schaute, und wahrscheinlich aus schulischen Infos heraus plauderte. »Sie sind damals ausgewandert ... als Alexander noch klein war. Seitdem leben sie hier in Japan.«

»Ach krass ... Deutscher ... «, murmelte Jiro vor sich hin und sah interessiert zu Alexander. »Wie ist es so in Deutschland? Ich wollte mal immer dahin, aber ... kein Geld, haha.«

Es dauert eine Weile, bis Alexander antwortete; wenn auch wieder nur recht unfreundlich. »Keine Ahnung. Ich war selber noch nie dort.«

»Oh ... das ist schade.«

 

Während die drei sich unterhielten, fuhr ich aus der Stadt. Die große Landstraße führte weiter in den Süden. Keine Ahnung, wohin ich fahren sollte, doch die Tanknadel war eh nicht sehr hoch. Weit würden wir also nicht kommen. Es sei denn wir tankten ...

»Sieht jemand Vincent?«, fragte ich in die Runde. Ein Allgemeines Umdrehen fand statt, doch keiner antwortete. Erst nach einigen Sekunden gab mir Kiyoshi ein Kopfschütteln. »Nein, er scheint uns verloren zu haben.«

»Gut ... ich höre nämlich auch keinen blöden Vogel.«

Auf einmal seufzte Jiro auf und ließ sich im Sitz fallen. »Und jetzt? Wandern wir aus? ... Vier Männer ohne Geld? Ohne irgendwas?«

»Geld haben wir«, unterbrach Alexander und ließ das mal unkommentiert im Raum stehen. Wahrscheinlich führte er seine Kreditkarte mit. Oder die von Papa. Oder von wem auch immer er sich Geld versprach.

»Trotzdem wandere ich nicht aus! Schon drei mal nicht mit dem da!«, meckerte Jiro und zeigte auf seinen Sitznachbarn, der ihn widerwillig anknurrte.

»Jetzt mal Schluss dahinten! Wir fahren erst mal ... irgendwohin. Übernachten in einer Pension oder so!«, schnauzte ich beide an und konzentrierte mich auf die Straße. Die Sonne ging bereits unter, die Schreiben baten zwar geringen Schutz vor der Strahlung, trotzdem besser als direktes Sonnenlicht. Kiyoshi verstummte schlagartig und sah nachdenklich aus dem Fenster. Nur seine Hand wanderte nach Minuten Autofahrt auf mein Bein, sodass wir wenigstens ein bisschen miteinander verbunden waren.

»Wenn wir ... tauschen sollen, sag Bescheid«, bot Alexander an, der sich nach mehreren Minuten in das schlafende Gesicht von Jiro umblickte.

»Klar, danke ... noch geht's«, murmelte ich, musste mich aber sehr zwingen, nicht auch einzuschlafen.

 

Nach zwei Stunden gab die Tanknadel komplett auf und ich war gezwungen in einen kleinen Ort abzubiegen, um zu tanken. Dort stiegen wir alle aus und machten kurz Rast.

Die Stimmung erreichte einen Tiefpunkt. Alexanders Akku war fast leer.

»Wollt ihr noch einmal mit eurer Mutter telefonieren?«, fragte er missmutig.

»Nein«, murrte ich, während ich den Tank voll tankte. »Sie würde sich nur aufregen. Kiyoshi ... schreib ihr doch eine SMS, dass wir am Strand Urlaub machen würden ... keine Ahnung ... für eine Woche oder so ...«

»Das wird sie nur noch mehr aufregen«, seufzte mein Bruder, nahm aber das Handy dankend an und schrieb schnell eine SMS. Jiro hingegen sah traurig auf den Boden.

»Meint ihr ... wir werden unsere Eltern und Freunde irgendwann wieder sehen?« Seine Stimme klang niedergeschlagen, am Ende und nicht minder enttäuscht über unsere Flucht.

»Bestimmt«, versuchte ich aufheiternd zu klingen, doch auch meine Energie sank gen Boden. Als ich zu Ende getankt hatte, ging Alexander wortlos an mir vorbei in die Tankstation und bezahlte das Benzin.

»Ob Alexander wusste, was er da getan hat, als er uns geholfen hat?«, murmelte ich vor mich hin, erwartete keine Antwort, erhielt aber eine von meinem Bruder, der sich sofort an meinen Arm kuschelte.

»Ich denke nicht. Aber ich bin froh, dass er dabei ist. Ich hätte niemals gedacht ... dass er so hilfsbereit sein kann. Ich hatte ihn komplett falsch eingeschätzt.«

»Haha«, lachte ich kurz auf, »Ich allerdings auch. So wie man ihn in der Schule kannte... wo er mich fast aufgefressen hatte ... könnte man nicht meinen, dass er uns hilft. Und nicht an die Wölfe verfüttert.«

»Ihr scheint wohl nicht so dicke mit ihm zu sein, hm?«, kam es von Jiro, der noch immer am Bordstein saß und Steine vom Rand wegwarf.

»Nicht unbedingt, nein«, meinte Kiyoshi und zuckte mit den Schultern. »Erzfeind könnte man es auch nennen.«

»Verständlich... bei dem Getue.« Jiro schmunzelte kurz auf, als sei es albern, sich überhaupt so zu verhalten, verstummte jedoch und verkniff sich jeglichen Kommentar, als Alexander wiederkam. Und Jiro eine Packung Sandwiches zuschob.

»Ich fahre jetzt weiter«, befahl er in seinem typischen Ton, nahm mir ohne weitere Worte die Schlüssel ab und setzte sich auf den Fahrersitz. Nickend folgte ich ihm, hielt die hintere Tür für Kiyoshi auf. Jiro blieb unschlüssig auf dem Bordstein sitzen, hielt die Sandwiches Packung in seinen Händen, als hätte er sie sich nicht verdient. Traurig betrachtete er die Brotschreiben.

»Komm, Jiro«, bat ich ihn. »Wir fahren weiter.«

Erst dachte ich, er wollte alles hinschmeißen, sitzen bleiben, ein bisschen weinen und hoffen, dass ihn seine Mutter abholen könnte. Schließlich stand er doch auf, ging entmutigt auf uns zu und sah auf die offene Tür, die ich ihm hinhielt.

»Schon okay«, surrte er. »Ich sitz vorne. Dann kannst du mit Kiyoshi zusammen sein.«

Auch hier schien er traurig über die Tatsache zu sein, dass Kiyoshi allen Anschein nach über ihn stand. Bisher war das nie der Fall, nicht mal eine ehemalige Freundin von ihm oder mir konnte dem jeweils anderen die Stellung abreißen. Doch jetzt? Kiyoshi stand auf Platz 1 und hatte Jiro verdrängt. Unbewusst, sicherlich nicht von mir gewollt.

Und als hätte ihn diese Tatsache nicht weiter überrascht, stieg er wortlos auf den Beifahrersitz und schnallte sich an.

»Danke ... für das Essen«, bedankte er sich kleinlaut bei Alexander, der bereits den Wagen startete und nur darauf wartete, dass ich einstieg.

»Du sollst hier ja keinem die Ohren vollheulen, du würdest nichts als Blut kriegen.« Alexanders spitze Worte ließen Jiro kurzweilig lächeln. Noch immer schien er an der Sache gefallen zu haben, dass die Geschichte um die Vampire nicht stimmte. Noch immer glaubte er wahrscheinlich an einen dummen Trick, mit dem wir ihn foppen wollten.

Seufzend und mit einem letzten Blick über den Rastplatz schweifen stieg auch ich in den Wagen zu Kiyoshi auf die Rückbank und schnallte mich an, als Alexander losfuhr. Immer weiter in den Süden, nur die eine Landstraße entlang.

»Wenn du ... eine Pension siehst, halte dort«, schlug ich vor. »Ich glaube, wir passen nicht alle in dieses Auto.«

»Würde notfalls aber auch gehen. Ich mach mich auch klein«, beteuerte Kiyoshi seine hagere Figur und klammerte sich an mich ran. Ein Lächeln streifte meine Lippen, sodass ich ihn sachte küsste.

»Definitiv eine Pension. Oder Hotel. Ihr beiden sollt gefälligst in ein eigenes Zimmer gehen! Ich kann das nicht sehen«, knurrte Alexander und sah uns böse durch den Rückspiegel an. Sofort fuhren wir auseinander und hielten nur noch Händchen über den mittleren freien Sitz.

Jiro aß schweigend seine Sandwiches. Wahrscheinlich fiel ihm zu diesem Thema gar nichts mehr ein. Oder er wollte es einfach nicht weiter ansprechen. Wobei das ausnahmsweise absolut nicht nach Jiro klang. Dinge totschweigen? Nicht bei ihm.

 

Nach nicht nur einer Stunde nickte ich weg. Die Erschöpfung hatte mich doch eingeholt und das beruhigende Geräusch vom fahrenden Auto machten mich schläfrig. Kiyoshi neben mir nickte hier und da auch mal weg, blieb aber so weit es ging wach, um sich mit Alexander zu unterhalten, damit auch der wach blieb. Jiro stattdessen schlief ebenfalls und lehnte sachte an der Autotür. Für einen Menschen, so dachte ich, wirklich bewundernswert, was er für eine Ausdauer hatte. Klar, Alexander half ihm bei einigen Dingen, doch gerade mentale Anstrengungen vollbrachte er recht akzeptabel. Immerhin wurde er von uns ins kalte Wasser geschmissen, wortwörtlich. Niemand hatte ihn langsam darauf vorbereitet, dass der beste Freund aus einem Haushalt voller Vampire kam und jetzt ein gesuchter Verbrecher war. Hier kam alles Schlag auf Schlag für ihn. Und je länger ich ihn durch den Außenspiegel schlafen sah, wusste ich, dass er die Welt nie wieder so sehen könnte, wie davor. Vielleicht hatten wir ihn sogar gebrochen. Der Moment, in dem er auf dem Bordstein saß, verloren und vollkommen fertig mit der Welt, hing noch in meinem Kopf wie Schwefel in der Hölle. Selbst als ich schlief musste ich an sein trauriges Gesicht denken. An all die traurigen Gesichter um mich herum, die sich nichts sehnlicher wünschten, als endlich wieder Ruhe zu haben und nicht um das Leben fürchten zu müssen.

Alexander fuhr recht human, bis er auf einmal bremste und ich durch den Schwung nach vorne wach wurde.

»Was ist?«, fragte ich sofort aufgebracht, da das erste, was mir in den Kopf kam war, dass Vincent vor uns stand. Doch nur die Leuchtreklame eines Motels strahlte uns vier in die Augen.

»Sorry, hab den Wagen abgewürgt«, meinte er locker und stieg aus. »Das war jetzt das erste Ding, was einigermaßen nett aussieht.«

»Ja, sieht okay aus ... Danke, Alexander.« Mein Blick sollte aufrichtig klingen, doch alles, was ich erntete, war ein müder Ausdruck von Genervtheit.

»Haben wir denn noch so viel Geld?«, fragte Kiyoshi schüchtern, als er auch aus dem Auto stieg und die Tür hinter sich zuknallte.

»Solange sie eine Karte annehmen, ja«, murrte Alexander und ging uns allen voraus in die kleine Rezeption. Es war ein typisches, schmuddliges Motel mit vielen Apartments, die man von außen betreten konnte. Einige alte Rostkarren standen auf dem Parkplatz; unsere gleich daneben. Auch wenn der Benz sehr gepflegt war, so war er doch ziemlich alt.

Jiro folgte Alexander wehmütig, nicht mit einem Wort zwischen den Lippen. Sein blasses Gesicht deutete auf Müdigkeit hin, die sich jedoch schnell wieder fing, als wir an der mit bunten Neonröhren versehenen Rezeption standen.

Es war einfach wie im Film, dachte ich. Gleich schmuggeln wir noch ein paar Drogen für die Nebeneinnahmen und kaufen uns davon Knarren.

»Wir bräuchten zwei Zimmer ... nein, besser Drei«, verkündete Alexander dem pickeligen, jungen Typen mit Ziegenbärtchen hinter der Rezeption.

»Hab nur noch eins frei«, raunte der dem Fragenden ins Gesicht. Wenn der nur wüsste, dachte ich, mit wem er es da zu tun hatte, wäre er nicht so unfreundlich. Aber Alexander schien ausnahmsweise mal die Ruhe selbst.

»Nur eins? Da stehen doch nicht mal genug Autos vor der Tür um alle eure Zimmer zu belegen!«

»Ist nicht mein Problem«, sagte der Junge salopp und blätterte desinteressiert in einer Zeitschrift. »Da war so'n Typ, der wollte alle Zimmer gebucht haben. Deswegen hab ich nur noch eins frei. Ist aber ein großes Zimmer mit Sofa.«

»Schon okay«, funkte ich dazwischen und gesellte mich zu Alexander an die Theke. »Wir nehmen das Zimmer.«

Ich bekam zwar einen bösen Blick von der Seite zugeschmissen, wusste aber, dass wir keine andere Wahl hatten, als das Zimmer zu nehmen, was uns der Pickelmann anbot.

»Das macht dann 6830 Yen für eine Nacht.«

»6830? Ich hoffe, das Zimmer ist dafür wenigstens sauber!«, brummte Alexander genervt und reichte dem Typen seine Karte, als wären seine Hände nicht würdig auch nur die Karte anzufassen. Der Pickelmann lachte nur und buchte den Betrag vom Zauberplastik, warf Alexander die Quittung hin, auf die er unterschreiben musste, und steckte sie in einen großen Ordner.

»Hier ist der Schlüssel, morgen früh um 12 muss der wieder hier rein, oder ich muss euch einen neuen Tag berechnen.«

»Schon klar«, raunte Alexander, nahm den Schlüssel an sich und verließ mit unterdrückter Wut den Raum der Rezeption.

»Besser als nichts«, murmelte ich und nahm Kiyoshi an die Hand, der nur gähnte. Wahrscheinlich war er froh gleich in ein Bett steigen zu können.

Als wir an einem kleinen Automaten vorbeikamen, nahm ich mein Kleingeld raus und zog uns Zahnpasta und Zahnbürsten, etwas Duschgel und sogar einen Rasierer. Ich durfte meinen Bartwuchs nicht zulassen. Sonst wäre ich als Weihnachtsmann durchgegangen.

»Was glaubst du, was der eine Mann hier mit all den Zimmern will?«, fragte Kiyoshi leise, der noch auf mich am Automaten wartete und mir die Sachen abnahm.

»Bestimmt irgendwas mit Drogen«, grinste ich vor mich hin, als ich den Rasierer aus dem Schlitz nahm und mich wieder zu den anderen drehte, die schon längst im Zimmer waren. Es befand sich inmitten von anderen im ersten Stock.

»Oh Gott, hoffentlich ... geht das nicht auch noch schief!«

»So lange wir hier nur schlafen und nichts anfassen, was nicht uns gehört ... dürfte da nichts passieren.«

Trotzdem lag natürlich auch in meiner Magengegend ein etwas unwohles Gefühl. Drogengangster direkt nebenan, Vincent noch auf dem Weg zu uns, eine geklaute Karre auf dem Parkplatz. Und Blutpackungen um den Gürtel geschnallt. Top!

 

Das Zimmer war in der Tat etwas größer, als wahrscheinlich die normalen Räume der Pension. Ein Doppelbett in der Mitte mit zwei kleinen Nachttischschränkchen und einem Sofa gegenüber. Ein uralter Röhrenfernseher stand am anderen Ende des Raumes und zeugte von Retrospektive. Letztendlich war das Zimmer zwar relativ sauber, doch sah man gerade in den Ecken einige schwarze Flecken, Schimmel und abgeblätterte Tapeten. Unter dem Bett hausten wahrscheinlich einige Tierchen, über die man besser nicht nachdachte. Das Bad war ebenfalls ziemlich heruntergekommen. Selbst die Toilette war noch ein Hängeklo, sodass man wunderbar eine Knarre in den Wasserkasten verstecken konnte. Ein kurzer Blick meinerseits zeigte mir aber, dass sich keine darin befand. Nur gelbliche Handtücher am ebenso gelblichen Handtuchhalter waren interessanter als das Hängeklo. Der Rest: verschimmelt, verdreckt und gefühlt mehrere Jahre nicht mehr gereinigt worden. Nur die Bettlaken schienen sauber. Zumindest beim ersten Hinsehen.

Als Alexander das Sofa auszog, seufzte er streng. Die Liegefläche war leicht gelblich und schien ebenso lange zu existieren wie der Röhrenfernseher.

»Wie konnte das nur passieren? Ich hause in so einer Schabracke!«, meckerte er vor sich hin und begann die Kissen so gut es ging über die Flecken zu legen.

»Glaube mir ... jeder hier ist einen höheren Standard gewohnt.« Doch mein Kommentar wurde nur belächelt.

»Bei unserem Punk bin ich mir da nicht so sicher«, stachelte Alexander wieder los und sah dabei auffordernd zu Jiro. Doch der starrte nur abwesend auf den beigen Teppichboden und sagte nichts.

»Hast du schon deinen Körper verlassen?«, raunte der schwarzhaarige recht ungeniert und ging auf Jiro zu.

»Ich hab dich gehört«, kam es auf einmal sehr genervt von Angesprochenem. »Ich hab nur keine Lust mehr, mich mit dir zu streiten. Und ich höre nicht auf "Punk". Wenn du dir meinen Namen nicht merken kannst, soll das nicht mein Problem sein.«

Alexander schnaubte aus, verdrehte die Augen und warf sich wortlos auf das Sofa. Mit Schuhen wälzte er sich auf der scheinbar unbequemen Matratze.

»Leg dich doch ins Bett«, schlug ich vor und deutete auf die weißen Laken. »Du bist viel gefahren, vielleicht solltest du ausgeruhter sein.«

»Nein, ich will jetzt einfach nur meine Ruhe«, brummte er mit bereits geschlossenen Augen und seufzte noch einmal laut auf. Kiyoshi gähnte dann auch und ließ seine Schultern knacken.

»Hiro, lass uns auch was schlafen ...«, säuselte er und schmiegte sich an mich ran; verführte mich mit ihm ins Bett zu gehen.

Doch ich negierte. »Nein, danke. Geh ruhig schlafen, ich schiebe Wache. Ich habe im Auto geschlafen, mir reicht das.«

Große Augen trafen meine. »Sicher?«

»Ja, sicher. Wenn ich nicht mehr kann, sage ich Bescheid.«

Kiyoshis Mundwinkel zuckten leicht nach oben, berührten dann meine Lippen. Ein kurzer, feuchter Kuss endete so schnell er gekommen war. »Mein Held.« Kaum bemerkbar strich er mir mit seinen dünnen Händen über meine Hüfte und legte sich ebenfalls mit Schuhen auf die Decke des Bettes. Als auch er die Augen schloss und leise atmete, drehte ich mich zu Jiro. »Leg dich auch was hin. Ich schieb Wache.«

Doch Jiro schüttelte den Kopf und deutete die Veranda an, durch die wir gekommen waren. »Lass uns eine Rauchen gehen ... und Reden.«

Das ließ mich meine Lippen aufeinander pressen, die Blutpackungen abschnallen und Jiro auf die Veranda folgen. Der holte eine Packung Zigaretten raus, machte sie frisch auf und reichte mir eine Zigarette.

Als wir beide für einige Sekunden rauchend am Geländer standen und zwei Männer in schwarz dabei beobachteten, wie sie geheimnisvoll an ihrem genauso schwarzen und geheimnisvollen Van standen, musste ich grinsen.

»Weißt du noch, wie wir uns früher immer ausgemalt haben, wie cool es wäre, wie in den Filmen rumzufahren... ohne Ziel?«

Jiro nickte langsam, musste dann auch schmunzeln und pustete Rauch aus. »Ja, aber ... das ist gar nicht cool gerade.«

»Nee, das könnte besser sein. Ich dachte auch, das würde sich besser anfühlen.«

Da drehte sich Jiro zu mir um und sah mich lange an. Als ich seinen Blick erwiderte, seufzte er.

»Hiro ... wieso hast du mir nichts gesagt?« Seine Stimme klang traurig und verloren. Vielleicht sogar auch ein wenig weinerlich.

»Es tut mir Leid ... ich dachte, es wäre besser bei mir aufgehoben.«

»Aber ich bin dein bester Freund! Du kannst mir doch alles sagen!«, brachte er das wohl beste Argument des Abends, gegen das ich absolut keine Chance hatte.

»Ich weiß ... ich habe mich nicht getraut. Und alle haben mir eingeredet, ich solle darüber schweigen!«, verteidigte ich mich. So war es ja auch! Vampire sollten geheim bleiben. Nur einige wenige waren eingeweiht. Und bei Jiro war ich mir eben manchmal nicht so sicher, ob er auch wirklich dicht halten würde.

»Alle haben dir das gesagt? Meine Güte, wie viele wissen denn davon?«, platzte es aus Jiro raus; frei nach dem Motto, wieso er dann der Letzte war, der es erfahren hat.

»Na ... Mom, Dad ... die Schule ... Ja, eigentlich alle da oben!«

Da schwieg Jiro. Sah mich lange Zeit verwirrt an, bis er Luft holte und sich räusperte. »Reden wir vom Selben?«

»Äh, ich weiß nicht?«, lachte ich verunsichert und kratzte mich am Nacken.

»Ich meine das zwischen dir und Kiyoshi!«

»Oh!«, hustete ich fast heiser heraus, da ich gerade am Rauchen war. »Das meinst du! Haha ... ach so ... ja ...«, nuschelte ich vor mich hin und rauchte einfach stumm weiter.

»Hiro, man, das ist nicht witzig. Er ist dein Zwillingsbruder! Bitte sag mir, dass ihr beiden im Bad nur Spaß gemacht habt!«

Ich biss mir auf die Unterlippe. Kaute hier und da etwas an losen Hautfädchen rum. »Na ja, wie soll ich es sagen? Wir hatten schon... Spaß ...« Ein Räuspern, ein unsicherer Blick zu Jiro folgten. »Leider ist es kein Witz. Ich wünschte, es wäre einer.«

Mein bester Freund rauchte energisch auf, warf den Stummel das Geländer runter und sah für einen Moment den zwei Männern hinterher, die jetzt wieder in einem der Zimmer verschwanden. »Du bist also ... mit deinem eigenen Bruder zusammen?«

Vorsichtig, aber immer noch verunsichert, nickte ich.

»Du kennst ihn doch erst seit einer Woche! Und ... wah!«, rief Jiro, »Er ist dein Bruder, man! Er sieht so aus wie du! Und er ist ein Mann! Was ist los mit dir, Hero?«

Für einen Moment stockte mir das Herz, als er angewidert über mich und meine Liebschaft sprach, seufzte jedoch erleichtert auf, als er mich wieder bei meinem Kosenamen nannte. Wann immer er mich bei meinem richtigen Namen rief, wusste ich, dass es ihm ernst war. Dass ich nichts zu lachen hatte. Doch sobald Hero fiel ... war doch wieder alles in Ordnung, oder?

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist ... es war ... Liebe auf den ersten Blick. Ja, doch. Kann man so sagen«, nuschelte ich wieder vor mich hin und rauchte schließlich ebenfalls auf. Die Zigarette war wirklich ein Segen. Sie ließ mich meine Schmerzen vergessen, die Aufregung und die eigentlich gefährliche Situation.

»Liebe auf den ersten Blick? Dass die auch noch von Kiyoshi kam ... was ein dummer Zufall«, seufzte er erschöpft und ließ die Hände gegen seinen Körper fallen. »Also bist du jetzt schwul?«

»Nein, immer noch bisexuell. Die Frauenwelt lass ich mir nicht nehmen«, lachte ich amüsiert, stieß aber auf weniger Verständnis.

»Da darfst du aber niemals jemandem erzählen, dass du mal mit deinem eigenen Bruder zusammen warst!«

»Ich hoffe auch, dass es länger anhalten wird und ich ... niemals in diese Situation kommen werde, einem neuen Partner etwas über meine Ex-Partner zu erzählen.«

Da stutzte er. »Dir ist es also echt ernst mit ihm?«

»Ja.«

Als sich unsere Blicke trafen und ich ohne mit der Wimper zu zucken in Jiros Augen sah, seufzte er leise.

»Hero, du machst echt nur krasse Sachen... aber damit übertrumpfst du dich selber ...«

»Haha, ja ... ich schätze auch, dass es dafür keine Steigerung gibt. Glaube mir ... unsere Eltern stehen genauso ratlos in der Ecke wie wir.«

»Weiß deine Ma also bescheid?«, fragte er sichtlich überrascht. »Und dein Dad auch?«

»Ja«, seufzte ich abermals und rieb mir die Lider. Sie fühlten sich geschwollen und rau an. Wahrscheinlich auch von den Strapazen. Ein Piepsen machte sich in meinen Ohren breit. Wie ein Tinitus.

»Krass ... und die nehmen das einfach so hin?«

»Was bleibt ihnen anderes übrig?«, schmunzelte ich vor mich hin. »Sie können uns nicht das Gehirn waschen. Sie können nur hoffen, dass wir irgendwann die Einsicht bekommen, dass das, was wir tun, nicht richtig ist.«

Auf einmal ging Licht in einer der gegenüberliegenden Zimmer an – Geschrei folgte.

Wir schwiegen, lauschten dem Vorfall und erwarteten weitere Zwischenfälle. Als nichts kam, wendeten wir unsere Blicke wieder vom Geschehen ab.

»In so einer Welt«, begann Jiro und richtete seine Nietenjacke, dessen er immer noch hinterher trauerte, dass sie einige Schrammen erhalten hatte, »glaube ich langsam nicht mehr an Richtig oder Falsch. Wenn du mit deinem Bruder glücklich bist ... dann soll es so sein.«

Ein sanftes Lächeln umwob seine Lippen, sodass ich nicht anders konnte, als ihn in den Arm zu nehmen. »Danke, Jiro. Du bist wirklich der beste Freund auf der Welt.«

»Haha«, lachte er auf und streichelte meinen Rücken, »Schleimer.« Erst als wir uns lösten sah ich in seine glücklichen Augen und wusste, dass er genauso froh war, mich zu haben. Nichts könnte uns trennen. Nicht einmal die doofe Vampirsache. Nicht mal Vincent.

 

Die Nacht wurde recht kühl, sodass ich die Lage vom Zimmer aus beobachtete. Hier und da gingen noch ein paar Gangster aus ihren Zimmern, verzapften irgendetwas an ihren Vans und gingen wieder rein. Seltsame Geschäfte, von denen ich nicht wissen wollte, worum genau es ging.

Jiro hatte sich noch für ein paar Stunden schlafen gelegt; zu meiner Überraschung neben Alexander auf das Sofa. Die beiden schienen sich nie grün zu sein, doch hier und da überraschte es mich doch, wie gut sie miteinander klar kamen. Es müsste nur mal einer der beiden über seinen Schatten springen und ich war mir sicher, dass sie gute Freunde werden würden. Oder vielleicht auch nicht ... so wie die sich immer in den Haaren hatten?

Um circa vier Uhr morgens wurden meine Augen schwer und ich konnte mich kaum noch mehr auf den Beinen halten. Vorsichtig rüttelte ich an Kiyoshis Schulter, der sofort wach wurde und mich zu sich aufs Bett zog.

»Bist du müde? Soll ich Wache schieben?«

»Das wäre ... mir sehr Recht, ja«, säuselte ich grinsend und wurde sofort mit Küssen übersäht. Ein leises Kichern entfuhr mir, als Kiyoshi mich lautstark auf die Lippen küsste. Alexander brummte dann nur auf und drehte sich zu uns um.

»Was treibt ihr da? Keine unsittlichen Sachen, hoffe ich ...«, murmelte er noch halb im Schlaf. Ich verneinte sofort.

»Nein, keine Angst ... schlaf weiter. Wir tauschen nur die Wache.«

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte er weiter ohne auf meine Antwort einzugehen.

»Äh, gleich vier Uhr«, flüsterte Kiyoshi, bedacht, Jiro nicht zu wecken.

»Dann fahren wir weiter.« Mit diesen Worten erhob sich Alexander und streckte sich. Für einen Moment hob sich sein Shirt und ließ freie Sicht auf seine blassen Muskeln.

»Sofort? Lass mich kurz auf einem Bett schlafen, okay? Nur eine Stunde ... oder so ...«, murrte ich und ließ mich in die Kuhle von Kiyoshi fallen. Sie roch noch nach ihm ...

Und ehe ich dem Gespräch weiter folge leisten konnte, war ich eingenickt. Kiyoshi sprach noch mit Alexander, diskutierte wohl ein wenig, bis auch Jiro wach wurde und eifrig mitredete. Doch ich war viel zu müde, um den Dreien zuzuhören.

Viel zu müde ...

Tagestour

»Hiro? Hey ... können wir weiter?«, fragte die liebliche, dunkle und raue Stimme neben meinem Ohr. Langsam drehte ich mich und landete in den Armen meines Bruders. Der streichelte sanft mein Haar und meine Wange, bis ich meine Augen aufschlug und ihn verschwommen wahrnahm.

»Mh? Ja ... ja, wir können weiter«, murmelte ich vor mich hin und erhob mich langsam aus den bequemen Federn. Doch so bequem ich auch geschlafen hatte, so zerknautscht fühlte ich mich. Die Knochen, die Muskeln, so gut wie alles tat einfach nur erbärmlich weh.

»Ich denke, die Luft ist rein«, brummte Alexander und sah sich um. Die Tür stand bereits offen, Jiro stand ebenfalls Am Eingang zum Aufbruch bereit.

»Oh, ihr seid ja alle schon fertig«, stellte ich fest und versuchte mich selber wachzurütteln. Kiyoshi lag noch neben mir, sah mich verliebt an und nickte langsam.

»Wir haben dich so lange schlafen lassen, wie es ging. Aber jetzt bricht der Tag an und wir sollten weiterreisen. Sonst wittert Vincent uns noch.«

»Klar!«

Mit einem Hops landete ich auf meinen Boots, richtete die Klamotten und sah kurz in den Spiegel. Rasierer, Duschgel und Co nahm ich schnell mit und hoffte einfach, dass ich sie nicht allzu lange brauchen werde.

 

Alexander checkte bei der Rezeption aus, während wir am Auto warteten. Das Frühstück: eine Zigarette für jeden.

Mit blanken Nerven saßen wir im Mercedes und sahen uns um. Das Schicksal spielte ausnahmsweise mal für uns und bescherte uns einen recht trüben Tag mit vielen Wolken. Nur hin und wieder schaute mal die Sonne durch.

»Fahren wir also bis an den Strand?«, fragte ich schließlich in die Runde, die still schweigend die Fahrt auf sich nahm.

»Ich denke, ja. Da schauen wir mal weiter«, murmelte Alexander und fuhr den Wagen verantwortungsbewusst im Tempolimit. Jiro saß wieder neben ihm und hantierte am Handschuhfach rum und durchkramte die Sachen des Vorbesitzer, des alten Mannes. Doch zu seiner Enttäuschung fand er nur Papiere, Handschuhe und ein paar Taschentücher.

»Nicht mal was Brauchbares ...«, murmelte er und schloss das Handschuhfach deprimiert über die magere Ausbeute.

»Können wir kurz Rast machen? Ich habe etwas Hunger und ... Jiro sicher auch, oder?«, fragte mein Bruder und deutete auf das Schild eines Rastplatzes. Zwar schien Alexander recht wenig von seiner Idee überzeugt zu sein, fuhr trotzdem die nächste Abfahrt raus und hielt am großen Rastparkplatz der Raststätte.

Kiyoshi bedankte sich schnell, stieg aus dem Wagen und reckte sich, nahm direkt einer der Blutpackungen und kappte die Öffnung, um daran zu trinken. Als ich ebenfalls ausstieg, um mich zu ihm zu stellen, flüsterte er mir direkt die Wahrheit ins Gesicht.

»Ich kann einfach nicht so lange sitzen ... das macht mich rasend«, gestand Kiyoshi und kratzte sich an der Wange, während er immer wieder zu unserem Auto sah, indem Alexander und Jiro noch drin sitzen blieben. Verwundert blickte ich ebenfalls in deren Richtung, nickte aber verständnisvoll.

»Du hast ja Recht. Ich tausche auch gleich wieder mit Alexander, dann kann er sich etwas ausruhen.«

»Ich glaube, wir müssen eh auch gleich wieder was tanken.«

Vorsichtig nahm ich Kiyoshi in den Arm und ließ seinen letzten Satz einfach stehen. Seine dünne Statue erschien mir an diesem Tag besonders dürr zu sein. Ich verkniff mir einen Kommentar über seinen Körper und drückte ihn einfach an mich, strich behutsam über seinen Rücken, während er den Kopf auf meine Schulter lehnte. Nach wenigen Minuten hielt er mir den Schlauch hin, sodass ich auch ein wenig davon trinken konnte.

 

»Danke«, murmelte Jiro. Alexander saß noch immer angespannt am Steuer.

»Wofür?«

»Dass du angehalten hast. Dass du überhaupt fährst. Dass du uns hilfst.« Jiros Blick fiel auf seinen Schoß, wo er die letzten paar Münzen seines Geldes in der Hand hielt und zwischen den Fingern drehte.

»Wird der Punk jetzt sentimental?«, schnauzte Alexander schon fast wieder unbegründet los.

»Sag doch einmal meinen Namen, man. Ich nenn dich doch auch nicht immer Schnösel oder Bonze«, raunte Jiro zurück und sah ihn genervt an. Doch sein Sitznachbar zuckte nur mit den Schultern und sah weiterhin aus der Frontschreibe.

»Punk passt besser. Du bist dreckig, dumm und hast eine Aussprache, wie die eines Obdachlosen.«

Für ein paar Sekunden starrte Jiro einfach nur in Alexanders Richtung, der seinen Blick nicht erwiderte. Es war der Blick eines gekränkten Mannes, der etwas gegen die Ohren geschmettert bekam, was nicht ansatzweise stimmte und trotzdem von großer Bedeutung schien.

»Du bist einfach nur verletzend. Ich weiß nicht, was du damit erreichen willst ...«, murmelte Jiro enttäuscht, nahm sein Geld fester in die Hand und stieg letztendlich aus dem Auto aus. Ein lautes Türzuschlagen läutete seinen Abgang ein.

 

»Jiro?«, rief ich ihm noch hinterher, doch mehr als eine Handbewegung zum Rasthofshop bekam ich nicht.

In dem Moment stieg auch Alexander aus, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich mit dem Rücken zu uns an das Auto.

»He«, ging ich auf ihn zu und nahm Kiyoshi bei der Hand. Sofort reichte ich ihm den Rest der Packung. Dankend nahm er sie an und trank das letzte Blut aus. »Habt ihr euch schon wieder gestritten?«, fragte ich sichtlich unbeeindruckt über die Tatsache, dass Jiro wutentbrannt das Auto verlassen hatte. Alexander zuckte nur mit den Schultern, warf die letzte Blutpackung in einen nahen Mülleimer und kam wieder zum Auto zurück, rauchte noch immer mit tiefen Zügen.

»Vielleicht.«

»Sei doch mal netter zu ihm ... Bitte. Er hat dir doch nichts getan.« Kiyoshi sah ihn mit großen Augen an. »Zu mir bist du doch auch nett. Und ich dachte immer, mich kannst du am wenigsten leiden.«

»Keine Ahnung, er zieht das an. Ich kann da nichts gegen machen«, verteidigte sich Alexander mit einer recht bescheidenden Ausrede.

Als die Sonne aus der Wolkendecke brach und uns quälte, sperrten wir das Auto ab und setzten uns auf einen Bordstein, der von Bäumen umringt war. Doch selbst im Schatten wurde es etwas unangenehm.

Da erspähte ich in der Ferne ein Münztelefon.

»Hat einer von euch noch ein bisschen Kleingeld?«, fragte ich aufgebracht und fing an, mein Portemonnaie durchzukramen.

»Mutierst du jetzt auch schon zum Penner?«, murrte mich Alexander an, der seinen Stummel der Zigarette auf dem Boden vor ihm mit dem Schuh zerdrückte. Mit einem etwas gereizten Blick sah ich in seine arroganten Augen.

»Genau solche Kommentare meinen wir ... unterlasse das.«

Kiyoshi kramte ebenfalls in seiner Geldbörse und gab mir einige kleine Münzen, sofort wissend, wieso ich sie brauchte. »Willst du Mutter anrufen?«

»Ja ... ich glaube, die SMS hat sie verstört ...«

»Kann man nicht wissen, das Handy war vor ihrer Antwort schon tot«, hörte man Alexander brummen, der noch einmal auf sein schwarzes Display starrte.

»Willst du auch zu Hause anrufen?«, fragte ich höflich, als ich aufstand. Ich für meinen Teil hatte keinen Grund böse auf ihn zu sein oder ihn mit abfälligen Kommentaren zu überschütten.

»Nein«, war alles was aus ihm herauskam. Ein demütiger Blick nach unten zeigte mir deutlich, dass er keinen Sinn sah, zu Hause anzurufen. Oder bei seiner Tante. Als würde ihn eh niemand vermissen.

Gerade, als ich gehen wollte, kam dann auch Jiro aus dem Shop wieder und hielt eine ganze Tüte mit Dingen gefüllt in der Hand. Aus seiner Jackentasche holte er dann noch Kaugummi und eine Tablettendose.

»Was hast du alles gekauft?«, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue, als ich seine Plastiktüte musterte. Jiro zog die Schultern hoch und zog sich ein belegtes Baguette raus.

»Hauptsächlich Wasserflaschen ... Keine Lust mehr das Wasser aus den Wasserhähnen an Rasthöfen und Motels zu trinken.«

Ich nickte sofort und lächelte schwach. Wie schnell man vergaß ... dass man einen Menschen dabei hatte ... der Wasser und Nahrung brauchte.

»Ich gehe Mom anrufen. Willst du deine auch anrufen?«

Jiro verneinte sofort; unterschwellig etwas enttäuscht. »Es reicht, wenn deine Mom es meiner sagt. Sie war schon so unbeeindruckt, als ich das letzte Mal mit ihr telefoniert hatte ... Ist wahrscheinlich viel zu sehr mit sich selber und ihrem gebrochenem Bein beschäftigt.«

»Verstehe«, murmelte ich und sah zu meinem Bruder, ob der wenigstens mit mir mitkommen wollen würde. Schnell nickte er mir zu, hakte sich in meinen Arm und ging schlendernd zum Münztelefon. Jiro und Alexander blieben auf dem Bordstein sitzen.

 

»Hier«, sagte der gepiercte Mann und hielt dem anderen schwarzhaarigen die Tablettendose hin. »Ich weiß nicht, ob es bei euch wirkt ... aber hab es mal auf Verdacht mitgenommen.«

»Bei uns? Du sagst es so abfällig... Glaubst du es etwa immer noch nicht?«, fragte Alexander leicht gereizt und drehte die Dose in seinen kalten Händen. »Ibuprofen? Schmerztabletten?«

»Ihr habt alle große Wunden. Und wenn ihr so in der Sonne rumlauft ... verbrennt ihr. Die Schmerzen jedenfalls scheinen ja echt zu sein«, murmelte Jiro und verzog ungläubig das Gesicht, als wäre er sich immer noch nicht über die Vampirgeschichte sicher.

»Verstehe. Na ja. Sie wirken ... wenn auch nicht so gut, wie bei euch.« Mit diesen Worten öffnete Alexander die Dose, schmiss sich eine Tablette und spülte sie mit etwas Wasser runter.

»He ... wer hat gesagt, du darfst mein Wasser trinken?«, raunte Jiro seinen Nachbar an, der die Flasche wieder zurück in die Tüte stellte und ihm nur einen gereizten Blick schenkte.

»Die Hälfte davon ist doch eh geklaut«, gab der salopp zurück und lehnt sich ein wenig zurück. Ein hinterlistiges Lächeln streifte seine Lippen.

»Hey! Nur die Kaugummis und die Tabletten!«, verteidigte sich Jiro, musste dann aber auch lachen und schmiss sich, nachdem er das Baguette aufgegessen hatte, einen Kaugummi rein.

»Wusste ich's doch ... du Punk.« Alexander verdrehte die Augen und steckte sich noch eine Zigarette an. Jiro tat es ihm gleich und zog aus der Tüte noch eine volle Schachtel, steckte sie sich in die Hosentasche. Nachdem er auch einen großen Schluck Wasser getrunken hatte, lehnte er sich ebenfalls zurück und betrachtete mit Alexander schweigend den wolkenbenetzten Himmel, während sie genüsslich ihre Zigarette rauchten. So schnell wie sie stritten – so schnell fanden sie auch ihren Frieden wieder.

 

»Mom? Hey, Mom!«, begrüßte ich die Dame, die sich an der anderen Leitung meldete.

»Hiro!«, kam ihre rügende Stimme. »Wo bist du? Hast du sie noch alle? Einfach so in den Urlaub zu fahren? Mit Nichts?«

Ein verzweifeltes Lachen kam über meine Lippen. »Ja, weißt du ... das war alles sehr spontan und ...«

»Und ohne Handy! Du hast doch gar nichts dabei!« Ihr Stimme wurde wieder acht Oktaven höher. Sie quietschte so hoch, dass ich kaum ihre Worte verstehen konnte.

»Ja, ist ein bisschen blöd gelaufen, aber -«

Doch wie immer, wenn sie hysterisch wurde, ließ sie mich nicht ausreden. »Was ist passiert? Sucht dich die Polizei? Hat Kiyoshi jemanden umgebracht? Oder sind es doch Drogen?«

»Mom! Lass mich mal ausreden!«

»Es kommen doch sowieso nur Lügen! Euer Vater hat gestern angerufen und wollte ebenso wissen, wo ihr seid und ich konnte es ihm nicht sagen! Wir machen uns beide Sorgen! Du sagst mir jetzt sofort, wo ihr seid!«

»Am Strand!«, schrie ich genervt in das Mikrofon. Einzelne Passanten sahen überrascht über meine lauten Worte in unsere Richtung. Kiyoshi hingegen blieb ruhig und lehnte an der Telefonsäule; seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein seinen Nägeln, die ein wenig unter den Strapazen gelitten hatten. Trotzdem war ich mir sicher, dass er jedes Wort von Mom verstand.

»Am Strand? Wirklich? Was macht ihr da?«

»Urlaub?«, raunte ich genervt, stemmte meine Hand in die Hüfte. »Jedenfalls ... sind wir noch auf dem Weg dorthin. Aber ich schätze mal morgen oder so ... haben wir den Strand erreicht.«

»Und wo genau am Strand?«

»Mom, keine Ahnung... wir sind doch noch nicht da ... « Manchmal nervte sie. Gerade jetzt, in dieser angespannten Situation, konnte ich mich nicht auf ihre Stimme konzentrieren. Und schon drei Mal nicht ihr adäquate Lügen-Antworten aufzutischen.

»Oh bitte, Hiro ... was ist passiert? Ich mache mir Sorgen um meinen Schatz!«

»Alles ist gut, Mom ... Wir ... machen nur mal Urlaub.«

»Mit Nichts? Womit reist ihr eigentlich? Und wer ist wir

Ein weiteres Seufzen entfuhr meinen Lippen. Wieso wollte sie alles so genau wissen? Wieso konnte sie nicht so chillig drauf sein wie Jiros Mom?

»Jiro und Alexander ... der Freund, bei dem wir auch geschlafen haben.«

»Woher kennt ihr den?«

»Ist ein Freund von ... äh ... Jiro.« Ich verschwieg lieber, dass es eigentlich ein Bekannter von Kiyoshi war. Sie wäre bei der Info doch direkt wieder an die Decke gegangen. Denn Kiyoshi hätte nie und nimmer menschliche Freunde gehabt...

»Und womit reist ihr?«, wollte sie harsch wissen, als entdecke sie bereits bald meine Lüge und war kurz davor sie aufzudecken.

»Mit einem Auto! Okay? Lass mir... doch die Freiheit mal zu verreisen!«

»Du kannst reisen, wohin du willst, aber doch nicht so spontan mit nichts, außer ein paar Wechselklamotten, die ich seltsamerweise zu Jiros Mutter bringen sollte – und so wie ich herausgefunden habe, sollte die die Sachen wieder irgendwohin schaffen!«

Da biss ich mir auf die Lippe. Mom stellte also Nachforschungen an, soso. Das gefiel mir absolut nicht. Würde sie uns auf die Spur kommen und wohlmöglich noch nachreisen ... wäre sie gefundenes Fressen für Vincent gewesen. Das musste ich auf jeden Fall verhindern.

»Ich geb dir noch mal Kiyoshi, dann muss ich Schluss machen. Wir haben nicht mehr so viel Kleingeld.«

Sie plärrte noch irgendetwas ins Telefon, welches ich bereits vom Ohr nahm und mit Augenverdrehen zu Kiyoshi reichte. Der nahm es recht amüsiert an und hielt es sich an die Ohrmuschel.

»Mutter? Hi, ich bin's.«

Und dann ging das Ja und Nein Spiel wieder los. Kiyoshi schien immer so kurz angebunden zu sein, wenn er telefonierte. Jedenfalls erzählte er nicht viel, Mutter schien nur viel zu fragen. Ich ging aber mal davon aus, dass er ihr alles "wahrheitsgemäß" erzählte. Sprich: sie genauso anflunkerte, wie ich.

Als das Gespräch beendet war und Kiyoshi seufzend das Telefon aus der Hand legte, sah er mich mit großen Augen an.

»Was machen wir jetzt?«

»Zurück zu den beiden und ... weiterfahren. Vielleicht schaffen wir es auf ein Kreuzfahrtschiff ... da wird uns Vincent nicht folgen können.«

»Kreuzfahrtschiff? Oh ...« Kiyoshis Blick trübte sich sofort. Erst jetzt schien er zu merken, dass sich unsere Reise auf etwas länger ausbreiten würde.

»Komm ... wir schaffen das. Wir haben uns, reicht doch«, scherzte ich und drückte ihm einen sinnlichen Kuss auf die Lippen. Genüsslich schlang er die Arme um meinen Nacken und presste seinen Körper an mich heran. Ein Seufzen entfuhr ihm, als ich ebenfalls meine Arme um seine Taille legte und ihn liebevoll streichelte.

»Ja«, hauchte er schließlich gegen meine Lippen. »Das reicht vollkommen.«

 

Beim Rückmarsch blieb ich noch kurz am Shop stehen und las die Schlagzeilen der Tageszeitung. Sie schrieben noch einmal über den Vorfall am See, dass es wohl doch Verletzte gab, man einige Jugendliche gefunden, aber noch nicht verhört hätte. Ich konnte nur hoffen, dass es sich hierbei nicht um unsere Freunde handelte, die man in Gewahrsam hielt.

Alexander und Jiro saßen noch ausgelassen auf dem Bordstein und blickten beide in den Himmel.

»Wir könnten weiter«, schlug ich vor und deutete auf den Wagen. »Ich fahre jetzt weiter.«

Ein stummes Nicken folgte, Alexander hob sich und nahm die Plastiktüte an sich.

»Es waren auch keine großen Vögel am Himmel«, bemerkte Jiro, stand auch auf und nahm dankend die Tüte wieder an sich.

»Perfekt.«

 

Doch die Autofahrt sollte nicht lange gehen. Die Tanknadel ging wieder einmal schneller runter als gedacht.

»Man, diese Karre hier frisst mehr Benzin als Jiro Kaugummis!«, fluchte ich und haute mit der Faust auf die Tankanzeige.

»Wir sollten uns sowieso bald ein neues Auto suchen«, bemerkte Kiyoshi. »Sie werden den Wagen als vermisst gemeldet haben. Die Polizei wird uns noch anhalten, wenn wir nicht aufpassen.«

Ein wirklich guter Einwand, den mein Bruder da brachte. Alle andere stimmten sofort zu, doch wo sollte man sich ein neues Auto klauen? Weit und breit war nichts außer Feld und Rasthöfe. Und auf Rasthöfen empfand ich es als besonders gemein, ein Auto zu klauen. Gut, wir würden ihnen ja die Rostlaube da lassen, trotzdem würde es zu sehr Aufmerksamkeit erregen. Die Leute riefen sehr wahrscheinlich sofort die Polizei, würden den Wagen als gestohlen melden und schon hätten wir die Bullen auf den Fersen. Der Benz musste noch ein Weilchen ausharren, so viel war klar.

Also hielt ich am nächsten Rasthof und tankte den Wagen voll. Abermals ging Alexander schweigend bezahlen und stieg wieder zu uns. Wie viel Geld er noch auf der Karte hatte, wollte er uns nicht sagen. Es sei genug.

Die Sonne ging langsam unter. Zu unserem Vorteil, doch waren wir nicht gewillt die Nacht durchzufahren. Wir mussten uns wieder einen Schlafplatz suchen.

Doch nicht nur die Suche nach einem anständigen Hotel nervte, sondern auch das Gequietsche des Autos. Schließlich auch noch Nahrungsmangel, denn wir hatten nur noch eine Blutpackung. Die Vorletzte hatten wir zum Abendessen getrunken. Alles stand auf Spannung. Und wir wussten immer noch nicht wohin die Reise gehen sollte. Schließlich kamen wir an einem weiteren Motel vorbei, welches jedoch ausgebucht war. Wir näherten uns dem Strand, weswegen eine freie Unterkunft gerade zur Ferienzeit so kurzfristig schier unmöglich schien. Selbst nach mehreren Kilometern fanden wir kein freies Zimmer, sodass es darauf hinauslief, dass wir auf einen Campingplatz fuhren, die Gebühr zahlten und niedergeschlagen das Auto für die Nacht herrichteten.

»Der Standard sinkt von Tag zu Tag«, raunte Alexander und vermisste wahrscheinlich sein weiches Bett mit der teuren Bettwäsche. Dass wir uns irgendwann mal in öffentlichen Toiletten waschen mussten, konnte wohl niemand erahnen.

»Für heute dann eben mal ... weniger Luxus«, seufzte ich und schlug eine Notfalldecke auf, die wir als gemeinsame Decke nutzen konnten.

»Für heute? Für wohl was länger«, murrte auch Jiro los und sah unzufrieden zum Auto, dessen Rücksitze wir umgeklappt hatten, sodass wir den Kofferraum als Schlafraum nutzen konnten. »Wie sollen da vier Männer reinpassen?«

»Drei«, spaßte ich sofort, lachte und knuffte Kiyoshi in die Seite, der den Notfallkoffer des Autos inspizierte. Ein glückliches Grinsen wurde mir zurückgeschenkt. Er wusste genau, was ich meinte.

»Na, wenigstens habt ihr beiden Spaß.« Niedergeschlagen schlurfte Alexander ums Auto und setzte sich auf die Motorhaube. Dann schwieg er, als wäre er geistig nicht mehr anwesend gewesen.

Ein leises Seufzen entfuhr mir.

Was konnten wir schon tun? Besser so ... als in Vincents Fingern.

»Ich geh schon mal Zähneputzen«, verkündete Kiyoshi und nahm seine Zahnbürste aus seinem Blazer. Ich reichte ihm das kleine Tübchen Zahnpasta, was ich im Motel gezogen hatte. Lange würde es nicht mehr reichen.

»Mach das«, fügte ich noch hinzu und küsste Kiyoshi auf die Stirn, der sich dann winkend verabschiedete. Jiro hingegen seufzte sofort und nahm seine Zahnbürste ebenfalls in die Hand. »Dann gehe ich auch ... sind wir schneller durch ... mit dem Reinigen.«

»Alles klar«, murmelte ich etwas enttäuscht über die Tatsache, dass Jiro auch wegging. Als ich mich umdrehte und Alexander auf der Autohaube sitzen saß, seufzte ich leise auf. Der sah nicht unbedingt so aus, als wolle er mit mir reden. Die letzten Gespräche kamen auch gezwungener rüber als gedacht.

 

Nachdem alle Zähneputzen und einigermaßen hergerichtet waren, verbrachten wir noch einige Minuten vor dem Auto, unterhielten uns über dies und das, doch die Anspannung wollte nicht von uns gehen. Schließlich gähnte Jiro auf und rieb sich die Augen.

»Wenn wir schon nicht saufen ... gehe ich schlafen, ja?« Ein fragender Blick streifte die Runde. Alexander nickte und deutete mit seinem Kinn an, dass er ruhig ins Auto gehen sollte.

»Ja, geh ruhig. Wir tauschen wieder mit der Wache«, schlug ich vor und hob beide Augenbrauen. »Soll ich wieder anfangen? Und Kiyoshi löst mich ab?«

»Nee, ich geh diesmal zuerst«, surrte mein Bruder und strich mir liebevoll über den Arm. »Du hast letzte Nacht schon so lang gemacht.«

»Ich pass auch gerne auf. Dann könnt ihr beiden schlafen gehen«, schaltete sich Alexander endlich mit einer Stimme dazwischen und rupfte ein wenig Gras von vor seinen Füßen aus.

»Nee, dich brauchen wir als Fahrer.«

»Dann also ich?«

»Ich gehe gerne.«

»Nee, also-«

»Scheiß doch auf die Wache!«, plapperte Jiro dazwischen und hob beide Arme. »Wenn der Vogel hier ist, war es bisher immer zu spät! Und wenn einer Vincent sieht, ist es eigentlich auch schon zu spät!«

»Was redest du da? Wenigstens haben wir dann noch Zeit zu fliehen! So ermordet er uns im Schlaf«, konterte Kiyoshi und schob die Augenbrauen nachdenklich zusammen. Auch Alexander schien von Jiros Vorschlag weniger begeistert zu sein und sah ihn eindringlich an.

»Er hat nicht ganz unrecht«, seufzte ich und legte den Kopf schief. »Eigentlich wäre es von Vorteil, wir würden tagsüber schlafen und abends reisen, aber ... Vincent wird auch schlafen müssen. Und das tut er mit Sicherheit nachts. Also ... wieso wir nicht auch?«

Mit diesen Worten stand ich auf, zuckte mit den Schultern und deutete auf den Wagen. »Gehen wir alle schlafen. Ich glaube, es wird sowieso eine unruhige Nacht werden, haha«, lachte ich nervös und dachte an den winzigen Raum, in den sich jetzt vier Männer quetschen durften.

Alexander blieb eisern. »Wir passen da eh nicht alle rein. Dann kann auch einer Wache schieben.«

»Mach doch, was du willst!«, schnauzte Jiro sofort den Schwarzhaarigen an, winkte ab, und ging zum Wagen, wo er die Tür aufriss und sich in die Ladefläche legte. Dicht gedrängt an die andere Seite, sodass jeder von uns noch Platz hatte, dazu zu kriechen. Jiros Verhalten ließ selbst mich stutzen. So gereizt hatte ich ihn noch nie erlebt; aber es war ihm gegönnt, so dachte ich. Diese Situation verlangte einfach Grenzwege.

»Komm schon, Alexander. Dann sind wir morgen alle ausgeruht und ... können früh weiterfahren.«

Kiyoshi wartete nicht auf Alexanders Reaktion und ging ebenfalls Richtung Auto, kletterte hinein und gesellte sich zu Jiro, der sich kurz umdrehte und nickte. Wie immer nahm Kiyoshi die haarige Situation schweigend hin, dachte ich und seufzte ein wenig über die Enthaltsamkeit meines Bruders, was eine Meinung anging.

»Vincent wird uns so schnell nicht auf diesem Campingplatz finden. Wahrscheinlich geht er eher davon aus, dass wir uns irgendwo in der Wildnis vergraben haben.«

Meine Argumente schienen zu Beginn wenig Anklang bei Alexander zu finden, lösten dann doch eine Reaktion aus und ließen ihn laut Seufzen. »Na schön... Aber zwing mich nicht, mich an den Punk ranzukuscheln.«

»An wen du dich rankuschelst, soll dir überlassen sein«, gab ich grinsend zurück und verdrehte leicht die Augen.

Kiyoshi rückte noch etwas näher an Jiro ran, sodass ich mich mittig zu ihm legen konnte. Alexander kroch dann ebenfalls ins Auto, schloss die Tür und kurbelte ein Stück das Fenster runter.

»Vielleicht hörst du ja dann den Vogel«, brummte er mir zu und legte sich mit angewinkelten Beinen neben mich hin. Ja, bequem war was anderes, aber besser als nichts, dachte ich mir und kuschelte mich an meinen Bruder ran, der bereits halb auf meiner Brust lag.

Der neue Tag würde besser aussehen. Vielleicht hatte Vincent ja wirklich die Spur verloren? Vielleicht hätten wir Ruhe? Und könnten nach wenigen Tagen wieder zurückkehren?

Jedenfalls wünschten wir uns das alle.

Marsch

»Aufmachen!«, schrie ein Mann in Uniform und hämmerte gegen die Scheibe unseres Wagens. Sofort schreckten wir hoch. »Machen Sie das Auto auf und kommen Sie mit erhobenen Armen heraus!«

Vor unserem Wagen standen mehrere Polizisten in Uniform, Waffen in den Händen, die auf uns gerichtet waren. Kiyoshis Prophezeiung hatte uns eingeholt: Sie haben uns gefunden.

»Was? Wieso?«, rief Jiro aufgebracht gegen die Visage eines nahe stehenden Polizisten. »Wir haben nichts getan!«

»Erzähl doch keinen Scheiß«, brummte Alexander, der sich durch sein dichtes, schwarzes Haar fuhr.

»Sie haben ein Auto gestohlen und stehen als Hauptverdächtige eine Feier am Innenstadtsee mit Schusswaffen gestört zu haben auf unserer Liste! Außerdem wurden sie mit fluchtartigem Verhalten in der städtischen Einkaufsmall gesichtet!«, erklärte ein Polizist in einem typisch harschen Ton. Ich schluckte gequält einen Kloß meinen Hals runter.

»Das muss ein Missverständnis sein«, begann ich, doch erhielt nur ein weiteres aggressives Klopfen gegen die Scheibe des Kofferraums.

»Wenn Sie sich nicht sofort aus dem Wagen begeben, werden wir Sie mit Gewalt herausholen!«

Kiyoshi klammerte sich an meinen Arm ran und drückte verkrampft seine Nägel in meine Haut. Ängstlich blickte er sich um, sah in jedes Gesicht der Polizisten. Wahrscheinlich war das seine erste Konfrontation mit dem Gesetz.

Jiro hingegen blieb locker und hob genervt die Arme. »Ja, sicher, sofort!« Mit einem letzten Blick zu mir und Alexander, seufzte er, hob beide Augenbrauen und öffnete schließlich die Tür des Wagens. Polizisten gingen sofort einen Meter auf Abstand – mit dem Gedanken, wir hätten Schusswaffen bei uns.

»Kiyoshi«, flüsterte ich ihm zu. »Du machst das, was ich mache, okay?«

Er nickte nur stumm, klammerte sich immer noch an mir fest, sodass es schier unmöglich schien überhaupt einen Schritt aus dem Wagen zu tätigen. Als Alexander die andere Tür öffnete und langsam mit erhobenen Armen ausstieg, kamen die Polizisten auf uns gestürmt; hielten Handschellen und Knüppel parat.

Doch Jiro wäre nicht Jiro, wenn er das nicht schon ein paar Mal durchgemacht hätte.

Er drehte sich um, trat dem Polizisten, der nah an ihm stand und ihn festnehmen wollte, mit voller Kraft gegen das Schienenbein, sodass er wegknickte und vor Schmerzen aufschrie. Sofort packte er sich den nächsten und trat auch den mit seinen Springerstiefeln in die Beine. Als sich ein weiterer Querstellen und schon zur Schusswaffe greifen wollte, schlug er ihm ins Gesicht.

Jiro kämpfte gegen die Polizisten, als wäre es das Normalste der Welt. Alexander blieb für einen Moment reglos stehen, beobachtete doch recht entsetzt das Schauspiel, griff dann aber doch ein, bevor er festgenommen wurde und schlug diesem Polizisten ebenfalls ins Gesicht. So kämpften sich die Zwei frei, während ich den Kofferraum aufmachte, Blutkonserve und kleinere Gegenstände in die Plastiktüte warf, sie zuknotete und an mich band. Kiyoshi sprang ohne weitere Worte aus dem Wagen und schubste einen Polizisten von sich, der sowohl mich als auch ihn vom Fliehen abhalten wollte.

»Los jetzt!«, rief ich den beiden zu, die sich sofort von den Polizisten befreiten und uns hinterher liefen. Jiro kam nicht sofort frei, fiel noch einmal hin, da ihn einer der Männer am Bein packte, bekam aber sofort von Alexander Hilfe, der den Arm des Mannes wegtrat. Mit schmerzverzerrten Gesicht ließ er Jiros Bein los, sodass er fliehen konnte.

»Lauft, lauft!«, rief Alexander, machte hektische Handbewegungen zu uns, da wir stehen geblieben waren, um auf sie zu warten.

Da fielen die ersten Schüsse.

»Fuck, die schießen auf uns!« Ohne weiter zu warten, schnappte ich Kiyoshis Hand und zog ihn mit mir weiter durch den Campingplatz.

Es war bereits früher Morgen, die Sonne stand schon am Himmel und brannte auf uns nieder. Nur unsere spärliche Kleidung gab uns noch ein wenig Schutz.

Unser Weg führte uns durch einen Spielplatz; vielmehr ein Kletterpark. Gut für uns, dachte ich, schlug ein paar Haken und ließ dabei die Polizisten weit hinter uns, die sowieso nicht richtig mit uns Schritt halten konnten.

»Nicht so schnell«, stöhnte Jiro wieder hinter Alexander her, der ebenso Mühe hatte mit uns mitzuhalten. Im Grunde fand ich seine Ausdauer wirklich bewundernswert, trotzdem reichte es nicht, um so schnell wie wir zu sein.

»Nur Ärger!«, murrte Alexander, der kurz stehen blieb, Jiro an der Hand nahm und grob mit sich zog. Fast sah es so aus, als schleife er ihn hinter sich her.

Die Polizisten folgten uns weiterhin recht hartnäckig und ließen sich nicht so einfach abschütteln. Hier und da schossen sie auf uns, doch wie sollte ich sagen? – Sie trafen einfach nicht. Jeder Schuss ging ins Leere, traf vielleicht mal einen Baum oder einen Caravan in nähere Umgebung, aber so zielsicher wie Vincent waren sie nicht.

Vincent!

Das war das Stichwort, um einmal in den Himmel zu blicken.

Nichts war zu sehen, außer die stechende Sonne, die ein ebenso großer Feind zu sein schien, als die menschliche Verkörperung einer tödlichen Krankheit.

»Untertauchen!«, rief ich den beiden anderen zu, die mit etwas Abstand zu uns flohen. Kiyoshi lief vor mir, trennte sich dann von uns, rannte auf einen Baum zu und verschwand im Nu in der Krone, sodass man ihn nicht mehr vernahm. Ich tat es ihm gleich, rannte Zickzack in eine andere Richtung, sprang auf ein Klettergerüst und hangelte mich bis zu einigen kleinen Spielhäusern, worin ich mich verkroch.

Was Alexander und Jiro taten, wusste ich nicht, doch ich vermutete, dass sie sich ebenso irgendwo trennten und versteckten.

Die Polizisten wurden auf einmal ruhig, hatten die Fährte verloren. Hier und da riefen sie sich unverständliche Sätze zu und durchforsteten weiter die Umgebung. Der Suchtrupp näherte sich auch dem Spielplatz, sodass ich ein wenig Panik bekam. Und dass nicht nur, weil durch die offenen Holzschlitze der Hütte die Sonne rein schien und mir einen ziemlich schmerzhaften Sonnenbrand bescherten.

»Rückzug! Wir haben sie verloren ...«, brummte ein Polizist schließlich und steckte seine Waffe weg. Kollektiv verschwanden die Männer wie eine amorphe Masse wieder Richtung Polizeiwagen, die noch neben unserem gestohlenen Benz standen. Das war's dann wohl mit einem Auto, dachte ich und kroch langsam aus dem kleinen Häuschen raus. Auch Kiyoshi zeigte sich langsam wieder aus dem Baum und steckte nur seinen Kopf durch die Blätter.

Ein Lächeln strich meine Lippen, als er auf mich zugehangelt kam und sich von einem Ast zu mir gleiten ließ.

»Du bist wie ein Äffchen«, kicherte ich und drückte ihm einen Kuss auf.

»Wo viel Wald ist, lernt man das irgendwann«, beteuerte er mir und zuckte die Schultern, erwiderte aber meinen Kuss voller Hingabe und seufzte zufrieden, als wir uns wieder lösten. Mit einem Hops sprangen wir vom Dach der Hütte und blickten uns um. Die Sonne stach weiterhin, sodass wir dringend einen Unterschlupf suchen mussten. Auf einmal kamen auch die Leute aus ihren Caravans und blickten sich scheu um. Schüsse und Geschrei hatte sie wohl eingeschüchtert und in ihre schützenden Gefährte getrieben. Erst jetzt trauten sie sich raus, um die Lage ausfindig zu machen.

»Wo sind die anderen beiden?«, fragte ich in das Gemurmel der Leute, die wir langsam hinter uns ließen und Richtung Ende des Campingplatzes gingen. Doch ehe ich es ausgesprochen hatte, sah ich links neben mich und erschreckte ein wenig, da zwei aneinander gekauerte Menschen dicht neben einem Baum im Gebüsch standen. Auch die erschreckten sich, schrieen jedoch nicht los.

»Das war euer Versteck?« Sofort zog ich eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme. »Hinter einem Baum?«

»Entschuldige bitte, dass ich mit diesem Punk hier wie ein Invalider bin!«, brummte mir Alexander entgegen, der sich langsam von Jiro löste. Mein Freund stand noch immer mit dem Rücken zum Baum, klammerte sich an Alexanders Parker und zitterte ein wenig. Die Aufregung stand ihm wie immer ins Gesicht geschrieben. Ich nahm die Coolness auch nur daher, dass ich wusste, ein Schuss könnte mich nicht töten. Nur wehtun. Jiro hingegen musste bei Kugelhagel um sein Leben fürchten ...

Alexander stöhnte genervt auf, als er aus dem Busch kletterte. »Ich kann mit dem nicht einfach auf einen Baum springen oder sonst wohin rennen! Ich war froh, dass er wenigstens hinter dem Baum still gehalten hat!«

»Wahrscheinlich auch nur, weil du ihm die Luft abgedrückt hast«, bemerkte Kiyoshi recht launisch und half Jiro aus dem Busch. Woher er die freundschaftliche Beziehung zu Jiro aufgebaut hatte, wusste ich auch nicht. Wahrscheinlich hatte er heimlich beim gemeinsamen Gespräch mit Jiro gelauscht und war nun zufrieden, nachdem alles bezüglich Beziehungen geklärt war.

Die Leute um uns herum starrten uns etwas überrascht an, mieden aber weiteren Kontakt.

»Wir sollten ... uns einen Unterschlupf suchen. Die Sonne brennt heute extrem, finde ich«, sagte ich ruhig und rieb meinen Arm, der schon ein wenig rot wurde.

»Und wohin? Wir haben kein Auto mehr! Und noch eins klaue ich bestimmt nicht mit euch!« Alexanders Worte klangen wie immer Harsch und Genervt. Sein Gemüt fand so langsam das Ende der Geduld. Mit verschränkten Armen stellte er sich in den Schatten und sah auffordernd in unsere Gesichter.

»Wir könnten per Anhalten fahren«, schlug Jiro heiser vor und schlug die Arme um seinen Körper, als wäre ihm kalt. Wahrscheinlich verabschiedete sich sein Kreislauf. Schnell zog ich den Plastikbeutel von meinem Gürtel, knotete ihn auf und reichte Jiro einen seiner Schokoriegel, die er aus dem Shop hatte. »Hier, iss erst mal was.«

Dankend nahm er den Riegel an, rang sich sogar ein Lächeln ab und nagte regelrecht an der Schokolade als wäre er ein Hamster.

»Per Anhalter?«, raunte Alexander auf und hielt sich schließlich die Hände hinter den Kopf. »Was kommt als nächstes? Dass wir unter einer Brücke hausen?« Seine Stimme wurde laut und durchdringend. Es klingelte in meinen Ohren.

»Erst fliehen wir in die Stadt wie räudige Köter, klauen ein Auto von einem Rentner, übernachten in einem abgefuckten Motel, wo die Schaben auf den Tischen tanzten«, schrie Alexander außer sich und fuchtelte mit den Händen über seinen Kopf. »Fahren dann weiter ins Nirgendwo, wo wir auf einem lausigen Campingplatz von einer Horde Polizisten geweckt werden, die wir natürlich erst einmal verkloppen! Sind wir scheiß Hippies oder was?! Und jetzt sollen wir auch noch per Anhalter weiterfahren? Ins nächste beschissene Motel?«

Alexanders Worte stachen in der Brust. Niemand war zufrieden, niemand wollte weiter in dieser Situation sein, niemand wollte an morgen denken. Doch Alexander bekam seine 5 Minuten und kam aus dem Fluchen nicht mehr raus. Alles war scheiße, alles war blöd, unter seinem Niveau und absolut nicht nötig. Im besten Fall war natürlich auch Jiro an allem Schuld, der immer noch wie ein Spatz an seinem Riegel nagte.

»Mach einen Vorschlag!«, unterbrach ich seine lange, Unruhe verbreitende Rede. Alexander verstummte und stemmte die Hände in seine Hüfte.

»Ruft euren Vater an. Er soll endlich was machen, er ist doch so ein hohes Tier! Vincent wird er nicht weiter dulden!«

»Und was soll der tun? Er wird Vincent wohl kaum in den Ruhestand schicken können! Denn so, wie der drauf ist, gibt es für ihn keinen Ruhestand. Der macht das aus Überzeugung und -«

»Dann soll er ihn umbringen, Herrgott noch mal!«, funkte mir Alexander dazwischen und stampfte noch einmal wütend auf den Boden. Da stockte nicht nur mir, sondern auch Kiyoshi der Atem. Jiro legte für einen Moment den Schokoriegel zur Seite und ging auf Alexander zu. Ohne weitere Worte zu verlieren, kramte er die Dose mit Tabletten aus der Plastiktüte und reichte Alexander zwei Tabletten. Der nahm sie schweigend an, schmiss sie sich in den Mund und nahm ebenfalls die Wasserflasche an, um die Tabletten die Kehle runterzuspülen. Wie eine Mutter nahm Jiro die Wasserflasche wieder an sich, schraubte sie zu und ließ sie wieder in der Plastiktüte verschwinden. Als niemand ein Wort sagte, sogar Alexander nur reumütig auf den Boden sah und nichts weiter zu beanstanden hatte, streichelte Jiro seinen Rücken.

»Besser?«, fragte er ruhig und suchte den Augenkontakt. Doch Alexander schnaubte nur aus, drückte Jiro von sich und ging von uns weg. Schlurfend gab er den Weg vor, den wir vorerst einschlagen würden.

Jiro reichte uns die Tablettendose. »Wollt ihr auch welche? Für euren Sonnenbrand?«

Doch sowohl ich, als auch Kiyoshi negierten. »Danke dir. Es geht noch.« Dabei fiel mein Blick auf die letzte Blutpackung in der Plastiktüte. Sie würde für vielleicht noch eine Mahlzeit reichen ... Danach ständen wir alle ein bisschen dumm da. Und sofort bekam ich ein wenig Angst um Jiro; der einzige Mensch um uns herum. Noch nie hatte ich wirklichen Hunger verspürt. Ich konnte nicht einschätzen, wie weit ich gehen könnte.

Als der Campingplatz weit hinter uns lag und nur eine große, breite Landstraße vor uns, seufzte ich und blieb stehen. »Leute, wir können da nicht langgehen, wir verbrennen«, seufzte ich laut und sah mich um. Der letzte Baum der Straße schenkte uns noch etwas schatten. Trotzdem bitzelte es gewaltig auf der Haut. Mein Gesicht fühlte sich wie ein abgewetztes Leder an.

»Dann fahren wir per Anhalter«, gab Jiro seinem vorherigen Vorschlag noch einmal Nachdruck.

»Niemals«, raunte Alexander, der sich sofort eine Zigarette anzündete. Jiro zuckte mit den Schultern und hob trotzdem seine Hand mit dem Daumen. »Dann lassen wir dich eben hier.«

Kiyoshi und ich standen neben dem Baum und betrachteten Jiro beim Anhalterspiel. Viele Autos fuhren an uns vorbei, doch keins hielt an. Wahrscheinlich nicht nur, weil wir Männer und ohne Gepäck waren, sondern auch, weil wir zu viele waren. Wer hatte schon in einem normalen Auto noch Platz für Vier weitere?

Nach etlichen Minuten gab Jiro resigniert auf, setzte sich an den Bordstein und trank etwas Wasser. Ich setzte mich zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. »Das hast du gut gemacht!«

»Na ja ... wir sitzen immer noch hier«, gab er demotiviert von sich und scharrte etwas Steine und Sand auf. »Wir müssten ja nur bis zum Strand kommen. Da gäbe es sicherlich genug Unterschlupf.«

Ich brummte und nickte langsam. »Schade, dass wir weder Stift noch Papier haben... sonst könnten wir den Leuten ja zu verstehen geben, dass wir nur bis zum Strand wollen.«

Mein Blick ging zu Alexander, der noch immer abseits von uns saß und bereits die dritte Zigarette rauchte. Traurig blickte er zu Boden und hatte seinen Kopf auf die angewinkelten Knie gelegt, als wäre er ein obdachloser Mann.

»Geh doch mal zu ihm«, flüsterte ich und stupste Jiros Arm an. »Er sieht so traurig aus.«

Ein entsetzter Blick traf mich. »Und was hab ich damit am Hut?«, raunte er mich mit gedämpfter Stimme an. Ich schmunzelte ein wenig und beobachtete weiterhin Alexanders müde Statue.

»Weiß nicht ... ihr beiden habt euch immer in der Wolle, aber dann erscheint wenigstens Leben in euren Augen. Seit gestern ... wirkt ihr beide eher ausgelaugt.«

»Ist doch klar!«, gab mein bester Freund energisch über die Lippen. »Wir haben seit Tagen nicht mehr gut geschlafen, wir haben Heimweh und sterben jeden Tag sieben Tode... aus Angst... dem echten Tod ins Gesicht zu blicken. Ist doch klar, dass hier keiner vor Lebensfreude sprudelt!«

Da seufzte ich laut auf und lehnte mich nach hinten, stütze den Oberkörper mit meinen Händen ab. »Ich mein nur, dass ihr beiden euch bisher ja doch ganz gut verstanden habt. Kannst ja auch nur mit ihm reden. Oder nur daneben sitzen. Reicht doch schon.«

»Ich weiß echt nicht, wieso du mich mit ihm in Verbindung bringst«, schnauzte mich Jiro an und packte die letzte Blutkonserve aus der Tüte. »Ich geb ihm jetzt einfach die hier und dann soll Ruhe sein, klar?«

Relativ gereizt stand Jiro auf und ging mit schwerem Schritt zu Alexander, der noch immer demotiviert und traurig auf dem Bordstein saß. Als er sich nicht regte, kniete sich Jiro zu ihm runter und redete auf ihn ein. Alexander hob seinen Kopf, sah zu Jiro, dann zur Blutpackung. Mütterlich kappte Jiro die Plastikabdeckung, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan und schob den Schlauch routiniert zu Alexander. Anzunehmen, dass er mittlerweile nicht mehr darüber nachdachte, was das in der Packung war. Es war rot und flüssig; und es diente uns als Nahrung. Das reichte für ihn wahrscheinlich zu wissen.

Alexander verneinte erst, dreht den Kopf weg, wurde dann aber von Jiro bequatscht, wenn auch an seinem Gesicht anzunehmen recht harsch. Nachdem ein paar lautere Worte fielen und sie sich wieder stritten, riss Alexander die Packung aus Jiros Hand und trank einige Schlucke. Wie ein trotziges Kind sah er dabei in eine andere Richtung.

»Wie ein altes Ehepaar die beiden, hm?«, schmunzelte ich und sah zu meinem Bruder, der neben mir hockte und sich etwas Luft zufächerte. Er grinste und beobachtete die beiden Männer. »Aber noch nicht so alt, wie wir.«

»He, unsere Beziehung ist voller Spannung und Abenteuer.«

Als Kiyoshi schwieg und mich nur mit erhobenen Augenbauen ansah, musste ich lachen und legte einen Arm um ihn. »Hast ja Recht ... wir sind schon alt eingesessen. Jedenfalls fühlt es sich manchmal so an ...«

»Das ist einfach nur, weil wir Zwillinge sind«, surrte Kiyoshi und lehnte sich an meine Brust, »wir funktionieren gleich ... ist doch klar, dass wir schnell ein eingespieltes Team sind.«

»Und genau das gefällt mir sehr«, säuselte ich zurück und küsste seine Lippen. Kalte Hände schoben sich in meinen Nacken und streichelten meine Haare. Der Kuss wurde schnell intensiver, als Kiyoshis Zunge an meine Lippen fuhr und um Einlass bat. Zwar ließ ich es zu, doch wusste ich genau, dass ich nach diesem intensiven Zungenkuss die Zuneigung beenden musste. Wir konnten keinen Sex haben. Nicht nur, weil neben uns zwei Streithähne saßen, sondern auch, weil wir mitten auf der Straße waren. Die Leidenschaft und die Sehnsucht waren groß ... trotzdem... musste ich widerstehen.

»Kiyoshi«, murmelte ich seinen Namen gegen seine Lippen, als er sich auf meinen Schoß setzte. »Es geht nicht ...«

Und als hätte er diesen Satz schon von mir erwartet, seufzte er auf und küsste nur noch liebevoll meine Wange. »Ich weiß...«

 

»Ich will auch nach Hause, aber ... es geht eben nicht«, seufzte Jiro und trank noch einen Schluck aus seiner Wasserflasche. »Deswegen dürfen wir aber nicht den Kopf hängen lassen!«

»Ich will einfach nicht mehr ...« Alexanders Kopf senkte sich wieder, sodass einzelne wellige Strähnen in sein Gesicht fielen. Zwar glänzte sein Haar wie Onyx, trotzdem war es kein schöner Anblick ihn niedergeschlagen im faden Sonnenlicht des Tages zu sehen. Die eisblauen Augen schienen auf einmal trüb und glanzlos.

»Ich kann auch nicht mehr ... Aber wir müssen.« Jiros Worte hallten zwischen den beiden nach, sodass Alexander wieder aufsah. Er musterte den Punk eindringlich. Die Piercings in seinem Gesicht glänzten in der Sonne, während die kurzen schwarzen Haare leicht im Wind wehten. Für einen Mann hatte Jiro eine leichte Stupsnase und ein feminines Kinn, was ihm trotzdem keinen Abriss tat aggressiv und gefährlich auszusehen; mit all den Nieten und dem Leder.

»Ich kann, weil ich will, was ich muss«, summte Jiro auf einmal und lächelte Alexander an. Der setzte sich endlich gerade hin und sah seinen Nebenmann interessiert an.

»Das ist Kant ...« Alexander schien über Jiros plötzlich Anwandlung über philosophische Dinge zu reden überrascht zu sein. Seine Augen weiteten sich etwas und musterten den Mann erneut.

»Ich bin nicht so dumm, wie ich gerne tue. Es tut weh, wenn du mich so beschimpfst. Ich wurde letztes Jahr Stufenbester, okay? Hiro weiß nichts davon, aber ... es ist auch nicht etwas, worauf ich stolz bin. An unserer Schule ist das sicherlich auch kein Höhenzeugnis.« Jiros Worte klangen auf einmal so ernst, als würde er zum ersten Mal mit jemandem darüber sprechen. »Also nenn mich nicht immer dumm oder ... bescheuert. Ich sehe vielleicht so aus, bin es aber nicht.«

»Aber wieso?« Alexanders Worte klangen fast stimmlos, so leise sprach er sie aus. Wieso Jiro sich so dumm gab, konnte er  einfach nicht rational in seinem Kopf verarbeiten. Doch der Punkt zog einfach nur die Schultern hoch, grinste gehässig und überschlug die langen Beine mit den schweren Boots an den Füßen. »Ich hab einfach was gegen abgehobene Attitüden.«

»Das merkt man«, brummte Alexander und sah ebenfalls schmunzelnd auf seine Blutpackung, die noch zur Hälfte gefüllt war. Den Rest würde er für die Zwillinge aufheben.

»Du behandelst mich wie Abschaum der Gesellschaft. Dann darfst du kein Zuckerbrot von mir verlangen.« Das Grinsen verschwand aus den gepiercten Lippen. Ein starrer Blick traf den Schwarzhaarigen, sodass er gezwungen war den Augenkontakt abzubrechen.

»Ich behandele dich nicht wie Abschaum ... ich komme einfach nicht mit deiner Art klar. So jemand wie du ist normalerweise nicht in meinem Umfeld.«

»Du hast also was gegen meine Erscheinung?«, lachte Jiro auf und zog die Beine wieder an sich. »Kann mir vorstellen, dass bei euch niemand so rum läuft ... wie ich.«

Alexander schmunzelte erneut und schüttelte den Kopf. Langsam knotete er den Schlauch der Blutpackung zu. »Nicht wirklich, ja. Bei uns verprügelt auch keiner so routiniert Bullen.«

»Tja«, pustete Jiro amüsiert aus seinen Lippen, »normalerweise machen die auch nen großen Bogen um mich. Aber hier sind wir ja nicht zu Hause in der Stadt.«

»Du hast eine ganz schön große Klappe«, bemerkte Alexander und hob eine Augenbraue, als er die grünen Augen erblickte. Es war das erste Mal, dass er Jiros Augenfarbe wahrnahm. Grün. Wie das Gras. Wie die Bäume um ihn herum. »Aber wenigstens ist auch was dahinter.«

Mit einer seichten Kopfbewegung nahm der Sitznachbar das Lob an und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. »Wirst du mitkommen? Auch wenn wir per Anhalter fahren?«

»Wo denkst du hin«, pfiff Alexander aus seinen Lippen und schüttelte den Kopf. »Ohne mich schaffst du es doch keinen Meter.«

Ein empörtes Lachen von Jiro folgte, welches sofort Anklang beim schwarzhaarigen fand. Es war natürlich, offen und vielleicht etwas zu laut. Man konnte das Zungenpiercing sehen, wann immer er seinen Mund öffnete. Am Anfang empfand er genau das noch als verstörend. Jetzt war es nur noch die Augenbraue, die ihm ungepierct besser gefallen würde. Aber wer war er, darüber zu urteilen?

 

»Soll ich mal?«, schmatzte Kiyoshi mit einem Kaugummi im Mund und deutete auf die Fahrbahn. Vor wenigen Minuten kam ein Polizeiauto vorbeigefahren, sodass wir gezwungen waren, schnell im Gebüsch zu verschwinden. Gott sei Dank, so dachte ich, hatten sie uns nicht gesehen. Trotzdem mahnte uns das, schneller voran zu kommen. Die Zeit drängte. Nicht nur Vincent verfolgte uns nun, sondern auch noch die Polizei. Uns blieb wirklich nichts erspart.

»Du willst den Daumen rausstrecken?«, fragte Jiro verwundert und musterte Kiyoshi. »Versuch's.«

»Wenn du dich mit dem Rücken zur Fahrbahn stellst, die Haare nach hinten wehst, denken die Leute vielleicht, du bist eine Frau. Dann hätten wir mehr Chancen«, raunte Alexander, der sich wieder zu uns gesellt hatte und neben Jiro saß. Die Stimmung schien sich gehoben zu haben.

»Hey!«, rief Kiyoshi sofort empört, stand auf und schwang seine langen Haare hinter seine Schulter. »Ich bin keine Frau und das sieht man auch!«

»Nicht mit dem Auftreten, Schatz«, murmelte auch ich und schüttelte fassungslos den Kopf, als ich meinen Bruder lasziv am Bürgersteig stehen sah. »Fehlen nur noch die Socken.«

»In deinen Träumen«, war alles, was ich zu hören bekam und mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

»Was für Socken? Etwa die Latexstrümpfe?«, hakte Jiro nach, doch ich schüttelte nur den Kopf.

»Nicht so wichtig.« Amüsiert betrachtete ich meinen Bruder, wie er eine Hand ausgestreckt hielt, die andere in die Hüfte gestemmt hatte und mit einem leicht arroganten, aber doch anzüglichen Blick die Autos verfolgte.

»Lass mich raten«, begann Alexander, der sich mit Jiro eine Zigarette ansteckte. »Kiyoshi ist unten.«

»Wüsste nicht, was dich das angeht«, brummte ich, noch immer recht amüsiert über die Tatsache, dass mein Bruder, der sonst einen großen Stock im Arsch stecken hatte, sich nun für eine Weiterfahrt an den Bordstein stellte und mit Autofahrern flirtete.

»Natürlich ist er unten. Bei Hiro geht keiner an den Hintern«, lachte Jiro beherzt auf und rauchte seine Zigarette. Ein genervter Blick aus meiner Richtung ließ ihn jedoch verstummen.

»Wie gesagt: Wüsste nicht, was euch das angeht.«

Woher das steigende Interesse an meiner Beziehung zu Kiyoshi kam, konnte ich mir nicht erklären, nahm es aber dankend an. Es schien, als wären wir nicht mehr das eklige Paar. Sondern einfach nur noch ein Paar. Und es tat gut zu wissen, dass unsere Freunde uns akzeptierten.

 

Es dauerte in der Tat nicht lange, bis jemand am Straßenrand hielt und Kiyoshi ansprach. Verwundert über die Tatsache, dass uns doch jemand mitnehmen wollte, stand ich auf und ging zu meinem Bruder, der sich lächelnd an das Fenster lehnte.

Der Mann im Gefährt war älter, eine Art Brummifahrer. Doch er fuhr einen Transporter mit offener Ladefläche. Das erhaschte natürlich meine Aufmerksamkeit, doch blöd für uns, dass wir die Autofahrt im Sonnenlicht verbringen müssten.

»Ihr wollt also mit?«, fragte der bärtige Mann und musterte meinen Bruder recht lüstern.

»Ja, nur bis zum Strand. Wir wollen da... Urlaub machen«, antwortete Kiyoshi und lächelte noch immer recht höflich.

»Ohne Gepäck?« Der Blick des Mannes fuhr nun durch die Gesichter der Anwesenden.

»Das Gepäck ist bereits am Strand. Wir waren für eine Nacht auf dem Campingplatz, aber unser Auto hat den Geist aufgegeben und ... bei so vier armen Studenten ... die sich keine Versicherung leisten können, wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns mitnehmen könnten«, säuselte Kiyoshi recht überzeugend in das Gesicht des Mannes. Der fing an zu grinsen, nickte und deutete auf sein Gefährt.

»Von mir aus. Springt auf, ich muss eh in die Richtung.«

Glücklich über die Tatsache, dass uns endlich einer mitnahm, griff Jiro seine Tüte und sprang als erstes auf die Ladefläche. Auf der befand sich etwas Baumaterial und eine Plane, die er anhob und uns drunter winkte.

»Willst du bei mir sitzen?«, fragte der bärtige Mann meinen Bruder und hielt ihm die Tür offen. Die Absichten des Mannes waren offensichtlich und in mir wuchs die Eifersucht. Nein, einfach nur die Wut darüber, dass ein so widerlicher Mann meinen wundervollen, viel zu schönen Bruder anbaggerte.

»Das ist lieb von Ihnen, gerne«, grinste Kiyoshi und sah in mein Gesicht. »Aber nur, wenn mein Bruder auch mit vorne sitzen darf.« Er blinzelte mich ein paar Mal an und grinste. Ich sollte also mitspielen?

»Na klar. Zwillinge sind immer witzig«, lachte der Mann und nickte abermals mit dem Kopf.

Oh man, dachte ich. Das würde eine lange Autofahrt werden.

Alexander huschte zu Jiro unter die Plane, sah uns beiden dann hinterher.

»Geht das klar?«, zischte er uns zu. Sein Blick sah fragend aus. Ich nickte schnell und stieg dann vorne mit Kiyoshi ein, zog die Tür zu und schnallte mich an, während der Mann bereits losfuhr. Wird schon klar gehen. Es muss klar gehen.

Mord

Es waren nun bereits 3 Tage vergangen, seitdem wir auf der Flucht vor Vincent waren. 3 qualvolle Tage für jeden von uns. Für den einen mehr als für den anderen, trotzdem schlugen wir uns durch. Nie hätte ich es für möglich gehalten, mich in einer solche Situation wieder zu finden, wo ich nicht nur um Essen bangen, sondern auch um mein Leben fürchten müsste. Und dass Jiro, mein bester, auch noch menschlicher, Freund, der so absolut nichts mit der Sache am Hut hatte, mit dabei wäre. Von Alexander will ich gar nicht erst anfangen. Wie das passieren konnte, war mir immer noch nicht klar.

Nun saßen wir in einem fremden Auto von einem alten Sack, der nicht nur seine Augen, sondern auch seine Finger nicht von Kiyoshi lassen konnte. Was Jiro und Alexander auf der Transportfläche unter der Plane taten, wollte ich auch nicht wissen. Wahrscheinlich streiten. Oder rauchen. Oder beides.

»Und ... wo kommt ihr so her?«, fragte der Mann und grinste Kiyoshi an. Kurz vorher wollte er wissen, ob die weißen Haare gefärbt oder echt waren; und nutzte die Gelegenheit, ihn schon wieder anzufassen. Ständig betatschten seine dreckigen Griffel meinen Bruder. Und der schien sich nicht daran zu stören. Ganz im Gegenteil: er saß freundlich grinsend neben ihm und beantwortete ihm jede Frage recht höflich.

»Wir kommen aus der Stadt«, sagte er in seinem anmutigen Ton und sah aus der Windschutzscheibe. Nur seine linke Hand lag auf meinem Schoß, sodass ich ihn wenigstens auf diese Art für mich gewinnen konnte. Doch selbst bei meinen bösen Blicken ließ sich der alte Sack nichts nehmen und flirtete weiter mit Kiyoshi.

»Stadtkinder also? Ich komme vom Land, da geht's ... sicherlich etwas härter zu, als ihr gewohnt seid«, spaßte der Mann und lachte laut auf. Seine Stimme war heiser und schien nicht nur Zigaretten und Whiskey aushalten zu müssen. Und diese beschissene Andeutung war unnötig und eklig gewesen!

»Mag sein«, stimmte Kiyoshi dem Fahrer kurz und bündig zu, starrte dabei weiter auf die Straße. Was in seinem Kopf vorging, konnte ich nicht herausfiltern. Vielleicht erhoffte er sich so ein zahmes Verhalten von dem Menschen, den wir ausnutzten. Oder einfach nur Spaß, da er ihn am längeren Hebel hielt. Was auch immer es war: es nervte und machte mich unglaublich nervös.

Nach zwei endlosen Stunden erreichten wir einen Passpunkt, wo der alte Mann Mautgebühren zahlen musste. Zu meiner Überraschung verlangte er kein Geld von uns, sondern schmiss brummend das Geld in den Automaten.

Für nicht mal fünf Minuten stiegen wir aus und machten "Rast". Der letzte Rest der Blutpackung verschwand schnell in Kiyoshis und meinem Bauch, bevor der Fahrer wiederkommen würde. Nun standen wir ohne Nahrung da. Wie lange wir es wohl ohne Blut aushalten könnten? Auf einmal wünschte ich mir Chloes kleinen Laden. Sie hätte alles für eine abenteuerliche Flucht dabei gehabt. Doch selbst sie konnten wir nicht erreichen – ohne Telefon und ohne Kleingeld.

Als sich mein Bruder an mich lehnte und sein Kopf auf meiner Schulter ruhte, konnte ich nicht anders, als ihn auf sein seltsames Verhalten gegenüber unseres Fahrers anzusprechen.

»Kiyoshi, was machst du da eigentlich mit diesem Kerl? Wieso bist du so am flirten?«, fragte ich leicht empört und zischte meinen Bruder regelrecht an. Der zuckte nur mit den Schultern und sah müde in die Ferne.

»Er bringt uns dahin, wohin wir wollen, ist doch gut, oder nicht? Ich will nicht, dass er uns mitten auf der Landstraße aussetzt!«

»Du hast ja Recht, aber es gibt noch eine Grauzone zwischen flirten und unfreundlich daher reden!«

Mein Bruder verdrehte nur genervt die Augen, sah dann zur Plane und ging langsam auf die Tragefläche zu; als sei das Thema beendet.

»Lebt ihr noch?«, fragte er recht zögerlich und tapste auf die dunkelgrüne Plane. Vorsichtig hob sich ein Stück, aus dem Jiro herauslugte.

»Sind wir schon da?«, fragte er mit erschöpfter Stimme und hochrotem Kopf.

»Nein, noch nicht. Wir machen gerade Rast, weil wir Maut zahlen müssen.«

Als ich Jiros Gesicht sah, näherte ich mich ebenfalls für einige Meter und lehnte an die Ladefläche. »Geht's euch gut da drunter?«

»Voll warm!«, seufzte Jiro sofort und schmiss die Plane hinter sich weg. Er streckte sich und sah sich um, nahm dann das zweite Stück der Plane und hob es an. Hervor kam ein weiterer schwarzer Schopf. Helle Augen blickten verwundert hoch.

»Hier ist Schatten. Du kannst kurz rauskommen«, erklärte Jiro und lächelte sogar ein wenig. Die Stimmung zwischen den beiden schien besser geworden zu sein.

Vorsichtig kroch Alexander aus der Plane und holte tief Luft. Trotzdem er nicht atmen musste, war er froh wieder etwas frische Luft zu schnuppern.

»Wie lang fahren wir noch?«, fragte er recht monoton und fuhr sich mit der Hand durch das wellige Haar. Selbst ungewaschen und auf der Flucht sah er wie gestriegelt aus. Aber auch Kiyoshi stand neben mir, als wäre er frisch aus dem Waschsalon entsprungen.

»Vielleicht noch ... eine Stunde oder so?«, murmelte ich und sah den alten Mann bereits wieder auf uns zukommen.

»Oh man«, brummte Jiro und sah sich um. »Wenigstens keine Spur vom Vogel.«

»Ja, wenigstens etwas. Positiv denken ... bald haben wir es geschafft!«, versuchte ich Hoffnung zu machen. Was wir dann genau geschafft haben sollen, wusste ich nicht. Und die anderen, so wie ihre Gesichter aussahen, wohl auch nicht.

»Weiter geht's!«, verkündete der Brummifahrer und hob beide Augenbrauen recht interessiert, als er Kiyoshi an meinem Arm hängen sah. Ja, dachte ich mir, der gehört mir!

Langsam schlurften wir wieder in den Fahrerraum, Kiyoshi wie vorher in der Mitte, und schnallten uns an. Der bärtige Mann fuhr langsam weiter und summte kurz ein Lied vor sich hin und schaltete das Radio ein. Pop Songs strömten aus den Lautsprechern und erheiterten etwas die Stimmung. Es war nicht mehr gezwungen still.

»Die zwei dahinten«, fing der Fahrer auf einmal an. »Sind die schwul?«

»Nein«, gab ich knapp zurück und verdrehte leicht die Augen, während meine Arme verschränkt vor meiner Brust lagen. Das geht den ja wohl gar nichts an!

»Dachte nur. So alleine unter einer Plane?« Sein dreckiges Lachen hallte durch die komplette Fahrerkabine. Was der sich im Kopf ausmalte, wollte niemand wissen. Sogar Kiyoshis Lächeln versiegte bei dem schmutzigen Kommentar.

»Sie haben ja keine andere Wahl«, murmelte mein Bruder vor sich hin und starrte in den sich langsam rosé färbenden Himmel. Der späte Nachmittag brach ein und ließ eine vorabendliche Stimmung eintreten.

»Wieso?«, hakte der Mann nach und kicherte weiterhin finster vor sich hin. »Niemand muss unter einer Plane hocken. Sie können doch auch die schöne Sonne genießen! Und den Fahrtwind!«

»Die ... mögen die Sonne nicht so.« Mein Brummen sollte möglichst einschüchternd wirken, sodass er endlich die Fragerei lassen würde. Doch ich erreichte wohl nur das Gegenteil.

»Die Sonne? Pah ... Wieso? Sind das Vampire?« Ein lautes und grimmiges Lachen folgte, fühlte sich in unseren Mägen vibrierend an. Ich hasste dieses Lachen bereits nach mehreren Minuten.

»Ja«, antwortete Kiyoshi knapp wahrheitsgemäß und drückte meine Hand etwas stärker. Wahrscheinlich hatte er jetzt auch keine Lust mehr den lieben Jungen zu spielen und wollte einfach nur noch ankommen. Weg von dem Mann.

»Ja? Seid ihr etwa auch solche Sektenkinder? Oh man, die Jugend von heute hat doch echt nen Schuss weg!«, brüllte der Mann, etwas gereizt. »Die meinen auch, dass es in der Innenstadt voller Vampire wimmeln soll! Ich komme zwar vom Land, aber daran glaube ich nun wirklich nicht! Was ein Bullshit! Die Jugendlichen machen sich doch nur einen Spaß draus!«

Kiyoshi und ich schwiegen einfach nur und starrten aus der Windschutzscheibe, als hätten wir sein Fluchen nicht gehört. Was sollten wir schon darauf antworten? Wären wir drauf eingestiegen, hätte der Mann wohl nie aufgehört zu reden. Aber auch ohne verbales Feedback ließ sich der Mann seinen Redefluss nicht nehmen.

»Habt ihr von diesem Amoklauf mitbekommen? Böse Zungen meinen, dass es ein Auftragsmörder war, der seine Opfer dort gesucht hat. Und diese Geschichte am See soll ebenfalls dazu beigetragen haben.« Da lachte er wieder auf. »Ihr kommt doch aus der Stadt! Stimmt das?«

»Keine Ahnung«, murmelte Kiyoshi wie aus der Pistole geschossen und zog scharf die Luft ein. »Sie sollten sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Auf dem Land ist es sicherlich ruhiger.«

»Ha!«, rief er durch seinen dichten Bart. »In der Tat! Mit solchen Schummermärchen muss ich mich nicht rumschlagen. Hätte nie gedacht, dass mehr dummes Zeug aus den Städten als vom Land kommt.«

»Hm. Zeiten ändern sich«, war alles, was ich dazu zu sagen hatte und schielte noch einmal hinter uns. Die Plane bewegte sich im Wind und zeigte nur zwei still sitzende Häufchen. Wahrscheinlich schliefen sie.

 

»Ich halt's hier kaum aus«, brummte Jiro und lugte immer mal wieder ein Stück aus der Plane, um frische Luft zu erhaschen. »Es ist so warm!« Der letzte Schokoriegel, welcher halb flüssig zu sein schien, endete auch in weniger als einer Minute in seinem Magen. Auch das Wasser war nun leer und selbst der Mensch stand wie die Vampire mit Nichts da.

»Dann setz dich doch raus«, erwiderte Alexander und lag still auf der Seite. Den Kopf auf einem Arm gelehnt, sodass er nicht ganz auf der harten Tragefläche liegen musste. Diese war dreckig und mit Sand bedeckt. Wahrscheinlich transportierte der Mann Pflanzen. Oder zumindest etwas, was mit Erde zu tun hatte.

»Nein ... geht schon.« Mit diesen Worten zog Jiro seine Nietenlederjacke aus und legte sie unter seinen Kopf. Das Langarmshirt zeigte deutliche Spuren von leichtem Schweiß. Alexander hob die Augenbrauen und musterte den schimmernden Körper.

»Was?«, giftete Jiro ihn an, als er seinen interessierten Blick vernahm. »Ich bin ein Mensch, ich schwitze!«

»Ja ...«, säuselte er, erweichte im Nu seine Mimik und sah seufzend zur Seite. »Ich kenne so was nur nicht.«

»Glotzt du mich deswegen so an?«

»Vielleicht. Ich sehe selten so rare Tiere außerhalb des Zoos.«

»Ach, fick dich«, prustete Jiro los und trat Alexander vorsichtig gegen das Bein. Der grinste nur vor sich hin und schloss für einen Moment die Augen. Die Sticheleien würden wohl nicht enden.

Jiros Blick fuhr das erste Mal ungestört über das Antlitz des jungen Mannes, der behauptete ein Vampir zu sein. Alexanders Haare schimmerten selbst im düsteren Licht silbrig, sodass sein Schopf wie von Onyx geküsst aussah. Die blasse Haut dazu, aus der einzelne Adern deutlich durchschienen, erzeugte einen wahrhaftig schön anzusehenden Kontrast. Generell konnte man Alexander einen schönen Mann nennen. Markantes Gesicht, spitze Nase und hohe Wangenknochen. Vielleicht war sein Gesicht etwas zu eckig oder seine Lippen zu schmal. Doch der lange Hals, der in einem recht muskulösen Körper endete, ließ die Anmut, die in seinem reglosen Körper lag, noch deutlicher erscheinen. Jede Muskelfaser unterstrich die starke Aura, die von dem Mann ausging und ließ ihn gefährlich, zugleich anziehend wirken.

Jiro konnte sich nicht entscheiden, ob er seinen Gegenüber attraktiv fand oder nicht. Auch nicht, ob er ihn mochte oder verabscheute. Dieser Mann stand für jeglichen Zwiespalt in ihm: Auf der einen Seite war er nett, höflich, zuvorkommend und hilfsbereit. Und auf der anderen Seite ungehobelt, taktlos und eingebildet. Die arrogante Art, die sehr wahrscheinlich vom Elternhaus weitergegeben wurde, konnte Alexander nie komplett abstreifen. Sie war einfach da und trieb Jiro regelmäßig zur Weißglut.

Erst jetzt schlug der Vampir seine Augen auf und starrte seinen gegenüber mit eisblauen Augen an. Die Iris war fast weiß, so hellblau leuchtete sie. Und Jiro konnte nicht anders, als weiter in ihnen zu versinken.

»Jetzt ... starrst aber du«, bemerkte Alexander leise und schmunzelte. »Suchst du etwas an mir? Glaubst du immer noch nicht, dass wir anders sind?«

»Ja. Aber vielleicht ... werde ich ja irgendwann vom Gegenteil überzeugt.« Und Jiro war sich sicher, dass dieser Zeitpunkt kommen würde; ob er wollte oder nicht. Mit einem breiten Grinsen erwiderte er das Schmunzeln des Gegenüber und schloss entspannt die Augen. Die Anwesenheit des Schwarzhaarigen ließ ihn auf einmal ruhig und müde werden. »Schlafen wir was. Wer weiß, wann wir das nächste Mal dazu kommen werden.«

»Ja, du hast Recht. Schlafen wir«, murmelte sein Gegenüber zustimmend und schloss ebenfalls die Augen. Hatte er Jiro gerade zugestimmt? Dass er Recht hatte? Seltsam, so dachte der bereits im Halbschlaf steckende Mann, normalerweise hätte er ihm doch die Leviten gelesen. Aber vielleicht war selbst dafür keine Kraft mehr vorhanden. Vielleicht hieß es jetzt einfach nur noch: Zusammenhalten und Überleben.

 

»[...] Die Polizei ist weiter auf der Suche nach den vier flüchtigen Männern, alle um die 20 bis 25 Jahre alt, welche zuletzt auf dem letzten großen Campingplatz vor dem Naturschutzgebiet gesichtet wurden. Wahrscheinlich befinden Sie sich auf der Weiterreise Richtung Küste. Zwei von ihnen besitzen weiße, die anderen beiden schwarze Haare. [...]«

 

Das Radio verkündete sehr unschöne Neuigkeiten. Mit einem Mal spannte ich mich an, drückte Kiyoshis Hand, die zittrig in meiner lag. Ein vorsichtiges Schielen zu unserem Fahrer zeigte uns, dass er dem Radio keine weitere Beachtung geschenkt hat, da er an seinem Handy spielte. Zwar kam mir ein mulmiges Gefühl auf, dass der Fahrer abgelenkt war und nicht auf die Straße blickte, auf der anderen Seite kam es mir genau gelegen.

»Was machen wir jetzt? Wir werden öffentlich gesucht!«, flüsterte Kiyoshi mir zu und sah mich mit großen, verzweifelten Augen an. »Sie wissen sogar, welche Haarfarben wir haben, Hiro, sie werden uns finden!«

»Weiße und schwarze Haare sind eben auffällig. Wir sind wie Dominosteine ...«, brummte ich und sah ebenfalls verzweifelt aus dem Fenster, als könne ich dort eine Antwort finden. »Wir müssen auf jeden Fall von diesem Mann weg. Dann ... ich weiß nicht, Haare färben? Andere Klamotten holen?«

»Ich färb mir nicht die Haare!«, giftete mich mein Bruder direkt an und fasste an seine lange Mähne, die ihm bereits bis zum Schlüsselbein ging.

»Willst du lieber in den Knast? Oder von Vincent ermordet werden?«

Die Argumente saßen; Kiyoshi blickte nur verletzt weg und fand sich noch nicht ganz mit dem Gedanken ab, die Haare zu verändern. Jiro und Alexander saßen ruhig auf der Ladefläche, sodass sie noch im Unwissen schwebten, dass wir gesuchte Verbrecher waren. Verdammt, dachte ich ... ich wollte doch nur mal ein Auto klauen und cool sein!

»Bis wohin wollt ihr Kinder eigentlich?«, brummte es von Nebenan. Der Mann hatte das Handy weggelegt und sah wieder auf die Straße. Im Radio liefen wieder Popsongs; so als wäre nie eine Fahndungsmeldung der Polizei gekommen. »Ich komme nämlich bald an meinem zu Hause an«, lachte der Mann dreckig auf, »und die Nacht bricht bald ein. Ihr wollt doch sicher bis zum Strand, oder?«

»Ja, wollten wir«, antwortete Kiyoshi, während ich die Augen abermals verdrehte. Als hätten wir das nicht von vornherein klar gemacht, dass das Ziel "Strand" hieß und nicht "kurz vorm Strand".

»Also wenn ihr wollt«, und damit blickte er recht deutlich zu Kiyoshi, »könnt ihr bei mir übernachten. Ich hab eine kleine Scheune, da ist es bequem. Und eure Freunde sind vor der Sonne geschützt! Haha!« Der Witz kam so tief, dass ich das Bedürfnis hatte, meine Beine zu heben.

»Das ist sehr nett, aber ...«, begann ich und räusperte mich abermals. »... wir wollten schon noch heute den Strand erreichen. Wie weit ist es denn von Ihnen noch bis zum Strand?«

»Na ja«, brummte er los, als würde ihm die Abfuhr gar nicht gefallen. »Wenn ihr zu Fuß geht, dauert es schon noch eine gute Stunde. Davor kommt das Naturschutzgebiet, da werdet ihr nicht reinkommen.«

»Wieso?«, fragte Kiyoshi neugierig und wurde sofort hellhörig. Alles, was von Menschen fern war, klang gut. Gerade jetzt, wo die Polizei nach uns Fahndungen ausschrieb, konnten wir ein bisschen Ruhe vor Publicity gebrauchen.

»Da is'n riesiger Zaun drum, haha«, brüllte der alte Mann los und kratzte sich am Bart. »Naturschutzgebiet halt! Wegen irgendwelchen Korallenriffs oder so. Keine Ahnung, jedenfalls kommt das Touristengebiet mit den Hotels erst weit hinter dem Gebiet.«

»Und wie weit ist es bis zu diesem Naturschutzgebiet von Ihnen aus?«, erkundete sich Kiyoshi wieder recht höflich, als er merkte, dass seine Stimme weitaus mehr Anklang und Informationen aus dem Mann raus bekamen als meine.

Wieder kratzte sich der Fahrer am Bart, dachte nach, schwank den Kopf hin und her, bis er wieder vor sich hin brummte. »Vielleicht auch so 'ne gute Stunde. Ich wohn so'n bisschen mittig, wisst ihr? Ich kann's euch nachher auf einer Karte zeigen.«

»Das wäre nett, danke.«

»Das Angebot steht noch«, zwinkerte er meinem Bruder zu, »du willst doch sicher nicht in der Wildnis übernachten.«

Du?, dachte ich, war ich jetzt also schon Luft geworden? Die anderen beiden auch? Es ging einzig und allein um Kiyoshi, dass der alte Mann das bekam, was er wollte. Und ich wollte mir nicht ausmalen, was er genau wollte.

»Danke, aber mein Bruder sorgt sehr gut für mich«, säuselte er, als er sich zu mir umdrehte, um mein aufgewühltes Gemüt zu beruhigen. Selbstverständlich würde Kiyoshi nie auf eine solch blöde und auch noch eklige Anmache eingehen. Trotzdem gefiel mir die Art des Mannes nicht. Sich einfach so an einen jungen Mann ran zu machen ... Widerlich! Kiyoshi hätte sein Sohn sein können!

»Zwillinge, hm?« Ein Schmunzeln tat sich auf die Lippen des Mannes, während er die Landstraße verließ und einen Feldweg entlang fuhr. »Schon interessant ihr beiden. Kuschelt gerne, so wie ich das sehe, hä?«

Sein Kommentar klang spitz und ein wenig ärgerlich. Als wäre es ihm nicht Recht, dass ich neben meinem Bruder saß und auf ihn aufpasste. Als hätte er mich am liebsten an der nächsten Tanke rausgeschmissen, um endlich ungestört seine widerlichen Griffel an meinen Bruder zu legen.

»Ich liebe ihn sehr«, antwortete Kiyoshi mit einem starken Unterton. Ausnahmsweise zauberte mir der Satz kein Lächeln auf die Lippen, sondern ließ mich angespannt zu unserem Fahrer blicken, der nur grinsend nickte.

»Das sieht man.«

Nach wenigen Minuten Fahrt durch die Pampa – und es war wirklich nichts um uns herum – erreichten wir einen kleinen Bauernhof mit einigen Scheunen drum herum. Er hielt auf dem Innenhof, wo er sofort ausstieg und gegen das Blech des Laderaums hämmerte. »Wir sind da!«, brüllte er unfreundlich und ging in eine der Scheunen, wo er die Tore öffnete und in das obere Stockwerk ging.

Etwas verwirrt schauten Jiro und Alexander aus der Plane und sahen in den blutroten Himmel. Die Sonne war bereits untergegangen und hinterließ einen traumhaften Sonnenuntergang.

»Wir sind da? Wo ist der Strand?«, erkundigte sich Jiro und sah sich eher verängstigt als erfreut um.

»Der Mann hat uns zu seinem Anwesen gefahren. Von hier aus sind es noch einmal ein paar Kilometer bis zum Strand. Wahrscheinlich eine Stunde Fußmarsch«, antwortete ich und stieg aus dem Wagen. Kiyoshi folgte mir und sah sich ebenfalls unwohl um.

»Wir bleiben nicht hier, oder?« Jiros aufgeregte Worte ließen mich ebenfalls Luft schnappen. Alexander sah sich nur still um, zog Jiro dann etwas an sich, als der Mann wieder aus der Scheune kam. Eine schützende, sowie liebevolle Geste.

»Hier«, brüllte er uns zu, »ich zeig's dir auf der Karte.« Dabei winkte er uns rüber. Nein, er winkte eigentlich nur Kiyoshi zu sich rüber. Als ich mich in Bewegung setzen wollte, um den Mann zu enttäuschen, hielt mich Kiyoshi am Ärmel ab.

»Ich geh schon«, flüsterte er.

»Bist du kaputt? Du gehst bestimmt nicht alleine zu diesem alten Sack!«, zischte ich ihm zu und sah ihn eindringlich an.

»Ich kann ihm vielleicht einige Infos abschwätzen. Und vielleicht kann ich ihm etwas klauen«, säuselte mein Bruder, ohne den Blick vom Mann abzuwenden, der noch immer am Eingang der Scheune stand. Vermutlich lagerte er dort etwas Heu und Geräte zum Ernten seiner Felder, welche rings um uns herum lagen.

»Du willst klauen?«, fragte ich dann doch etwas erheitert. Doch meine Freude hielt sich in Grenzen, als Kiyoshi nur nickte, mir einen Kuss auf die Wange aufdrückte und sich in Bewegung setzte.

»Vergiss nicht, was in mir schlummert. Es wird nichts passieren. Eher ihm«, schmunzelte Kiyoshi böse und ging, für meinen Geschmack etwas zu auffällig arschwackelnd auf den alten Mann zu.

»Geht das echt klar? Dass er da alleine hingeht?«, murmelte Jiro noch immer nervös in Alexanders Nähe sitzend. Der sah ebenfalls missmutig zu Kiyoshi, wie er mit dem Mann aus unserem Blickwinkel verschwand.

»Ich ... denke? Kiyoshi ist alt genug. Er wird das schon hinkriegen. Außerdem ist er nicht schwach.«

»Na, hoffentlich geht das gut ...«, knurrte dann auch Alexander und erhob sich langsam von der Plane. Hier und da hatte seine Jeans unter dem Dreck der Lagefläche gelitten. Mit einem gekonnten Sprung aus dem Auto half er noch Jiro von der Ladefläche zu steigen. Eine abermals interessante Geste, die mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

»Wenigstens versteht ihr beiden euch gut«, stellte ich fest und steckte meine Hände in die Hosentaschen. Jiro hingegen trat sofort einen Schritt von Alexander weg, der mich verwundert ansah, als wüsste er nicht, wovon ich redete.

»Haben wir eine Wahl?«, giftete Jiro, scharrte Dreck auf und zog sich seine Lederjacke wieder an. Mit dem Verschwinden der Sonne kam auch die Kühle zurück. Bei immer noch angenehmen Temperaturen standen wir am Transporter des Mannes, inmitten eines Bauernhofs und warteten auf meinen Bruder, der hoffentlich irgendetwas Interessantes in Erfahrung bringen könnte.

Als nach Minuten nichts geschah, sich Alexander und Jiro sogar wieder eine Zigarette ansteckten, wurde ich nervös.

»Wieso dauert das so lange?«, raunte ich vor mich hin und lief den Platz auf und ab. »Ich geh gleich rein und ... hol ihn da raus!«

»Kiyoshi schaukelt das schon«, meinte Alexander, der genüsslich an seiner Zigarette zog. Wahrscheinlich hatte er schon die ganze Fahrt geschmachtet.

»Wir geben ihm noch 5 Minuten ... dann gehen wir zu ihm und fragen nach«, schlug Jiro vor und rauchte ebenfalls recht entspannt. Das Nikotin ließ ihn eine entspannte Haltung annehmen; gegenüber der Situation und der eigentlichen Angst, die er verspürte.

Widerwillig wartete ich noch weitere Minuten mit Hummeln im Hintern. Immer wieder ging ich den Hof auf und ab, sah mich um und starrte auf die verschiedenen Felder um uns herum. Da waren Apfelbäume und anderes Obst, Gemüse und wahrscheinlich Korngewächse. Alles mögliche züchtete der Mann hier an und handelte wahrscheinlich auch damit. Tiere sah ich keine, nicht einmal Hunde oder Katzen. Generell versprühte der Hof eine unheimliche Atmosphäre. Wie in schlechten Horrorfilmen, wo der alte Bauer Jugendliche von der Straße auflas, um sie dann in seiner Scheune zu ermorden.

Als ich diese Gedanken gefasst hatte, pustete ich aufgestaute Luft aus. Meine Nervosität schien kein Ende zu nehmen.

Doch ehe ich mich von selber auf den Weg machen konnte, schrie der alte Mann auf, es krachte, es klapperte und einige Geräte landeten auf den Boden. Mehr sah ich nicht vom Hof aus, weswegen ich sofort auf die Scheune zurannte. Jiro und Alexander blieben noch wie versteinert am Wagen stehen, rauchten schnell auf und folgten ebenfalls, jedoch mit Abstand.

»Kiyoshi!«, rief ich aufgebracht, suchte sofort den spärlich behellten Raum nach meinem Bruder ab. »Was ist passiert?!«

Als ich über die gefallenen Gerätschaften trat, mich weiterhin umblickte, sah ich Kiyoshi apathisch neben einem Heuhaufen stehen; eigentlich halb auf ihm liegend, und den Mann am Boden liegen. Ich roch sofort Blut.

Aufgebracht stürmte ich auf meinen Bruder zu, zog ihn an mich und rüttelte seine Schultern. »Bist du verletzt? Hat er was getan? Was hast du getan?«

»Ich -«, begann Kiyoshi verängstigt wie eine kleine Maus, und starrte noch immer auf den leblosen Körper des Mannes. Da hörte ich bereits die Schritte von Alexander und Jiro, die ebenfalls entsetzt auf den am Boden liegenden Mann sahen.

»Na herrlich!«, schrie Alexander los und zog wütend die Augenbrauen zusammen, »Machen wir aus einem Diebstahl doch gleich einen Mord! Klasse! Ist ja nicht so, als wären wir schon vorbestraft genug!«

»Jetzt mal ruhig, ich glaube, der lebt noch!«, plärrte ich Alexander zu und beugte mich zu dem Mann runter. Er hatte tiefe Kratzer am Hals und im Gesicht. Er blutete, aber nicht stark; wahrscheinlich hatte er sich beim Fall den Kopf geschlagen, weswegen er ohnmächtig am Boden lag.

»Er ist ... nicht tot?«, fragte Jiro ängstlich und stellte sich schutzsuchend hinter Alexander, der einen Arm ausstreckte, um seinem Schützling Halt zu geben.

»Nein ...«, brummte ich und fühlte am Handgelenk des Mannes seinen Puls. Er war schwach, aber spürbar pulsierend. Sofort blickte ich wieder zu meinem Bruder, der noch kein Wort raus gebracht hatte. »Was ist denn passiert?«, fragte ich noch einmal und ging sorgsamer mit dem schmalen Körper meines Liebhabers um. Der sammelte auf einmal Tränen in seinen Augen und schien das Unschuldslamm in Persona zu sein.

»Ich ... ich wollte nur mit ihm in die Karte gucken und ... er hatte sie nur gefaltet in der Hand! Als ich danach greifen wollte, kam er näher und -«

»Hat er dich etwa angefasst?«, raunte ich wütend auf, was Kiyoshi sofort zusammenzucken ließ.

»Er wollte! Er hat mich auf das Heu gedrückt und meinte, ich solle einfach mitspielen, dann wäre er auch weiterhin nett zu uns und würde der Polizei nichts sagen!«

»Oh Fuck«, kam es von Jiro, der sich an Alexanders Arm geklammert hatte, jetzt aber wesentlich interessierter zu uns rüber sah.

»Und als ich mich dumm gestellt habe, wurde er handgreiflich ... ich hab mich doch nur gewehrt!«

Eine klassische Vergewaltigungsszene also. Ich seufzte ausgiebig, nahm Kiyoshi fest in den Arm und drückte ihn an mich. Beruhigend streichelte ich seinen Rücken. Weniger die Vergewaltigung schien ihn in die Tränen zu reißen, sondern vielmehr die Tatsache, dass er unkontrolliert einen Menschen verletzt hatte, der nun am Boden lag und wahrscheinlich, solange wir dort standen, verbluten würde.

Ich erinnerte mich an die tadelnden Worte, die ich ihm entgegen schmiss, als ich noch bei ihm war. In was für Situationen er mich gezogen hätte, völlig unzumutbar, so unter Vampiren! Aber nach allem, was passiert war, waren die Vampire auf einmal das wohl geringste Übel. Jetzt mussten wir mit Vincent, der Polizei und noch einem halbtoten Mann Vorlieb nehmen.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Alexander etwas abgebrüht, als sei es nicht das erste Mal, dass er einen halbtoten Menschen auf dem Boden liegen sähe.

»Ich weiß nicht«, murmelte ich, während ich meinen Bruder tröstete, der wimmernd in meinen Armen lag. Noch immer bewegte sich der Mann keinen Zentimeter.

»Lassen wir ihn verbluten, dann kann er uns wenigstens nicht verpfeifen«, schlug der schwarzhaarige Vampir kaltblütig vor und sah abwertend in die Richtung des stämmigen Mannes.

»Bist du verrückt? Ich dachte, du willst keinen Mord draus machen?«, kam es rügend von seiner Seite. Jiros Blick sagte eindeutig Nein zu seinem Vorschlag.

»Wenn wir ihn am Leben lassen und er wieder bei Sinnen ist, wird er uns alle an die Polizei ausliefern!«

»Besser, als wenn im Nachhinein raus kommt, dass wir ihn umgebracht haben!« Jiros Stimme bebte vor Aufregung. Sicherlich hatte er nie gedacht, dass er sich mal in einer solche Situation finden würde. Diskutieren, ob man einen Mord draus machen sollte oder nicht.

»Wir rufen den Krankenwagen und -«, begann ich, stockte aber sofort.

 

Ich hörte sie wieder. Die Flügelschläge. Die Schritte. Sie näherten sich rapide.

Vincent.

Wieso musste auch alles in unsere Richtung führen? Polizei, Vögel, Vincent? Wieso legten wir ungewollte Brotkrümel, wo auch immer wie hingingen?

Ersehnt

»Fuck!«, rief ich laut los und zog Kiyoshi vom blutenden Mann weg, der noch immer am Boden lag und sich nicht regte. »Ich höre den Vogel! Er kommt näher!«

»Was?«, peitschte Jiro in einer extrem hohen Stimme aus seinen Lippen und klammerte sich stärker an Alexander ran. Der sah sich ebenfalls energisch um, rannte mit Jiro an der Hand aus der Scheune und blickt ein den Himmel.

»Wir müssen fliehen«, murmelte er, als er eine schwarze Gestalt am dunklen Himmel fliegen sah. »Sofort!«

Ich fackelte nicht lange rum, durchsuchte die Taschen des Mannes und zog ein Handy raus. Schnell tippte ich den Notruf, wartete kurz, bis jemand ranging.

»Dafür haben wir keine Zeit, man!«, schrie Alexander genervt und deutete mir und Kiyoshi an, dass wir uns endlich in Bewegung setzen sollten.

»Hallo? Hallo, ja, ein Mann liegt hier verletzt in seiner Scheune! Wir sind auf der Durchreise und haben ihn hier entdeckt, er braucht Hilfe!«, sprach ich aufgeregt in das Telefon, viel zu hektisch und wahrscheinlich viel zu schnell, denn die Dame am anderen Ende fragte mich all die Dinge, die ich ihr davor sagte, alle noch einmal. Kiyoshi zog mich unterdessen von dem Mann weg, aus der Scheune und den anderen beiden Männern hinterher, die bereits hilflos am Laufen waren. Irgendwo ins Feld rein, nicht wissend, welche Richtung die richtige wäre.

Erst als ich das hektische Gespräch beendete, das Handy in meine Hosentasche steckte, sah ich die Landkarte in Kiyoshis Hand. Er hatte sie wahrscheinlich noch schnell gegriffen, sodass wir nicht ganz ohne irgendwelche Hilfsmittel dastanden.

Der Vogel kreiste weiterhin über unsere Köpfe und krähte hier und da einige Laute. Wahrscheinlich informierte er Vincent über unsere Lage, sodass er ruhig folgen konnte.

»Wie konnte er uns so schnell finden? Hier? Mitten im Nichts?«, rief Alexander aufgebracht, während er durch das Gestrüpp des Feldes lief.

»Wahrscheinlich durch die Polizei! Die hatte eine Fahndungsmeldung im Radio raus gebracht!«, antwortete ich mit Kiyoshi an der Hand rennend. So langsam holten wir die beiden anderen Männer wieder ein und liefen auf gleicher Höhe.

»Die haben was?!«, bekam ich als Antwort zu hören. »Das ist ja wohl ein schlechter Scherz!«

Ja, das hoffte ich auch. Doch die Zeichen standen gegen uns.

Wir liefen und liefen, wussten nicht wirklich wohin, bis der Vogel ein wenig von uns Abstand nahm und wir kurz verschnauften. Besonders Jiro rang mit Luft. Er hatte seit Tagen nichts anständiges gegessen und musste sich trotzdem so verausgaben. Er würde früher oder später umkippen, so war ich mir sicher.

»Ich schau kurz auf die Karte«, gab Kiyoshi zu verstehen und faltete die kleine Landkarte aus, die er hat mitgehen lassen. »Dann wissen wir wenigstens wohin wir laufen müssen!«

An Alexanders Blick konnte ich erkennen, dass ihm das so gar nicht gefiel, noch groß Sightseen zu planen. Doch eine andere Möglichkeit blieb uns nicht. Wir mussten langsam mal mit System an die Flucht rangehen.

»Wir sind da ... und ... äh ...«, murmelte Kiyoshi vor sich hin, während er die Karte hielt. Er sah auf die bunten Felder, als seien sie Hieroglyphen.

»Lass mich mal gucken!«, kam Jiro hinter Alexander hervorgetreten, atmete immer noch ein wenig schwerfällig, nahm sich die Karte jedoch recht zügig und studierte sie schnell. »Wir müssen Richtung Osten laufen ... wie finden wir jetzt raus, wo Osten ist?«, seufzte er, blickte sich um, deutete dann mit dem Finger die Landschaft an.

»Die Sonne ging vorhin da hinten unter, also ...«, murmelte Alexander dann vor sich hin, stellte sich zu Jiro an die Karte und lugte auch kurz rein.

Da kam der Vogel wieder näher. »He, Leute, jetzt mal schnell, wir müssen uns entscheiden!«, brummte ich nervös und beobachtete den Greifvogel, wie er über uns drehte, als wären wir leichte Beute.

»Da lang!«, rief Jiro schlussendlich und schien Orientierung gefunden zu haben. Schnell faltete er die Karte wieder zu, lief sogar voraus, sodass wir Drei nur noch folgen mussten.

 

Nach nicht einmal wenigen Schritten endete das Feld abrupt, sodass wir wieder mitten auf einer Straße standen. Nur einzelne Straßenlaternen leuchteten in die Dunkelheit und ließen auf eine Landstraße schließen, die in unsere Richtung führte.

»Die können wir nehmen!«, bestätigte Jiro und fing an zu laufen.

»Wieso haben wir sein Auto nicht mitgenommen?«, stöhnte ich über unseren Fehler und voreilige Flucht.

»Kein Diebstahl mehr!«, fluchte Alexander genervt und rannte hinter Jiro her.

Doch ehe wir uns in Sicherheit bringen konnten, kam ein riesiger Jeep auf uns zugefahren. Wir stoppten, während er unaufhörlich auf uns zufuhr, sprangen verzweifelt von der Straße und hörten den Jeep quietschend anhalten. Für einen Moment hoffte ich auf jemanden, der uns helfen wollte, doch diese Hoffnung wurde schnell durch ein bekanntes Gesicht getrübt.

»Endlich!«, donnerte es aus der Tür, die mit Schwung aufging und schwere, schwarze Boots folgen ließen. Der schwarze Ledermantel wehte im Wind und kam bedrohlich schnell auf uns zu. »Endlich, ihr Flüchtlinge! Kriminelle! Mörder!«

Jede dieser Anschuldigungen hatten einzig und allein ihn als Grund! Wäre er nicht hinter uns her ... hätten wir niemals irgendeine dieser Sachen getan! Und wieso nahm er sich jetzt auch noch Autos? Das war unsere Idee!

»Lauft, lauft!«, schrie ich verzweifelt, scheuchte die anderen auf, die sofort von der Landstraße flüchteten und ins Kornfeld rannten. Wohin sollten wir jetzt fliehen? Hier gab es weit und breit kein Wald, keine Bäume, keine Büsche, in denen man sich hätte verstecken können. Nicht einmal Häuser gab es!

Vincent folgte uns, diesmal ohne Jeep und rannte mit Schusswaffen bewaffnet hinter uns her. Außerdem hielt er eine Schlinge in der Hand, mit der er wahrscheinlich hoffte, einen von uns gefangen nehmen zu können. Dieser Mann würde erst ruhen, wenn wir alle tot wären!

»Was sollen wir machen?«, wimmerte Jiro, der von Alexander an der Hand regelrecht gezogen wurde. Man merkte an seinem kraftlosen Schritt, dass ihn nur das Adrenalin zu solchen Fähigkeiten noch brachte. Auch meine Schusswunde schmerzte noch hier und da, ließ mich aber auch vergessen, dass ich noch weitere Wunden zu tragen hatte. Kiyoshi neben mir schwieg einfach, konzentrierte sich auf den Weg vor ihm. Wahrscheinlich war das wieder sein "ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll" – Schweigen.

Vincent blieb hartnäckig hinter uns, holte sogar ein Stück auf und richtete seine Schusswaffe auf uns. Ein heißer Schub durchfuhr meinen Körper, als ich in den nahen Lauf sah.

Er schoss.

Ein Kreischen ging los, Kiyoshi bückte sich sofort, Alexander blieb stehen und stellte sich sofort schützend vor Jiro, während ich auf den Boden fiel.

Ich zitterte, sah an mir runter, fand aber keine Schusswunde. Nein, dachte ich, er hat mich nicht getroffen. Da auch alle anderen nur verzweifelt in die Gegend sahen, schien niemand getroffen worden zu sein. Glücklich über das vorübergehende Glück, richtete ich mich wieder auf, wollte loslaufen und fiel sofort wieder hin. Etwas an meinem Fuß hielt mich davon ab. Es war eine Art Leine, eine Fessel oder irgendetwas anderes, was mich am linken Fuß gepackt hatte und mit einem langen Schlauch zu Vincent führte, der sofort auf uns zugerannt kam.

»Fuck, nein!«, rief ich verzweifelt, packte mein Bein und versuchte es aus der Schlinge zu befreien. Vergebens. »Lauft! Lauft schon!«

Doch die anderen blieben starr stehen, konnten wahrscheinlich selber noch nicht ganz fassen, dass ich mich in Vincents Fängen befand.

In dem Moment zog Vincent eine andere Schusswaffe und richtete den Lauf auf mich. Kiyoshi neben mir warf sich sofort auf meinen Körper und klammerte sich feste an mich.

Nein, dachte ich, das will ich nicht! Nicht du! Geh weg! Renn! So schnell du kannst!

Ich blickte noch in den Lauf der Schusswaffe, die sich fast direkt vor meinem Gesicht befand, als ein Schatten über uns hinweg flog, Vincent umwarf und ihn zu Fall brachte. Er schoss, jedoch in die Luft, sodass sowohl Kiyoshi als auch ich gerettet waren. Zumindest für's Erste.

»Du Abschaum!«, schrie Vincent erbost über die Tatsache, dass sich Alexander wieder auf ihn geworfen hatte, um ihn mit seinem Fuß ins Gesicht zu treten.

»Du bist der Abschaum!«, brüllte er als Antwort, trat noch einmal zu, sprang dann auf und sprintete an uns vorbei. Kiyoshi hatte in der Zwischenzeit das Seil zerrissen, da es aus Gummi schien und half mir auf. Schnellen Schrittes rannten wir von Vincent weg, der sich nur langsam vom schmerzenden Tritt von Alexander erholte. Im Augenwinkel erkannte ich eine schiefe Nase und roch Blut. Sie war wohl gebrochen.

»Ich danke dir, Alexander!«, brüllte ich ihm zu, der Jiro mittlerweile wieder auf die Arme genommen hatte, sodass wir schneller voran kamen.

»Pass einfach mehr auf!«, war die nicht ganz zu Unrecht gesprochene Antwort.

Das Feld erstreckte sich noch einige Meter und war mit einem hohen Zaun umzäunt. Stacheldraht schützte die oberen Ebenen vor Eindringlingen.

»Das muss das Naturschutzgebiet sein!«, verkündete Kiyoshi und sah sich interessiert um. Doch ein Eindringen schien schier unmöglich zu sein; selbst für Vampire war der Zaun zu hoch.

»Naturschutzgebiet?«, wiederholte Alexander, der Jiro noch weiter trug und am Zaun entlangging. »Wie kommen wir zum Strand?«

»Da ist ein Strand, aber eben ohne Menschen!«, erklärte ich und ging den Zaun ebenfalls ab. Es musste doch irgendwo einen Eingang geben, damit auch Menschen mal hierher kommen konnten!

Doch Vincent blieb uns auf den Fersen, kam schon wieder angerannt und donnerte mit seiner Stimme verheißungsvolle Drohungen. »Gleich seid ihr endlich Geschichte!«

»Räuberleiter!«, schlug ich vor, bückte mich und half Kiyoshi auf meine Hände.

»Trotzdem zerreißen wir uns die Haut an dem Draht«, bemängelte Alexander, der Jiro trotzdem hochhob, damit er von Kiyoshi angenommen wurde.

»Ich regel das«, brummte Jiro, zog sich seine Lederjacke aus, warf sie über den obersten Draht und deutete mit einer Handbewegung an, dass es sicher ist.

»Deine Lieblingsjacke«, rief ich sofort aufgebracht, als sie beim Übersteigen von Jiro einige Risse bekam.

»Die war eh hinüber. Alles hat ein Ende«, lachte er sichtlich traurig über die Tatsache, dass er sie verloren hatte. In ihr steckte viel Liebe, viel Zeit und eigentlich auch viel Kunst. Immerhin war alles an ihr selbst gemacht. Diese Flucht schien mehr Opfer zu verlangen, als uns allen lieb war.

Als Jiro auf der anderen Seite am Gitter hing, deutete Kiyoshi mit einem Nicken Alexander an, dass er ebenfalls rüber springen sollte. Ohne weiter zu Zögern, nahm er Anlauf, ließ sich von Kiyoshi hoch helfen und sprang mithilfe der Jacke über dem Draht auf die andere Seite. Dort fing er den Fall von Jiro ab, der das Gitter losließ und in Alexanders Armen landete.

»Jetzt du«, schubste ich Kiyoshi ein gutes Stück hoch, sodass er sich am obersten Gitter festhalten konnte. In dem Moment kam Vincent mit seiner Schlingenwaffe und schoss erneut auf uns los. Er traf Kiyoshi am Arm, versuchte ihn vom Gitter zu ziehen. Mühselig kämpfte er dagegen an und verzerrte das Gesicht. Ich ließ mir die Show nicht lange nehmen, sprintete also auch einmal auf Vincent zu, schlug ihm mit voller Kraft den Arm weg, sodass er die Waffe fallen ließ.

»Du miese Ratte!«, rief ich ihm zu und trat noch einmal zu, doch Vincent war schneller. Er packte mich am Bein, zog mir den Boden unter den Füßen weg und warf sich mit Gewalt auf mich.

»Hiro!«, schrie Kiyoshi, blieb noch immer auf der obersten Sprosse des Zaunes sitzen und sah verzweifelt zu, wie ich mit Vincent kämpfte.

»Für einen Noneternal gar nicht mal so schlecht«, lobte mich Vincent recht amüsiert und schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Da waren Stahlkappen drin; wie bei einem Schlagring. Es brannte, es tat weh und ich hatte das Gefühl meine halbe Gesichtshälfte war hinüber.

»Scheiße! Ich reiß dir die Augen aus!«, brüllte ich ihm entgegen, hob beide Arme und presste meine Daumen in sein Gesicht. Zwar verfehlte ich seine Augbälle, kratzte ihn trotzdem recht effektiv ins Gesicht, sodass er von mir abließ. Ich nutzte die Gelegenheit, um unter ihm herzukriegen, schnell auf den Zaun zuzuspringen, Kiyoshis Hand zu schnappen und vom ihm über den Zaun geworfen zu werden. Ich landete nicht sehr sanft, ganz im Gegenteil: ich spürte sofort den harten Boden unter meinem Körper.

Mein Bruder folgte natürlich sehr elegant, kam kaum auf dem Boden auf und zog mich mit viel Kraft wieder auf die Füße.

»Geht's?«, fragte er aufgebracht mit Tränen in den Augen. Ich nickte nur, murmelte irgendwas unverständliches und fing bereits wieder an zu laufen. Ich wollte nur noch weg. Das bisschen "Kämpfen" hatte mir den letzten Rest gegeben. Mein Körper fühlte sich an, als wäre er Gummi.

Jiro und Alexander fügten sich wieder zusammen, sodass Jiro auf den Schultern des Vampirs ruhen konnte. Trotzdem er kaum noch etwas tun musste, atmete er angestrengt, sein Kopf war rot und auch er schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Diese ständige Flucht machte uns allen zu schaffen. Die Todesangst hingegen ließ uns immer wieder neue Kraft schöpfen. Niemand wollte aufgeben und sich dem Feind stellen.

Das Naturschutzgebiet war in der Tat sehr schön und naturbelassen. Eine großflächige Wiese mit vielen Blümchen und Kräutern wuchs wild am Zaun entlang. Sogar ein paar Bäume und Büsche gab es, auf die wir zu rannten, in der Hoffnung, wir könnten uns darin verstecken. Denn Vincent ließ es sich auch nicht nehmen unsere Lederjackenvorrichtung zu seinen Zwecken zu benutzen und uns zu folgen.

Es wunderte mich, dass er nie wild um sich schoss. Hätte er einfach mal draufgehalten, hätte er uns mit Sicherheit längst erwischt. Doch wahrscheinlich lag es in seinem Ehrenkodex zugrunde, dass er jeden Vampir eigenhändig mit seinen Stahlkappen in den Handschuhen und einem miesen Grinsen im Gesicht verabschiedete und dem Gott der Toten überließ.

»Wohin?«, fragte Kiyoshi aufgebracht und drehte sich immer wieder um. Sein Händedruck wurde stärker, als wir den Wald erreichten. Nie und nimmer war der groß genug, um uns Schutz zu bieten, dachte ich und betrachtete die spärlich verteilten Bäume. Und das Meer wäre auch keine Alternative, jedenfalls keine nahe liegende mit dem Meuchelmörder im Nacken.

»Keine Ahnung«, brummte ich aufgeregt und spürte meine Knochen. Die Wunden taten weh, verheilten viel zu langsam und ließen mich Sternchen sehen. Mein Gesicht brannte, der Atem stockte und ich wurde langsamer. Ich konnte nicht mehr!

»Nein, Hiro, wir müssen weiter! Komm!«, rief Kiyoshi und zerrte an meinem Arm, sodass ich mit geschlossenen Augen weiterlief. Vincents Schritte wurden lauter und aufdringlicher, sie vibrierten regelrecht in meinen Ohren und ließen mich fast taub werden. Alles in mir drehte wieder durch; jetzt hatte ich sogar das Gefühl, ich könnte den rauchigen Opiumgeruch von Vincent riechen, obwohl der mehrere Meter von uns entfernt war.

 

Schließlich spürte ich ihn. Den Sand unter meinen Füßen.

Endlich, so dachte ich, endlich waren wir hier.

Das Meer rauschte angenehm und schien die Ruhe selbst zu sein. Nichts ließ darauf schließen, dass vier Männer um ihr Leben rannten.

Es war eine lange Bucht, in der wir uns befanden. Zwar war das Meer aufgrund der Nacht bedrohlich schwarz gefärbt; trotzdem konnte ich mir gut vorstellen, wie traumhaft schön es am Tag hier sein musste. In der Sonne zu liegen und sich zu bräunen. In den Himmel zu schauen und zu sinnieren. Einfach die Seele baumeln zu lassen, ohne andere Menschen um uns herum. Nur wir... alleine... an einem schönen Ort, mit schönen Menschen und einer schönen Zeit.

Wieso konnte es nicht so sein? Wieso mussten wir bei Nacht über den beschwerlichen Sandweg rennen, um unserem Mörder zu entfliehen?

Von weitem konnte ich das Ende des Naturschutzgebietes sehen. Eine nette, kleine Promenade verlief am Strand, wo man kleine Souvenirs kaufen konnte. Strandliegen und zusammengeklappte Schirme standen noch vom Tag benutzt auf dem Sand. Doch alles hatte zu, die Nacht hatte erst begonnen. Ein schneller Blick auf das Handy sagte mir, dass es gerade mal 23 Uhr war. In nicht einmal 6 stunden würde die Sonne wieder aufgehen. Doch 6 Stunden konnten lang werden, wenn wir sie laufend verbringen mussten. Wir brauchten eine neue Gelegenheit zu entkommen.

»Wo sollen wir hin?«, stöhnte Alexander angestrengt, der noch immer bewundernswert lange Jiro auf seiner Schulter trug.

»Ich weiß nicht«, murrte ich verzweifelt zurück und hielt mir die Hand vor die Brust. Es stach gewaltig und es tat weh ...

»Vielleicht finden wir ein Haus, in das wir können?«, schlug Kiyoshi vor, der auch immer langsamer wurde.

Nein, dachte ich. Es war nun soweit.

Wir mussten uns stellen. Anders ging es nicht. Es musste ein Ende haben und das war jetzt gekommen!

 

Als ich stehen blieb und mich außer Atem nach vorne beugte, fing Kiyoshi wieder an nervös an mir zu ziehen. »Nicht stehen bleiben! Hiro!«

Doch ich konnte mich nicht mehr regen. Da war keine Kraft mehr, da waren nur noch Schmerzen. Nach all diesen Strapazen, in denen wir es trotzdem geschafft hatten auch mal zu Lachen, fand es ein Ende.

Als Alexander merkte, dass wir nicht mehr folgten, blieb auch er stehen und sah mit großen Augen zu uns rüber. Kiyoshi zog wie ein Weltmeister an mir, versuchte mich weiter ins Laufen zu kriegen, während ich einfach nur noch vorne gebeugt auf den Sand starrte und versuchte Luft zu kriegen.

»Ist es ...«, murmelte Jiro leise, der ebenfalls seine Augen nicht von mir lassen konnte. Eine kleine Träne bildete sich in seinen Augen. »Ist es vorbei?«

Sanft, fast schon liebevoll, nahm Alexander den Mann von seiner Schulter und setzte ihn auf dem Sand ab. Nur ein halber Kopf trennte ihre Größe, trotzdem blickte Jiro zum Vampir hoch, als sei er die Instanz, die es entscheiden sollte.

Ein zögerliches Nicken folgte. Die Augen starr auf mich gerichtete. Erst, als Vincent wieder näher kam, seinen Schritt ebenfalls verlangsamte, kam die Hoffnungslosigkeit in Alexanders Statue. Der starke Griff um Jiros Hüften wurde nun lockerer, die Schultern sanken zu Boden und der Blick senkte sich. Doch Jiro blinzelte noch immer aufgeregt in Alexanders Gesicht, als könne er seine Entscheidung noch einmal überdenken.

Nur Kiyoshi bebte noch voller Leben, brüllte, zerrte und riss förmlich an mir rum. Erst als Vincent fast direkt hinter mir stand und er direkt zu meinem Bruder sah, der wie erstarrt aufhörte an mir zu zerren, richtete ich mich auf und seufzte.

»Ist es das, was du wolltest?«, fragte ich in einem direkten Ton. Die Wut lag tief in meinen Knochen und kam langsam hoch. Als ich mich umdrehte, in Vincents Augen sah und eine leichte Brise seine langen Haare verwehten, presste ich meine trockenen Lippen zusammen. Es war zwar vorbei, aber Vincent sollte nicht denken, einer von uns würde sich einfach so ergeben.

 »Es ist zumindest endlich so weit, dass ich euch in Gewahrsam nehmen kann«, schmunzelte der Angesprochene, fuhr sich mit seinem Lederhandschuh über das Gesicht und verschmierte das Blut. »Ihr habt euch tapfer geschlagen, das muss ich gestehen. Ihr wart hartnäckiger als so mancher tausendjähriger Vampir.«

»Erfüllt dich das mit Stolz? Vampire abzuschlachten als wären es keine Lebewesen?«, fragte ich ihn in einem harschen Ton und kam einen Schritt auf ihn zu. Kiyoshi packte sofort meinen Arm, als wolle er mich von unüberlegten Handlungen abhalten.

Vincent lachte gedämpft, sah kurz zu Boden und schüttelte den Kopf, als könne er nicht ganz fassen, dass ich tatsächlich ein Gespräch mit ihm anfangen wollte. »Ja, es erfüllt mich mit Stolz den Abschaum der Gesellschaft zu vernichten.«

»Du hältst uns für Abschaum?«, schrie Alexander los, als hätte ihn genau dieser Satz wieder zum Leben erweckt. Das Wort Abschaum fand in seinem Kopf eine ganz neue Bedeutung. »Kennst du überhaupt irgendjemanden von uns näher? Bist du überhaupt in der Position so über uns zu urteilen und zu entscheiden, wer sterben soll und wer nicht?«

Doch Alexanders Worte fanden bei Vincent keinen Anklang. Nur ein leichten Schmunzeln streifte seine Lippen. Der drei Tage Bart auf seinen Wangen zuckte amüsiert.

»Ich kenne dich Alexander Von Hofstätt. Ich kenne deine Familie und sie kennt mich. Und sie sind sehr darüber pikiert, dass ihr eigener Sohn sich mit Kriminellen abgibt«, säuselte er, als könne er Alexander damit noch weiter erniedrigen. »Sie waren bereit, dich als ihren Erbe einzutragen. Als Nachfolger. Doch das wird jetzt wohl nicht mehr geschehen ...«

Alexanders Blick blieb unergründlich, doch Jiro, der ihm so nah wie noch nie stand, sah in seinen Augen die Wut und die Trauer, die Vincents Worte ausgelöst hatten.

»Ein Jammer, dass gerade Adoptivkinder auf die schiefe Bahn geraten ...«, brummte er noch mit einem fiesen Grinsen, schwang seine Waffe in seinen Händen und entsicherte sie. Alexander ballte die Fäuste, stieß ein Knurren aus und wollte schon auf Vincent zu stürmen – da stellte sich Jiro vor ihn und hielt sachte die Hände gegen Alexanders Brust. Wie erstarrt, blieb der Schwarzhaarige stehen, atmete angestrengt aus, unterdrückte die Wut, so gut es ging und begann mit den Lippen zu zittern.

»Du mieses Arschloch ... du gehörst einfach nur in die Hölle«, murmelte er vor sich hin und ließ Jiro vor sich stehen. Der senkte den Blick und lehnte gegen die Brust des Vordermanns. Gerade noch so hatte er Alexander vor einem weiteren Angriff abgehalten. Blind vor Wut wäre es sicherlich sein letzter gewesen. Und genau das wollte Vincent erreichen.

»Du willst uns jetzt also alle abschlachten? Obwohl es zu Beginn nur um mich ging?«, fing Kiyoshi nun auch an, sich mit Vincent zu unterhalten. Ich wusste nicht genau, was wir damit erreichen wollten, denn sicherlich ließ Vincent nicht einfach so mit sich reden. Wir würden ihn in keinem Fall von der Absicht abbringen, uns zu richten. Im besten Falle hatten wir eine Verschnaufspause.

»Kabashi ... Ich kann euch nicht leiden«, begann Vincent und schwang abermals bedrohlich seine Waffe in der Hand. »Ich kann euren Vater nicht leiden, euren Einfluss und eure abgehobene Art.«

»Das ist ein wirklich toller Grund«, platzte ich dazwischen und ging noch einen Schritt auf ihn los. Auf einmal klickte es, er schoss und ich spürte ein weiteres Loch in meinem Bein. Diesmal war es der Unterschenkel gewesen. Ich stieß einen stummen Schrei aus, öffnete den Mund und schloss die Augen. Zu meiner eigenen Verwunderung blieb ich stehen, fiel nicht zu Boden. Kiyoshi hinter mir hielt sofort meine Brust, sah mich eindringlich an und tastete meinen Hals ab, ob ich noch anwesend wäre. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich in sein besorgten Augen, die sich schnell wieder zu Vincent umdrehten und ihn vernichten ansahen.

»Du bist das wohl dreckigste und niederste Tier, was ich je gesehen habe!«, schrie er aufgelöst. Tränen bildeten sich in seinen Augen, während ich mit dem Bewusstsein rang.

»Ha!«, pustete Vincent aus seinen Lippen und ging einige bedrohliche Schritte zur Seite, als würde er gerne eine Plauschchen mit seinen Opfern halten. »Du nennst mich ein Tier? Was bist du? Als was würdest du dich bezeichnen? Behindertes Kind?«

Kiyoshis Augen weiteten sich, zitternd öffnete er seinen Mund, um etwas Gegenteiliges zu sagen, schloss ihn jedoch wieder und ließ der ersten Tränen freien lauf.

»Wie kannst du«, hauchte ich angestrengt durch meine Lippen, öffnete die Augen und sah verschwommen zu Vincent, der gefühlte fünf Meter näher gekommen war, »wie kannst du nur meinen Bruder behindert nennen? Du ... Mistkerl!«

»Wie ich das kann?«, raunte er und blieb schlussendlich auf einer Stelle stehen. Nah am Wasser, welches kurz vor seinen Füßen auf und ab sank. »Dein Bruder ist bei der Geburt gestorben! Er hatte einen Herzfehler. Und wie das eben so ist mit elterlicher Liebe ... er wurde gerettet: durch euren Vater. Aber so stark die Liebe auch war, es konnte nicht verhindern, dass das unvermeidbare passierte: Menschen, die einmal gestorben sind und dann zu Vampiren werden, sind geschädigt! Er kann froh sein, dass es "nur" die 15 Tage im Monat sind, in denen sein Blut kocht. Trotzdem ist es ein Gendefekt, ausgelöst durch das unachtsame Verhalten eures ach so tollen Vaters! Und als hätte eure Familie nicht aus diesem Fehler gelernt, macht ihr es bei eurem zweiten Sprössling genauso falsch!« Vincent kam wieder in Bewegung und schabte Sand auf. Fast energisch, wütend und aufgebracht zugleich. »Ich weiß nicht wie euer Vater es damals geschafft hatte, die Regeln zu umgehen, aber Kiyoshi durfte leben bleiben. Ihr wurdet mit dem Gedanken getrennt, dass Kiyoshi den kleinen Hiroshi sonst irgendwann getötet hätte. Wäret ihr gemeinsam aufgewachsen wäre das früher oder später passiert. Und jetzt? Reitet ihr euch gemeinsam in den Tod, ist das nicht romantisch?«

Sein sarkastisches Lachen ließ alle erstarren. Selbst Alexander, für den diese Informationen über Genmutationen anscheinend ebenso Neuland zu sein schien, wie für uns selber, sah ausdruckslos in die Richtung des Hunters. Jiros Blick haftete entsetzt auf meinem Rücken. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass sein bester Freund aus solchen Familienverhältnissen stammte. Niemals hätte ich das selber gedacht und jetzt? Hörte ich es aus einer sehr vertraulichen Quelle.

»Ihr sollt ja nicht dumm sterben, also gebe ich euch noch ein bisschen mehr zum Nachdenken«, lachte Vincent amüsiert auf, als sei es für ihn die größte Erfüllung uns noch bis zur letzten Minute zu quälen. »Euer Vater ... Fudo Kabashi, ist eigentlich ein Mitglied der Kämpfergarde. Vor sehr vielen Jahren kämpften sie gegen feindliche Machenschaften und errangen viele Siege. Im Mittelalter und weit danach. Er wurde in ein nobles Haus geboren, als Vampir. Sie achteten akribisch darauf, dass die Vampire unter sich blieben. Tja, wie das eben so war, fand er keine Kontrolle über sich selber und seine Kräfte. Sowohl er als auch seine ganze Familie töteten wahllos Menschen und tranken sie aus. So tolle Erfindungen wie Blutkapseln oder Tabletten gab es damals eben noch nicht.«

Kiyoshi klammerte sich an mich heran, umarmte mich feste, als Vincent wieder näher kam.

»Nach also so rund 100 Jahren, in denen er Angst und Schrecken verbreitete, gründete er die Academy Red Rose und sorgte dafür, dass auch der Rest seiner Familie da mitmachte. Zusammen mit anderen Vampiren, die sich Besserung schworen, taten sie sich zusammen und setzten Regeln auf. Aber wie das so ist mit Regeln: wenn sie keiner einhält, sind Regeln sinnlos. Also riefen sie die Hunter zusammen. …Ja, richtig, euer Vater rief meinen Beruf hervor. Er selber war es, der meine Familie darum bat, euch unter Kontrolle zu bringen. Und alles, was es meiner Familie brachte, war Tod und Verderben. Denn euer Vater war es auch, der vor zwanzig Jahren meinen Vater tötete, weil er ihm nicht mehr gehorchte. Könnt ihr jetzt meinen Hass auf die Kabashis verstehen? Ihr zwei dummen Kinder, die bisher jegliche Sonderregelung erhalten haben?«

Vergangenes

Vincents Worte stachen in meiner Brust wie Messerstiche. Oder war es die Erschöpfung? Natürlich erklärten sie, wieso er so hartnäckig an uns dranblieb. Persönliche Gründe waren doch immer die Besten.

Kiyoshi wischte sich abermals über die Augen und wimmerte vor sich hin. »Vater ist sicherlich ... nicht der einfachste Mann, aber er hat sich immer für alle aufgeopfert! Auch für uns! Er würde nie grundlos irgendwen umbringen!«

Und auch wenn ich Vater nur eine Woche kannte, Kiyoshi hatte Recht! Niemals würde er wahllos auf Menschen losgehen. Seine Lügen über Beruf und Ursprung taten natürlich niemandem gut und schürten nicht gerade Vertrauen, doch dass er sich selbst auf einen Menschen eingelassen hatte, nämlich unserer Mutter, zeigte doch eindeutig, dass er gewillt war, die Grenzen verwischen zu lassen. Auch dass er die Academy gründete, um den Menschen zu helfen, um den Vampiren Einhalt zu gebieten, zeigte doch deutlich, dass er kein willenloses Tier war, was sich auf seine Beute warf und sie meuchelte. Wenn es eine Sache war, die Vater mit Sicherheit in den 400 Jahren seines Lebens gelernt hatte, dann genau das!

»Natürlich... der gute Fudo. Immer ein aufopfernder Vater, immer nett und toll. Heiratet einen Menschen, schwängert sie und lässt sich Kinder gebären. Toll! Das absolut perfekte Lebensglück!«, raunte Vincent genervt auf und zog erneut die Waffe an sich. »Dass ich nicht Lache! Ich will einfach nur, dass diese Familienlinie endlich ein Ende findet ... Denn mit dem fahrlässigen Töten deines Bruder, Kiyoshi ... hast du nur gezeigt, dass eurer Blut absolut nichts Gutes in die Welt zu setzen hat.«

Ich konnte es nicht mehr hören. Vincents Gründe lagen also darin, dass er persönliche Rache nehmen wollte? Nur, weil er seinen Vater rächen wollte, war er also gewillt die Kinder von seinem Mörder zu töten? Und jetzt suchte er nur eine Belanglosigkeit wie das fahrlässige Beißen eines Menschen, um seinen Traum wahr zu machen?

»Sorry für deinen Vater«, fing ich an zu murmeln, ging auf Vincent zu, schlurfte regelrecht über den Sand und staute ihn mit meinen Füßen auf. »Aber das bedeutet nicht, dass du unseren so runter machen musst. Denn wenn du unsere Linie so gut kennst... dann weiß du auch, dass wir Kämpfer sind!«, brüllte ich ihn letztendlich aus vollster Überzeugung an, hob meinen Fuß, schüttete den Sand in die Luft und traf Vincent im Gesicht.

Der fluchte sofort auf, hielt sich die Hand vors Gesicht und versuchte den Sand aus seinen Augen zu kriegen.

»Schnell!«, rief ich, drehte mich um, packte Kiyoshi am Arm und rannte an Alexander und Jiro vorbei, die sofort mit rannten. Das war unsere Chance zu fliehen!

»Verschwindet!«, schrie ich ihnen verzweifelt entgegen. »Das hat nichts mehr mit euch zu tun! Verschwindet einfach!«

Alexander und Jiro, die neben uns her liefen, sahen uns mit großen Augen an.

»Macht schon!« Mit wedelnden Handbewegungen scheuchte ich sie in eine andere Richtung, als die ich mit Kiyoshi rannte. Ich konnte an ihren Blicken sehen, dass es genau das war, was sie nicht wollten. Getrennte Wege einschlagen. Voneinander Abstand nehmen.

Sich vielleicht das letzte Mal zu sehen.

»Pass ja auf meinen Kumpel auf, Alexander!«, rief ich den beiden noch hinterher, als sie Richtung Zaun liefen, um das Naturschutzgebiet zu verlassen. »Wenn du ihn anknabberst, bist du tot!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, sah ich nur, wie Alexander Jiros Hand nahm, der sich noch einmal zu uns umdrehte und verzweifelt weinte. Es tut mir Leid, dachte ich. Aber anders ging es nicht! Ich wollte weiterhin keinen Tod verantworten müssen. Keinen, bis auf meinen eigenen. Und das war, was ich vorhatte: Kiyoshi lebend aus der Sache bringen, koste es, was es wolle.

»Hier!«, rief Kiyoshi mir zu, zog mich an der Hand in den kleinen Wald und gab die Richtung vor. Zwei Personen könnten sich eventuell besser verstecken als vier. Mit dieser Hoffnung rannten wir in das dichte Gestrüpp, welches mich mehrmals aufkeuchen ließ. Die frische Wunde an meinem Bein brachte mich mehrmals in die Knie. Doch der Wille, weiterzulaufen, war stärker. Und ich war dankbar über diese Willenskraft. Denn egal, was Vincent behauptet hatte: Wir waren keine Mörder, Kriminelle oder Aussätzige! Wir waren die Kabashis und wir waren Kämpfer!

 

»Wir können sie doch nicht alleine lassen!«, wimmerte Jiro und ließ sich mehr schlecht als recht von Alexander mitziehen. »Sie werden sterben!«

»Nein«, brummte der Schwarzhaarige nur dunkel und sichtete den rettenden Zaun. »Sie werden überleben. Die sind hart im Nehmen!«

Doch Jiros Tränen trockneten auch diese Worte nicht. Was wäre, wenn das wirklich die letzten Worte zwischen ihnen gewesen sein sollten? Wenn diese lange Reise so enden würde? Niemals hätte er sich ausgemalt, dass er einmal mit drei Vampiren auf der Flucht wäre. In der Menschenwelt.

Als sie vor dem Zaun standen, zog sich Alexander seinen Parker aus, warf ihn recht gekonnt über den Draht und sprang wieder zurück auf den Boden.

»Komm, ich heb dich hoch!«, befahl er und ging ein wenig in die Hocke, damit Jiro auf seine Hand steigen konnte.

»Und wie soll ich dich über den Zaun bringen?«, fragte er recht zögerlich, stieg zittrig auf Alexanders starke Arme, die ihn sofort hochhoben.

»Ich schaff das schon.«

Mit diesen Worten nahm er noch einmal Schwung, indem er in die Knie ging, und warf Jiro fast komplett über den Zaun. Nur spärlich konnte der sich noch am obersten Absatz halten, um nicht ungebremst auf den harten Boden zu fallen. »Schaffst du es?«, war alles, was Jiro noch herausbrachte, bis er Vincents Figur in der Ferne auf die zukommen sah. »Beeil dich! Vincent kommt!«

Alexander blickte noch einmal hinter sich, nahm all seine Kraft zusammen und sprang so hoch er konnte, um sich am Absatz festzuhalten. Doch alles, was zu packen bekam, war der Maschendraht, der durch den Parker stach.

»Ah!«, schrie er schmerzerfüllt auf, da sich einzelne Stacheln durch seine Hand gebohrt hatten.

»Oh mein Gott!«, quietschte Jiro heraus, der auf der anderen Seite hing und aus nächster Nähe die blutigen Hände sehen konnte.

»Geht schon!«, stemmte Alexander aus seinen Lippen, drehte sich noch einmal panikerfüllt um und seufzte tief, als er Vincent näher kommen sah. Wieso folgte er ihnen? Und nicht den Zwillingen?

Mit aller Kraft zog sich der Vampir höher, vollzog einen strammen Klimmzug und pumpte dabei sein ganzes Blut durch die Adern, sodass sie stark über seine Muskeln heraus stachen. Er hatte zu wenig getrunken, das war klar. Ihm wurde schwindelig und schwarz vor Augen, doch er schaffte ein Bein über den Parker zu schwingen, den Draht loszulassen und auf den Boden zu gleiten. Zwar verlief das nicht mehr ganz so elegant wie beim ersten Mal, trotzdem rollte er sich ab und fing sich sofort. Mit blutigen Händen öffnete er seine Arme und wartete ab, dass Jiro sich fallen lassen würde.

»Komm jetzt!«, rief er erschöpft und sah Jiro wartend an. Der hing wie apathisch mit Tränen in den Augen am Zaun und wechselte energische Blicke zu Vincent und Alexander.

»Flieh doch einfach! Du hast nur Schmerzen mit mir!«, jammerte er und konnte nicht loslassen. All seine Muskeln hatten sich verkrampft.

»Mach schon!« Alexander näherte sich dem Zaun. »Red keinen Scheiß und lass dich fallen! Ich fang dich auf!«

Weinerlich blickte sich Jiro noch einmal um, sah in Alexanders aufgeregte Augen, die wieder mehr Leben zeigten, als zu Beginn, wo sie alle hoffnungslos am Strand standen. Der Wille war da. Der Wille zu fliehen und lebend aus der Sache zu gehen. Egal, was danach wäre. Egal, wie das Leben danach aussehen würde. Vielleicht müssten sie sogar für ihre Eskapaden ins Gefängnis gehen. Doch wen interessierte das noch, wenn sie lebten?

Jiro kniff die Augen zusammen, ließ los und fiel in die weichen Arme von Alexander, die sofort seinen Fall bremsten.

»Gute Entscheidung«, grinste er dem Punk entgegen und strich über seine kurzen Haare. »Komm jetzt!«

Ehe Jiro das Lächeln erwidern konnte, wurde er wieder an der Hand weiter gezogen, sodass er kaum eine Möglichkeit hatte, Alexander seinen Dank auszusprechen. Für alles, was er für ihn getan hatte. Für alles, was er aufgegeben hatte.

Sie liefen den Strand entlang, zwischen den Strandkörben und den Liegen. Die Geschäfte hatten noch geschlossen, die Promenade wirkte wie ausgestorben. Als sie an einer Apotheke vorbei rannten, sahen sie die Uhrzeit: Halb eins.

Vincent war nicht mehr zu sehen. Ob er aufgegeben hatte? Am Zaun? Ließ er die Männer wirklich laufen?

Auf einmal blieb einer stehen. »Schau mal«, brachte Jiro aufgeregt aus seinen Lippen. »Hier können wir rein!« Er zeigte auf einen kleinen Geräteschuppen hinter einem Bäcker. Er stand offen und schien nichts Wichtiges zu lagern. »Hier können wir uns kurz verstecken!«

Alexander musste nicht überzeugt werden, er folgte Jiro, als wären die Instanzen getauscht worden. Müde und erschöpft ließ er sich auf den hölzernen Böden der Schuppens nieder. Der Raum war vielleicht drei Quadratmeter groß und beherbergte nur einige Kiste. Hier könnten sie notfalls auch die Nacht verbringen, dachte Jiro und suchte nach nützlichen Dingen. Erst, als er das Seufzen von Alexander vernahm, hielt er still und sah auf den erschöpften Mann. Seine Hände bluteten noch immer und schienen nicht zu heilen. Selbst auf Jiros Hand klebte sein Blut.

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragte er mit zittriger Stimme den Vampir und durchsuchte instinktiv seine Hosentaschen. Doch er hatte weder Wasser noch Packungen dabei.

Bevor ihn der erschreckende Gedanke einholte, dass er aber den Inhalt der Packungen immer bei sich hatte, holte ihn Alexander in die Realität zurück. »Nein, danke ... das wird schon«, murmelte er vor sich hin und sah nur durch Schlitzen in die Ferne der offen stehenden Tür. Nur ein sanftes Lächeln streifte seine Lippen, sodass der andere schwarzhaarige ruhig gestellt war. Vorsichtig, fast ehrfürchtig, setzte er sich neben Alexander und betrachtete ihn eine Weile, bis er müde die Hände in den Schoß legte und die Beine von sich streckte. Auf einmal kam die Müdigkeit zurück, trotzdem sie beide auf der Autofahrt geschlafen hatten.

Sie schwiegen sich eine Weile an, lauschten, ob Vogel oder Vincent auf dem Weg zu ihnen waren, stellten jedoch irgendwann fest, dass sie vorerst sicher waren. Vincent schien doch kein so großes Interesse an den beiden gehabt zu haben, wie an den Zwillingen.

»Glaubst du, was Vincent gesagt hat? ... Über die beiden?«, fragte Jiro in die Stille hinein und flüsterte so leise er konnte. Er wollte sich nicht weiter mit dem Vampir anschweigen. Er wollte reden, sich die Last von der Seele sprechen.

»Ja«, gab Alexander nur knapp von sich, drehte dann den Kopf zu seinem Nachbar. »Ich kannte nur wenige Sachen über die Kabashis, aber das, was ich wusste, hat sich mit den Erzählungen von Vincent überschnitten. Wieso sollte er also beim Rest lügen?«

Ein sanftes Kopfschütteln überkam Jiro. Wieso? Weil er hoffte, er würde lügen! Es konnte doch nicht wahr sein, dass sein bester Kumpel, den er seit so vielen Jahren kannte, auf einmal eine solche Vergangenheit vorzuzeigen hatte. Nie hatte jemand über solche Sachen gesprochen – ganz im Gegenteil: Witze hatten sie über Vampire gerissen. Hatten sich dumme Spielfilme angesehen, hatten sich gewünscht, sie wären so cool wie die. Und jetzt sollte das alle wahr sein?

»Weißt du ... seit wann Hiro einer von euch ist?« Jiros Blick bohrte regelrecht in Alexanders Augen, die noch immer auf ihm lagen. Aus einem Nicken folgte eine Antwort:

»Ja. Seit letzter Woche. Noch ganz frisch«, kicherte Alexander recht amüsiert über die Tatsache, dass er sich noch daran erinnern konnte, als wäre es gestern gewesen, wie er Hiro auf dem Gang angemacht hatte. Fressen wollte er ihn. Einfach vernichten. »Kiyoshi hat ihn aus Versehen gebissen. Hiroshi hat danach wohl synthetisches Blut getrunken und wurde nur zur Hälfte ein Vampir. Wir nennen das Noneternal.«

»Das klingt alles so abgefahren, man«, murmelte Jiro und schüttelte abermals den Kopf. »Ihr seid so fertig mit der Welt, dass ihr euch so was ausdenkt, oder?«

Nur ein schwaches Lachen folgte. »Das denkt sich keiner aus. Das ist so.«

»Also mein Hiro...ja? Mein bester Freund ... war bei seinem Dad im Norden, wurde von seinem eigenen Bruder gebissen und ist seitdem irgendwas zwischen Vampir und Mensch?«

Ein Nicken Alexanders bestätigte Jiros Vermutung.

»Und seine ganze Familie ist auch ... irgendwas Blutsaugendes?«

»Seine Mutter nicht. Die ist menschlich. Nur der Vater ist ein Vampir.«

»Das ist so krass«, kam Jiro gar nicht mehr aus dem Staunen raus, nachdem nun endlich alles einen Sinn machte. Wieso Hiro in der vergangen Woche so komisch drauf war, auf einmal nicht mehr an den See wollte, wieso sie sich nur noch nachts trafen und wieso er so schnell Sonnenbrand bekam. Wieso ihn Schusswunden nicht weiter tangierten und wieso sie so schnell heilten. Wieso er mit den anderen beiden Blut trank ... und es anscheinend brauchte.

»Und du? Hast du auch so ne verrückte Geschichte?«, lachte Jiro verbittert und knibbelte nervös an seinem Langarmshirt.

»Nein«, gab Alexander schmunzelnd zurück und zuckte kurz mit den Schultern. »Ich bin ein normales Kind, das zufällig in diese Schiene gerutscht ist.«

»Kommt mir bekannt vor«, musste Jiro mit hochgezogenen Augenbrauen loswerden. Ja, er war auch nur so durch Zufall reingerutscht. Und bisher hatte es ihm nur Ärger gebracht. Aber auch einiges Gutes, oder nicht? Er hat seinen Freund besser kennen gelernt, dessen Bruder und ... diesen Mann hier, den er vorher noch zusammenschlagen wollte.

»Darf ich dich was fragen?«, fing der nervös wirkende Mann erneut ein Gespräch an.

»Klar«, kam es kurz zurück. Alexander war zwar nicht groß nach reden, wollte aber auch nicht weiter rumschnauzen und schlechte Laune verbreiten. Es war ihm schlichtweg egal. Er wollte nur kurz ruhen. Zu Kräften kommen.

»Bist du ... also adoptiert? Von deinen jetzigen Eltern? Hab ich das richtig verstanden?«

Doch diese Frage ließ den Mann mit den eisblauen Augen zusammenzucken. Noch nie hatte es jemand gewagt ihn das zu fragen. Noch nie musste er auf diese Frage antworten, noch nie war es Thema gewesen. Wieso auch? Er war beliebt, er war glücklich, wie es war. Reich zu sein, alles haben zu können, was er jemals wollte, war ein Traum, den viele Kinder hegten. Und er durfte ihn leben. Wieso also über eine solche Belanglosigkeit nachdenken?

»Ja«, seufzte er schließlich und ließ die Schultern wieder gen Boden sinken. Eine hilflose Geste, die ihn nicht besser fühlen ließ. »Ich kenne meine echten Eltern nicht. Ich war noch recht jung, ich glaube so 3, da starben sie bei einem Autounfall. Das war in Deutschland.«

»Also warst du doch schon mal in Deutschland«, grinste Jiro und zwickte Alexander gut gemeint in die Seite. Doch es kam nur ein genervter Blick zurück, der nicht verstehen konnte, wie Jiro bei einem solchen Thema auf Kleinigkeiten rumreiten konnte.

»Nicht lange. Ich wurde von meinen jetzigen Eltern adoptiert, die mich nach Japan schleppten. Sie, eine ehemalige Bankerin, und er, Besitzer von zig Immobilien in Japan. Beide unfassbar viel Geld und viel Ruhm. Sie genossen das Rampenlicht und zeigten sich so oft es ging. Ich war wohl ... so die letzte Luxusanschaffung, die sie haben wollten. Ein eigenes Kind, welches sie mit Liebe und Geld zuschütten konnten.« Alexander war selber überrascht wie locker seine Zunge bei dem Thema wurde und wie nüchtern er an die Sache ranging. Ein schüchterne Blick zu seinem Nachbarn zeigte ihm die Neugierde, die in seinen Augen steckte. Also fuhr er leise fort.

»Ich kann meinen Eltern eigentlich nichts nachsagen, sie haben wirklich alles getan, was in ihrer Macht stand, um mich glücklich zu machen. Sie ... schenkten mir das ewige Leben.« Er zuckte mit den Schultern, als sei es die größte Nebensache der Welt gewesen.

»Einfach so?«, hakte Jiro nach und hob beide Augenbrauen. Bei Hiro und Kiyoshi schien das eine gefährliche Geschichte gewesen zu sein.

»Nein«, lachte Alexander auf, als wüsste er genau, worauf Jiro hinauswollte. »Als sie mich adoptierten, wollten sie mich bereits zu sich ... in den Clan holen. Doch seit den Gesetzen von der Academy ... ist man gezwungen einen Antrag zu stellen. Auf Übernahme quasi. Ein Gericht entscheidet dann, ob es zulässig ist oder nicht den Menschen in einen Vampir zu verwandeln. Immerhin leben wir ewig, man kann nicht einfach so Menschen zu Vampiren machen und zusehen, wie die Bevölkerung verkümmert. Denn wer will nicht ewig leben?« Diese Frage klang so absurd in seinem Mund, dass er selber die Lippen aufeinander presste. Ewig leben, dachte er sich, war immer eine Sache, die er schätzte. So oft hatte er bei Menschen in den Nachrichten gesehen, wie sie starben. Katastrophen und Krankheiten suchten sie alle heim. Nur er – er durfte auf seinem warmen Sofa sitzen und Fernsehen schauen. Ihn ging das alles nichts an. Nein, denn er war unsterblich.

»Der Antrag wurde also zugelassen ...«, murmelte Jiro und sah weiterhin interessiert zum Schwarzhaarigen. Der nickte abermals und stieß einen Seufzer aus.

»Ja, ich wurde ein Vampir. Es war mein sechster Geburtstag, kurz bevor ich eingeschult werden sollte. Natürlich sollte es die Academy selbst sein, auf die ich gehen sollte. Zur Feierlichkeit wurde ich damals vor gefühlten hundert Gästen von meiner Mutter gebissen. Es tat weh und ich weinte jämmerlich. Bis heute frage ich mich, wie sie es zulassen konnten, ein Kind zu verwandeln. Aber das Gericht hatte zugestimmt, wieso also noch warten?«

»Das ist wirklich verantwortungslos!«, schrie Jiro entrüstet los, hielt sich sofort die Hand vor den Mund, als er merkte, dass er zu laut war. Ein kurzes Schweigen folgte, in denen die beiden Männer erschrocken horchten, doch blieb das erwartete Stapfen der schweren Stiefel aus.

Alexander nickte sofort, zuckte mit den Schultern und sah Jiro lange in die Augen.

»Wenn Menschen behaupten, Geld mache nicht glücklich, dann ist das eine Halbwahrheit. Denn ich bin mir heute ziemlich sicher, dass der Antrag damals nur mit sehr viel Geld durchgekommen war. Und das stimmte meine Eltern sehr glücklich.«

»Aber dich nicht ...«, bemerkte Angesprochener sehr leise und erwiderte den langen Augenkontakt. Es war kein direktes Mitleid, was er für Alexander empfand. Es war vielmehr ... Verständnis. Verständnis wieso er manchmal komisch drauf war.

»Teilweise.« Da schmunzelte der Vampir und zeigte seine weißen, gerade Zähne. »Ich genoss den Status, den mir meine Eltern verschafft hatten. Denn er gab mir alles: Macht, Freunde, Leistungserfolg und materielles Glück.« Da blickte er in den Himmel hinauf, als würde er sinnieren. »Nur einer war mir immer ein Dorn im Auge und das war Kiyoshi. Er und sein Vater waren Reinblütler, quasi die am höchsten angesehenen Personen in unserem Clan. Er war von Natur aus edel und adlig und hatte jeglichen Respekt auf seiner Seite. Alles, was mir Respekt verschaffen hatte, war mein Geld. Was nicht einmal mehr mir gehörte, sondern meinen Eltern.«

Da verstummte der Erzählende und sah wieder zu Boden. Nach einer langen Pause, fuhr er fort. Jiro traute sich gar nicht mehr, seinen Partner zu unterbrechen. »Ich habe ihn gedemütigt, ihn oft angepöbelt und gepiesackt. Jetzt, wo ich ihn besser kenne, weiß ich, dass er im Grunde genauso unglücklich wie ich war und absolut nichts für seine Position konnte. Keiner von uns hat sich das Leben, in das wir stecken, ausgesucht. Man hat es uns vorgelebt. Und wir nahmen es, wie es kam.«

Jiros Augen sanken ebenfalls auf seinen Schoß und wurden nachdenklich. Alles, was Alexander ihm berichtet hatte, klang nach einer schönen Kindheit, und doch war sie geprägt von Vorgaben, Richtlinien und Regeln.

»Und jetzt? Willst du wieder in dein Regelwerk zurück?«, fragte Jiro nach einer endlos wirkenden Pause.

»Vielleicht«, säuselte Alexander und stieß einen enttäuschten Seufzer aus. »Wenn meine Eltern erfahren – und wie ich mitbekommen habe, hat es sie bereits erreicht; dass ich auf der Flucht war, Autos geklaut und so ungefähr weitere 10 Male gegen das Gesetz verstoßen habe – werden sie mich wohl früher oder später rausschmeißen.«

»Meinst du? Deine Eltern klangen bisher nicht so streng ...«

»Sind sie auch nicht. Aber wenn es um Prestige geht ... hört jeder Spaß auf.« Alexanders Augen fielen für einen Moment zu, als würde er sich die kommende Situation bereits vor dem inneren Auge ausmalen können. »Abwarten. Erst einmal will ich hier lebend raus.«

»Ja, ich auch«, lachte Jiro und ließ den Kopf in den Nacken fallen. »Aber das werden wir auch.«

Alexander ließ es sich nicht nehmen und sah wieder zu seinem Nachbar, der ausgelassen an der Wand lehnte und auf die hölzerne Decke starrte. Sein Profil war fast feminin mit der Stupsnase und den vollen Lippen. Wäre nicht dieses ganze Metall, so dachte er, wäre er ein hübscher Mann gewesen.

»Und du? Was wirst du tun? Zurückkehren?«, fragte er ruhig den gepiercten Mann, der auf seine Frage hin sofort schmunzelte.

»Ja. Einfach zurück zu meiner Mom. In mein einfaches, menschliches Leben. Wo ich zur Schule gehe und irgendwann arbeite, um mir eine kleine Wohnung am Stadtrand leisten zu können. So wie jetzt auch.«

»Das ist traurig«, bemerkte Alexander.

»Nein, das ist normal!« Jiro hob einen Zeigefinger, um seinen Gesprächspartner darauf aufmerksam zu machen, dass nicht alle so viel Geld hatten, wie er. Und dass es schon gar keine Selbstverständlichkeit war in einem Haus zu leben.

»Hast du einen Vater?«, hakte Alexander nach, als nichts über den Verbleib des anderes Elternteils fiel.

»Ja, irgendwo in dieser Welt habe ich einen Vater. Aber ... der wollte vor ungefähr 10 Jahren nichts mehr von uns wissen und hat meine Mom für eine Schlampe verlassen.«

»Das tut mir Leid ...«

»Nicht doch«, lächelte Jiro erheitert und grinste Alexander ehrlich an. »So ist es besser. Seitdem verstehe ich mich super mit meiner Mom.«

»Weil sie dich Autos klauen und Polizisten vermöbeln lässt?« Der Vampir konnte sich ein Grinsen nicht nehmen lassen.

»Tja«, brummte Jiro raus und spitzte die Lippen, als sei das eine hinzunehmende Tatsache. »Davon weiß sie zum Glück nicht viel. Ist auch besser so.«

»Du Punk. Wahre Anarchie.«

»Besser als ein Schnösel zu sein!«, lachte Jiro, wenn auch etwas empört, und sah seinen Nachbarn etwas missmutig an.

»So ist das Leben: lieber reich und schön sein als arm und verlaust, oder?«

»Fick dich«, kam wie aus der Pistole aus Jiros Mund geschossen, was Alexander schmunzeln ließ.

Es war, als würde fast jedes Gespräch mit einem Kraftausdruck von Jiro enden. Doch Alexander musste sich eingestehen, dass er daran Gefallen gefunden hatte. Besonders dieses eine Gespräch hatte ihn einen kleinen Stein vom Herzen genommen. Noch nie hatte es jemanden interessiert, was er für eine Vergangenheit hatte und wie er sich dabei fühlte. Alle um ihn herum erschienen immer so oberflächlich. Jiro hingegen heuchelte kein Interesse – das war echte Neugierde. Vielleicht war Jiro nur deswegen an ihm interessiert, weil es gerade nichts anderes zu bereden gab, aber das sollte kein Abriss seines guten Gefühls sein. Noch ehe er die Augen schließen und sich weiter ausruhen wollte, hörte er den Punk noch einmal sprechen.

»Ich danke dir ... für alles. Wenn du nicht gewesen wärst ... wären wir nicht ansatzweise so weit gekommen.«

»Wirst du wieder sentimental?«, schmunzelte Alexander und bewegte noch einmal die Augen in Jiros Richtung. Der sah ihn eindringlich an und schien sich regelrecht in der Aufmerksamkeit des Vampirs zu suhlen.

»Du sollst nur wissen, dass wir ohne deine Hilfe ... wahrscheinlich schon viel eher den Löffel abgegeben hätten. Ist das kein gutes Gefühl? Leben gerettet zu haben? Besonders auch meins – das eines lausigen Punks?«

Jiros Worte ließen seinen Gesprächspartner schaudern. Vielleicht sogar für einen Moment heftig Schlucken.

»Du weißt es also?«, hauchte er fast tonlos aus seinen Lippen. Hatte Hiro nicht geschworen, über die eine Sache zu schweigen? Und Kiyoshi darüber zu unterrichten?

»Was weiß ich?«, hakte sein Gegenüber sofort nach.

Da stockte Alexander abermals der Atem. »Äh – nichts. Nichts Wichtiges.«

»Sag schon«, grinste Jiro auf einmal, schmunzelnd über die Tatsache, dass er Alexander in eine dunkle Ecke getrieben hatte.

Ein lautes Seufzen entfuhr seinen Lippen, als würde er die Aktion bis heute bereuen. Was gab es schon zu verlieren? Nach der Familiennummer konnte sein Ego ja nicht noch sehr viel weiter sinken. »Am See«, begann er leise, »haben dich nicht die Zwillinge aus dem Wasser gezogen ... sondern ich.«

Er presste die Lippen zusammen und sah verstohlen neben sich. Doch Jiro begann sanft zu lächeln und nickte wissend.

»Das dachte ich mir schon«, gab er ebenso leise zu verstehen und legte den Kopf schief.

»Ach ja? Was gab dir Anlass dazu?« Unmöglich, dass er bei vollem Bewusstsein gewesen war!

»Es war immer nur deine Stimme, die ich gehört habe. Ganz weit weg ... wie du geflucht hast, als du mich in dein Auto gelegt hast. Oder wie du mir die Schuhe ausgezogen hast, haha!«, lachte Jiro laut los und hielt sich den Bauch; völlig vergessend in welcher Situation sie noch waren.

»Die sind aber auch furchtbar!«, nahm Alexander dankend den Themenwechsel an und schüttelte den Kopf.

»Das sind die besten Schuhe auf der Welt! Nie würde ich andere tragen!«

»Andere würden dir auch nicht stehen, glaube ich. Zumindest nicht, bis du diesen Pennerlook losgeworden bist.«

»Weißt du was?«, schmunzelte Jiro glücklich und lehnte sich etwas gegen Alexander. »Fick dich.«

»Ja, du dich auch«, war das erste Mal, dass Alexander eine Antwort auf die immerwährende Beleidigung von Jiro fand.

Futter

»Oh Hiro, es blutet so stark!«, wimmerte Kiyoshi los, als er mich weiter in den kleinen Wald zog und durch Büsche schleifte. Ich lief zwar noch von alleine, humpelte aber vor mich hin, als wäre ich ein abgestochenes Tier und seufzte nach jedem Schritt. Mein Unterschenkel blutetet tatsächlich ziemlich stark, hinterließ eine 1a Spur, sodass wir Vincent wohlmöglich noch die Fährte legten.

»Schon okay ... noch geht's ...«, säuselte ich und sah bereits Sternchen. »Lauf einfach weiter, ich komm nach.«

»Vielleicht ... Vielleicht verstecken wir uns mal! In einem Baum oder so?«

»Ja ... wieso nicht?«

Kiyoshi und seine Äffchen Anwandlungen.

Mein Bruder blieb sofort stehen, sah sich um, lief auf einen relativ dicken Baum zu, der große und breite Äste wachsen ließ, und kletterte hoch. Mit Schwung sprang Kiyoshi auf einen Ast und lehnte sich zu mir runter, reicht mir eine Hand und lächelte überzeugend. »Ich zieh dich hoch!«

»Sicher, dass du das schaffst? Ich bin ... nicht leicht«, brummte ich, nahm trotzdem seine zarten, weißen Hände an, die mich sofort ein Stück vom Boden hoben. Gekonnt beugte er seinen Oberkörper nach vorn und rollte sich um den Ast. Es wirkte, als wäre er seit Kind auf ein Athlet gewesen. Zwar brauchte ich eine kleine Sekunde, um mich am Ast festzuhalten, schaffte es aber erstaunlich gut mich mit beiden Beinen auf das Holz zu ziehen und lehnte schlussendlich erschöpft gegen den Hauptstamm. Ich saß auf einem Baum. Blutend und verreckend, dachte ich. Und im Nacken lag uns Vincent. Ob er schon eine Fährte aufgenommen hatte?

»Geht's? Hast du Schmerzen?«, fragte Kiyoshi, immer noch sichtlich aufgeregt und nervös.

»Ach ...«, brummte ich und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Kann nur besser werden, hm?«

Anstatt auf meine indirekte Frage zu antworten, setzte sich Kiyoshi neben mich und schob mein Hosenbein hoch. Ein weiterer Durchschuss, der ziemlich blutete. Ein wenig Kruste hatte sich bereits um den Einschuss gebildet, sodass die Vermutung offen blieb, ob mein Körper bereits dagegen ankämpfte oder nicht.

»Wieso … heilt es nicht?«, murmelte mein Bruder, traute sich nicht mit seinen dreckigen Fingern an die Wunde zu gehen.

»Ich bin keiner von euch … weißt du doch«, schmunzelte ich und fuhr über meine fast verheilte Wunde am Oberschenkel. Erstaunlich, wie schnell dieser Durchschuss verschwunden war. »Ich bin ein Noneternal. Das Privileg unbeschadet aus so gut wie jedem Kampf zu gehen habe ich leider nicht.«

»Das ist doch Quatsch! Jeder normale Mensch wäre längst verblutet!« Kiyoshi wurde laut, hob seine Brust und sah sich energisch um. »Hier, trink was«, sagte er und hielt mir sein Handgelenk hin. »Wenn du was trinkst, wird die Wunde schneller heilen!«

Ich schüttelte den Kopf und drückte die weiße Hand weg. Stattdessen küsste ich seinen Handrücken und zog ihn an mich. »Nein. Du hast selbst kaum noch Blut in dir. Es dir jetzt zu rauben wäre egoistisch und dumm.«

Kiyoshis Blick wurde mit einem Mal stur. Er zog die Augenbrauen zusammen, presste die Lippen aufeinander und atmete geräuschvoll aus. Sein trotziges Verhalten ließ mich nur schmunzeln.

»Komm her … bemuttere mich ein wenig, das hilft mir genauso gut.« Sanft zog ich ihn an mich heran und streichelte seine Arme. Fast widerspenstig ließ er sich zwischen meinen Beinen nieder und lehnte an meine Brust. Ihm passte es ganz und gar nicht in einer machtlosen Situation zu stecken.

 

Schließlich hörten wir Schritte. Es waren leise, vorsichtige Treter durch das Unterholz. Ich hielt die Luft an, während Kiyoshi in meinen Armen wie erstarrt zu sein schien. Vincents Mantel bewegte sich im Wind; ich hörte regelrecht das Leder aneinander reiben. Seine schweren Boots machten ebenfalls leise Gummigeräusche, wenn sie über Moos traten. Nur ein stummer Blick aus der Richtung meines Bruders, zeigte mir, dass er sich nur einige Bäume weiter befand. Die langen Haare bewegten sich zu den Bewegungen seines hektischen Suchens. Zwar ging er langsam seinen Weg, bedacht, keinen Mucks zu machen, drehte jedoch wie wild seinen Kopf, um die Umgebung zu durchforsten. Er suchte uns, bereit zum Angriff, wann immer er uns finden würde.

Weiterhin wie erstarrt, warteten wir, dass er weiterging. Er bewegte sich nur langsam fort, da er nur wenige Schritte nacheinander tätigte. Hier und da sah er in unsere Richtung, schien uns aber nicht zu sehen oder generell zu vernehmen.

Als ich kurz gen Boden blickte und sofort meine Blutspur sah, wurde mir etwas heiß ums Herz. Wenn er diese Spur sehen würde, hätte er uns. Und ein Schuss in unsere Richtung wäre unser Ende gewesen. Diese UV-Kugeln waren generell der pure Tod in Metall geformt.

Vincents Schritte blieben für einen Moment stehen. Seine scharfen Augen wanderten durch die Blätter der umliegenden Büsche. Sie stachen regelrecht durch seine langen Haare, die der Wind in sein Gesicht wehte. Hatte er uns gerochen? Gefühlt? Gesehen?

Meine Hände verkrampften sich an Kiyoshis Arm, der ebenfalls still dicht an mir dran gepresst saß. Er sah in Vincents Richtung, wartete seine Aktionen ab. Seine Beine zitterten vor Anspannung der Muskeln jeden Moment losrennen zu müssen. Ich spürte das Blut an meiner Wade aus der Wunde entlanglaufen, wie es sich seinen Weg über meine weißen Haare bahnte und schließlich auf den Ast floss. Es tropfte hier und da hinunter – ich konnte nur beten, dass es nicht das Tropfen war, was er vernahm.

 

Er schnaufte leise los, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und raunte leise vor sich hin. »Ich weiß, dass ihr hier seid … Ich werde euch finden. Da könnt ihr euch drauf verlassen.«

Mit diesen murrenden Worten setzte er sich wieder in Bewegung und ging langsam und vorsichtig den kleinen Pfad über das Gras und Moos weiter. Die Schritte entfernten sich, wir verloren ihn aus dem Sichtfeld und atmeten auf.

Auch nach mehreren Minuten schwiegen wir, darauf horchend, dass ein wiederkehrendes Treten des Unterholzes zu hören war.

Aus Minuten wurden Stunden; gefühlt eine Ewigkeit. Irgendwann wurde mein Körper immer schwacher, ich sah Sternchen und schluckte schon lange keinen Speichel mehr, sondern nur noch trockene Luft. Es war, als würde meine Atmung jeden Moment aufhören und ich hinüber sein. Als würde ich noch vor meiner Verwandlung den Löffel abgeben.

Mein Kopf war blank. Ich dachte an nichts, jedenfalls an nichts Bestimmtes. Mein Blick ging ins Leere, an Kiyoshis Haarschopf vorbei. Er lehnte noch immer an meiner Brust und strich beruhigend über meine Arme. Diese fühlten sich schwer an, vielleicht sogar ein wenig taub. Auch die Beine lagen wie Zement auf dem Ast des großen Baumes, dessen Blätter unheilvoll im Wind wehten. Die schwarze Nacht erschien ewig zu dauern, als würde die Sonne nie wieder aufgehen. Und selbst wenn sie irgendwann aufgehen würde, so würde ich das wahrscheinlich nicht mehr mitbekommen, dachte ich kurz an meinen baldigen Tod. Dieses Auf und Ab, diese Tortur, die ich meinen Körper aussetzte. Flucht, Wunden, Ruhen, wenig Schlaf, wenig Ruhe, ständige Angst. Das Adrenalin in meinem Körper hatte mit Sicherheit mehr zerstört, als es sollte.

Ob ich Angst hatte?

Nein, ich war nur schwach.

Zu wenig Blut ... schafft wenig Emotionen.

 

Irgendwann ertönte eine leise Stimme neben mir.

»Hiro?«, fragte er zögerlich, als er sich zu mir umdrehte und vorsichtig nach meinem Gesicht griff. »Bist du noch bei mir?« Seine Stimme zitterte, als wäre er bereits mit der Wahrheit konfrontiert worden, dass ich so langsam verblutete. Oder anderweitige Infektionen mich in die Knie zwangen. Er strich verzweifelt über mein Gesicht und musterte meine leblose Mimik.

»Hiro«, wimmerte er los und holte tief Luft. »Bitte nicht!« Kalte Hände gingen immer wieder über meine Wangen, strichen über meine Kratzer und blauen Flecken.

Er dachte, ich sei bereits tot? Aber mein Herz schlug doch noch ... oder nicht?

Als ich mich doch durchrang und mit viel Kraft meine Augen öffnete, sah ich in glasige blau-lilane Knöpfe, die sofort aufblickten und neugierig in meine sahen.

»Du bist noch bei mir?«, fragte er recht rhetorisch, da ich nicht die Kraft hatte zu antworten. Kiyoshi strich sich über seine Augen, sah sich um und schluckte. »Halte durch, ja? Ich hol dir was ... was zu trinken.«

»Mh«, brummte ich und verzog mein Gesicht schmerzerfüllt. Es war viel zu gefährlich für Kiyoshi jetzt durch den Wald zu laufen und nach Wild zu suchen, was er für mich reißen könnte. Wenn Vincent auch nur einen Knacks wahrnehmen würde, wäre er schneller hier als ein D-Zug.

Doch mein Bruder tat so, als wäre meine Mimik von keiner Bedeutung, strich noch einmal über meine Wange und sprang recht geräuschlos vom Baum. Ich hörte leises Tapsen über Blätter und Gras, welches mit der Entfernung abnahm.

Meine Sicht wurde wieder dunkler und ich schloss meine Augen. Ich war so schwach, so müde und einfach nicht mehr lebensfroh. Fast wünschte ich mir, ich könnte endlich einschlafen und dieses ganze Gehetze nicht mehr spüren. Etwas in mir hielt mich von genau dieser Sterbeaktion ab. Etwas in mir schrie weiterzukämpfen, nicht aufzugeben, weiter zu leben und Kiyoshi beizustehen, bei was auch immer ihn jemals belasten würde. Sei es der jetzige Vincent oder irgendetwas anderes, was ihn in die Enge treiben könnte. Auch Jiro und Alexander, welche durch diese kurze Reise einen wahrlich nahen Platz an meinem Herzen gewonnen hatten, sollten nicht alleine kämpfen. Wo sie wohl waren? Ob sie in Sicherheit waren? Vielleicht würden sie Hilfe holen? Letztendlich nicht mehr darauf achten, keinen der "Erwachsenen" mit in die Sache zu ziehen?

Vater und Mutter ... sie würden mich Sicherheit austicken, wenn sie in die toten Gesichter ihrer Söhne blicken würden. Vincent würde seine gerechte Strafe erhalten. Aber was war gerecht?

Ich seufzte tief auf, als ich daran denken musste, Mutter und Vater nie wieder zu sehen. Vielleicht die letzte Nacht hier zu verbringen. Wir saßen in der Falle, kein Weg führte an Vincent vorbei. Mit Sicherheit warteten schon sämtliche Vögel in diesem Wald auf uns, die ihn sofort über unsere Bleibe unterrichten würden. Wie oft war mir dieser Gedanke nun schon gekommen? Wie oft hatte ich nun schon in den letzten Tagen an meinen Tod gedacht? War ich so schwach oder die anderen nur so stark? Dass sie fast keinerlei Zweifel an unserer Flucht zu haben schienen ...

 

»Hiro«, flüsterte die dunkle Stimme, die mich aus meinen ungeordneten Gedanken zog. »Hier, ich hab was!«

Als ich meine Augen öffnete, zuckte ich vor Schreck zusammen und blickte in aufgerissene Fuchsaugen.

»Hm?!«, presste ich aus meinen geschlossenen Lippen und schüttelte leicht den Kopf. Niemals würde ich einen Fuchs trinken oder aussaugen oder gleich töten!

Er hatte hell rötliches Fell, sah wirklich flauschig und weich aus, blutete jedoch wie eine Sau in Kiyoshis Armen, dessen Mund ebenfalls mit Blut befleckt war. Mit aller Wahrscheinlichkeit hatte er ihn wie das Kaninchen gerissen, indem er ihm ins Genick gebissen hatte. Denn der Fuchs atmete noch, zuckte hier und da an den Füßen.

Doch mein Bruder blieb eisern und hielt mir den Fuchs unter die Nase. »Trink!«

Ich sah die kleinen Einschüsse in seinem Fell, aus denen die rote Flüssigkeit schimmernd im Mondlicht glänzte. Immer wieder schüttelte ich den Kopf, rückte sogar etwas von dem halb toten Tier ab.

»Nein«, murmelte ich, atmete angestrengt ein und aus. Ich spürte mein Herz wieder anfangen zu rasen; wie das Adrenalin erneut durch meinen Körper gepumpt wurde. Nein, dachte ich. Einen weiteren Schub von Aufregung und Fluchtverhalten würde ich nicht packen.

Kiyoshi verzog wütend das Gesicht und nahm den Fuchs wieder an sich. »Du musst lernen, auf deinen Körper zu hören! Du verdurstest! Du bist verletzt! Du brauchst das!«, rügte er mich fast schon ein wenig zu laut. Ich sah mich nervös um, horchte auf Schritte und schluckte abermals trockene Luft. Je länger ich zögerte, desto nervöser wurde auch Kiyoshi. Wir wussten, dass es nur eine Zeit lang dauern könnte, bis er uns entdecken würde. Wie viel Zeit war vergangen, seitdem wir ihn gesehen hatten? Vielleicht ginge er ja auch davon aus, dass wir das Gelände verlassen hatten?

»Du bist wirklich stur! Noch sturer als ich!«, meckerte mein Bruder, zog den Fuchs an sich und presste die Lippen an das dichte Fell des Tieres. Er trank mit großen Schlucken das Blut, während das Tier fiepste. Der Anblick war grauenvoll und ich war mir sicher, dass ich mich niemals daran gewöhnen könnte, einfach so hilflose Tiere zu reißen und auszutrinken; wo wir doch genug Blutpräparate zur Verfügung hatten. Jedenfalls in normalen Situationen.

Ehe ich mich versah und wieder meine Augen schließen wollte, nahm Kiyoshi den Fuchs von seinem Mund, beugte sich zu mir, presste seinen Körper dicht an meinen und küsste mich liebevoll auf die Lippen. Ich dachte erst, er würde sich versöhnen wollen und genoss den kalten Mund an meinem, bis ich eine Zunge spürte, die blutbenetzt meine Lippen aufschob und den Lebenssaft in meinen Rachen fließen ließ. Zwangsernährung, dachte ich. So weit war es also schon gekommen.

Ich spürte das Blut wie eine kalte Oase meinen trockenen Rachen hinunter gleiten und schluckte es gierig runter. Eine heiße Welle durchfuhr meinen Körper, der wahrscheinlich noch immer nicht ganz mit dieser Art Nahrung umgehen konnte. Kiyoshi löste sich von mir, trank erneut vom Fuchs, der wieder quälend aufjaulte und flößte mir das Blut ein, als wäre ich zu schwach gewesen, überhaupt nur einen Finger zu rühren.

Es dauerte nicht lange, da verstarb der Fuchs endlich und hörte auf zu atmen. In dem Moment hörte Kiyoshi auf zu saugen und gab mir noch das letzte bisschen Blut in seinem Mund. Ich fühlte mich noch nicht viel besser, aber lebendiger. Die Augen offen zu halten ging viel leichter von statten und ich hatte ebenso das Gefühl meine Stimme wieder gefunden zu haben.

»Geht es dir besser?«, fragte mein Liebster leise nach und legte den Kadaver an die Spitze des Astes.

»Etwas«, murrte ich und hob langsam meine Hand, um Kiyoshis blutverschmierte zu streicheln. »Danke.«

Er schüttelte den Kopf, sah mich rügend, aber doch froh über die Tatsache an, dass ich am leben war und nicht nur am Rande des Existenzminimums krebste. Vorsichtig lehnte er sich wieder zu mir vor und küsste meine Lippen; diesmal wesentlich sanfter und genießender. Als ich meine Augen schloss, um den Kuss zu genießen, lehnte sich der schmale Körper wieder an mich und umschlang meine Taille. Im ersten Moment dachte ich daran, dass wir uns in dieser Stellung etwas wärmen könnten, als jedoch keinerlei Wärme von meinem Bruder ausging, erinnerte ich mich wieder an die Tatsache, dass er tot war. Da war keine Wärme. Da würde auch nie eine kommen.

Einige Minuten verstrichen, in denen wir uns einfach nur küssten und streichelten. Liebevolle Gestiken, die die furchtbare Situation, in der wir uns befanden, für einen Moment ausblenden konnten.

»Wenn du noch etwas brauchst, hole ich dir noch ein Tier«, schlug Kiyoshi schließlich vor und nickte zuversichtlich. Doch ich schüttelte sofort den Kopf.

»Keine ... Tiere mehr. Du kannst doch nicht einfach wie wild geworden wildern.«

Mein Gegenüber schien nicht ganz zu verstehen, was ich damit sagen wollte. »Ich wildere doch nicht, ich beschaffe uns was zu Essen!«

»Ein Fuchs steht unter Tierschutz, man ... du kannst ... den nicht einfach abmurksen.«

Da raunte Kiyoshi genervt auf. »Ein toter Fuchs wird die Tierart nicht auslöschen!«

Ich musste schmunzeln. Kiyoshi war wie immer uneinsichtig, stur und kindisch. Wann immer er mit mir stritt, verhielt er sich wie 13. Eine gute Streitkultur sollte gelernt sein und ich konnte für meinen Teil behaupten, dass ich diese mit meiner Mutter jahrelang gut üben konnte. Durch die dominante Art von Vater hingegen konnte ich mir keine wirklich gute Diskussion mit ihm vorstellen.

»Woher hast du das ... eigentlich?«, fragte ich immer noch leicht am grinsen. »Dieses Jagen?«

Mein Bruder wurde schlagartig ruhig, lächelte dann auch, als wäre niemand mehr in Gefahr. Als wäre das alles gerade nicht geschehen. Vielleicht war es gut so, so zu tun, als würden wir wie vor ein paar Tagen in meinem Zimmer sitzen, Chili essen und giggeln.

»Zu Hause ...«, begann er und sah dabei auf meine Brust, die er liebevoll strich. »... ist doch der Wald. Und auch da gibt es Tiere. Als ich jung war und Vater mir verboten hatte einen Computer zu besitzen, wusste ich mich nicht anders zu beschäftigen ... Als hier und da mal jagen zu gehen.«

»Das ist krank«, bemerkte ich spitz und schüttelte den Kopf. »Andere Kinder gehen auf Spielplätze spielen oder haben Bauklötze.«

Kiyoshi verstand den Teil "das ist krank" natürlich vollkommen falsch und verzog wütend das Gesicht. »Ich bin nicht krank. Ich habe halt keine anderen Kinder gehabt. Die meisten Vampire werden erst später verwandelt.«

»Verstehe ...«, brummte ich nur und zog die Augen leicht nach oben, um eine Diskussion zu vermeiden. Dafür, dass die Situation so angespannt war, stritten wir recht human. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt mit einer kleinen Diva, die bisher nichts, außer ihr wohlbehütetes Zuhause kannte, unterwegs zu sein. Außerdem nahm Kiyoshi wesentlich schneller meinen Lebensstil an, als gedacht. Denn schließlich seufzte er auf und sagte den für mich unfassbaren Satz:

»Jetzt eine Zigarette ... das wäre schön.«

Sofort hob ich eine Augenbraue und musterte meinen Bruder, der sehnsuchtsvoll in die Kronen der Bäume blickte. Durch das Mondlicht schimmerten seine weißen Haare, die sanft und leicht wellig auf seinen Schultern lagen, wie weißes Garn.

»Ich hab mich wohl verhört?« Meine Augen hafteten weiterhin auf Kiyoshis Erscheinung, die sofort schmunzelte, aber nichts erwiderte, als wolle er mir damit sagen, dass ich genau richtig gehört hatte. »Habe ich dich also wirklich zum Raucher gemacht?«

Er zuckte mit den Schultern und strich über meinen Oberschenkel. »Wahrscheinlich.«

»Wie das? Am Anfang warst du so dagegen und jetzt schmachtest du schon? Wird man als Vampir schneller Nikotinsüchtig?«

Da lachte er auf, unbeschwert, amüsiert und ein bisschen verlegen. »Ich weiß nicht, vielleicht? Aber ich denke nicht, dass ich schon Nikotinsüchtig bin ...«

»Ach nein? Was ist es dann?«, hakte ich mit hochgezogenen Augenbrauen nach. Erst rügte er mich, als wäre Rauchen das wohl ekligste und schädlichste Ding der Welt; und jetzt würde er selber gerne Kette rauchen?

»Es ... schmeckt.«

»Es schmeckt?! Rauch schmeckt so widerlich, wie es nur sein kann!«, prustete ich los und dämpfte sofort meine Stimme, als ich ein Knacken aus dem Wald hörte. Es folgte jedoch kein weiterer Laut, sodass ich neugierig wieder zu meinem Bruder sah. Der sah verlegen zur Seite und zuckte abermals seine Schultern.

»Nein, es schmeckt nicht gut. Es schmeckt einfach ... anders.« Als ich ihn weiterhin unsicher ansah, sprach er weiter und erklärte, was ihm am Rauchen so gefiel. »Wenn man in seinem Leben nur Erde und Blut kennt ... ist dieser eklige Rauch was anderes. Er schmeckt nicht gut, er schmeckt anders. Es ist seit Jahren ein Geschmack, der nicht wie Erde und nicht wie Blut ist. Es ist fast wie ein Segen«, beschrieb er das sonst tödliche Rauchen von Zigaretten.

Doch mir wurde klar, was Kiyoshi da von sich gab. Ein Leben lang nur zwei Geschmacksrichtungen – wovon eine mit Verlaub wirklich furchtbar war – zu kennen: das war hart. Und jetzt kam der dumme Bruder daher, bot dem kleinen, unerfahrenen Bruder eine Zigarette an und eröffnete ihm somit eine völlig neue Geschmackswelt. Rauch regte die Geschmacksknospen wohl auf eine andere Art und Weise an, als es Essen oder Trinken tat.

»Wenn du so scharf darauf bist ... es gibt etliche Formen von Rauchen«, schmunzelte ich. »Das wird dir gefallen.«

»Wirklich?«, hakte mein unschuldiger Bruder nach und sah mich mit leuchtenden Augen an.

»Ja«, lachte ich leise auf. »einen ganzen Vergnügungspark voller krebserregenden Dingen kann ich dir bieten.«

»Aber wir ... können das doch nicht kriegen«, besänftigte Kiyoshi meine sarkastische Bemerkung.

»Weiß ich doch.« Mit einer sanften Handbewegung strich ich über seine Wangen. Kalt und weich. Er hatte tatsächlich keinen Bartwuchs. Jedenfalls nicht mal ansatzweise so einen starken, wie ich ihn hatte. Denn mir wuchsen schon einige Stoppel an Kinn und Hals.

»Was gibt es denn da so?«, fragte Kiyoshi nach, kuschelte sich wieder an meine Seite und lauschte meiner Stimme, als würde ich ihm eine Kindergeschichte zum Einschlafen erzählen wollen.

»Es gibt ... verschiedenen Arten von Zigaretten. Mit Menthol, Nelken, gesüßtem Filter ... dann gibt es noch Shisha ...«

»Was ist das?«

»Eine Wasserpfeife. Gibt es in allen möglichen Geschmacksrichtungen und kratzt nicht so im Hals wie normale Zigaretten.«

»Hast du so was?«, fragte er sofort neugierig und knibbelte nervös an meinem Shirt, als könne er es kaum erwarten, bei so vielen Geschmacksrichtungen sowas auszuprobieren.

»Nein, aber Jiro hat eine«, kicherte ich und dachte an die vielen schönen Abende, an denen ich mit Jiro benommen auf dem Bett lag und Shisha rauchte. Damals war das Nikotinhigh noch besonders gewesen.

»Hoffentlich ... können wir das irgendwann mal machen«, seufzte mein Bruder und sah sofort betrübt in den Wald. Ja, das hoffte ich auch. Wir alle zusammen, in Ruhe, ohne einen Mörder im Nacken zu haben, an einem Ort, Shisha am Rauchen. Am besten noch mit Alexander, der ein noch viel schlimmerer Raucher als Jiro zu sein schien.

»Und was noch?«, hakte Kiyoshi weiter und schien mir regelrecht an den Lippen zu hängen.

Vincent schien auf einmal völlig vergessen zu sein. Oder Kiyoshi tat das mit Absicht, dass wir auf andere Gedanken kommen würden.

»Äh ... es gibt noch Zigarren und Zigarillos. Alexander hatte eine geraucht, erinnerst du dich?«

»Diese etwas dickere, braune?«

»Genau, die schmecken je nach Art auch sehr lecker. Rauchig, würzig.«

»Toll ...«, kam es fast sehnsuchtsvoll aus Kiyoshis Mund, der sich bereits jetzt auszumalen schienen, was für Geschmackserlebnisse er erleben könnte.

»Na ja und Gras. Mehr fällt mir jetzt nicht ein.« Mit den Worten kratzte ich mich am Nacken.

»Gras? Du rauchst Gras?« Ein rügender, aber nicht ganz verstehender Blick folgte.

»Na ja, hier und da mal ... schon mal ausprobiert, nichts wildes.«

»Und wie raucht man das? Zupft ihr euch Gras ab?«

Erst dann realisierte ich, was Kiyoshi beim Wort "Gras" nicht ganz verstanden hatte.

»Oh, das ist kein Gras ... wie auf der Wiese. Das ist Marihuana.«

»Ja, aber – Das ist eine Droge!«, prustete Kiyoshi sofort los und öffnete empört den Mund. »Du nimmst also wirklich Drogen? Mutter hat nicht übertrieben.«

»Ja, also ... äh«, begann ich, endete den Satz jedoch recht schnell und schluckte abermals einen Kloß hinunter. »Keine harten Drogen.«

»Du bist wirklich in einem komischen Umfeld!«

Ich seufzte nur leise und nickte zustimmend. Mir war egal, was er über meine Freunde dachte, denn ich musste zugeben, dass einige davon wirklich ein schlechter Umgang waren. Ich kannte hier und da einige Drogendealer, Knastis und Kleinverbrecher. Aber alles ganz nette Leute, zumindest so lange, wie man sich mit ihnen verstand.

 

»Glaubst du«, begann ich leise und sah mich verstohlen um. »Vincent ist weg?«

Als auch Kiyoshi sich drehte und umblicke, die Schultern zuckte und mich wieder mit großen Augen ansah, murrte er vor sich hin. »Vielleicht hat er das Gelände verlassen.«

»Oder er wartet nur, dass wir wieder den ersten Schritt machen. Er scheint ja ein ganz geduldiger Mann zu sein«, spottete ich und sah verkniffen auf mein Bein, welches zumindest aufgehört hatte zu bluten. Die Wunde war noch klaffend offen und zwiebelte, wann immer ich mit meiner Hose dran kam.

»Wir sollten die anderen beiden suchen«, schlug ich vor und erhob mich ächzend vom Ast. Kiyoshi half mir, schien jedoch unsicher zu sein.

»Meinst du? Nicht, dass wir sie wieder in Gefahr bringen ...«

»Ich denke ... in der jetzigen Lage sind sie ebenso in Gefahr wie wir. Vincent macht keinen Halt mehr vor den beiden. Ich wollte mich nur von ihnen trennen, weil ich Vincent von ihnen weglocken wollte.«

Doch jetzt kamen in mir die Zweifel hoch, das erreicht zu haben. Vincent war nun schon für mehrere Stunden still, sodass ich langsam Panik bekam, wo er steckte. Hoffentlich, so dachte ich, hatte er die beiden noch nicht gefunden.

Als ich mich vom Baum gleiten lassen wollte, vibrierte es in meiner Hosentasche.

Das Handy des Brummifahrers!

Kiyoshi griff schnell in meine Hosentasche, zerrte es raus und starrte auf das Display. »Unbekannte Nummer!«

»Geh nicht ran«, bat ich meinen Bruder, der seinen Daumen schon auf dem grünen Knopf hatte. »Wer weiß, wer es ist. Es ist nicht unser Handy ... vielleicht ist es sogar die Polizei, die uns sucht!« Und die konnte wir bei Gewissheit nun gar nicht gebrauchen.

»Okay ...«, seufzte Kiyoshi und drückte auf den roten Knopf. Ich raunte sofort auf, nahm Kiyoshi das Handy aus der Hand und schmiss es in ein entferntes Gebüsch.

»Bist du verrückt?«, zischte mir Kiyoshi zu und sah entsetzt in die Richtung des Handys. »Was, wenn er uns jetzt gehört hat?«

»Deswegen verschwinden wir jetzt auch schnell, bevor jemand das Handy ortet und durch dein Auflegen weiß, dass wir noch im Besitz dieses Handys waren.«

Mit schnellen, jedoch ungeschickten Bewegungen sprang ich vom Ast und landete mit lautem Knirschen auf den Boden. Ich konnte mich kaum auf den Füßen halten, hielt mich jedoch für stark genug, einige Meter zu gehen. Das Blut gab mir Kraft; fragte sich nur für wie lange ...

»Wir gehen ... zum öffentlichen Strand. Dort sind sie hingelaufen«, murmelte ich und deutete auf das Ende des Waldes.

»Meinst du, wir finden sie dort?«

Ich nickte stumm, nahm Kiyoshi an die Hand, der mich mehr stützte, als dass er liebevoll meine Hand hielt. »Bestimmt.«

 

Ein Blick in den Himmel zeigte mir, dass tatsächlich Vögel über uns schwirrten. Ob es jedoch Möwen oder Vincents Vögel waren, konnte ich nicht erkennen.

Der Himmel verfärbte sich langsam heller.

Der Tag brach an – endlich.

Vergeltung

Der Himmel wurde langsam heller und färbte sich in einem Babyblau. Der Schwarzhaarige starrte regelrecht paralysiert durch den kleinen Spalt der Schuppentür. Noch immer saßen sie in der kleinen Hütte und hatten sich ausgeruht. Als er sich umdrehte, sah er den Punk an seiner Schulter schlafen. Noch nie hatte es ein Mensch gewagt, sich in seiner Nähe alleine mit ihm schlafen zu legen. Auch aus gutem Grund ... selbst in einer solch angespannten Lage – nein, vielleicht genau deswegen – musste er sich mehrmals selber ermahnen, dass er Jiro nicht anfallen und aussaugen würde. Sein Geruch schwängerte unangenehm die Luft, sodass Alexander nichts weiter tun konnte, als starr in den Himmel zu blicken und zu hoffen, dass alles bald ein Ende finden würde.

Es war sicherlich die Erschöpfung, die den Menschen in die Knie zwang und zum Schlafen brachte. Die Situation war schlichtweg zu angespannt, als einfach so sich schlafen zu legen. Doch Alexander sagte nichts, machte keine Anstalten seinen neu gewonnen Freund zu wecken. Er sah es ihm nach, dass er und sein Körper irgendwann nicht mehr konnten. Bereits kurz nach ihrem Gespräch fühlte er den Kopf mit den kurzen, schwarzen Haaren auf seine Schulter rollen. Erst wollte er ihn wegschubsen, sich der Nähe entziehen, fand dann aber doch Ruhe im sanften und leichten Atmen, welches von Jiro ausging.

Als er eine Hand nach Jiro ausstreckte und ihm abermals über die leichten Kratzer an seinem Arm fuhr, zuckte er bei einem lauten Knall zusammen. War das ein Schuss?

Auch Jiro wurde von dem lauten Knall wach und sah sich verschlafen um. »W-Was ...? Was ist passiert?«, flüsterte er in den dunklen Raum. Alexander erhob sich leicht und spähte aus dem Türschlitz.

»Ich weiß es nicht ...«, murrte er und versuchte mit der ausgestreckten Hand die Tür zu öffnen.

In dem Moment sprang sie auf und knallte regelrecht gegen die Holzwand. Einige Kisten vibrierten und knackten unheilvoll mit ihrem Moder gewordenen Holz. Jiro sprang sofort auf, wurde vom Vampir in eine Ecke getrieben, vor die Alexander sich schützend stellte. Mit ausgebreiteten Armen war er bereit den Kampf endlich auszutragen; Jiro zu schützen und ihm zur Flucht zu verhelfen.

»Was zum -?!«, rief eine Frauenstimme. Die rundlichere, schon ältere Frau stand am Schuppeneingang in Schürze und sah verwirrt in die Augen der beiden Männer. »Was treibt ihr hier? Das ist Privatbesitz!«

Ihr laute Stimme ließ Jiro zusammen zucken. Das war nicht Vincent, aber diese Frau schien genau so wütend zu sein.

»Wir haben nur-«, begann Alexander, wurde aber sofort von der fast zwei Köpfe kleineren Frau am Arm herausgezogen und auf die Straße geschubst. Gerade so konnte er das Gleichgewicht halten und drehte sich um. Auch Jiro wurde unsanft aus der Scheune gezogen. »Das hier gehört der Bäckerei! Ich dulde keine herumlungernden Jugendlichen! Schlaft euren Rausch woanders aus!«

Mit diesen Worten rannte Jiro zu Alexander, der ihn sofort an die Hand nahm und wegzog. Schnellen Schrittes verließen sie die noch meckernde Frau, welche eine Kiste aus dem Schuppen zog.

»Wieso ist die denn schon hier?«, raunte Alexander los und blickte sich noch einmal um. Ihr ruhiges Versteck war damit beendet.

»Bäcker fangen früh an Brote zu backen«, begann Jiro völlig außer Atem, noch nicht ganz wach, »wir müssten dann um die 4 Uhr haben!«

»4 Uhr schon? Dann geht ja gleich die Sonne auf«, bemerkte der Vampir und sah erschrocken in den immer heller werden-den Himmel. Einzelne Laternen gingen bereits aus und ließen das warme Licht des Tages in die kleine Stadt am Strand. Jiro ging trottend vor, wusste nicht wohin, als er an einem kleinen Stand vorbeiblickte und das weite Blau sah.

»Der Strand ...«, murmelte er sehnsüchtig und sah auf die ruhigen Wellen, die ans Ufer schlugen. »Ich wollte schon so lange mal wieder hierher ... und jetzt?«

»Irgendwann«, begann Alexander und stellte sich neben Jiro, die Hand noch immer fest im Griff, als müssten sie jeden Moment noch einmal fliehen, »kannst du noch einmal hierher. Und die Sonne genießen.«

Jiro lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Ich werde nie wieder an einen Strand gehen können ... ohne an all das hier denken zu müssen.« Er lachte noch ein wenig weiter, verzwei-felt und wahrscheinlich wissend, dass er die Reise, wenn, auch alleine tätigen müsste. Denn sein bester Freund würde nicht mehr mit in die Sonne gehen können. Genauso wenig sein neuer Freund nicht. Und nur das waren die Personen mit de-nen er sich im Moment einen Urlaub hätte vorstellen können.

Alexander blickte sich interessiert um und sah die Promena-de an, die noch wie eine Geisterstadt wirkte. »Wann machen die hier auf?«

»Ich weiß nicht ... vielleicht erst so gegen 10 oder später. So früh kommen ja noch keine Touristen.« Jiro blickte sich eben-falls um und lehnte unbewusst an Alexander. »Wir sollten so langsam eine andere Unterkunft suchen. Sonst verbrennst du.« Ein Blick in den Himmel zeigte nicht eine Wolke. Es würde ein wunderschöner, sonniger Tag werden. Wahrscheinlich ge-nau richtig zum Baden.

»Ja«, hauchte der Vampir, sah ebenfalls in den Himmel, dann in Jiros Augen. »Wohin möchtest du?«

Die grünen Augen blinzelt ein paar Mal, als könnten sie noch immer nicht glauben, wieso sie diese ganze Reise auf sich genommen hatten. »Weiß nicht ... vielleicht in ein Hotel? Vor-erst?«

»Ja, das klingt gut.« Alexander musste schmunzeln. Hatte er gerade ein Hotel vorgeschlagen? Keine Pension? Sie alleine, beide zusammen in einem Hotel? Es sich nach so vielen Tagen wieder gut gehen lassen? Gemeinsam? Oder interpretierte er da zu viel hinein? Waren es die Umstände, die ihn anders über Jiro denken ließen als vorher? Oder die Tatsache, dass die Zwillinge so glücklich zusammen schienen und er dieses Glück ebenfalls suchte?

»Gehen wir dahinten -«, begann der Mensch, zuckte sofort zusammen, als er in die eine Richtung des Strandes zeigte und eine schwarze Gestalt auf sie zukam. »Nein!«

Auch Alexander erstarrt wie vom Blitz getroffen und zog Ji-ro so schnell es ging zu sich. »Das kann nicht sein! Wieso ist der immer noch hier?!«

Sie liefen auf der Promenade entlang, so schnell sie konnten, in der Hoffnung, irgendwo in irgendwelchen Häusern Unter-schlupf zu finden, sodass Vincent sie aus der Augen verlieren würde. Doch der schien die Ruhe weg zu haben – ob vom Schlafmangel oder aus anderen Gründen –, folgte den beiden panisch laufenden Männern nur langsam und schmunzelte vor sich hin. Er richtete seine große Waffe auf die beiden und schoss.

Fesseln schlangen sich um Alexanders Beine, ließen ihn zu Fall bringen und laut aufächzen.

»Nein!«, rief Jiro abermals aufgebracht, blieb sofort stehen, lief einige Meter zurück und half dem sich windenden Vampir mit den rauchenden Schlingen. »Tut es etwa weh?«

»Ah!«, raunte Alexander auf, während er an den schwarzen Seilen zog. »Sie brennen!«

In der Tat färbte sich seine Haut an den gefesselten Stellen direkt rot und hinterließen dunkle Striemen.

»Fuck! Fuck!«, schrie Jiro panisch vor sich hin, zerrte an den Fesseln und hatte das Gefühl, alles nur noch schlimmer zu machen. Es war erbärmlich stark verheddert, ließ sich kaum aufknoten. Nur Alexander schaffte es an einigen Stellen das Band zu zerreißen.

Vincent, ruhig und gelassen, kam immer näher und lachte schließlich manisch auf. Er hatte sie endlich; endlich zwei von vier. Und alles, was er tun musste, war warten, dass sie aus ih-rem dummen Versteck kamen. Die anderen zwei würde er auch noch kriegen.

»Lauf«, befahl Alexander, der noch immer mit schmerzver-zerrtem Gesicht in den Fesseln am Strand lag. »Lauf endlich!«

Jiro hielt inne, zerrt nicht mehr an den Fesseln, sondern sah verzweifelt zu Vincent, der nicht mal mehr 100 Meter entfernt war. Nein, zum Fliehen wäre es zu spät gewesen. Wie könnte er vor allen Dingen den Mann, der ihm schon so oft das Le-ben gerettet hatte, einfach so hier liegen lassen?

»Mach schon!«, schrie Alexander fast schon panisch, drückte Jiro von sich und stolperte dabei mit dem Gesicht auf den As-phalt.

»Nein«, flüsterte Jiro, bekam Tränen in den Augen und wimmerte los. Was war es nur für eine furchtbare Begeben-heit, in der sie alle steckten? Ob es Hiro und Kiyoshi wenigs-tens gut ging? Oder hatte er sie schon getötet?

»Wie rührend«, begann Vincent und stellte sich neben Ale-xander und Jiro. »Wollt ihr also gemeinsam in den Tod gehen? Den Wunsch erfülle ich euch gerne.«

»Wie kannst du einfach sinnlos Menschen töten?!«, begann Alexander wieder voller Wut zu schreien. »Er hat doch über-haupt nichts getan!«

Der schwarz gekleidete Mann zuckte nur die Schultern und grinste amüsiert, noch immer begeistert über seinen Erfolg, zwei Verbrecher zu schnappen. Und das so einfach.

»Ich vollstrecke diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen. Und die Beihilfe zur Flucht gesuchter Verbrecher... ist ebenso ein Verbrechen.«

Die Worte flossen durch die salzige Luft und ließen Jiro nur den Kopf schütteln. »Aber das sind unsere Freunde!«, wim-merte er und begann wieder an Alexanders Fesseln zu zerren, als könnte er noch etwas ausrichten. »Sie haben doch nieman-dem geschadet!«

»Sie haben sich selber geschadet! Und solche niederen Vam-pire fangen schnell an ... auch anderen zu schaden.« Vincent begann seine Schusswaffe zu wechseln und entsicherte die Au-tomatikwaffe. Seine Laune sank mit jedem Wort, welches er aus dem dreckigen Mund des Punks hörte.

»Gibt es denn nur Leben oder Tod? Was ist mit einem fairen Prozess?!«, schrie er los. Sein Zittern wurde stärker – Jiros Nerven lagen blank. Waren es die letzten Minuten?

»Wir sind hier nicht in Amerika. Außerdem sprechen wir von Vampiren. Die fragen dich auch nicht nach einem fairen Prozess, wenn sie dich aussaugen.«

»Das ist nicht wahr!«, rief auch Alexander, robbte, so gut er konnte über den sandigen Asphalt von Vincent weg und ver-suchte sich aus den Schlingen zu befreien. Die Wunden be-gannen aufzuplatzen und bluteten stark. »Du stellst uns immer dar, als wären wir alles hirnlose Zombies, die nur nach Gehir-nen suchen! Wir reden sehr wohl mit den Menschen, wir ver-halten uns ruhig!«

»Nur, weil du dein kleines Haustier noch nicht angeknabbert hast, musst du dich nicht wie der barmherzige Samariter dar-stellen«, brummte Vincent, nicht gewillt, sich noch weiter mit seiner Beute zu unterhalten. Er richtete die Waffe auf den Menschen und sah noch ein letztes Mal in das verängstigte Gesicht, welches in den Lauf der Waffe starrte. Er liebte diese Momente regelrecht. Ja, er sehnte sie herbei.

Als er abdrückte, ertönte ein Schrei und der Mensch fiel zu Boden.

»Oh, du willst also als erstes?«, ertönte Vincents sarkasti-sches Lachen und zog die Waffe erneut durch, um die nächste Patrone zu laden.

Alexander beugte in den Schlingen gefesselt über Jiro, den er kurz vor dem Schuss zu Boden geworfen hatte. Ein Durch-schuss – Schulter.

»Alex -«, begann Jiro zu wimmern, sah fast nichts mehr durch seine tränenüberlaufenden Augen und tastete zittrig die blutenden Wunden ab. Doch der Vampir ließ sich nichts an-merken, biss die Zähne zusammen, schnappte sich Jiro und sprintete auf den Strand. Er wusste nicht wohin; wahrschein-lich war es eine reine Verzweiflungstat. Denn gerade der Strand bot keinen Schutz. Nur einzelne Strandkörbe hätten vielleicht den ein oder anderen Schuss abgehalten.

Vincent seufzte nur auf, als sei er die Flucht der beiden end-gültig satt und erhob erneut die Waffe. Jiro hing in Alexanders Arm, wurde regelrecht von ihm mitgeschleift; weinte und wimmerte vor sich hin. Ein Schuss ertönte, doch traf er einen Schirm, der zugespannt noch aufrecht im Sand stand. Für ei-nen kurzen Moment blieben sowohl Vincent, als auch Alexan-der stehen, um zu verstehen, was für ein dummes Glück er hatte. Nicht weiter nachdenkend, humpelte er weiter. Die Schlingen waren keine Hilfe, rutschten aber mit jedem Schritt weiter runter.

»Ihr seid wohl nicht mehr ganz dicht, mich weiter auf die Folter zu spannen!«, lachte Vincent böswillig auf und folgte den beiden mit schnellerem Schritt. Er hatte keine Lust mehr noch weiter zu warten. Er wollte das Versteckspiel beenden. Endlich seinen Auftrag erfüllen, der ihn sowieso schon viel zu viel Zeit gekostet hatte.

»Alexander«, hauchte Jiro immer wieder den Namen des Mannes, der ihn wieder vor seinem Tod bewahrt hatte. Wieso war er so schwach und musste zusehen, wie sein Freund ver-blutete? Wie er wahrscheinlich wehrlos Vincent zum Opfer fallen würde?

Der Vampir sah verbissen vor sich, humpelte weiter und konnte sich schlussendlich aus den Fesseln befreien. Er warf sie in einen Strandkorb, schlurfte weiter über den Sand und spürte bereits, wie im Schwarz vor Augen wurde. Zu viel Blut hatte er verloren, um noch weiter aufrecht gehen zu können. Kein Herz pumpte genug Flüssigkeit in seinen Kopf. Er müss-te sich hinlegen, etwas trinken, warten, bis die Wunden sich schließen würden. Aber das würde den Tod bedeuten; für ihn und für Jiro!

Vincent fackelte jedoch nicht lange und holte die beiden schnell ein, auch wenn sie im Zick Zack liefen. »Oh, bitte«, war noch das Letzte, was Alexander vor dem Schuss wahr-nahm. »Ihr denkt wirklich, ihr könnt fliehen?«

Als der Schuss fiel und genau Alexanders Bauchraum traf, konnte er nicht mehr stehen. Er fiel zu Boden, direkt auf Jiro, der noch versuchte, den Fall abzufangen. Nichts half, es war vorbei. Die Patrone blieb stecken, hatte Jiro nicht berührt. Gott sei Dank, dachte der Vampir, als er sich mit zittrigen Händen von Jiro rollte, sodass er weiter laufen konnte. Es ka-men keine Worte mehr aus ihm heraus, nur noch der drü-ckende Handgriff, der den Menschen zum Gehen animieren sollte. Doch alles, was er tat, war sich wieder über ihn zu beu-gen, weinen, wimmern und immer wieder seinen Namen zu sagen. Er war besorgt, traurig und panisch, dass er gerade töd-lich getroffen wurde. Die Flüssigkeit aus der Patrone breitete sich in seinen Blutkreislauf aus. Er spürte das Brennen, das furchtbare und schmerzerfüllende Stechen. Einzig und allein die Tatsache, dass er generell wenig Blut in seinem Kreislauf hatte, bot ihm den Vorteil, dass er noch eine Weile wach blei-ben konnte. Dass er sehen konnte, wie Jiro weiterhin bei ihm blieb und immer wieder über seine Wangen strich, als könnte er ihn auf irgendeine Weise zurückholen.

»Bitte nicht«, weinte er los, kniff die Augen zusammen und legte seine Stirn auf Alexanders, die kalt und weiß wurde. A-dern stachen blau-grün heraus, färbten sich irgendwann rot und ließen jede noch so kleine Vene gegen die Haut drücken. Die Flüssigkeit der Patrone schien ihre Wirkung zu entfalten: er verbrannte von innen. Das wenige Blut in seinem Kreislauf verteilte sich nur schleppend, sodass auch die Anzeichen nur langsam voranschritten.

Schnell dagegen waren Vincents Schritte, die sofort hinter den beiden Männern zum Stehen kamen.

»Keine Angst. Ihr seht euch gleich wieder«, brummte er los, lud seine Waffe und zielte auf Jiros Kopf. Der drehte sich mit hasserfülltem Blick um und schrie Vincent entgegen.

»Du bist ein Monster! Ein wahres Monster!«

Er hatte keine Angst mehr um sich, sondern nur noch um Alexander. Er litt, er hatte Schmerzen und er raffte dahin, wie man es nicht einmal einem Tier antun würde. Keine Gemein-heit der Welt hätte Jiro ein solches Ende für Alexander denken lassen. Auch wenn sie sich noch so oft gestritten hatten: das hatte er nicht verdient. Nein, er war ein liebes Wesen; er hatte ihm beigestanden, wann immer es ging, er hatte besseres ver-dient. Ein Leben voller Glück und Liebe; nicht das eines ver-dinglichten Adoptivkindes, was mit viel Geld und noch mehr Druck aufgewachsen ist. Welches bereits im Kindesalter leiden musste und seither keine ruhige Jugend gehabt hatte. All das wollte Jiro ihm zeigen, das Glück der Welt, den Spaß und viel-leicht sogar auch die Liebe, die es wert war, weiterzuleben.

»Sag das deinem Schöpfer, Mensch«, zischte Vincent über Ji-ros Beleidigung los, zögerte für einen Moment, als er die bei-den Männer in einer innigen Umarmung sah. Gemeinsam, ja vielleicht sogar mit der Hoffnung, sich wirklich am Ende des Tunnels wieder an die Hand nehmen zu können, umschlossen sie den Körper des jeweils anderen und warteten auf den töd-lichen Schmerz.
 

»Hey«, rief die bekannte Stimme von einem anderen Punkt des Strandes aus. »Willst du nicht uns?«
 

Vincent blickte auf und sah in meine Augen. Ja, dachte ich, hier spielt die Musik.

Kiyoshi stand gewappnet hinter mir und stierte ebenfalls wi-derwärtig in die Richtung des Mannes, der gerade noch meine Freunde töten wollte. Als er uns sah, grinste er, zog die Waffe weg und sah verachtend auf Jiro und Alexander.

»Na schön. Ich lasse dich am leben ... damit du dieses Da-sein daran fristen kannst, was du getan hast. Vielleicht folgst du ihm ja sogar freiwillig?« Der Mann lachte laut auf, stieg über Jiro und Alexanders Körper, als wären es bereits Leichen und ging auf mich zu. Erst jetzt bemerkte ich den panischen Blick, den mir Jiro zuwarf. Noch immer lag er dicht an Ale-xanders blutenden Körper gepresst und weinte tausende Trä-nen. War es bereits zu spät gewesen?

Eine Wut in mir kochte hoch, ließ mich neue Kraft schöpfen und alles, was mir in meinen Kopf kam war:

Ich töte diesen Mann.

Und wenn es das Letzte ist, was ich tun werde.

Kiyoshi neben mir schien genauso entschlossen der Tatsa-che gegenüber zu stehen, dass wir uns jetzt duellieren würden, und nahm meine Hand. »Wir sollten ihn von den beiden weg-locken.«

»Ja«, kam wie aus der Pistole aus meinem Mund geschossen. Auch die echten Kugeln ließen nicht lange auf sich warten. Ein wahrer Kugelhagel fiel auf uns ein. Vincent schoss wie ein Verrückter auf uns, in der Hoffnung, eine Kugel würde uns wie Alexander treffen. Auf seinen sonst so groß geschriebenen Ehrenkodex, jeden Vampir eigenhändig zu töten, schien er zu verzichten und wirkte auf einmal ganz klein. Hauptsache, wir würden endlich sterben. Hauptsache, wir würden endlich den Löffel abgeben.

Als ich kurz vor dem Vorfall mit Kiyoshi aus dem Wald kam und den Zaun an der Stelle von Alexanders Parker überquer-ten, sahen wir die drei schon von weitem hantieren. Vincent schoss auf sie, mehrmals. Es war zu erwarten, dass er Alexan-der getroffen hatte.

»Dieser Bastard!«, kam es mir wie ein Psalm aus den Lippen gelaufen, während wir den Sandstrand entlang liefen. An ei-nem Bereich, wo nur wenige Strandkörbe lagen und die Pro-menade ihr Ende fand, blieben wir stehen. Hier würden so schnell keine Touristen aufkreuzen. Hier könnten wir uns in Ruhe die Köpfe einschlagen.

Vincent blieb ebenfalls stehen, etwas auf Abstand und lud seine Waffe nach. Er wusste nur zu gut, dass Kiyoshi gerne wie eine Furie auf andere losgehen konnte, weswegen er lieber den Abstand einhielt.

»Hast du ihn getötet?«, fragte ich sofort spitz und sah durch-dringend in seine Richtung. Meine Füße und meine Hände kribbelten. War es das Adrenalin?

»Wenn er die UV-Flüssigkeit überleben kann ... dann viel-leicht nicht«, schmunzelte Vincent und donnerte regelrecht mit seiner Stimme los. »Aber auch der Bauchschuss wird ihm das Leben kosten! Er war eh schon ein ausgetrocknetes Stück Fleisch.«

»Du mieses Schwein!«, rief Kiyoshi neben mir und stampfte in den weichen Sand. »Wieso tust du das den beiden an? Was sind deine Beweggründe?!«

»Die kennt ihr bereits«, begann Vincent wesentlich ruhiger und ließ seine Waffe fallen. »Gerechtigkeit.«

»Gerechtigkeit? War es also auch gerecht, die ganzen Vampi-re in der Innenstadt abzuschlachten? Was haben sie getan? Oder ist ihre reine Anwesenheit schon eine Strafe wert?«, fluchte ich regelrecht und ballte mein Fäuste. Alles in mir vib-rierte. Mein Bein schmerzte nicht mehr. Alles wurde taub. Der Atem abgehackt. Vincents Stimme war ganz weit weg.

»Wieso musst du immer schwätzen?« Vincents Frage schien rhetorisch zu sein, da nicht weiter auf eine Antwort warten ließ. »Die Gruppe Vampire hatte Menschen abgeschleppt und sie ausgeblutet. Für ihre Zwecke. Als ich sie bat, mit mir mit-zugehen, haben sie das Feuer eröffnet. Ich war gezwungen, sie umzubringen.«

»Ha!«, lachte Kiyoshi auf einmal sarkastisch auf. »Kann ich mir gut denken, wie du gefragt hast! Mit deiner Waffe, hm?«

»Halt dein blutendes Maul«, konterte Vincent recht salopp und legte seine sonst glatte Stirn in Falten. »Ihr seht aus wie zwei Raubtiere. Was habt ihr gerissen? Einen Hasen? Igel? Oder gleich ein Reh?«

»Wüsste nicht, was dich das angeht«, schnaubte ich los und kam einige Schritte auf Vincent zu. Soll er doch schießen, dachte ich und machte mich auf einen Sprint bereit. »Vielleicht haben wir ja noch nicht genug bekommen und wollen mehr ... so sind wir doch, oder nicht? Tiere, willenlose Wesen ... die nur ihr Blut wollen.« Mit diesem Satz fuhr ich mir über meine Lippen und stierte auf Vincents Nacken. Soll er ruhig etwas mehr Respekt vor uns haben. Wir sind zwar jung, aber genau-so gefährlich.

»An mir werdet ihr euch die Zähne ausbeißen«, lachte Vin-cent abermals donnernd los und richtete seinen Ledermantel, der durch den schnellen Gang zu Alexander und Jiro ver-rutscht war. »Versucht es ruhig. Es wird euer letzter Versuch sein.«

Kiyoshi hinter mir riss seine Lippen auf, zeigte ihm seine langen Fangzähne und begann zu fauchen. Es war das Fau-chen eines Tieres, ganz klar, aber schockierte mich das noch? Nein, wir waren Tiere.

Ich sah nur noch einen Schatten an mir vorbei rennen, Kiy-oshi auf Vincent losspringend und ihn packend. Das war mei-ne Chance, dachte ich und sprang ebenso auf ihn zu. Meine Gelenke schmerzten, es fühlte sich an, als würden sie brechen. Mein Herz raste, meine Atmung wurde flach.

Dieses Gefühl, was in mir hervorstieß – ich kannte es.
 

»Alexander«, weinte Jiro noch immer und streichelte immer wieder über die kalten Wangen des Vampirs. Der holte schon gar keine Luft mehr, sah nur noch in die grünen Augen des Menschen. Allein sein Blinzeln zeigte, dass er noch lebte.

»Was kann ich tun?«, fragte der Schwarzhaarige immer wie-der und tastete Alexanders Körper ab. »Irgendwas muss ich doch tun können!«

Doch dem Vampir war klar, dass es das Ende war. Was soll-te jetzt noch helfen? Er hatte kaum noch Blut in sich, dazu auch noch die tödliche Flüssigkeit der Patrone, die in seinem Bauchraum lag. Er spürte fast nichts mehr von seinen Körper-teilen.

Und trotz allem bereute er nicht eine seiner vergangenen Ta-ten. Er konnte Jiro retten, er hat ihn lebend aus der Sache ge-bracht. Er hat den Zwillingen geholfen, die jetzt einen letzten Kampf ausführen würden. Er hatte in einer Woche mehr er-reicht als in den ganzen letzten Jahren seines Lebens. Geld mache glücklich? Ja, vielleicht, aber nur mit den richtigen Leu-ten. Zwar murrte er oft, als er die Kreditkarte vorzeigen muss-te, trotzdem hatte er das Gefühl wenigstens dafür gut gewesen zu sein. Einen Sinn in der Gruppe zu haben. Ihnen behilflich sein zu können, auch wenn sie sich anfänglich alle nicht moch-ten.

Jiros Tränen liefen immer weiter über sein Kinn auf Alexan-ders Gesicht. Es war, als würden sie niemals mehr aufhören. Ein ganzer See bildete sich immer wieder am unteren Rand seiner glasigen Augen.

»Was kann ich tun?«, flüsterte er erneut, suchte seinen Kör-per nach Gegenständen ab. »Wenn ich dir Blut gebe – das brauchst du doch, oder? Wenn ich es dir gebe ... das hilft dir, oder? Es hat bisher immer geholfen!« Seine Stimme klang weit weg, fast aus einer anderen Dimension und ließ Alexander entspannen. Er war hier ... in den letzten Momenten seines Lebens. Hatte sich das alles gelohnt?

Mit letzter Kraft hob Alexander seine Hand und strich über Jiros Wangen. Ja, es hatte sich gelohnt. Der scheiß Punk sollte nur mal seine Prioritäten überdenken. Nicht so viel dummes Zeug tun und stattdessen stolz auf seine Leistungen sein. Stolz auf den besten Abschluss der Stufe sein. Stolz auf sich und seine Ziele sein. Sich nicht dümmer geben, als er war.

Als die grünen Augen in die Eisblauen sahen und immer wieder Tränen fallen ließen, konnte sich auch Alexander eine leichte Feuchte nicht verkneifen. Wieso dauerte das so lange? Er wollte endlich gehen, dem Menschen seinen Frieden lassen. Je länger er hier liegen würde, desto länger würde Jiro leiden.

»Ich geb dir mein Blut«, verkündete Jiro, tastete abermals seine Kleidung ab. »Ich brauche ... einen spitzen Gegenstand... irgendwas ... « Er suchte den Strand ab, die Körbe, fuhr mit den Augen die komplette Gegend ab. Jiro hätte aufstehen, auf Suche gehen müssen, um einen Gegenstand zu finden, der ihn verletzen könnte. Doch das hätte alles zu lange gedauert, er wäre definitiv zu spät gekommen!

»Beiß mich!«, befahl Jiro schlussendlich, zog das Shirt von seiner Schulter und entblößte dabei seine Hauptschlagader. »Das kannst du doch, oder? Dann kannst du trinken!«

Der Mensch war sich selbst nicht so sicher, was er da von sich gab. Wollte er sich also nun endlich eingestehen, dass es Vampire gab und dass genau vor ihm einer saß, der im sterben lag?

Alexander schüttelte den Kopf und streichelte abermals über Jiros Wange. An seiner glatten Haut fuhr er zur Schulter und strich über die blasse Stelle. Für einen Mann hatte Jiro wirklich gepflegte Haut. Vor allen Dingen für einen Punk.

Ein leichtes Schmunzeln fuhr über Alexanders Lippen. Die-ser Mensch war ihm sehr ans Herz gewachsen. Und ihn mit Tränen in den Augen verzweifelt über ihm hockend zu sehen, brach ihm regelrecht das Herz.

»Trink doch!«, befahl Jiro erneut, beugte sich über Alexan-ders Gesicht und presst ihm regelrecht seinen Hals auf die Lippen. »Ich halte das aus! Ich fühle mich gut, ich kann dir helfen!« Zwar brach jedes Wort am Ende ab, da er schluchzte und Luft holen musste; und somit nicht mal ansatzweise ernst zu nehmen klang; trotzdem presste er sich willensstark gegen Alexander und wollte ihm dadurch zeigen, dass er es ernst meinte.

Doch alles, was kam, war ein sanfter Kuss auf Jiros Hals.

»Nein!«, rief Jiro und löste sich noch einmal von Alexander. Mit etwas erröteten Wangen sah er in die blauen Augen, die ihn nur noch durch Schlitzen ansahen. »Nicht so was ... bei-ßen!«

Alexander schmunzelte eine Weile. Dass sie noch so viel Zeit füreinander hatten, freuten ihn auf eine gewisse Weise. So konnte er Abschied nehmen; auch wenn es gleichzeitig furcht-bar quälend war, ihn so lange auf die Folter zu spannen.

Jiros Blick hingegen wurde immer panischer, einzelne Trä-nen trockneten schließlich, obwohl noch welche hinzukamen, als er ein Stück vom Strandkorb neben ihnen abbrach und sich gegen den Hals drückte. Es würde keine saubere Wunde wer-den, aber es ging Jiro nur noch darum, dass Alexander von ihm trank. Ehe er sich versah, schlug ihm eine Hand gegen den Arm, sodass er das Stück Holz fallen ließ, einen Kratzer hinterließ und nach vorne zu Alexander kippte. Der packte ihn für seine Verhältnisse noch recht fest am Arm und sah ihn wütend an.

»Aber du musst!«, rief Jiro erneut, suchte sofort mit der an-deren Hand nach dem abgesplitterten Stück Holz. Verzweifelt durchsuchten seine Hände den Sand und schabten durch die Blutlache, welche von Alexander kam.

Noch mit den Gedanken bei seinem selbstverletzenden Ver-halten, merkte er nicht, wie Alexanders Hand in seinen Na-cken fuhr und den kleinen Kratzer an seinem Hals fixierte. Sollte er es tun? Ein letztes Mal die Regeln brechen und Jiro schmecken? Die süßen Tropfen als Erinnerung in den Tod nehmen?

Als Jiro sich nicht mehr gegen den festen Griff von Alexan-der wehren konnte, blickte er wieder in sein Gesicht und kam seiner Nase recht nah. »H-Hör auf! Wie kannst du jetzt an so was denken?«, rief er an einen Kuss denkend, streifte noch mit der Wange an den kalten, blauen Lippen vorbei und sah im Augenwinkel die spitzen Zähne aus Alexanders Mund stechen.

Er hielt die Luft an, wurde an den kalten Körper gepresst und sah auf das Meer.

Schmerzverzerrt öffnete er den Mund, um einen Schrei zu entlassen, bekam jedoch keinen Mucks heraus und klammerte sich an Alexanders Schultern. Es war real, es war so real, wie es nur sein konnte, dachte Jiro und kniff letztendlich die Au-gen zu, während er dem Schmerz an seinem Hals nachgab. Alexanders Zähne hatten sich bereits bis zum Anschlag in sei-ne weiche Haut gepresst und ließen die warme Flüssigkeit in seinen Mund laufen. Entsetzt hörte Jiro den Vampir gierig schlucken; sein Blut schlucken. Bis zu letzten Sekunde, wo er vorhatte, sich den Hals aufzuschneiden, um Alexander zu näh-ren, hatte er gehofft, dass es alles nicht real war. Egal, was pas-siert war, die Hoffnung blieb bestehen, dass das, was in den Packungen, kein Blut, sondern irgendein Saft war. Dass der Sonnenbrand fake war. Dass das Gerede um Vampire nur Show war.

Aber jetzt, wo er die Zähne gesehen hatte, die vorher nicht da waren, und sie aus erster Hand in seinem Hals spürte, musste sich Jiro eingestehen, dass es wahr war. Alexander war ein Vampir. Und er trank sein Blut.

Es war wie ein nährendes Lebenselixier, was Alexanders Körper durchstreifte und ihn wieder seinen Körper spüren ließ. Er trank viel zu viel, das wusste er und er spürte, wie Jiros Körper langsam schwächer wurde. Vorsichtig griff er in den Nacken des Menschen, die andere Hand um seine Taille, dreh-te ihn auf die Seite und legte sich sachte auf den fast bewusst-losen Körper. Jiros Hände lagen noch immer auf Alexanders Schultern, rutschten schließlich an seiner Brust entlang und ruhten angewinkelt auf seiner eigenen Brust. Die liebevolle Umarmung ließ den Vampir schlussendlich wieder zu Sinnen kommen, sodass er noch ein letztes Mal die zwei Löcher küss-te, aus denen bereits keinerlei Blut mehr floss. Nur langsam kam ein feuchter Schimmer zurück.

Ihre Augen trafen sich abermals, doch diesmal war es ein ruhiger Augenkontakt. Jiro musste schwächlich grinsen. War das gerade wirklich passiert? Er wurde von einem Vampir ge-bissen? Würde er jetzt auch einer werden? Oder hatte er ein-fach nur seinen Freund gerettet?

Vorsichtig strich Alexander mit dem Daumen über Jiros Wangen; sah ihn dabei dankend an. Die Wunde an seinem Bauch war noch immer offen und blutete; auch die inneren Verbrennungen taten seinem Körper nicht gut.

Doch das tat nichts zur Sache.

Der Moment gehörte ihnen.

Sand aus Angst

Kiyoshi kämpfte bitterlich mit Vincent. Er sprang immer wieder auf ihn los, biss ihn, kratzte ihn und fügte ihm tiefe Wunden hinzu.

Vincent dagegen schoss um sich, wie ein Verrückter; holte sogar Ketten aus seinem Gürtel, die er gegen mich warf, als ich mich einmischen wollte.

Ich wusste nicht, was passieren würde. Mein Gemüt wurde flach, mein Atem schneller und ich sah Sternchen. Nein, dachte ich, jetzt darf ich nicht schwach werden! Ich muss widerstehen!

»Ihr zwei seid wie widerliches Ungeziefer, welches sich einfach immer wieder dem großen Schuh entzieht und weiterkrabbelt!«, fauchte Vincent, hielt sich seine blutende Schulter. Kiyoshi landete im Sand und wetzte seine Krallen. Seine Pupillen waren rot und das Augenweiß in einem dunklen Grauschleier getunkt. Es war, als würde das Biest aus ihm sprechen, nicht mehr Kiyoshi. Aber so war es gut. Vincent sollte genau spüren, mit wem er es zu tun hatte. Mit einem Toten.

»Pass auf, dass wir dir nicht irgendwohin krabbeln«, fauchte mein Bruder los und sprang erneut auf Vincent zu. Der konterte recht zügig mit einem Stück Holz eines demolierten Strandkorbes und brachte Kiyoshi zu Fall. Er ächzte los, hielt sich die blutende Schulter und keuchte angestrengt. Auch ihn nahm die Anstrengung langsam mit und zwang ihn zur Ruhe.

»Stirb doch endlich!«, raunte ich auf, brach ebenfalls ein Stück Holz ab und rannte auf Vincent zu. Der sah mich kommen, wich aus, wurde trotzdem von Splittern am Gesicht erwischt, sodass er schmerzerfüllt aufschrie, als einer der Splitter sein Auge traf.

»Scheiße! Du ... Du miese -«, begann er, beugte sich vor, hielt sich sein Gesicht und ertastete sein Auge. Es blutete.

»Du hast noch viel mehr verdient ...«, seufzte ich angestrengt und holte noch einmal aus. Kiyoshi schrie noch, ich verstand nicht was, spürte aber sofort einen Stich in meiner Seite. Vincent erwischte ich noch einmal am Kopf, sodass er mit dem Gesicht in den Sand zu Boden fiel und röchelte.

Als ich an mir herunter sah, fasste ich mir instinktiv an die Wunde und ertastete Blut. Eine erneute Wunde?, fragte ich mich und spürte sofort einen Messergriff. Vincent hatte mich mit einem Messer erstochen, doch blieb es eher an meinem Shirt, als an meiner Haut hängen. Als ich es herauszog, taumelte ich zurück. Da war kein Schmerz, da war überhaupt kein Gefühl.

»Hiro!«, rief mir Kiyoshi entsetzt zu, kam auf mich zugelaufen und hielt meine Wunde. »Geht's?«

»Ja«, hauchte ich erschöpft und hielt mir die blutende Wunde. »Tut nicht weh ... nur gestreift ...«, murmelte ich weiter und konnte kaum meine Augen offen halten. Die Geräusche um mich herum wurden lauter. Das Meer, die Schritte von Vincent, der sich wieder aufrappelte, Kiyoshis Stimme – ich fühlte mich wie auf einer Autobahn, neben der ein Jahrmarkt stattfand. Ich schluckte wieder Luft, meine Kehle wurde trocken und ich taumelte weiter nach hinten. Meine Beine wurden wie Gummi.

»Fuck«, flüsterte ich und hielt meinen Kopf. Er pochte, er dröhnte, es machte mich wahnsinnig. Vincent stand wieder vor uns, hielt sich ebenfalls den blutenden Kopf und raunte bissig vor sich hin.

»Ich hab keine Lust mehr auf euch... Ihr habt mir genug angetan!«, schrie er los, lud seine Waffe mit einer Hand, strich sich das Blut von den Fingern und schoss in unsere Richtung. Kiyoshi zog mich rechtzeitig zu Boden, hoppste wieder auf und rannte auf Vincent zu. Ich sah nur noch Schatten. Im Grunde konnte ich nur erahnen, was genau geschah.

»Was wir dir angetan haben? Das hier!«, hörte ich meinen Bruder schreien, fauchen und schlussendlich noch einmal auf Vincent drauf springend. Er zog das Holzstück an sich, hob es und rammte es mit voller Wucht in Vincents Brust.

Beide Gestalten fielen zu Boden und alles, was ich noch vernahm, war der Schrei des Mannes, der schlussendlich unter meinem Bruder lag und sich nicht mehr bewegte.

Kiyoshis Arme zitterten, standen noch von seinem Körper ab und blieben kampfbereit. Ich hörte leises Atmen und wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Wahrscheinlich eine Art Prozedur, um sich zu beruhigen.

 

Vincent hingegen blieb regungslos auf dem Boden liegen und atmete nicht mehr. Das Stück Holz stand aufrecht und steckte tief in seiner Brust. Ob es sein Herz getroffen hatte? Verdammt, dachte ich, ich hätte ihn gerne noch ein wenig leiden gesehen ... ihn vielleicht sogar misshandelt für das, was er uns angetan hatte. Für Alexander, den er vielleicht umgebracht hatte.

Kiyoshi blieb nicht lange an seiner Stelle stehen, drehte sich nach mehreren ruhigen Minuten zu mir um und kam auf mich zugelaufen. Vorsichtig kniete er neben mir und tastete meine Stirn ab.

»Hiro ... Hiro, was ist nur mit dir?«, flüsterte er und sah in mein blasses Gesicht.

Ich wusste es selber nicht und zuckte nur mit den Schultern, hielt meine Hand an Kiyoshis Brust. »Ich glaub ... ich glaub, ich verrecke«, spaßte ich und lachte noch einen Moment.

»So ein ... Quatsch«, grinste auch Kiyoshi, obwohl sich bereits Tränen in seinen Augen sammelten.

»Hast du ihn ... getötet?«, fragte ich ruhig; spürte jedoch, wie sich meine Kehle zuschnürte. Mein Bruder nickte sanft, streichelte meine Wangen und lächelte weiterhin glücklich.

»Ja ... er ist tot.« Sein süßliches Murmeln ließ mich Gänsehaut bekommen. Oder war es dieses taube Gefühl, was sich weiter ausbreitete? Ich kannte dieses Empfinden. Vor einer Woche ... im Bad der Villa. Mir wurde schwarz vor Augen, ich bekam Atemnot und dachte, ich müsste sterben.

Ja, sterben. So fühlte sich das an.

Meine Augen wurden wieder schwer, klappten ständig zu und ließen mich keine klare Sicht wahrnehmen. Kiyoshis Gesicht verschwamm immer mehr und ich hörte nur leises Rauschen.

»Hiro! Hiro, sag mir, was passiert!«, weinte er los und klappste auf meine Wangen. Immer wieder spürte ich seine Hände an meinem Hals, fühlend, ob ich noch einen Puls hatte.

»Ist es schon Zeit? Ist es jetzt soweit? Soll ich dich verwandeln?«, fragte er hektisch, sah sich um und versuchte eine Antwort auf seine Frage zu finden. Ich röchelte noch vor mich hin und öffnete ein letztes Mal die Augen für meinen Bruder.

Seine Augen waren wieder blau-lila. Seine Haare so weiß wie Schnee. Nichts war mehr von dem Tier zu sehen. Und die Sonne ... oh, die Sonne, sie ging langsam auf. Der Himmel wurde rosa und die kleinen Wölkchen wanderten wie Schäfchen an seinem Kopf vorbei. Tränen ließen seine Augen wie Edelsteine glitzern – und ich schmunzelte bei dem Gedanken, dass ich ihn vor einer Woche noch am liebsten den Bach runter geworfen hätte. Nein ... es waren schon fast zwei Wochen. Und es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Vielleicht war es auch eine; es war unsere eigene Ewigkeit.

»Hiro ... Hiro, ich beiße dich jetzt... dann musst du von mir trinken, hörst du?«

Ich hörte, aber ich verstand nicht mehr ganz, was er sagen wollte. Trinken ... wen? Oder was?

 

Weiße Haare kitzelten meine Nase und ließen mich abermals lächeln. Es war wie damals, als er mich zum ersten Mal biss. Ich war genauso wehrlos in seinen Armen wie jetzt.

 

Das Rauschen des Meeres wurde leiser, bis es vollends verstummte. Ich hörte mein eigenes Blut fließen.

 

Kiyoshi trank nicht viel, vielleicht ein paar Schlucke, löste sich sofort von mir und untersuchte meine schwindende Mimik.

 

Meine Augen fielen schließlich zu.

 

Alles, was ich noch hörte, waren Kiyoshis Worte: »Bleib bei mir!«

 

Und das wollte ich. Ja, wirklich, ich wollte bei ihm sein. Am Anfang wäre ich noch lieber gestorben, als ein Leben in ewiger Dunkelheit zu führen. Ohne Essen, ohne Trinken, ohne soziale Kontakte bis auf die anderen Blutsauger.

Aber für ihn ...

Für ihn würde ich über Leichen gehen.

Für ihn würde ich ein Leben in ewiger Dunkelheit verbringen.

Mich knechten lassen.

Mich meucheln lassen.

Nur für ihn würde ich alles stehen und liegen lassen. Wie oft hatte ich das nun bewiesen? Und trotzdem ... wurden wir getrennt.

Trotzdem wollte niemand, dass wir zusammen waren.

Doch für ihn ... würde ich auch die Welt umlegen ... nur, um mit ihm Leben zu können. Ein totes Leben.

 

Ich spürte Tropfen auf meinen Lippen. Sie schmeckten süß.

 

Schließlich küssten mich noch einmal diese wunderbaren Lippen auf den Mund, die ich immer herbei gesehnt hatte.

 

Dann wurde es dunkel.

 

Und es hörte auf.

 

Es hörte auf zu schlagen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Hiro ....«, hörte ich leises Wimmern. Ein zarter Körper lag auf meiner Brust und weinte in meine zerrissene und blutige Kleidung. »Hiro, nein ...«

Es war mein Bruder. Und er weinte auf mir, während ich noch immer wie ein toter Fisch am Strand auf dem Rücken lag. Der Himmel, den ich als erstes sah, war noch immer in einem leichten rosa getunkt. Es war wunderschön, dachte ich; doch genauso schnell spürte ich langsam ein leichtes Bitzeln auf meiner Haut. Die Sonne ging auf und ... ich war am Leben.

 

Und wie.

 

Die Farben sahen so leuchtend aus, es blendete mich fast. Blau, Grün, Gelb – wie aus dem Computer. Wie angestrahlt, so sehr stachen sie in mein Auge. Fast war es, als würde die Welt in dem leichten Sonnenlicht glitzern.

Der Geruch der Luft war umwerfend. Ich roch Brot, Fisch, See, Sand – ja, ich roch Sand. Zum ersten Mal in meinem Leben erkannte ich diese tausend Gerüche um mich herum. Es waren angenehme, aber auch eklige. Wie das bisschen Hundekot, was noch immer neben der Promenadenmauer lag; oder ein Fisch, der sich im Seetang verheddert hatte und am Ufer verrottete.

Das Meer rauschte etwas unangenehm in meinen Ohren. Trotzdem vernahm ich auch alles andere um mich herum. Der Wind, der in ein kleines Windrat pustete, welches an einem Geschäft lag und von einem Kind vergessen wurde. Wie die kleinen Büsche sich bewegten und aneinander raschelten. Wie Kiyoshi vor mir immer Luft holte, hickste und schniefte. Es war, als könne ich sogar sein Blut fließen hören. Denn ich hörte auch meins. Ganz deutlich, da floss Blut.

Aber es schlug kein Herz.

 

Ich wollte etwas sagen, öffnete den Mund und spürte, dass ich keinerlei Luft in meiner Lunge hatte. Oh, ja, richtig. Ich musste ja jetzt manuell atmen.

Also holte ich leise Luft und sprach mein erstes, zögerliches Wort.

 

»Kiyoshi ...«, flüsterte ich leise und streichelte mit ein wenig Kraftaufwand über seine Haare. »Kiyoshi ...«

Es dauert eine Weile, bis er aufblickte und mit großen Augen in mein Gesicht sah. Ich konnte nicht erkennen, was er empfand, ob es Freude, Glück oder Verwunderung war, als er in meine Augen blickte.

»Du hast es geschafft«, hauchte er mir entgegen und lächelte schließlich. »Du ... du bist ... «

Seine kalten Hände strichen über meine Wangen und streichelten meine Haut.

Es war weg – das spürte ich sofort. Dieses Kribbeln, wann immer er mich berührte. Stattdessen war es wie elektrisch aufgeladen; als würden sich die Härchen zu den Bewegungen aufstellen. Ich spürte seine Präsenz, seine direkte Anwesenheit. Es war wie eine Aura, viel stärker als vorher.

»Ich hab's ... geschafft?«, wiederholte ich und hob meine Mundwinkel. Noch immer blinzelte ich angestrengt gegen das Licht. »Es ist so hell ... Meine Augen tun weh.«

»Ja, klar«, kicherte mein Bruder, küsste meine Lippen und legte seine Stirn auf meine. »Du hast sie noch nie benutzt ... deine Augen ... natürlich sind sie noch viel zu sensibel.«

Noch nie benutzt? Hatte ich also neue Augen bekommen? Eine neue Gabe?

In der Tat fühlte ich mich .... gut. Ich fühlte mich recht fit, obwohl ich kaum einen Finger bewegen konnte. Meine Beine und Arme waren schwer und doch furchtbar leicht. Ein Sprung aus dem Liegen schien auf einmal gar nicht so abwegig; schwere Lasten tragen fühlte sich nicht mehr ansatzweise so anstrengend an.

»Fühlt sich ... gut an.« Als Kiyoshi mein zufriedenes Gesicht sah, nickte er ebenfalls zufrieden.

»Das sehe ich. Du siehst toll aus ... wirklich toll.«

Ich streckte meine andere Hand aus und umschlang Kiyoshis Wangen mit beiden Händen. Charmeur, dachte ich. Wahrscheinlich sehe ich furchtbar verdreckt und abgenutzt aus. Aber vielleicht war es auch meine neu gewonnene Aura, die mich schön erscheinen ließ. So wie alle Vampire wirkte ich nun auch auf meine Mitmenschen.

Mutter würde es sofort merken.

Mutter? Ich meinte natürlich Mom.

»Gehen wir?«, fragte ich leise und seufzte glücklich, dass wir es lebend aus der Sache gebracht hatten. Kiyoshi nickte sofort, drückte mir noch einen Kuss auf die Lippen und erhob sich ein Stück. Sein Lächeln ließ mein Herz gefühlt noch einmal schlagen; so ungewohnt, wie ich es jetzt beim Namen nennen musste. Ich war tot. Ich war ein Vampir. Ich sah die Welt nun mit anderen Augen und es war ein wundervolles Erlebnis. Nie hätte ich gedacht, dass dieses Leben so viel für mich bereithalten würde. Nie hätte ich es für möglich gehalten, mich so wohl in meiner Haut zu fühlen.

Vielleicht waren es auch die Endorphine, die wegen meines akuten Blutverlustes ausgeschüttet wurden und mich glücklich werden ließen. Oder einfach die Tatsache, dass wir nun endlich nach Hause gehen konnten. Zurück zu Mom und Dad. Zurück zum alten Leben.

Als Kiyoshi noch einen Moment auf mir liegen blieb und mich weiter beobachtete, streichelte ich erneut seine Wange und lächelte verliebt. Es war der perfekte Moment. Und er gehörte –

 

Es knallte. Es schallte, es piepste, es tat weh!

 

Kiyoshis Mimik erstarrte plötzlich, sah noch entsetzt in mein Gesicht, als ich den Durchschuss an seiner Stirn bemerkte.

»Nein!!«, schrie ich sofort los, packte Kiyoshis erschlaffenden Körper und drehte mich mit ihm auf die Seite. Weitere Schüsse folgten, trafen sowohl ihn, als auch mich. Es brannte regelrecht in meinem Körper – es waren definitiv UV-Geschütze, die schmerzhaft in unseren Körpern hingen blieben..

Ich beugte mich über Kiyoshi, als der Kugelhagel aufhörte, ignorierte die Schmerzen an meinem Körper und sah in das noch starrende Gesicht von meinem Bruder.

»Nein ... nein!«, wiederholte ich abermals. Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Unser Moment – es war unser Moment! Doch Kiyoshis Blick blieb starr. Aus der Schusswunde an seiner Stirn trat Blut aus. Er regte sich nicht. Sein Kopf war schwer wie Blei, ließ sich kaum auf Stellung halten. Natürlich atmete er nicht, doch nun ... wünschte ich, ich hätte ein Maß, an dem ich festmachen könnte, ob er wirklich ...

»Ihr ... zwei ...«, brummte es hinter mir. Sofort drehte ich mich um und erblickte Vincent, der seine Waffe schwach in der Hand hielt. Er röchelte, keuchte und schien wahnsinnige Schmerzen zu haben. Das Brett steckte noch immer in seiner Brust. Es schien sein Herz um ein Haar verfehlt zu haben. Oder Vincent war selber unsterblich.

Doch die Masse an Blut, die er spuckte, die nicht heilenden Wunden und das zerstörte Auge mit der zerstörten Nase ließen mich darauf schließen, dass er einfach nur ein hart gesottener Mensch war.

»Sterbt endlich ...«, keuchte er abermals, versuchte seine Waffe erneut mit den Kugeln zu laden, die uns ins Jenseits schicken sollten. »Ihr habt es verdient ...«

Ein letzter Blick zu meinem Bruder sorgte in mir regelrecht für einen Black Out.

 

Seine Augen verloren an Glanz, starrten einfach nur in den Himmel, während seine Lippen einige Millimeter auseinander standen.

Das konnte einfach nicht sein.

Er wurde in den Kopf geschossen.

Er war tot. Richtig tot.

Er rührte sich nicht. Und selbst wenn er noch einen Funken Leben in sich getragen hätte: Blutungen im Hirn würde er mit seinem Nahrungsmangel nicht so schnell wieder ausbügeln können. Auch die UV-Kugeln hatten ihn getroffen und steckten noch in seinen Beinen und Rücken. Auch mich hatten sie getroffen ...

Ich blickte an mir herunter, sah in die verschiedenen Einschüsse. Es brannte, ja, aber der Schmerz in meiner Brust brannte noch weitaus deutlicher. Nicht einmal diese Wunden konnten mich abhalten. Keine Wunde der Welt sollte mich abhalten.

Nichts sollte mich von meinem letzten Vorhaben abhalten. Vergeltung!

Ich schnaufte los, erhob mich mit einem Schwung und legte Kiyoshi sachte auf den Sandboden.

»Was willst du tun?«, raunte Vincent los und lachte, während er kniend im Sand saß und weiter zittrig seine Waffe lud. »Mich umbringen? Mach es ... aber du wirst keinen von euch retten können ... Weder ihn ... noch dich selbst.«

 

»... Ich hoffe, dass du in der Hölle elendig leiden wirst«, murrte ich bedrohlich, kam auf Vincent zu, der mehr oder weniger freiwillig die Waffe fallen ließ. Mit schnellen Schritten ging ich auf den blutenden Körper zu und packte ihn am Kragen. Er lachte, grinste breit und sah mich abtrünnig ab.

»Hoffentlich ... endet eure schmutzige Blutlinie endlich«, presste Vincent aus seinen Lippen, bevor ich ausholte und es beendete.

Meine Finger bohrten sich zwischen seine Rippen, durch den Brustkorb und schoben sich an seinem Herzen vorbei. Seine Mimik erstarrte ebenso schnell, wie die von Kiyoshi – doch hier konnte ich sicher gehen, dass er sterben würde.

Endlich!

Dieser Black Out war so übermannend, dass ich nicht wusste, was ich genau tat, aber ich tat es mit einer Menge Wohlgefallen. Noch in seinem Brustkorb wühlend, packte ich eine Herzkammer, riss sie mit Zugkraft aus dem Menschen heraus und ließ das Blut um mich spritzen; es spritzte in alle Seiten, es lief an mir herunter und bedeckte den weißen Sand. Vincents lebloser Körper fiel zurück auf den weichen Boden und regte sich nicht mehr.

 

Es war geschehen.

Mord.

Ich brauchte eine Minute, bis ich genau realisierte, was ich genau getan hatte.

Vincent war tot. Er war durch meine Hand gestorben; durch meinen Griff, der ihm sein jämmerliches Herz rausgerissen hatte.

Weil er meinen Bruder getötet hatte.

 

Als ich mich zitternd umdrehte, sah ich seinen leblosen Körper am Boden liegen. Wie sehr hatte ich mich gefreut – auf ein neues Leben, auf eine neue Chance. Eine Unendlichkeit mit ihm zu verbringen zu dürfen! Und jetzt?

Lag alles, woran ich jemals geglaubt hatte, tot im Sand, umgeben von Blut und Verderben.

 

Langsam trottete ich mit dem warmen Herz in der Hand zu Kiyoshi, hielt es über seine Lippen und presste das letzte bisschen Blut in seinen Rachen.

Doch nichts rührte sich. Die Flüssigkeit floss einfach nur an seinem Mundwinkel vorbei. Nur wenige Tropfen flossen seinen Rachen hinunter. Der starre Blick noch immer gen Himmel gerichtet.

Da kamen die Gefühle zurück. Die Wut, die mich taub gemacht hatte, verschwand im Nu und bettete sich in Trauer.

Ich presste das komplette Herz in meiner Hand aus, sodass es nur noch ein matschiger Haufen Gewebe war, was sich zwischen meinen Fingern befand, doch nichts half. Kiyoshi regte sich nicht, schluckte nicht, tat nichts.

Meine Lippen begannen zu zittern. Ob ich es bewusst tat, weil es eine Art war zu zeigen, dass ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, oder ob es von den Einschüssen kam, durch die die UV-Flüssigkeiten durch meinen Körper floss ... was auch immer es war, ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr. Und ich begann laut zu schluchzen.

Ohne Kiyoshi? Würde es doch keinen Sinn machen.

 

Vorsichtig legte ich Vincents Herz weg, wischte Kiyoshi das restliche Blut vom Mundwinkel und fuhr mit der Handfläche sanft über sein Gesicht, um seine Augen zu schließen, die noch immer starr in den Himmel geblickt hatten. Ich konnte nur hoffen, dass er dort war – im Himmel.

Als ich wieder aufschluchzte, die ersten Tränen in Kiyoshis Gesicht fielen sah, blickte ich auf und sah den rosa Himmel. Er verfärbte sich fast dunkel-lila. Blau-lila ... wie seine Augen.

 

Wohin, dachte ich?

Die Sonne ging auf und die ersten Strahlen brannten auf meiner Haut.

 

Ich sah mich um, betrachtete das Blutbad um uns herum, die zerstörten Strandkörbe und kaputten Schirme. Vincent hatte ganze Magazine verschossen, nur um uns einzelne Wunde zuzufügen. Sicherlich wurde er gegen Ende hin auch nervös und wusste nicht mehr genau, was er tun sollte; also schoss er wild um sich.

Doch wen interessierte das jetzt noch?

Mein Bruder, meine Liebe, mein Leben… alles war tot.

Vorsichtig griff ich unter Kiyoshis Körper, hievte ihn hoch und trug ihn ein paar Meter von diesem Schlachtfeld weg. Er war leicht, fast zu leicht, dachte ich und presste ihn dicht an mich. Sein Duft, der so typisch für ihn war, blieb noch an ihm haften. Wieso?

Wieso?

Wieso er?

Abermals bildeten sich Tränen in meinen Augen. Wo ich so oft so kurz vor der Schwelle des Todes stand, musste nun er diese Tür betreten? Wieso? Wieso nicht ich? War es nicht offensichtlich, dass ich derjenige war, der es nicht lebend aus dieser Sache bringen würde? War es nicht meine Aufgabe gewesen, meinen geliebten Bruder hier raus zu holen? Ihn vor Vincent zu retten?

Ich hatte jämmerlich versagt. Und diese Niederlage tat weh; ja, sie brannte regelrecht in meiner Brust. Denn sie bedeutete, dass Kiyoshi tot war und nicht mehr zurück käme.

 

Während ich so den Strand entlang trottete mit Kiyoshi auf meinen Armen, blieb ich stehen und blickte auf das offene Meer. Der Horizont verfärbte sich gelb und kündigte die Sonne an.

Ich blinzelte mehrmals vor mich hin, ließ die Tränen stumm aus meinen Augen laufen und seufzte schließlich, als ich mich wieder auf den Sand fallen ließ.

»So hast du dir das bestimmt nicht vorgestellt, oder?«, wisperte ich vor mich hin und streichelte über die kalten Wangen meines Bruders. »Ich dachte ... ich würde mich nicht beherrschen können, weinen wie ein Schlosshund, würde ich dich verlieren ... Und jetzt? Jetzt sitze ich hier mit meinem neuen Leben in der einen Hand und mit nichts anderem in der anderen. Ich spüre nichts, Kiyoshi ... Ich ... spüre einfach nichts ... ohne dich.«

Mein Herz fühlte sich tot an. Nicht physisch. Psychisch.

Jetzt bekam ich eine Ahnung, wie sich Kiyoshi all die Jahre ohne mich gefühlt haben muss. Verlassen, einsam und leer.

Vorsichtig platzierte ich mich auf den kalten Sand, setzte mich in den Schneidersitz und holte Kiyoshis Körper in die Mitte meiner Beine. Sachte lag er in meinen Armen, ließ leblos Kopf und Arme hängen. Erst, als ich seinen Nacken stützte, konnte ich wieder in sein ruhendes Gesicht sehen. Leichte Blessuren ließen seinen sonst so wunderschönen Teint verkratzt und angeschlagen aussehen. Die Augenringe, die sonst moderat unter seinen strahlenden Augen hingen, zeigten deutliche Schwärze und unterstrichen die Tatsache, dass er nicht mehr unter den Lebenden wandelte.

»Bist du noch bei mir?«, wiederholte ich Kiyoshis Worte, die so oft gefallen waren. »Wartest du auf mich?«

Immer wieder schluchzte ich kurz auf, strich abermals über seine Wangen, als könnte er jeden Moment seine Augen aufschlagen und in meine blicken.

 

Ich entschuldigte mich bei Mom. Bei Dad. Bei Jiro und bei Alexander. Alle warteten sicher auf uns. Dass wir zurückkehren würden, mit einem Lächeln auf den Lippen, und die ganze Sache mit einer Handbewegung abtun würden. Wäre ja alles nicht so wild gewesen. Wir sind ja alle heil aus der Sache gekommen.

Ja ... heil aus der Sache rauskommen.

 

Die Sonne war nun endlich am Horizont zu sehen. Es fing an zu brennen, meine Haut färbte sich rot. Auch Kiyoshis blasse Haut wurde schlagartig krustig.

Zugegeben: ich hatte Angst. Wie es werden würde. Ich hatte kein Angst vor dem Tod, sondern vor dem Sterben. Aber diese Art war geradezu perfekt meinen Bruder mit mir zu nehmen. Sicher zu gehen, dass wir uns auch wirklich wieder im Jenseits treffen würden.

Feste umschlang ich seinen Körper und ließ ein letztes Mal meinen Blick schweifen.

 

Ja.

Ängste in meinem Leben waren wie Sand am Meer: Unzählig mal zu finden. Und das Glück verbarrikadierte sich in Form von Muscheln in diesen Ängsten. Ein Strand des Leidens, während eines wunderbaren, roten Sonnenaufgangs. So stellte ich mir den schönsten Tod vor. Mit meinem Bruder zusammen, der bereits am Tor des Jenseits mit diesem bezaubernden Lächeln auf mich wartete.

 

Ja, dachte ich abermals, wischte die Tränen von meinen Augen und grinste ein wenig, als sowohl Kiyoshis, als auch meine Haut anfingen zu kokeln. Es brannte, es tat weh, mein ganzer Körper stand kurz vor dem Zusammenbruch. Nur Kiyoshi vor mir liegend ließ mich standhaft bleiben. Auch in ihm breitete sich die Flüssigkeit aus; einzelne rote Adern stachen hervor und ließen ihn toter als tot erscheinen.

 

Ich presste meine Lippen zum letzten Mal auf seine. Sie waren trocken und nicht mal ansatzweise so schön zu küssen, wie sie es mal waren. Sowieso wirkte Kiyoshi nicht mehr so anmutig und perfekt, wie er es mal war. Das Einschussloch an seiner Stirn ließ mich schaudern. Ich legte eine Handfläche auf seine Stirn, sodass mir wenigstens der letzte Anblick an sein schönes Gesicht blieb.

»Ich liebe dich«, flüsterte ich, wenn auch sehr gequält. Die Sonne ging weiter auf, breitete sich am Himmel aus und ließ schmerzende Strahlen auf uns herabprasseln.

 

Unsere Haut fing an zu brennen. Sie brannte, sie rauchte, sie kokelte, sie wurde schwarz. Es wurde unerträglich. Ich schrie.

 

So laut wie noch nie.

Kiyoshi in meinen Armen hingegen blieb weiterhin stumm und ließ die Prozedur über sich ergehen.

Noch ein letztes Mal blickte ich in sein Gesicht, dann in die Sonne, die mich erst weiß, dann schwarz sehen ließ.

 

Ein zweiter Tod. So schnell.

So schmerzvoll.

Wie die letzten Tage.

Wie alles bisher.

 

Nur Kiyoshi war die Heilung. Ja, er war mein Leben. Er war alles, was ich besaß und ich wollte ihn wieder besitzen.

Egal wohin, ich würde folgen. Er würde das nicht wollen; ich würde das auch niemals von ihm verlangen – trotzdem war ich mir sicher, er würde dasselbe tun.

Was würde mir ein Leben ohne ihn bringen? Nichts, außer Trauer und Demut.

Da konnte ich ihm gleich folgen. In den Tod.

 

Zwillinge.

Bis zum Schluss.

Für immer zusammen.

 

BONUS

»Sitzen wir zusammen?«, fragte mein Bruder und hielt die Flugtickets in seiner Hand.

»Ja, klar. Guck hier«, sagte ich und zeigte auf die Plätze, während ich Kiyoshis schmale Figur fest in meinem Arm hielt. Mom war bereits wieder gefahren, weil sie zu geizig für das Parkticket gewesen war. Sowieso hatte ich im Gefühl, dass wir uns recht schnell wieder sehen würde. Der gestrige Anruf sprach Bände; besonders als sie am Morgen noch anfing, das bonbonfarbene Sofa abzumessen. Das würde also auf jeden Fall mit ihr kommen.

Ein Seufzen entfuhr dem Mann neben uns. Als ich mich umdrehte, sah ich in die eisblauen Augen, die nervös um sich blickten. »Cool, dass du auch mit uns fliegst«, murmelte ich und konnte mir ein sanftes Schmunzeln nicht verkneifen.

Alexander stand neben uns und nickte vorsichtig. Er lächelte ein nervöses, unglückliches Lächeln. »Ja ... ich dachte, ich fliege direkt mit euch. Dann muss Jiro nicht zwei Mal zum Flughafen humpeln.«

»Wurde er heute entlassen?«, fragte Kiyoshi und hob beide Augenbrauen. »Ich dachte erst in ein paar Tagen?«

Alexander räusperte sich kurz. »Sagen wir ... er wird nicht ganz offiziell hier sein ...«

In dem Moment kam er auch schon mit Krücken auf uns zugehumpelt. Seine Mom stand mit Autoschlüssel hinter ihm und stützte ihn etwas, hielt aber Abstand zur Gruppe und blieb letztendlich an einem Check-In Schalter stehen, um auf ihrem Handy zu tippen.

Jiros Bein war noch immer bis zum Knie verschient, sodass er Probleme hatte, sich frei zu bewegen. Selbst die Krücken schienen nicht viel zu bringen, da er stark humpelte und nur langsam auf uns zukam.

»Leute!«, begrüßte er uns und seufzte schließlich angestrengt, als er bei uns ankam und gegen Alexander lehnte, der ihn sofort stützte. »So anstrengend, das glaubt ihr nicht!« Er lachte, wischte sich gespielt über die Stirn und hakte sich bei Alexander ein.

»Schön, dass du noch herkommen konntest!« Ich lächelte aufrichtig zu meinem Kumpel, der trotz unserer Anwesenheit mit Sicherheit nur wegen einem einzigen Mann hierher gekommen war. Denn bereits gestern hatten Kiyoshi und ich uns von Jiro verabschiedet. Ich hätte niemals von ihm erwartet, dass er illegal aus dem Krankenhaus flieht, um uns zu verabschieden.

»Jetzt geht's los, hm?«, fragte er vorsichtig und sah etwas angespannt in die Runde. »Oh man, Hero... jetzt gehst du auch noch.«

»Ich komm dich ganz oft besuchen«, beschwichtigte ich ihn und ging noch einmal auf ihn zu. Vorsichtig drückte ich ihn an mich und strich über seinen Rücken. Er legte einen Arm um mich und seufzte.

»Schon ... aber das ist nicht dasselbe, wie dich jeden Tag um mich zu haben. Man, die Klasse wird echt lahm ohne dich werden.«

»Die Schule wirst du schon rocken. Ist doch nur noch ein Jahr. Danach kannst du dir ja überlegen, ob du was länger zu uns kommen willst«, grinste ich breit und ließ Jiro wieder los. Der grinste ebenfalls und nickte.

»Ja ... wenn ich den Abschluss in der Tasche habe ... komme ich gerne mal für was länger rum.«

»Würde ja auch nicht nur mich freuen.« Mein Blick fiel zu Alexander, der nur stumm neben Jiro stand und seinen anderen Arm stützte. Mein Kumpel tat so, als hätte er das nicht gehört und humpelte zu Kiyoshi.

»Mach's gut, Alter«, sagte er und drückte meinen Bruder an sich. Der ließ sich ohne weiteres umarmen und grinste glücklich.

»Bis bald, Jiro. Pass auf dich auf!«

Selbst die beiden hatten Freundschaft füreinander gefunden. Vampire und Menschen ... waren eben doch kompatibel zueinander. Ich sah noch, wie Jiro meinem Bruder heimlich eine schwarze Schachtel zusteckte und verdrehte die Augen. Ja, die Freundschaft war in der Tat enger geworden, wenn sie schon heimlich Zigaretten austauschten.

Ehe sich Jiro von Kiyoshi lösen wollte, räusperte sich Alexander und schob seine Hände in die Hosentasche. Jetzt würden sie sich für länger verabschieden und man merkte, dass es beiden recht unangenehm war, eine Szene vor unseren Augen zu veranstalten.

Als Jiro wieder frei auf seiner Schiene stand und sich zu Alexander umdrehte, lächelte er zögerlich. »Also dann ...«

»Ja, mach's gut. Ich melde mich, wenn wir angekommen sind«, verabschiedete sich Alexander recht neutral und nickte ein wenig. Auch Jiro machte keine Anstalten auf Alexander zuzugehen und ihn in den Arm zu nehmen. Stattdessen standen sie sich gegenüber und schwiegen. Ja, nicht einmal Augenkontakt pflegten sie.

»Oh mein Gott«, raunte ich genervt auf, verdrehte die Augen und nahm Kiyoshi an die Hand. »Wir drehen uns auch um oder gehen ein paar Meter weg, okay? Aber bitte, tut uns den Gefallen und verabschiedet euch richtig!«

Mit diesen Worten zog ich Kiyoshi mit mir, der nur über das angespannte Verhältnis zwischen den beiden lachte. Er winkte ihnen noch süßlich zu, während er mit mir zum Sicherheitsschalter ging, vor dem wir stehen blieben.

»Wieso schämen die sich so?«, fragte mein Bruder recht amüsiert und zuckte mit den Schultern. »Ist doch süß, dass sie sich verliebt haben.«

»Jiro gibt so etwas nicht zu. Bei Frauen nicht und ich denke bei einem Mann schon drei Mal nicht.« Da blinzelte ich über meine Schulter und beobachtete die beiden Männer, die noch immer peinlich berührt voreinander standen. »Und auch für Alexander scheint das alles Neuland zu sein.«

 

Jiro stand noch immer regungslos vor Alexander, schluckte einen Kloß runter und kratzte sich am Nacken. »Wir können dann ... ja heute Abend mal skypen. Ich hab dir ja gezeigt, wie man das runterlädt.«

»Ja«, antwortete Alexander leise und lächelte sanft. »Das machen wir. Komm nachher wieder gut ins Krankenhaus und ... pass auf dich auf.«

»Jetzt sind ja keine bösen Vampirjäger mehr hinter mir her«, lachte Jiro nervös auf und sah in Alexanders Augen. Die eisblaue Iris starrte ausdrucksstark in seine. Es war, als würde der Flughafen auf einmal leer werden und nur sie würden beieinander sein.

»Versprichst du mir was?«, fragte Alexander zögerlich. Jiro horchte angespannt auf und nickte sofort. »Lässt du ... das Augenbrauenpiercing bitte draußen? Wirklich, das ... das geht einfach gar nicht.«

Für einen Moment hielt der Mensch inne, sah noch eine Weile in die blauen Augen, als würde er versuchen zu erkennen, ob das ein Witz oder sein Ernst war. Schließlich lachte er beherzt auf und nickte stark. »Ich werde... darüber nachdenken.«

»Bitte, das ist wirklich keine schöne Stelle, um -«

Alexander verstummte sofort, als er die Arme von seinem Gegenüber im Nacken spürte. Sanft wurde er von ihnen eingeschlossen und an den zarten Körper gedrückt. Er konnte nicht anders, als die innige Umarmung zu erwidern und die Nähe zu Jiro zu genießen. Liebevoll strich er mit beiden Händen über seinen Rücken. Man spürte an einigen Stellen die Bandagen und Pflaster. Auch an seinem Hals roch er die noch frische Wunde und erinnerte sich sofort an das Gefühl, als er seine Zähne in den weichen Hals bohrte. Es war ein wunderschönes Gefühl gewesen, Jiro zu schmecken und ihm so nah sein zu dürfen.

Die Umarmung hielt eine gefühlte Ewigkeit an, bis Jiro die Augen schloss. Doch genau in diesem Moment endete die sanfte Berührung.

Langsam lösten sie sich wieder und Alexander seufzte. Der Moment war so einfühlsam und geborgen gewesen, dass der Vampir all seinen Mut zusammen nahm und das aussprach, was er schon die ganze Zeit dachte:

»Du wirst mir sehr fehlen ...«

Jiros Lächeln versiegte. Überrascht sah er in das traurige Gesicht von seinem Gegenüber, dessen Blick auf den Boden gerichtet war. Wahrscheinlich, so dachte Jiro, wurde er wieder blutrot im Gesicht. Wann immer Alexander ehrlich mit ihm umging, kamen so verrückte Sachen aus seinem Mund. Doch Jiro schätzte diese Ehrlichkeit, denn es waren die seltenen Momente, in denen er in Alexanders Kopf schauen konnte.

Oder vielmehr in sein Herz.

Für einen Moment rang er mit sich, ob er den ersten Schritt tun sollte. Ob es in Ordnung wäre, noch ein Stückchen weiter zu gehen und es einfach mal auszuprobieren; denn alles schrie doch danach!

Aber je näher er Alexander kam, desto mehr wurde ihm bewusst, dass es keine gute Idee war, kurz vor der Trennung zueinander zu finden. Es würde nur unnötige Wunden aufreißen und mehr Fragen in den Raum werfen, als beantworten.

Jiro lehnte schlussendlich mit seiner Stirn an Alexanders und versank für einen Moment verliebt in der innigen Berührung.

»Vielleicht ... schaffe ich es, Ende der Ferien euch mal besuchen zu kommen«, flüsterte Jiro leise und streichelte über Alexanders Arme, die noch immer kräftig um seine Hüften geschlungen waren.

»Das wäre schön«, antwortete Alexander genauso leise, um die beruhigende Situation nicht zu stören.

»Ich such mir einen Job, dann krieg ich das Geld für den Flug bestimmt schnell zusammen.«

»Du weißt, dass Geld keine Rolle spielt.«

»Du bist nicht mein Sugar Daddy«, kicherte Jiro leise auf und musterte Alexanders Gesicht. Auch er fing an zu schmunzeln. »Vielleicht wäre ich es gerne.«

Mit diesen wieder zweideutigen Worten, verstummte Jiro und spüte sein Gesicht glühen. Er wollte das also? Für Jiro... da sein? Für ihn Geld lassen? Ihn…?

Alexander schmunzelte über Jiros verwirrtes Gesicht, ließ ihn nach einigen Sekunden los, gab ihm seine Krücken wieder und stellte sicher, dass er alleine stehen konnte. Vorsichtig  und fast zögerlich küsste er seine Wange.

Es bitzelte an der Stelle, wo seine kalten Lippen die warme Haut berührten.

 

»Bis bald, Jiro.«

Schließlich nahm er sein Handgepäck und ging in die Richtung der Zwillinge, die noch neugierig am Check-In Schalter standen. Er winkte noch einmal recht freundlich und rang sich ein Lächeln ab, trotzdem ihm zum Weinen zumute war, als er den Menschen verloren und zerbrechlich in der Menge stehen sah.

»Bis bald«, flüsterte der zurückgelassene Mann und winkte mit einem warmen Gefühl im Herzen zurück.

Alexander hatte es getan.

Er hatte seinen Namen gesagt.

Umzug

»Bist du dir sicher?«

»Ja ...«

»Wirklich?«

»Ja-ha!«, stöhnte Jiro auf und verdrehte die Augen. Er stemmte sich etwas vom Bett ab und rutschte von der erhöh-ten Bettkante in den Rollstuhl, den Alexander für ihn bereit-hielt.

»Nicht, dass du mir umkippst«, mahnte er seinen kranken Freund und nahm die Infusion vom Haken, um sie an den Rollstuhl zu klemmen.

»Ich sag vorher Bescheid«, seufzte Angesprochener und rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Ich will einfach mal wie-der raus ... Die eine Woche Krankenhaus hat mir gereicht.«

»Du hast viel Blut verloren ... und hast viele Wunden. Die können dich nicht einfach so wieder rausschicken. Außerdem ist dein Bein verstaucht.« Alexander öffnete die Tür des Zim-mers und schob Jiro vorsichtig auf den Gang, der bereits ge-dämmtes Licht zeigte. Es war früh am Abend, doch die Sonne war bereits untergegangen; so konnten sie entspannt in die äußere Welt gehen.

»Wessen Schuld wird das mit dem Blut wohl gewesen sein, hm?«, platzte es aus Jiro raus, der sofort die Arme verschränk-te.

»Ja, ja. Ich hab mich doch entschuldigt.«

Alexander schmunzelte leise vor sich hin, während er Jiro in den Aufzug schob und mit ihm in die untersten Stockwerke fuhr.
 

Vor einer Woche wurden sie von der Polizei am Strand ge-funden und sofort ins Krankenhaus gebracht. Alexander hatte viel von Jiros Blut getrunken und genau das hatte ihm das Le-ben gerettet. Die UV-Flüssigkeit hatte einige seiner Adern verödet und somit eine weitere Ausbreitung verhindert. Der Bauchraum wurde dann noch in der Intensivstation genäht. Als sie ihm Blut abnehmen wollten, wehrte er sich und ver-schwand schließlich spurlos aus dem Krankenhaus, während er Jiro noch da ließ. Der regenerierte sich zu seinem Leidwe-sen nicht so schnell wie Alexander. Dieser musste nur ein paar Liter Blut trinken, um seine Wunden zu schließen.

Jiro hatte einige Quetschungen erlitten, viele Schnitte und blaue Flecken. Ein Schienenbein schien von einem Sturz ver-staucht gewesen zu sein. Vom Blutverlust mal ganz abgesehen. Sie nähten ihm alle Wunden ohne zu Fragen zu, als sei es das normalste der Welt, dass jemand mit zwei zahngroßen Lö-chern am Hals eingewiesen wurde.

Die Polizei verhörte ihn am nächsten Tag über die vergan-gene Zeit. Jiro schilderte alles so genau er konnte, erklärte, worum es ging – natürlich ohne Vampire zu erwähnen. Dass der Mörder von der Party auch ihr Verfolger war und er mit seinen Freunden gezwungen war, gegen das Gesetz zu versto-ßen. Niemand wollte dabei jemandem schaden – nur sich sel-ber retten. Wie von Zauberhand, als hätte jemand im Hinter-grund ein paar Fäden gezogen, wurde die Anklage fallen gelas-sen, sodass Jiro und Alexander aus dem Spiel waren.

Natürlich unterrichtete Jiro auch seine Mutter so weit wie nötig über die Geschehnisse. Sie ließ sich zwischendurch mal blicken und war heilfroh, dass es ihrem Sohn soweit gut ging.

Jiro bestand darauf, Alexander vorzustellen, sodass die bei-den ebenfalls einander kennen lernten. Der sonst so großkot-zige junge Mann wurde auf einmal schüchtern und zurückhal-tend, sagte nichts und stand regelrecht wortlos neben Jiros Bett, während die Mutter nicht mehr aus dem Redefluss he-rauskam, was für ein toller Mann Alexander sei und Jiro end-lich mal einen anständigen Freund gefunden hätte. Natürlich schmeichelte das dem Vampir, wusste trotzdem genau, dass es auch mit seiner besonderen Aura zu tun hatte, dass Jiros Mut-ter ihn so toll fand.

Alexander kehrte zu seiner Tante zurück und unterrichtete sie, was passiert war. Sie hatte großes Verständnis und schwor, seinen Eltern nichts von den Erlebnissen zu erzählen; soweit sie die Medien nicht schon genug darüber aufgeklärt hätten. Stattdessen unterstützte sie ihn, so gut sie konnte, in dem sie ihm weiterhin die Möglichkeit bot, bei ihr zu wohnen. Zumin-dest so lange, bis Jiro wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde und Alexander sicher gehen konnte, dass er wieder fit war.

»Wie geht es deiner Tante?«, fragte Jiro leise, als er von sei-nem Freund aus der Klinik gefahren wurde. Die Laternen im kleinen Park vor dem Gebäude leuchteten sanft auf die Straße, sodass selbst Jiro gut sehen konnte, wohin es ging.

»Gut, danke. Sie wünscht dir auch weiterhin gute Besse-rung«, antwortete Alexander ruhig und lächelte vor sich hin. »Habe ihr gesagt, dass du schon wieder frech zu mir bist. Da hat sie gelacht und gemeint, du wärst auf dem besten Weg der Besserung.«

»Hey!«, rief der Mensch sofort aufgebracht und drehte sich in seinem Sitz um. »Das hast du hoffentlich nicht gesagt! Was soll sie denn von mir denken?!«

»Genau das Richtige?« Alexander lachte laut los und zeigte seine perfekten Zähne. Auch sein legeres Langarmshirt, wel-ches mit einer eng sitzenden Jeans zusammen einfach nur per-fekt wirkte, ließ jede seiner Muskeln herausstechen und ihn makellos wirken. Jiros Blicke waren vielleicht etwas in Neid getunkt, je länger er auf den groß gewachsenen jungen Mann starrte. Wie gern hätte er auch so schnell wieder sein normales Aussehen zurückerlangt. Wie gerne wäre auch er so stark ge-wesen. So wie sein Freund.

Als sie an einer kleinen Bank ankamen, hielt Alexander den Rollstuhl an, stellte ihn zu sich und setzte sich auf die Bank. Jiro blieb im Rollstuhl sitzen und lächelte Alexander an, der liebevoll seine Hand streichelte.

»Danke ...«, murmelte Jiro schließlich leise, sah auf die blasse Haut und legte eine Hand auf Alexanders.

»Ich habe dir doch schon gesagt, dass du dich nicht mehr bedanken sollst ... für -«, begann Angesprochener, wurde je-doch von Jiro unterbrochen, der sanft seine Fingerkuppen auf seine Lippen legte.

»Danke für ... deine Besuche. Dass du hier bei mir warst. Für das andere natürlich auch, aber ...«, lachte er dann leicht ner-vös auf, »... da haben wir uns ja wirklich auf ein Ende der Dankbarkeit geeinigt.«

»Ich bin kein Held ... Es passt alles so, wie es ist.« Alexander schmunzelte, umschloss Jiros Hand und küsste seine Finger-kuppen. Der zog diese sofort weg und räusperte sich unange-nehm berührt. Er wurde sogar rot und sah zur Seite. Alexan-der tat diese seltsamen Dinge seitdem sie im Krankenhaus wa-ren. Ob Jiro das alles richtig verstand?

Er lag eine Woche flach, konnte sich für einige Tage kaum bewegen und sehnte Alexanders Besuche regelrecht herbei. Jeden Abend kam er heimlich in das Krankenhaus geschlichen und brachte seinem Freund Süßigkeiten oder andere leckere Dinge, die er mochte, damit er die Stunden nicht alleine verbringen musste. Jiro war ihm so dankbar für all die Klei-nigkeiten, die er für ihn tat. Und hier und da ... küsste Aelxan-der ihn auf die Hand. Es war eine seltsame Geste, selbst für Jiro, der schon viel gesehen und miterlebt hatte. Eine Geste, die er nicht einschätzen konnte, ob sie ernst oder einfach nur liebevoll gemeint war.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Alexander eine weile lang sein Gesicht musterte. Es war fast ein beängstigen-des Starren, da er nicht aufhörte, selbst als Jiro seinen Blick erwiderte und nervös lächelte. Seit dem Biss und seitdem Jiro nun eindeutig bewusst geworden war, dass Alexander ein ech-ter Vampir war, fühlte er sich regelmäßig unwohl. Nein, es war kein unangenehmes Gefühl – es war ein Gefühl der Unsicher-heit. Er konnte Alexander nicht mehr einschätzen, egal, was er tat. Ein leichtes beängstigendes Gefühl schwang einfach in jeder seiner Handlungen mit. Trotzdem suchte er seine Nähe und ließ den Vampir tun und lassen, was er wollte.

»Was ist?«, fragte Jiro vorsichtig, als das Starren immer noch anhielt.

»Ich«, begann der schwarzhaarige und strich fast verloren über die Wangen seines Gegenüber, »finde dein Gesicht wirk-lich ästhetisch; so ohne das ganze Metall.«

Jiro wurde schlagartig rot und entzog sich der liebevollen Berührung. Meinte Alexander das ernst?

»Die Piercings werden nach den letzten Untersuchungen wieder rein gemacht! Darauf kannst du Gift nehmen!«, pruste-te der Punk raus, beachtete nicht weiter den ersten Teil von Alexanders Worten und strich sich verloren über seine Lippen. Ohne seine Piercings fühlte er sich leer, fast ein wenig nackig. Dass Alexander genau das schätzte, machte ihn nervös. Seit-dem die beiden mehr oder weniger alleine unterwegs waren, schien die Beziehung sich zu intensivieren und Alexander sag-te ständig seltsame Dinge. Jedenfalls war sich Jiro bewusst, dass es nicht normal für ihn war, Herzklopfen zu bekommen, wenn Alexanders Besuch anstand. Ganz im Gegenteil: Es machte ihn fast verrückt, wann immer er an den Vampir dach-te. Wann immer seine Gedanken um ihn kreisten, sehnte er sich nach seiner Anwesenheit. Es war das unsichere, sichere Gefühl, was er ihm gab; und was er mittlerweile brauchte.

»Weißt du schon, wann du entlassen wirst?«, fragte Alexan-der leise und streichelte wieder über Jiros Hand.

»Die Schwester meinte in ein paar Tagen. Vielleicht in 4 oder 5. Wenn sie sicher gehen können, dass meine Blutwerte wieder in Ordnung sind und mein Bein abgeschient werden kann.«

Jiro sprach die Worte aus, als wäre nichts dabei, endlich ent-lassen zu werden; er freut sich natürlich auf die wiedererlangte Freiheit und fieberte regelrecht auf diesen Tag hin.

Doch zugleich füllte sich sein Gemüt mit Wehmut. Der Tag seiner Entlassung wäre auch der Tag, an dem Alexander wie-der zurückreisen würde. Das hatte er bereits angekündigt.

»Fährst du dann ...?«, murmelte Jiro leise und sah unsicher in die eisblauen Augen, die mehrmals blinzelten.

»Ja, doch. Meine Eltern machen sich schon Sorgen, dass ich mich eine Woche nicht gemeldet und jetzt wie aus dem Nichts meine Reise um weitere zwei Wochen verlängert habe. Außer-dem geht die Schule wieder los ...« Alexander kichert kurz auf. »Auch wenn das eher ein Grund wäre, noch weiter hier zu bleiben.«

Jiro lachte für einen kurzen Moment mit, beobachtete dabei Alexanders perfektes Lächeln. Schließlich verstummte er und presste die Lippen aufeinander.

»Kommst du denn dann irgendwann... wieder?«

Und als wäre er selber über die Frage erschrocken, zog er seine Hände von Alexander weg, schnaubte aus und ver-schränkte die Arme, um eine abwehrende Haltung zu sugge-rieren. »Ich meine... nur, damit ich dir endlich mal wieder eine reinhauen kann. Du weißt schon, unser Duell von vor dem Club ist noch lange nicht beendet! Ich ... bin nur kurz ange-schlagen... aber wenn's mir wieder besser geht – ja, dann!«

Alexander lächelte nur und nickte. »Selbstverständlich. Das Duell muss doch ausgetragen werden.«

Es war das erste Mal, dass er einen Menschen gerne immer um sich herum gehabt hätte. Sei es zum streiten oder zum lieb haben. Vincent hatte Jiro als sein Haustier beschimpft und schon öfter hatte sich Alexander bei dem Gedanken erwischt, dass er es wirklich gut fände, wenn dem wirklich so sei. Jiro einfach mitzunehmen, zu sich, in seine große Wohnung am Stadtrand, die ihm alleine zu einsam erschien. Der Mensch würde schon dafür sorgen, dass es nicht langweilig werden würde. Aber ihn aus reinem Vergnügen mitzunehmen, er-schien ihm nicht richtig. Er wollte sich ändern; er wollte Men-schen als echte Wesen sehen – nicht nur als Spielzeug. Jiro hatte ebenfalls ein Leben, er ging zu Schule und hatte Freunde. Nichts von dem konnte Alexander ersetzen. Es blieb für ihn also utopisch, den Menschen mitzunehmen. Von seiner sehr wahrscheinlich generellen Abneigung in den Norden zu ziehen mal ganz abgesehen.

»... gut«, war alles, was Jiro noch über seine Lippen brachte, um die kurze Stille zu unterbrechen. Als noch weitere Sekun-den verstrichen, in denen kein Wort fiel, musste er grinsen. »Das fühlt sich irgendwie jetzt schon nach Abschied an.«

»Ja.« Alexander wusste selber nicht so ganz, wie er mit der Situation umgehen sollte. Was sollte er sagen? Tun? Vorschla-gen?

Nach der Aufregung der vergangenen Tage war er um ein wenig Ruhe bemüht. Oft kam er einfach nur zu Jiro, sie aßen zusammen – obwohl Alexander daneben saß – und sahen et-was fern. Sie redeten über belanglose Dinge, vermieden Stress-themen wie Vincent oder Vampire generell und genossen ein-fach die Zweisamkeit. Die Einsamkeit zu zweit.

»Hast du 'ne Kippe?«, fragte Jiro dann wie aus dem Nichts und holte Alexander wieder aus seinen Gedanken. Der zuckte etwas überrascht zusammen, nickte sofort und holte eine schwarze Schachtel raus.

»Oh, du hast Djarum Black gekauft? Rauchst du die jetzt auch?«, fragte der Mensch erneut und bewunderte die dunkle Schachtel mit den schwarzen Zigaretten. Doch Alexander hielt kurz inne.

»Ich habe sie für dich gekauft. Aber jetzt, wo wir so über das Rauchen sprechen – du solltest damit aufhören.«

»Wie bitte?«

»Du sollst damit aufhören. Du kannst davon sterben.«

»Das ist ja wohl ein schlechter Scherz!«, prustete Jiro los und lachte angeschlagen los, »Aber du darfst rauchen, ja? Vergiss es! Ich lass mir das bisschen Freude nicht nehmen!« Mit einer Handbewegung fuhr Jiro über Alexanders Arm und griff sich die Zigarettenbox, die noch in seiner Hand lag. Eine Geste, die der Vampir einfach mal geschehen ließ.

»Mich bringt das Rauchen nicht um. Dich schon.«

»Ach ja? Hm«, brummte Jiro, steckte sich eine Zigarette an und hielt seine andere Hand fordernd auf. Alexander zögerte für einen Moment, nahm sich ebenfalls eine Zigarette, kramte das Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete Jiros Zigaret-te ohne zu Fragen einfach an. Die offene Handfläche zog sich wieder zurück, nahm den Glimmstängel und führte ihn aber-mals zu den feuchten Lippen. Jiro rauchte genüsslich aus und seufzte sogar, als ihn das Nikotinhigh einholte. Viel zu lange war die letzte Zigarette her. Im Krankenhaus sahen sie es nicht gerne, wenn er am Fenster rauchte. Und mit dem Auf-stehen hatte er so seine Probleme.

»Du solltest vor allen Dingen erst mal wieder gesund wer-den, bevor du wieder anfängst Kette zu rauchen«, mahnte A-lexander seinen Gegenüber erneut und rauchte ebenfalls einige Züge, bevor er Feuerzeug und Zigaretten in Jiros langen Car-digan steckte.

»Pass mal auf, Mama«, betonte Jiro redes einzelne Wort und sah Alexander mit hochgezogenen Augenbrauen an, »Ich bin alt genug. Ich weiß, dass Rauchen schädlich ist und dass ich noch am Rande der Existenz krieche. Aber ich finde, dass ich mich bisher außerordentlich gut geschlagen habe!«

Ein sanftes Grinsen schlich sich über Alexanders Lippen, welches Jiro sofort erwiderte.

»Du hast ja Recht. Ich denke nur immer daran ... wie zer-brechlich ihr Menschen seid.«

»Ich bin nicht zerbrechlich. Ich halte einiges aus«, spaßte Ji-ro, überschlug die Beine und legte den geschienten Fuß auf die Sitzfläche der Bank, auf der Alexander saß. Der strich sofort sanft über das Fußgelenk und seufzte leise.

»Aber eben nicht alles ...« Die Momente, in denen er um das Leben des Punks fürchten musste, brachten ihn fast um den Verstand. So gleichgültig, wie er ihm von vornherein war, so wichtig war er ihm jetzt. Wie das passieren konnte, war ihm unbegreiflich. Eigentlich verkörperte Jiro so alles, was Alexan-der ablehnte. Aber diese Differenzen schienen nur oberflächli-cher Natur zu sein.

»Dann mach mich doch zu einem von euch«, sprach Jiro den Satz aus, den er schon die ganze Zeit dachte. Seitdem er im Krankenhaus aufgewacht war und Alexander völlig unversehrt neben ihm saß, war er neidisch auf seinen Lebensstil. Diese Unsterblichkeit, diese Anmut und diese Aura. Wie gerne wäre er auch wie Alexander gewesen. Oder wie sein Kumpel Hiro war…

Tief in seinem inneren wusste er aber auch, dass es Gefahren mit sich bringt. Die letzte Woche hatte ihm zu genüge gezeigt, dass gerade die Sonne der größte Feind sein konnte, wenn man nicht richtig aufpasste.

»Auf keinen Fall«, kam es wie aus der Pistole aus Alexanders Mund geschossen. Seine sonst so glatte Stirn legte sich schlag-artig in Falten und ein rügender Blick folgte. »Das will ich nicht noch einmal hören.«

»Was ist das Problem?«, hakte Jiro nach, die Zigarette in die Höhe haltend. »Die Verwandlung fiel bei Hero doch nur fehl, weil er synthetisches Blut anstatt Vampirblut getrunken hat, oder hab ich das falsch verstanden?«

»Ich werde dich nicht verwandeln. Punkt.« Alexanders Wor-te waren harsch, ja, vielleicht sogar ein wenig trotzig. Er wollte nicht darüber nachdenken, dass der zerbrechliche Mensch ein weiteres Mal unter ihm liegen würde; weinend und schmerzer-füllt, während er sich von seinem Blut bedienen würde.

»Du willst mich nur irgendwann an Krebs sterben sehen, gib's zu.«

»Wie kannst du so etwas sagen?«, raunte Alexanders los und sah in die verständnislosen grünen Augen, die ihn maßregelnd ansahen. »Ich will dich auf keinen Fall sterben sehen!«

Jiros Wangen verfärbten sich wieder etwas rosa. Wieso musste er auch so eine dünne Haut im Gesicht haben? Trotz-dem versuchte er dem Blick stand zu halten und hielt die fins-tere Mimik bei. »Dann verwandel mich.«

»Nein«, antwortete Alexander böse und rauchte schließlich auf. Schwungvoll schnippste er den Stummel auf den Schot-terweg des Parks. »Das geht vor allen Dingen nicht so einfach. Das weißt du.«

»Ja, ja.«

Jiro rauchte ebenfalls auf, warf die Zigarette nur zu Boden und trat sie mit dem am Boden stehenden Bein aus. Schließ-lich entzog er Alexander auch seinen geschienten Fuß und stellte beide Beine wieder auf den Rollstuhl. So lange Alexan-der keinen Antrag für Jiro bei der Academy stellen würde, konnte er eine Verwandlung vergessen. Und sein Freund schien noch stärker gegen die Unsterblichkeit zu sein, als ge-dacht. Vielleicht lag ihm die Erinnerung an seine eigene Ver-wandlung noch tief im Magen, weswegen er dieses Leid nicht weitergeben wollte. Aber selbst wenn, dachte Jiro, die paar Minuten Schmerz könnte er sicherlich überleben. Oder auch nicht, im wahrsten Sinne des Wortes.

»Ich würde mir nur wünschen«, begann Jiro leise, als er Ale-xanders verkniffenes Gesicht sah, »dass ich, jetzt wo ich alleine hier im Süden sitze, mehr in deiner Welt teilhaben könnte, als jetzt. Sie sieht wirklich schön aus.«

»Das ist sie aber nicht«, fiel Alexander ihm fast ins Wort und schnaubte aus. »Sie ist kaltherzig und miserabel. Es zählen nur Leistung und Ansehen, nichts weiter. Menschlichkeit gibt es nicht mehr. Abgestumpfte Wesen, die Tag ein, Tag aus ihr Dasein fristen. Das ist kein Leben. Das ist bloße Existenz.«

Die Worte des Schwarzhaarigen stachen ein wenig in der Brust des Menschen. Jiro war jemand, der das Leben sehr schätzte, der gerne Feiern ging, der gerne viele Leute um sich hatte. Als Vampir könnte er das alles nicht mehr tun. Und nach Alexanders Worten waren alle anderen Vampire mit Müll gleichzusetzen. Jiro war sich sicher, dass Alexander gerne ü-bertrieb und vieles aus seinen Augen erzählte; trotzdem deck-ten sich die Erzählungen von Hiro mit denen von Alexander. So musste er wohl oder übel annehmen, dass die Mehrzahl der Untoten wirklich auch gefühlstechnisch tot waren.

»Sag mir Bescheid, wenn du deine Meinung irgendwann ge-ändert hast«, schmunzelte Jiro und sah noch einmal in Ale-xanders Augen. Diese erwiderten den Augenkontakt und schienen nicht ein einziges Mal zu blinzeln. Die Ernsthaftig-keit war deutlich zu erkennen; auch der Entschluss, dass er niemals seine Meinung ändern wird.

Wie gerne hätte Alexander dem Menschen stattdessen etwas anderes vorgeschlagen. Wenn er seine Welt so gerne mochte, könnte er mitkommen. Einfach mit in den Norden. Zu Hause auf ihn warten, vielleicht auch jobben gehen. Aber immer wie-der dachte er an Vincents Worte: Haustier.

Jiro sollte kein Haustier werden.

»Wollen wir wieder rein? Es wird langsam frisch«, begann Alexander und stand bereits auf, ohne eine Antwort abzuwar-ten. Das ganze Gespräch hinterließ eine unangenehme Stim-mung.

»Gehst du schon?«, stellte Jiro eine Gegenfrage. »Du bist doch noch gar nicht so lange hier.«

»Ich kann ja noch ein bisschen im Zimmer bleiben.«

Ein sanftes Lächeln fuhr wieder auf die Lippen des Men-schen. »Gut.«

Während er schweigend von Alexander durch den Park ge-schoben wurde, betrachtete er die Welt um das Krankenhaus. Ob Alexander ihn nur besuchen kam, weil er sich für ihn ver-pflichtet fühlte? Oder war die Freundschaft wirklich auf Ge-genseitigkeit?

»Alexander? Darf ich dich was fragen?«, begann Jiro zöger-lich und drehte sich ein wenig zu seinem Schieber um. Nur die weißen Hände, die sachte auf den Griffen des Rollstuhls lagen und ihn schoben, blitzten durch das Mondlicht.

»Seit wann fragst du, ob du fragen darfst?«, kicherte Alexan-der leicht über das zahme Verhalten von Jiro amüsiert.

»Ist vielleicht eine persönliche Frage, deswegen frag ich lie-ber vorher.«

»Persönlich? Schieß los.«

»Hast du«, stotterte Jiro schon fast vor sich hin, räusperte sich und legte brav die Hände in den Schoß. »Hast du eigent-lich viele Freunde im Norden?«

Alexander hob eine Augenbraue. Er hatte sich eine persönli-chere Frage vorgestellt. Doch vielleicht steckte die wirkliche Neugierde zwischen den Zeilen? »Nicht wirklich. Hier und da einige Leute, mit denen ich viel mache, aber Freunde würde ich das nicht nennen.«

»Was nennst du denn einen Freund?« Jiro horchte regelrecht auf Alexanders Worte.

Der überlegte kurz, schob den Rollstuhl dabei wieder in das Gebäude und drückte am Fahrstuhl den Knopf zum hochfah-ren. Da blickten sie sich wieder in die Augen. »Jemand, bei dem ich gerne bin. Dem ich alles erzählen kann und der mir zuhört. Das ist doch ein Freund, oder nicht?«

Alexanders Unsicherheit ließ Jiro schmunzeln. Ob er verstand worauf er hinaus wollte?

»Ja, schon. Es gibt ja auch Freunde, die man eher selten sieht und die man trotzdem mag.«

»Wie gesagt: ich nenne nicht viele Leute meine Freunde.«

»Bin ich denn dein Freund?«

Jiro fühlte sich schlagartig in den Kindergarten zurückver-setzt, wo man diese Frage noch blauäugig stellte. Im nächsten Moment kam er sich ziemlich dumm vor, überhaupt ein sol-ches Thema angeschnitten zu haben. Auch Alexanders Augen weiteten sich ein Stück und schienen über die Frage überrascht zu sein. Der Fahrstuhl öffnete die Türen, sodass Alexander wieder nach Jiros Rollstuhl griff und ihn in den Aufzug zog. Er drückte auf die Etage von Jiros Station und beobachtete noch, wie die Türen sich schließen.

»Doch, ja. Du bist mein Freund.«

Die Worte klangen nervös, vielleicht auch unsicher. Ein sol-ches Gespräch war auch für Jiro neu. Normalerweise ergaben sich Freundschaften eben; oder wie in Hiros Fall waren sie seit klein auf dabei. Aber Zeiten ändern sich – Freundschaften kamen und gingen.

»Cool«, kicherte Jiro, um die Situation etwas aufzulockern und zwinkerte Alexander zu, der wie eine Salzsäule neben sei-nem Rollstuhl stand. »Dann musst du mir deine Handynum-mer geben. Oder hast du Skype?«

»Ich hab was?«, fragte Alexander nach und hob beide Au-genbrauen.

»Skype.«

»Was ist das?«

Jiro seufzte und sah grinsend auf den sich öffnenden Fahr-stuhl. Das würde noch lange, lange dauern, dachte er. Alexan-der schien nicht von dieser Welt zu sein. Auch die Eigenheit, dass er nicht wusste, wie man den Kaffeeautomaten im Kran-kenhaus bediente, ließ Jiro immer wieder schmunzeln. Ob-wohl der Vampir sonst so perfekt wirkte, so schien er in alltäg-lichen Handlungen unbeholfen wie ein kleines Kind zu sein.

»Da können wir schreiben. Und telefonieren. Und uns sogar dabei sehen, wenn du eine Webcam hast.«

»Ist das die Kamera an Laptops?« Alexander nahm die Griffe wieder in die Hand und schob Jiro den Gang entlang. Noch immer war die Etage wie ausgestorben und mit gedämmten Licht versehen. Nur eine Schwester saß in ihrem Kabuff und las eine Zeitschrift.

»Ja, das sind die Kameras an Laptops«, gab Jiro kichernd sei-nem Schieber Recht.

Als sie beide das Zimmer erreichten – wo Alexander darauf bestand, dass es ein Privatzimmer werden sollte –, schloss er die Tür, schob Jiro an das Bett und half ihm auf die Beine. Er umfasste liebevoll seine Hüfte, hob ihn etwas an, sodass Jiro sich an seinen Schultern festhalten konnte. Mit nur wenig Kraftaufwand schwebte Jiro mit den Füßen in der Luft.

»Hey ... ich bin nicht invalid. Ich hab nur einen verstauchten Fuß ...«, murmelte der Mensch und klammerte sich trotzdem an Alexanders breiten Schultern fest. Noch nie hatte ihn je-mand so bemuttert. Nicht einmal die eigene Mutter.

»Ich helfe dir doch auch nur aufs Bett«, wisperte Alexander zurück und streifte mit einer Hand die Bettdecke zur Seite, um Jiro vorsichtig auf der Matratze abzusetzen.

Die Momente, in denen Jiro dem Vampir so nah sein durfte, waren ihm besonders heilig. Alexander roch gut. Er duftete immer etwas herb. Männlich. Frisch gewaschen und gestylt. Ob er sich immer so herrichtete? Wie lange er wohl im Bad braucht? Und ob er sich nass rasieren oder trocken rasieren würde? All diese Dinge fragte sich Jiro aus purer Langweile tagtäglich, seitdem sie sich kannten. Aber fragen würde er die-se Dinge nie. Er wollte sie irgendwann selber herausfinden. Denn Alexander schien interessant zu sein. Interessant zu be-obachten.

»Danke ... Mama«, spaßte Jiro, setzte sich auf die Bettkante und strich noch einmal vorsichtig über Alexanders Nacken, der sich wieder aufrichtete. Eine Geste, die den Vampir ange-strengt ausatmen ließ.

»Setz dich zu mir«, bat der Punk und klopfte neben sich auf das Bett. Er wollte den Mann neben sich sitzen haben, nah bei ihm. Zwar hatte er das Händestreicheln genossen, aber jetzt wollte er eine andere Nähe.

Alexander tat, wie von ihm verlangt, und setzte sich direkt neben Jiro. Vorsichtig legte er seine Hände in den Schoß und räusperte sich etwas unangenehm berührt. Erst als sein Nach-bar sich langsam zu ihm beugte, das Kinn auf der Schulter ab-legte und einen Arm um seinen schlang, seufzte Alexander auf. Er musste sich beherrschen, nicht wieder auf dumme Ge-danken zu kommen. Er roch Jiros Blut. Sein Herzschlag und all die Muskeln bewegten sich vibrierend. Der Mensch neben ihm machte ihn rasend.

Doch Jiro blieb ruhig, genoss die Ruhe und die Nähe zu A-lexander. Was gab es schöneres? War das vielleicht schon …Liebe? Wann immer dieses Wort durch Jiros Kopf schweb-te, musste er sich selber ermahnen, dass das absoluter Quatsch war. Niemand verliebte sich in nur einer Woche in einen frem-den Mann, der auch noch das gleiche Geschlecht hatte. Und so sehr er die Ruhe um Alexander liebte, so nervös machte ihn auch sein Schweigen. Kein Herzschlag, manchmal sogar kein Atmen, ließen den Menschen stetig überlegen, ob er sich je-mals an solche Dinge gewöhnen könnte.

»Was«, begann Alexander nach mehreren Minuten leise und streichelte abwesend über Jiros Handfläche, die auf seinem Bein lag. Wie würde das nur werden, wenn sie getrennt waren? Ob er genau das vermissen würde? »Was ist eigentlich mit den Zwillingen? Wann werden die entlassen?«

»Pf!«, raunte Jiro auf und kniff die Augenbrauen zusammen. »Die sind schon draußen ...«

Ein weiterer Grund, wieso Jiro ebenso gerne ein Vampir gewesen wäre. Alle um ihn herum waren Vampire. Alle um ihn herum schienen schneller gesund zu werden; selbst die, die es am schlimmsten getroffen hatte.

 

 

 

 

 

 

 

Als ich erwachte, sah ich auf eine kahle, weiße Wand und dachte im ersten Moment, ich sei im Himmel. Oder eben nur tot. Zumindest hatte ich nicht damit gerechnet auf der Intensivstation zu erwachen.

An mir hingen mehrere Infusionen mit Blut, die mich nährten. Kein EKG, keine Salzlösung, nichts. Nur Blutpackungen hingen an mir dran und schienen meinen Genesungsprozess zu beschleunigen. Eine leichte Panik durchfuhr mich, als ich niemanden neben mir liegen sah. Der Raum war klein, weiß und nicht anders zu erwähnen: steril. Niemand, außer mir, war dort. Es roch klinisch, nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten. Ich hörte Stimmen auf dem Gang und mir wurde sofort klar: Das war die richtige Welt – kein Jenseits. Und sofort wurde mir das Herz schwer. Wieso lebte ich noch? Ich wollte doch zu ihm!

Es dauerte einige Minuten voller Panik, bis ich einen Schwesternknopf fand, den ich sofort drückte und eine Frau sehnsuchtsvoll ansah.

»Wo ist mein Bruder?!«

 

Die Angst, er wäre verstorben, so wie ich es in Erinnerung hatte, löschte sich schnell aus. Kiyoshi lag einfach in einem anderen Zimmer; Vater und Mutter hatten Einzelzimmer angeordnet. Wie sich herausstellte, hatte unser Autodiebstahl nicht nur Vincent und die Polizei auf unsere Fährte gelockt, sondern auch Mom. Sie hatte nach meinem letzten Telefonat mit ihr die Faxen dicke und hatte Dad angerufen und ihn über meine Drogenexzesse mit Kiyoshi aufgeklärt. Der verstand natürlich sofort, um was es wirklich ging – besonders, als sie die Kleinigkeit erwähnte, dass wir mit Alexander unterwegs waren. Denn als auch seine Eltern bemängelten, dass er sich nicht gemeldet hatte, wurde Dad nervös. Er telefonierte rum, fand durch die Academy raus, dass Vincent auf dem Weg in den Süden war und seinen Job vollenden wollte. Natürlich unterrichtete er Mom nur soweit wie nötig; also, dass der Mann, der hinter Kiyoshi her war, nun wieder aufgetaucht ist und alle um meinen Bruder herum versuchten ihn zu schützen. Dass letztendlich auch noch ein Mensch und ein anderer Vampir mit rein gezogen wurden, verschwiegen alle. Mom schob natürlich trotzdem wahnsinnige Panik und widersetzte sich dem Vorschlag Dads zu Hause zu bleiben und abzuwarten. Zu unserem Vorteil wohl gemerkt, denn sie war es, die uns am Strand fand.

Sie fuhr uns nach, verfolgte die Nachrichten, in denen von uns berichtet wurde. Sie besuchte sogar den Brummifahrer im Krankenhaus und fragte ihn über unser Hergehen aus. Der erzählte ihr schwächlich, dass wir zum Strand wollten. Also fuhr sie ebenfalls zum Strand und suchte fast Tag und Nacht nach ihren verschollenen Söhnen. Denn niemals, so beschrieb sie, hätte sie Kiyoshi zugetraut ein Auto zu klauen und einen Mann zu verletzen. Mir schon, aber nicht meinem Bruder.

Als sie Schüsse am Strand hörte, befürchtete sie das Schlimmste, parkte trotzdem auf einem großen Ferienparkplatz und rannte mutig los. Sie fand mich und Kiyoshi am Strand, als gerade die Sonne aufging und wir in Flammen aufgingen. Wie von der Tarantel gestochen, lief sie zurück, schnappte sich die Unfalldecke aus dem Wagen, rannte zu uns und erstickte die Flammen mit einer rettenden Umarmung.

Ja, sie war unsere Lebensretterin. Meine Mom, die Sozifuzi-Frau, die sich sonst nur für Nobelmarken und Inneneinrichtungen interessierte. Die so viel mit mir mitgemacht hatte, Krankenhausbesuche erlebte und mich trotzdem abgöttisch liebte. Sogar ihren abtrünnigen, kranken Sohn, den sie seit seiner Geburt nicht mehr wieder gesehen hatte. Selbst um den weinte sie, als sie uns leblos und verbrannt auf ihrem Schoß liegen hatte und verzweifelt den Krankenwagen rief.

Der sammelte uns schnell ein und fuhr uns in ein nahe gelegenes Krankenhaus; Vincents Leiche ließ man gekonnt verschwinden. Dad hatte sich sofort mit der Academy in Verbindung gesetzt, die ein Team runter schickte und die Teile von ihm einsammelte. Letztendlich verlor niemand mehr ein Wort darüber. Wahrscheinlich war jeder froh, dass er endlich ins Gras gebissen hatte. Natürlich, unnötig zu erwähnen, sah man es mir auch sofort nach, dass ich ihn umgebracht hatte. Niemand klagte mich an, niemand zog mich zur Rechenschaft. Vater tat das, was er immer konnte: Geheimnisse geheim bleiben lassen. Also war Vincent offiziell einfach unvorhergesehen verstorben.

Im Krankenhaus wollte man mich und Kiyoshi Notoperieren; das tun, was man eben mit Menschen tun würde, doch Mom reagierte schnell. Sie informierte Dad, was passiert war, dass auch ich in Flammen aufgegangen sei und dass ihre Söhne nun verbrannt und tot auf den Liegen der Ärzte ruhen würden. Der telefonierte wieder einmal rum und fand einen Arzt in der Nähe des Ortes, der bereit war, sich unserer anzunehmen. In einem abgetrennten Bereich sorgte er dann für genügend Blutanschlüsse und Infusionen. Unnötig zu erwähnen, dass er selber ein Blutsauger war.

Dad wollte eigentlich einreisen, um uns zu sehen, doch Mom verbat es ihm. Es sei zu gefährlich für ihn sein Territorium zu verlassen – besonders als Reinblütler in einer solch aufregenden Situation. Also blieb er im Norden, hielt die Stellung und telefonierte täglich mit Mom, die ihn über unser hergehen informierte.

Schlussendlich wachte ich schwächlich auf und bekam alles von ihr erzählt; wenn auch sehr rügend und böse. Natürlich fluchte sie zwischendurch und fing sogar einmal wieder an zu weinen, da sie nicht fassen wollte, dass ich ebenfalls auf die dunkle Seite des Lebens übergetreten war. Außerdem rügte sie indirekt meine Selbstständigkeit, alles alleine regeln zu wollen. Das würde mich – und Kiyoshi – irgendwann in den Tod reiten. Doch dieses Mal war alles gut gegangen. Kiyoshi hatte es ebenfalls geschafft; er lebte. Meine, so wie ich dachte, unnütze Rettungsaktion mit Vincents Blut hatte seinem Körper zumindest die Chance gegeben, die Wunde im Gehirn zu schließen. Und ich erinnerte mich sofort an Kiyoshis Worte, dass Vampire auch einen Kopfschuss überleben könnten.

»Hab ich dir doch gesagt«, kicherte er heiser, als ich an seinem Bett stand und seine Hand hielt.

»Ja ... du bist wirklich nicht klein zu kriegen.« Vorsichtig strich ich immer wieder über seine kalten Wangen. Auch an ihm hingen mehrere Blutpackungen, die ihn nährten. Er sah noch recht schwach aus, trotzdem war er nach nur zwei Tagen bereits wach und konnte sich mit mir unterhalten; auch wenn einige Lähmungserscheinungen im Gesicht noch deutlich zu sehen waren. Aber auch das würde, so die Worte des Arztes, irgendwann verschwinden. Kiyoshi hatte viel eingesteckt, würde aber wieder heile werden. Mir ging es wesentlich besser; nur einige Brandwunden waren noch nicht geschlossen. Auch meine Haare hatten ein wenig gelitten, waren ein wenig abgeflämmt, sodass ich gezwungen war, sie wieder etwas kürzer zu schneiden. Kiyoshi hatte natürlich mit sowas wie immer mehr Glück als nötig gehabt: Seine Mähne blieb unberührt.

»Wir standen echt in Flammen«, murmelte ich und versuchte mich an die furchtbar schmerzhafte Situation zu erinnern.

»Du bist auch wirklich verrückt, das muss ich dir ja nicht sagen«, antwortete Kiyoshi leise und seufzte traurig. »Wie konntest du dich nur umbringen wollen?«

»Ich hatte keine Alternative.« Ein vorsichtiges Lächeln ließ meine Mundwinkel hochfahren. Mein Bruder hingegen seufzte weiter und schüttelte den Kopf.

»Du hättest dich verstecken können. Irgendwo ...«

»Und dann?«

»Weiß nicht, Mutter anrufen ... Vater oder irgendwen anders!«

Ich schwieg nur noch und musterte meinen Bruder. Er wusste genau, was ich mit keiner Alternative meinte. Und trotzdem wollte er es nicht wahrhaben. Klar, mein Suizidversuch war nicht der Gelungenste, aber er zeigte deutlich, zu was ich fähig war, wenn Kiyoshi nicht mehr bei mir wäre. Es schmeichelte ihn; auf der anderen Seite erschreckte es ihn.

»Wo ist eigentlich Mutter?«, säuselte Kiyoshi in meine Richtung, als ich nicht antwortete. Ich zuckte nur die Schultern.

»Sicher auf der Arbeit. Oder mit Dad am streiten. Eins von beidem.«

»Oder beides«, lachte mein Bruder beherzt auf und drückte meine Hand, welche noch immer auf seiner Brust ruhte.

»Ich bin ja froh, dass sie alles für uns geregelt hat, aber sie ist wie immer etwas am Übermuttern«, seufzte ich.

»Lass sie ... sie hat fast ihre beiden Söhne verloren. Sieh es ihr nach«, beschwichtigte mich Kiyoshi und ließ sich noch ein Stück weiter in die Kissen fallen. »Hat sich der alte Typ noch mal gemeldet?«

»Der Brummifahrer?«

»Ja, genau ...«

Man merkte Kiyoshi an, dass es ihm noch immer im Mark lag, einen Menschen angegriffen zu haben. Niemals im Traume hätte er daran gedacht, den Mann umzubringen. Doch seine Kräfte unter Kontrolle zu bringen schien schwieriger für ihn gewesen zu sein, als gedacht.

»Man hat ihn in den Knast gebracht«, seufzte ich und strich mit dem Daumen über Kiyoshis Handrücken, in der auch eine Infusion steckte.

»Ins Gefängnis? Wie das?«, fragte er überrascht und hob beide Augenbrauen.

»Er wurde von den Notärzten gerettet, man hat den Tatort überprüft, um uns auf die Spur zu kommen. Doch man hat bei ihm Kinderpornos gefunden; mit dem Verdacht, dass er uns entführen und sexuell missbrauchen wollte ... Tja, also wurde seine Anklage an uns fallen gelassen. Jetzt sitzt er.«

»Kinderpornos? ... Wie eklig ...«

»Ja. Fast so eklig wie wir beide«, scherzte ich und zwinkerte meinem Bruder kurz zu.

»Jetzt hör aber mal auf! Das ist doch kein Vergleich!«, raunte mich Kiyoshi an, der gegen mein lautes Lachen anreden musste.

Stimmte doch. Inzucht war auch eklig. Zumindest für andere Leute, die meine Liebe zu meinem Bruder niemals verstehen könnten. Die unsere Liebe niemals nachvollziehen könnten.

Als ich mich wieder eingekriegt hatte und mir eine feuchte Träne von den Augen strich, die ich vor Lachen rausgedrückt hatte, ergriff Kiyoshi wieder das Wort. »Und die anderen beiden? Wie geht es denen?«

»Jiro und Alexander? Ach ... Alexander ist wieder über alle Berge mit seinen Wehwehchen. Es wird wohl eine kleine Narbe am Bauch geben, so wie bei uns. Das UV-Zeug ist echt mies.«

Vampire würden niemals Narben bekommen. Aber diese Flüssigkeit aus Vincents Patronen schien unsere Regenerierung zu verhindern – zerstörte Zellen –, sodass wir wohl doch kleine Narben bekommen würden. Aber wen interessierte das, solange wir am Leben waren?

»Und Jiro? Den hat's wohl umgehauen, oder?«

»Haha«, lachte ich los. »Alexander hat doch an ihm geknabbert. Der kann froh sein, dass es um Leben oder Tod ging, sonst hätte ich ihm noch die Fresse poliert.«

Kiyoshis Augen weiteten sich. »Er hat wirklich von Jiro getrunken?«

»Ja, war wohl ne ziemlich romantische Aktion. Jedenfalls klang es so, als die beiden es mir geschildert haben, während sie nebeneinander saßen und Händchen gehalten haben.«

»...«

Kiyoshi schwieg, sah mehr als überrascht in meine Augen und öffnete den Mund, sagte aber nichts. Ja, genauso habe ich auch reagiert, dachte ich und schmunzelte vor mich hin.

»Da ist so was von was am laufen«, lachte ich gehässig und lehnte mich ein Stück auf der Bettkante zurück. Einige meiner Infusionen kniffen dabei in meiner Haut.

»Meinst du?«

»Total. Guck dir doch ihre Blicke an!«

»Ja, aber ... Alexander doch nicht!«

»Ich würde sagen: Jiro doch nicht! Aber ... hey, die beiden überzeugen doch gerade vom Gegenteil.«

Natürlich hatte ich keinerlei Insiderinfos über ihre Beziehung. Vielleicht war es tatsächlich einfach nur eine platonische Liebe, weil sie sich gegenseitig das Leben gerettet hatten. Aber an Jiros anhimmelnden Blick, wann immer Alexander etwas sagte, konnte ich sehen, dass es zumindest von seiner Seite aus nichts mehr mit platonischer Liebe zu tun hatte.

»Jedenfalls«, begann ich wieder und küsste Kiyoshis Handrücken, »bin ich mal gespannt, was Mom sagen wird, wenn wir hier raus sind und sie die ganze Geschichte noch einmal ans uns loslassen kann.«

»Du meinst, weil du jetzt auch einer von uns bist?«

»Ja ... Sie wird furchtbar enttäuscht sein.«

 

Und das war sie auch. Bereits nach vier Tagen wurden wir vom Spezialarzt aufgrund von leichter Unruhe im Krankenhaus entlassen, der uns noch weitere Blutpackungen mit auf den Weg gab, die wir regelmäßig einnehmen sollten, um auch die letzten Spuren des Giftes in unserem Körper zu neutralisieren. Als wir zu Hause ankamen und Kiyoshi anfing seine Sachen zu packen, packte ich mit.

Ich musste.

Dad rief an und unterrichtete mich über die Tatsache, dass er mir bereits einen Platz auf der Academy besorgt hatte. Ich könne nicht weiter im Süden bleiben; von der Sonnenaktivität mal ganz abgesehen. Mein Leben würde von nun an da geführt werden, wo von vornherein klar war, es für mich hingehen würde. Kiyoshi freute sich natürlich wahnsinnig, dass ich wieder bei ihm und Dad wohnen würde.

Mom hingehen sah das alles ganz anders. Sie sprach kaum ein Wort mit mir, als wir heimkamen und regelte einzelne Sachen auf dem Esstisch. Darunter Rechnungen, Geburtsurkunde, Verträge und Versicherungen. Alles müsste sie nun kündigen oder auf mich umschreiben. Sie musste mich abgeben. Mich loslassen. Und das fiel ihr nach diesem grauenvollen Vorfall wahnsinnig schwer, das konnte ich sehen. Sie sprach auch nicht über die Tatsache, dass wir sie die ganze Zeit belogen hatten. Generell schien sie alles zu schlucken, was man ihr vorwarf.

Als Kiyoshi noch eine Weile in meinem Zimmer saß und die Taschen wieder einmal umsortierte, weil ihm die Anordnung nicht gefiel, gesellte ich mich zu Mom ins Wohnzimmer.

Die Aufbruchstimmung stand unangenehm in der Luft.

»Mom?«, fragte ich zögerlich und stellte mich hinter einen Stuhl. Sie saß mir gegenüber und sortierte weiter irgendwelche Rechnungen. »Mom, kann ich mit dir reden?«

»Natürlich, Schatz«, gab sie knapp zurück, ohne dabei aufzusehen. Ihre Worte waren lieb gemeint, aber sie klangen verdammt kalt.

Erst, als ich mich ihr gegenübersetzte und vorsichtig nach ihren Händen griff, zuckte sie zusammen und sah auf. Ihr Blick war scheu und unangenehm berührt. Sie konnte ihre Augen nicht von meinem Gesicht nehmen; sie starrte regelrecht in meine Augen.

Ich verstand, was sie so verstörte; was anders an mir war. Meine Haut war so rein, wie noch nie. Sie war glatt und glänzend. Meine Augen leuchteten regelrecht in jedem Licht und meine Lippen schienen jedes Wort wie ein Geschenk zu verpacken, bevor es auf die besinnliche Reise in das Ohr meines Gesprächpartners ging.

Sie behielt ihre Hand in meiner, aber ich spürte, dass sie sie gerne weggezogen hätte.

»Du weißt, dass ich gehen muss ... Und ich will, dass du weißt, dass es mir Leid tut. Wegen allem. Besonders, dass ich dir die Wahrheit verschwiegen habe.«

Meine Worte klangen wie kurz vor dem Zusammenbruch. Ich quetschte sie regelrecht durch meine Zähne, als würde ich sie am liebsten nicht sagen wollen. Die Frau, die mir ein Leben geschenkt und mein Zweites gerettet hatte, wurde nun von mir verlassen.

Ihr Blick fiel auf den Tisch. Sie nickte angespannt und seufzte schließlich traurig auf. »Schon okay. Ich dachte es mir ... eigentlich schon.«

»Wirklich?« Überrascht zog ich beide Augenbrauen hoch.

»Du hast kaum gegessen und warst nur am lügen... schon als du bei deinem Vater warst und mit mir telefoniert hast, hast du mich ja angeflunkert. Eine Mutter hört so etwas raus.«

Ihre Mundwinkel zuckten kurz und zeigten ein liebevolles Lächeln. Das Lächeln einer Mutter.

»Ich war noch nie ein guter Lügner ...«, gab ich ungeschoren zu und kratzte mich mit der freien Hand im Nacken.

»Das stimmt.« Dabei zog sie eine Augenbraue hoch und sah mich tadelnd an. Sicherlich wollte sie hier die ganzen Drogenexzesse ansprechen, die ich hinter ihrem Rücken abgezogen hatte. Wieso dachten alle in meiner Umgebung, ich würde so viele Drogen nehmen? Das war vielleicht 2 oder 3 Mal passiert!

»Hast du schon mit Dad gesprochen? Wegen dem Flug?«, lenkte ich das Thema wieder auf die eigentliche Sache, über die ich mit ihr reden wollte.

»Ja ... er holt euch dann morgen am Flughafen ab.«

Ihr Blick senkte sich wieder. Mit der freien Hand verschob sie Papiere auf die andere Seite des Tisches. »Ich gebe dir einen Ordner mit. Da wird alles wichtige drin sein, was du so brauchst.«

Sie klang traurig und ernst. Wahrscheinlich überspielte sie ihre Trauer mit Kälte.

»Du weißt ... ich würde lieber hier bei dir bleiben.«

»Ja ...«, murmelte sie leise und hielt in ihrer Bewegung inne. Das wäre wohl auch in ihrem Sinne gewesen. Doch es ging einfach nicht; ich musste gehen.

»Ich werde dich vermissen, Mom.«

Diese Worte taten selbst mir weh. Und ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Ja, ich war kurz davor zu weinen. Mein Magen drehte sich um, als Mom hochsah und ihr verzweifelter Blick in mein Gesicht fiel.

Sofort riss sie ihre Hand weg, fegte mit einer Handbewegung einen Papierstapel vom Tisch und schrie los.

»Es ist nicht fair! Du warst hier, du warst glücklich! Wir waren glücklich! Und dann... dann kommt dein Bruder, beißt dich und du wirst ... wirst mir weggenommen!« Ihr Stimme brach hier und da weg, bis die erste Träne fiel. Sie sprang vom Stuhl auf und schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. »Ich war so froh, als ich einen gesunden Menschen geboren hatte! Du warst mein kleiner Sonnenschein; und jetzt? Muss ich dich vor der Sonne verstecken! Ich will dich nach allem, was passiert ist, nicht alleine lassen! Du gehörst hierher! Zu mir! Wir beide... waren doch immer ein Team! Hier warst du sicher!«

Sie schluchzte auf, strich sich über ihre geschminkten Augen, die schwarze Tränen auf ihrer rosig geschminkten Haut produzierten.

Kaum zu glauben, was passierte. Noch nie hatte ich sie so stark weinen gesehen. Natürlich fiel hier und da mal eine Träne, aber noch nie hatte sie einen solchen Gefühlsausbruch vor mir gehabt. Noch nie weinte sie so bitter, dass sie ihr Make-Up vergaß und tausendmal darüber strich. Noch nie hatte sie sich über Fairness im Leben beschwert. Überhaupt beschwerte sie sich selten über Dinge im Leben. Eher über mein ungezogenes Verhalten oder meine etlichen Dummheiten. Meine Faulheit oder meine Unfähigkeit im Haushalt zu helfen. Belanglose Dinge eben. Und jetzt? Weinte sie vor ihrem eigenen Sohn, den sie nun nach achtzehn Jahren aufopfernder Arbeit abgeben musste. An den Tod und an das triste Leben im Norden. Es war kein klassischer Auszug. Wäre ich einfach in meine eigene Wohnung gezogen, hätte sie es anders aufgenommen. Sie gab ihr geliebtes Baby in die Hände einer gefährlichen, korrupten und lieblosen Welt. Auch wenn Dad uns mit Rat und Tat zur Seite stehen würde – so wäre es nicht dasselbe. Sie stände auf einmal alleine hier. Ohne jegliches Wissen über meine Sicherheit. Oder über die Sicherheit von Kiyoshi. Vielleicht hatte sie auch Angst, wir würden sie wieder anlügen, wenn wir in Schwierigkeiten geraten würden.

Ich stand fassungslos vor ihr, wusste nicht ganz, wie ich mich verhalten sollte. Sie sah nicht so aus, als würde sie eine vampirische Umarmung zulassen.

 

»Komm doch mit«, kam eine liebliche Stimme aus meinem Zimmer. »Wir haben genug Platz im Haus.«

Kiyoshi stand mit einigen Badeartikeln im Arm am Türrahmen zu meinem Zimmer. Er legte die einzelnen Sachen ab und kam auf mich und Mom zu. Wie immer war er die Ruhe selbst.

»Ja ...«, murmelte ich, als hätte mein Bruder überhaupt die Idee gehabt. Mom hingegen sah nur verstört auf, wischte sich hicksend weitere Tränen aus dem Gesicht.

»Komm doch mit uns!«, wiederholte ich und lächelte aufbauend. »Vater hat sicher nichts dagegen!«

»Ganz im Gegenteil«, kicherte Kiyoshi und lehnte sich an meinen Arm. Auch er lächelte Mom zu, als würde er seine Idee ebenfalls als die beste Lösung ansehen. »Er würde dich bestimmt gerne mal wieder ... beim Harfespielen als Modell haben wollen. Zum Malen ...«

»H-Hüte deine Zunge!«, platzte es aus ihr raus. Doch es waren keine bösen Worte; eher Verzweifelte. Verzweifelt über die Tatsache, dass ihre Söhne ganz genau wussten, was sie mit Vater so getan hatte. Was ihre Hobbys waren und wie sie gemeinsam die Zeit verbracht haben.

»Du hast doch schon einmal im Norden gewohnt. Du kennst das Haus. Komm doch wieder zurück!« Ich nickte abermals zusprechend, sah Mom aufgeregt an und lächelte glücklich.

Doch sie schien nicht überzeugt von der Idee zu sein.

»Ich... ich kann nicht einfach hier wegziehen«, begann sie mit zittriger Stimme. »Ich habe hier Arbeit und ... die Wohnung und -«

»Du musst doch nicht arbeiten. Geld spielt keine Rolle bei uns«, gab Kiyoshi sofort zu verstehen und sah überrascht zu ihr; als würde er nicht ganz verstehen, dass die Arbeit ein Grund wäre, hier zu bleiben.

»Mom liebt ihre Arbeit«, unterrichtete ich meinen Bruder und sah kurz zu ihm. »Sie blüht da regelrecht auf.«

»A-Außerdem«, begann sie abermals stotternd und wischte sich ein letztes Mal über die Augen. »... Außerdem kann ich mich nicht einfach so bei eurem Vater einquartieren. Ich ... würde mir, wenn überhaupt, eine Wohnung suchen. Oder so.«

»Also das ist wirklich unnötig!«, platzte es dann aus mir raus. »Dad wird dich mit Sicherheit gerne bei sich haben wollen!«

»Hiro! Was wird das hier?«, schrie sie nun los, motzte mich wütend an, als wäre ich der Einzige im Raum, der sie von dieser Idee überzeugen wollen würde.

»Weiß nicht! Verkuppeln oder so!«, lachte ich auf und nahm ihre bösen Worte nicht weiter ernst. »Alle Kinder sehen ihre Eltern gerne wieder zusammen ...«

Da verschlug es ihr die Sprache. Sie sah zwischen mir und Kiyoshi hin und her, überlegte, seufzte, knibbelte an ihren Kunstnägeln.

Als Kiyoshi sich bei mir einhakte und verliebt die Wange an meiner rieb, ergriff ich wieder das Wort. »Ich sehe nur Vorteile, Mom. So hast du uns zum Beispiel viel besser unter Kontrolle. Vier Augen sehen mehr als zwei«, zwinkerte ich ihr zu.

Und als hätte ich ihr gerade das perfekte Fressen hingeworfen, verschränkte sie ihre Arme und schüttelte sofort den Kopf. »Ihr lasst schön die Finger voneinander!«

»Vielleicht«, murmelte Kiyoshi, der mir sofort einen Kuss auf die Wange aufdrückte.

»Ihr hört -«

»Überleg's dir, Mom«, unterbrach ich ihre rügenden Worte und lächelte wieder sanft. »Wir alle würden uns freuen, wenn du bei uns im Norden wohnen würdest.«

 

Sie blieb den Rest des Abends eisern und tat so, als würde es überhaupt keine Alternative sein, weiterhin bei ihren Söhnen zu bleiben.

Am Abend jedoch hörten wir leise Stimmen aus ihrem Zimmer kommen. Gerade, als ich Kiyoshis Kleidung auszog, hörte ich sie reden.

»Telefoniert sie?«, flüsterte mein Bruder, der liebevoll seine Hände um meinen Nacken schlang und mich zu ihm auf den nackten Körper zog.

»Wahrscheinlich ... ja. Mit Dad, schätze ich«, kicherte ich leise und küsste meinen Bruder auf die Lippen. Es war das erste Mal seit Tagen, dass wir uns wieder vereinen durften.

»Glaubst du, sie kommt mit?«

»Mit Sicherheit.«

»Was macht dich so sicher?«

»Die Tatsache, dass sie die Fotos von Dad hütet wie ein Schäfer seine Schafe. Und dass sie nur dumme Gründe nennt, hier zu bleiben. Scheiß auf diese hässliche Wohnung!«

Mir wurde nach all diesen Begebenheiten auch klar, wieso es immer ein großes Wohnzimmer sein sollte. Denn das Wohnzimmer in der Villa war in der Tat sehr groß und bot einen schönen Raum zum Sitzen und Reden. Wahrscheinlich sehnte sie sich nach dieser ruhigen Zeit, in der sie stundenlang mit Dad im Wohnzimmer saß und mit ihm sprach. Sie wollte den Lebensstil nicht missen, den er ihr geboten hatte. Also gab sie viel zu viel Geld für Designerklamotten aus und suchte nach einer Wohnung mit großem Wohnzimmer und richtete es so ein, wie sie es in Erinnerung hatte. An den riesigen Fernseher  und der bonbonfarbenden Couch konnte ich mich zwar nicht erinnern, aber vielleicht würde das eine Neuerung in der Villa sein, die alle begrüßen würden. Alle, außer Dad natürlich – der schien sich ja recht streng gegen neue Technik einzusetzen.

»Dann wohnen wir wieder alle zusammen ...«, grinste Kiyoshi und schlang die Beine um meine Taille.

»Ja ... mal sehen, ob das funktionieren wird.«

»Natürlich wird es das ... wir verstehen uns alle doch wunderbar!«

»Mom alleine unter Vampiren?«, lachte ich los. »Mal sehen, ob das funktionieren wird!«

»Vielleicht entscheidet sie sich ja auch irgendwann für uns...«

 

Mom ein Vampir?

 

»Ja, vielleicht«, murmelte ich, küsste Kiyoshis Lippen und strich über seinen wunderbaren Körper.

Das Gespräch aus dem Zimmer von Mom hörte mit einem glücklichen Kichern auf. Sie lachte. Das war ein gutes Zeichen.

»Hiro«, flüsterte Kiyoshi in mein Ohr, als er anfing an meinem Ohrläppchen zu knabbern.

»Hm?«, brummte ich, während ich an seinem dürren Körper entlang fuhr. Die nächsten Tage würde ich ihn wieder zum Essen überreden, so viel stand fest. Auch wenn ich seine hagere Figur sehr schätzte, wurde mir sein Körper doch zu knochig.

»Ich hab eine kleine Überraschung für dich«, säuselte mein Bruder lieblich.

»Überraschung?«, wiederholte ich recht überrascht und schob die Augenbrauen zusammen. »Eine angenehme oder eine unangenehme?«

Doch mein Bruder rutschte einfach nur genervt an mir vorbei und verdrehte die Augen. »Natürlich eine Schöne!«

Etwas enttäuscht, dass er sich von mir löste, blieb ich nackig auf meinem Bett sitzen und beobachtete seine Bewegungen. Er ging zu seinem Koffer und machte ihn noch einmal an einer Seite auf. Dabei konnte ich genau auf seinen Hintern schauen. Und natürlich auf alles, was dazwischen war.

»Muss ich deswegen auf Sex verzichten?«, jammerte ich fast schon traurig los, als er gar nicht mehr aufhörte in seinen Sachen zu suchen.

»Ich weiß nicht?« Kiyoshi kicherte böse auf und warf mir einen zweideutigen Blicke zu.

»Dann will ich die Überraschung nicht!«, pöhnte ich los.

»Mach die Augen zu«, befahl er, meine Worte komplett ignorierend.

Es dauerte einige Sekunden, in denen er mich auffordernd ansah und ich überlegte, ob ich seiner Bitte Folge leisten sollte, bis ich schließlich meine Augen schloss und auf Kiyoshis Tun wartete. Da hörte ich, wie er etwas aus dem Koffer zog und in den Händen quetschte. Es hörte sich seltsam an, quietschend, fast ein wenig unangenehm in meinen Ohren. Kiyoshi tätigte ein paar Schritte auf der Stelle, kam wieder auf mich zu und strich vorsichtig mit einer Hand über meine Schulter.

»Du darfst wieder schauen«, säuselte er leise und stellte einen Fuß neben mich. Da spürte ich schon die glatte, weiche Oberfläche von seinem Bein an meiner Hüfte.

Als ich die Augen öffnete, sah ich erst in sein zufriedenes Gesicht, dann auf die schwarzen Beine. Glänzende Lackstrümpfe zierten seine schlanken Beine und ließen sie gefühlte 2 Meter lang wirken. Ehrfürchtig und gleichzeitig sprachlos fuhr ich mit meiner flachen Hand über seinen Oberschenkel, wo die Strümpfe begannen.

»Wie ... und wann?«, presste ich beeindruckt aus meinen Lippen und zog seinen Körper noch ein Stück näher an mich. Die Tatsache, dass mein Bruder nach allem, was er von diesen Strümpfen gehalten hat, sie trotzdem gekauft und sogar angezogen hatte, gab mir ein warmes Gefühl in der Brust. Er nahm meine Wünsche ernst und erfüllte sie, wenn es in seiner Macht stand.

»Als du… gestern bei Jiro warst, bin ich doch kurz raus«, begann er und streichelte meinen Nacken, während er noch vor mir stand und mich sein Bein betatschen ließ. »Da bin ich schnell in die Mall gefahren und hab sie gekauft. Der Typ hinter der Kasse hat mich sogar wiedererkannt.«

»Echt?«, stutzte ich und sah hoch. Errötete Wangen umspielten ein bezauberndes, wenn auch schüchternes Lächeln.

»Hat gefragt, ob ich die für meinen Bruder kaufe«, kicherte Kiyoshi los.

»Du hast ihm hoffentlich mit einem Nein geantwortet.«

»…« Seine Lippen verformten sich zu einer strengen Linie.

»Kiyoshi!«, mahnte ich ihn sofort. »Wir werden nie wieder in diesen Laden gehen können!«

»Wieso? Er hat uns viel Spaß gewünscht! Der war voll nett!«, giftete er los und klatschte liebevoll, wenn auch bestimmend, gegen meine Wange, als wäre er im Recht, das Richtige getan zu haben. »Sei jetzt nicht böse auf mich, ich hab die Strümpfe an – so wie du wolltest!«

Was konnte ich schon anderes tun, als Nachsicht zu zeigen? Seufzend rieb ich meine Wange an der glatten Oberfläche seines Beines. »Ja, und sie sehen bezaubernd an dir aus…«

»Na ja«, murmelte Kiyoshi, während er sich wieder zu mir aufs Bett setzte. »Ich muss zugeben, dass sie recht angenehm zu tragen sind.«

»Also wirst du sie öfter für mich anziehen?«, schmunzelte ich los und küsste liebevoll seine Lippen.

»Mal gucken«, brummte er, setzte sich rittlings auf meinen Schoß, sodass ich sein halb erregiertes Glied spüren konnte. Als mich seine Hände streichelten und er sich rhythmisch gegen mich bewegte, war mir klar, dass das Thema vorerst beendet war.

Immer wieder strich ich über seine bezaubernden Beine, küsste die Latexhaut und schmiegte mich an sie heran. Doch als ich einen rügenden Blick aufgrund von mangelnder Aufmerksamkeit bekam, beugte ich mich zu Kiyoshis Mund vor und küsste seine Lippen – anstatt die Strümpfe. Das ließ ihn sehnsüchtig aufseufzen.

»Ich liebe dich«, flüsterte Kiyoshi in mein Ohr und lächelte mich glücklich an, als wir uns langsam einander hingaben.

»Ich liebe dich auch ...«, antwortete ich leise und liebskoste seinen Hals. Ich war einfach heilfroh, dass wir wieder beisammen waren.

In Ruhe ein neues Leben beginnen konnten.

Lebend.

Oder eben tot.

Was auch immer es sein sollte, wir würden es zusammen erleben.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Tadaaa~ Es geht weiter!
Ich hoffe, die Kapitel werden euch gefallen! Ich habe wirklich versucht, mich an meinen alten Stil zu halten, da den ja doch (erstaunlich) viele ganz gut fanden!

Viel Spaß und zu Regelmäßigkeit: Alle zwei Tage ein neues Kapitel! (ؑ‷ᵕؑ̇‷)◞✧ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute mal noch ein Kapitel, weil ja mal auch was passieren soll :D Ich schreib immer so viel Vorgeplänkel... aber die Story soll ja auch was hergeben! ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hihi, diese Strümpfe sollten ein kleiner Witz am Rande sein und seitdem ich diese Passage geschrieben habe, juckt es mir in den Fingern Kiyoshi in diesen Latexdingern zu malen haha :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute mal recht früh, da ich heute Abend weg bin! Und ich kenn mich ... ich würde das Hochladen verpennen :D

Vielen Dank an dieser Stelle schon einmal für die rege Teilnahme an der Umfrage! Ich werde sie noch bis Sonntag offen lassen und dann ein Fazit ziehen!
Auf Facebook werde ich dann alles weitere veröffentlichen - wenn's in die heiße Phase geht, dann auch hier!
Es wird also auf jeden Fall zu einem Druck kommen! ;-))
Vielen herzlichen Dank nochmal! ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Keine Angst, sie gehen nicht lange feiern haha :D

Beziehungsweise ist das alles nur Vorgeplänkel für den wirklich... grausamen... absolut niederträchtigen... Vorfall... :D :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hihi, hab ich ein bisschen zu früh Alarm geschlagen :D Aber ihr merkt, Hiro lässt sich Gefahrantennen wachsen.

*düstere Stimme* ... Sie sind nicht alleineeee.... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... heute noch ein Kapitel!

Ich kann's selber kaum erwarten, euch endlich die Geschichte zu Ende zu erzählen, deswegen lade ich auch wohl morgen noch ein Kapitel hoch, hihi ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo ab morgen dann wieder alle zwei Tage ein Kapitel, ich komm sonst nicht mit dem Korrekturlesen hinterher :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Plottwist!

Wer hat's kommen sehen? HA :D
Jetzt geht's endlich in die heiße Phase! ... nächstes Kapitel lade ich morgen hoch, weil das nicht sehr spannend wird, sodass wir übermorgen direkt in die Action starten können! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und morgen gleich noch eins! Dann - eeeendlich - geht's in die Action und unsere zwei Liebchen werden ein bisschen rumgescheucht ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Jetzt geht's loo-oos, jetzt geht's loo-oos! :D

Nun beginnt der ernst des Lebens. Es war also der böse Vincent mit seinem Greifvogel, der jetzt hinter den Zwillingen her ist. ... und schon musste jemand leiden *seufz*


Update für den Roman!
Auf meiner Facebookseite hab ich bereits angekündigt, dass Vorbestellungen ab dem 18.10. angenommen werden können! Weitere Infos findet ihr auch auf meiner Homepage! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
.... Ich lass doch niemanden hier einfach so sterben *:゚*。⋆ฺ(*´◡`) Jedenfalls nicht so früh- Später vielleicht *finstere Lache*


Ich bin weiterhin fleißig am Illustrieren! Und das kleine Goodie klappt soweit auch so, wie ich mir das vorgestellt habe (灬ºωº灬) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ganz schön verzwickt oder?
Da sitzen die Vier jetzt in einem Boot Richtung Tod... hoho :D

Nächstes Kapitel gibt's auch wieder ein bisschen Schmusi ♥ (Also Adult :-x) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... weil ich so 'ne fiese Ratte bin, lade ich heute ganz heimlich ein neues Kapitel hoch.... hihihi *:゚*。⋆ฺ(*´◡`)

Neue Infos übrigens zum 1. Buch gibt's dann morgen auf Facebook! ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Besser spät als nie, wie es so schön heißt! :-)
(bin jetzt erst nach Hause gekommen - die Infos für die gedruckte Version... gibt's dann morgen in aller Frische!) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So dala! Heute noche in Kapitel, das nächste gibt's dann wieder Montag!
Morgen gehen die Vorbestellungen für den ersten Band ein! Auf meiner Facebookseite habe ich bereits das Goodie gepostet! Morgen werde ich auch den Link unter die Manga Seite von MDB posten - sowie natürlich wieder auf Facebook! ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und auch hier natürlich die Info, dass der erste Band nun hier vorbestellt werden kann :-)

... und auch hier beim zweiten Teil geht's kontinuierlich weiter mit der Flucht vor Vincent... *dramatische Musik* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wir nähern uns dem letzten Drittel!
Natürlich wird's noch ein bisschen dramatischer und es wird noch weiter aufgelöst, aber im Groben und Ganzen geht's bald zu Ende ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute mal was früher, da ich nicht weiß, ob ich heute Abend zu Hause sein werde :3

... ein bisschen mehr Hintergrund zu Alexander und Jiro. Nächstes Kapitel geht es wieder um die Zwillinge! Jetzt, wo sie getrennt sind, muss ich wieder ein bisschen die Erzählperspektive wechseln, was ich hoffentlich vor ein paar Kapiteln gut eingeführt habe, sodass es niemanden allzusehr stört! Aber keine Angst - Jiro und Alexander nehmen keine Überhand der Geschichte :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nach so einer Nach Ruhe wird man schnell unvorsichtig... ;-)

Noch 2 Kapitel! Und noch ein Epilog - klar! *Trommelwirbel* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
War das nicht romantisch? ;-))

Nächstes Kapitel geht's natürlich in die finale Runde, in der sich Hiro und Kiyoshi gut schlagen müssen! PRÜGELEI :D

Bis also in zwei Tagen! :3

Und ich entschuldige mich für diese dummen Bindestriche! Manchmal tauchen sie auf - manchmal nicht! :-/ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
:'(

Hat jemand gemerkt, dass ich wieder den Trick mit dem ersten Satz gemacht habe? Der lange Satz mit dem Strand aus Angst kam im ersten Kapitel vor - ha

... verdauen wir das erst mal. Nächstes Kapitel, der Epilog... leider leider, kommt dann übermorgen!

Und die Vorbestellungen für den ersten Band gehen noch bis zum 4.11.! (als kleine Erinnerung ;-)) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, keine Ahnung, wieso das Datum nicht aktualisiert wird, wenn man ein Kapitel zu ENDE schreibt... Aber hier nun dann direkt das Bonus Kapitel, wo ich ja gestern so geschlafen habe mit dem Hochladen!

Auch in der Hoffnung, dass jetzt jeder über das Ende benachrichtigt wird! :3

Über Feedbach freue ich mich natürlich immer! ♥ Wie immer hoffe ich, dass euch alles gefallen hat! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
UPDATE:
... ich bin ja ein vergesslicher Keks... entschuldigt vielmals, dass ich es gestern verplant habe, hochzuladen! :'(
Zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass ich bis spät Abends Uni hatte... :D

Ich hoffe, ihr seid mit dem Ende soweit zufrieden und die Geschichte hat euch gefallen! Vielen Dank an dieser Stelle allen lieben Lesern und Mitverfolger der Story! ♥
Das Bonus Kapitel werde ich morgen hochladen! ... Diesmal denk ich dran... :-X


Und: Den ersten Teil gibt es noch bis morgen 24 Uhr zum Vorbestellen! Die Bücher sind heute angekommen und können auf meiner Facebookseite begutachtet werden :3
Wer also noch ein gratis Lesezeichen haben möchte und das Buch noch vor dem offiziellen Verkaufsstart lesen will: Hier gibt's die Bücher! ♥


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.... (⌯꒪͒ ꌂ̇ ꒪͒)

Ich hätte natürlich sonst direkt in der Beschreibung major character death angegeben! Wo denkt ihr hin - ich lass sie doch nicht einfach so abmurksen!

Der Epilog bekommt also noch einen zweiten Teil! Den gibt's direkt morgen, damit wir die Story nun *endlich* zu Ende bringen können :3

(wobei ich noch einen kleinen Bonus mit Alexander und Jiro geschrieben habe, den ich ebenfalls an den Epilog hängen könnte!)
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Von:  Lamello
2022-09-18T13:47:04+00:00 18.09.2022 15:47
Und auch hier ein Kommi von mir. Den zweiten Teil find ich auch suuuuper, mega spannend und auch so sweet, wie die beiden nun so zueinander finden. Vincent ist echt furchteinflößend und, dass du Alexander und Jiro hier so viel Story gibst ist echt klasse! Mega Ende und trotzdem: gott, was bin ich froh über den Epilog!!! Noch mehr Lob von mir: Super geschrieben! Bin nen echter Fan! ;-) ♥

VG
Lamello
Von:  Schwabbelpuk
2019-04-29T13:41:33+00:00 29.04.2019 15:41
Soo...nun hab ich auch den zweiten Band durch und ich bin immer noch begeistert. Auch hier hab ich ihn wieder verschlungen, habe Nächte durch gelesen und kaum geschlafen, aber das war es wert.
Doof, wie ich bin, hatte ich vor den Epilog Pause gemacht und war total geschockt bei dem Ende. Ich habe so schlecht geschlafen deswegen! xD Gut, dass ich dann heute noch den Epilog nachgeschoben hab und positiv überrascht wurde. Hatte schon einen kleinen Herzinfarkt.
Zu dem Rest: Ich war zunächst überrascht von so viel...Erotik. Die kam ja im ersten Band so gut wie gar nicht vor. Fand ich aber nicht schlecht und irgendwie auch verständlich, da sie hier nun ein Paar waren. Die Ganze Storyline um die Flucht fand ich packend und obwohl sie einen sehr großen Teil ausgemacht hat, wurde es mir nicht langweilig. Ich habe mich ein wenig in deinen Charakter Alexander verguckt in diesen Band und find die Geschichte mit Jiro wirklich reizend. Hat mir gut gefallen! Hab auch schon gesehen, dass es noch eine weitere Nebenstory gibt mit den Beiden, die ich definitiv noch lesen werde. (Blöde Frage, aber gibt's das zufällig auch als Printversion? Hätte wirklich gerne alles im Regal. In deinem Shop konnte ich leider nur die eBook Version finden...)

Abschließend will ich einfach nur sagen: Ich liebe diese Geschichte, ich liebe diese Charaktere, dein Schreibstil ist brillant und packend und die Illustrationen in der Printversionen waren soo gelungen und haben das Ganze noch um ein Vielfaches aufgewertet.
Lieben Dank für solch eine tolle Zeit, die ich damit hatte (und noch haben werde mit der anderen Story ;))!
Antwort von:  ellenchain
29.04.2019 20:01
Ich freue mich wirklich sehr, dass dir auch der zweite Band gefallen hat und du ein paar spannende Stunden damit hattest :D
Den Zusatzband gab es mal als Druck, allerdings habe ich den nach einem Jahr dann wieder eingestellt, da ich Platz für neue Bücher schaffen musste. Zurzeit gibt es ihn also nur als eBook!

Lieben Dank an dich, dass du mich unterstützt und für dein tolles Lob an mich! :D
Von:  Conny-chan
2016-05-05T17:06:18+00:00 05.05.2016 19:06
Wahnsinn! Gott ist die Story Geil! ❤
Es wäre schön wenn es noch einen dritten Teil gebe.
Und einen Bonus mit Alex und Jairo ❤
Danke für dieses tolle Lesevergnügen!
Antwort von:  ellenchain
05.05.2016 19:41
Vielen herzlichen Dank für den lieben Kommi! Eine Bonusgeschichte gibt es sogar! ;-) Einfach hier in meinen FFs schauen! (ich würde auch mal behaupten, dass es als dritter Teil durchgeht...)
Antwort von:  Conny-chan
07.05.2016 11:44
Gern Geschehen ;) Das hatte ich direkt nach dem Kommentieren bemerkt -lach-
Ich bin "schon" bei dem Kapitel -Gefangen- :D
Antwort von:  ellenchain
07.05.2016 12:49
Hui, das freut mich! :3 Viel Spaß weiterhin beim Lesen und ich hoffe, du hast genauso viel Spaß!
Von:  Liang_Sixth
2016-01-07T21:43:31+00:00 07.01.2016 22:43
Bin gerade am Arbeiten und lese nur nebenbei aber es haut mich einfach voll raus.. ich bring gerade nichts mehr zu Stande und heul meinen Kunden fast ins Telefon... WWW XD

Danke das mein ödes Leben mit deinen Story wieder Sinn hat! XD
<3
Von:  Ksu
2015-11-05T17:55:59+00:00 05.11.2015 18:55
Wenige Geschichten schaffen es mich so zu fessel aber DU hast es geschafft *^*
Die Story ist so gut und auch meiner Meinung nach sehr gut geschrieben. Hiro und Kyoshi haben mich von Anfang an begeistert und als es dann zwischen Jiro und Alexander losging hattest du mich komplett gehabt, ich liebe die beiden *^* teils war ich mehr fixiert auf sie als auf die Hauptprotagonisten XD
Also Sorry aber du musst die Geschichte mit denn beiden weiter Führen sonst bin ich für immer traurig Q_Q

Von:  Annemi91
2015-11-04T18:13:35+00:00 04.11.2015 19:13
Hach ja meine Liebe, ich hoffe dir ist klar, das das Ende nach einer Fortsetzung schreit und ich auch. ;)
Man will doch jetzt wissen, wie sich alle im Norden einleben. Man MUSS wissen, wie sich die Beziehung von Mami und Papi entwickelt und die von Jiro und Alexander. Was Hiro und Kiyoshi erleben ist natürlich ein weiterer Punkt. Außerdem ist es interessant zu wissen, wie Hiro nun in der Schule klarkommt. Werden Jiro und Mami ebenfalls Vampire?
So viele Fragen auf die es doch eine Antwort geben muss. ;)

Sch*** auf Twilight. Diese Story muss verfilmt werden. *_____* Der erste Teil hat mich schon gepackt, aber der zweite ist nochmal um Klassen besser und der Abschluss ist wirklich soooo romantisch. Nicht kitschig, sondern einfach realitätsnah. :) Ich bin einfach begeistert. :)
Und ich freu mich auch schon soooo auf's Buch. *__* Ich hoffe, das du den zweiten Teil auch so veröffentlichst. Ich kaufe es auf jeden Fall. :D

Danke, das du uns mit einer so tollen Geschichte verwöhnt hast. :)
Von:  hayamei
2015-11-03T22:39:35+00:00 03.11.2015 23:39
ohh man ^^ ich bin total begeistert von dem Ende ;)
von Jiro und Alexander ^^ *er hat endlich seinen Namen gesagt* XDD

und auch von den Zwillingen, die jetzt zusammen einen neuen Lebensabschnitt starten

Und der Mutter, die ihre Söhne über alles liebt ;) vielen vielen Dank für diese romantische und gefühlvolle Geschichte ^^
Von:  KarliHempel
2015-11-03T22:30:57+00:00 03.11.2015 23:30
So schön..... So romantisch, ohne zu kitschig zu sein. Btw. Das könnte eins meiner Lieblingskapitel werden. Danke für diesen Bonus *_*
Von:  Sunai
2015-11-03T21:56:16+00:00 03.11.2015 22:56
Omg es ist so süß x3 Kyaaa~ Ich bin so happy grade :3
Und generell total froh wie sich die Story entwickelt hat und es so spannend war das ich immer vor meinem Handy sehnsüchtig auf ein neues Kapitel gewartet habe bis es endlich draußen war :3 also ein danke von meiner Seite an dich *-*

LG Sunai :3
Von:  Veri
2015-11-03T21:11:19+00:00 03.11.2015 22:11
Es ist sooooooo schön ! Ich bin soooooo glücklich !
Danke für dieses schöne Kapitel !
Mein kleines Herzchen macht Purzelbäume <3

Ich liebe dich einfach dafür ! Danke Danke Danke Danke :*****
Antwort von:  ellenchain
03.11.2015 22:15
(∗∕ ∕•̥̥̥̥∕ω∕•̥̥̥̥∕)
Nawww... danke DIR... ♥


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