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My Dear Brother 2

The Humans
von

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Vergeltung

Der Himmel wurde langsam heller und färbte sich in einem Babyblau. Der Schwarzhaarige starrte regelrecht paralysiert durch den kleinen Spalt der Schuppentür. Noch immer saßen sie in der kleinen Hütte und hatten sich ausgeruht. Als er sich umdrehte, sah er den Punk an seiner Schulter schlafen. Noch nie hatte es ein Mensch gewagt, sich in seiner Nähe alleine mit ihm schlafen zu legen. Auch aus gutem Grund ... selbst in einer solch angespannten Lage – nein, vielleicht genau deswegen – musste er sich mehrmals selber ermahnen, dass er Jiro nicht anfallen und aussaugen würde. Sein Geruch schwängerte unangenehm die Luft, sodass Alexander nichts weiter tun konnte, als starr in den Himmel zu blicken und zu hoffen, dass alles bald ein Ende finden würde.

Es war sicherlich die Erschöpfung, die den Menschen in die Knie zwang und zum Schlafen brachte. Die Situation war schlichtweg zu angespannt, als einfach so sich schlafen zu legen. Doch Alexander sagte nichts, machte keine Anstalten seinen neu gewonnen Freund zu wecken. Er sah es ihm nach, dass er und sein Körper irgendwann nicht mehr konnten. Bereits kurz nach ihrem Gespräch fühlte er den Kopf mit den kurzen, schwarzen Haaren auf seine Schulter rollen. Erst wollte er ihn wegschubsen, sich der Nähe entziehen, fand dann aber doch Ruhe im sanften und leichten Atmen, welches von Jiro ausging.

Als er eine Hand nach Jiro ausstreckte und ihm abermals über die leichten Kratzer an seinem Arm fuhr, zuckte er bei einem lauten Knall zusammen. War das ein Schuss?

Auch Jiro wurde von dem lauten Knall wach und sah sich verschlafen um. »W-Was ...? Was ist passiert?«, flüsterte er in den dunklen Raum. Alexander erhob sich leicht und spähte aus dem Türschlitz.

»Ich weiß es nicht ...«, murrte er und versuchte mit der ausgestreckten Hand die Tür zu öffnen.

In dem Moment sprang sie auf und knallte regelrecht gegen die Holzwand. Einige Kisten vibrierten und knackten unheilvoll mit ihrem Moder gewordenen Holz. Jiro sprang sofort auf, wurde vom Vampir in eine Ecke getrieben, vor die Alexander sich schützend stellte. Mit ausgebreiteten Armen war er bereit den Kampf endlich auszutragen; Jiro zu schützen und ihm zur Flucht zu verhelfen.

»Was zum -?!«, rief eine Frauenstimme. Die rundlichere, schon ältere Frau stand am Schuppeneingang in Schürze und sah verwirrt in die Augen der beiden Männer. »Was treibt ihr hier? Das ist Privatbesitz!«

Ihr laute Stimme ließ Jiro zusammen zucken. Das war nicht Vincent, aber diese Frau schien genau so wütend zu sein.

»Wir haben nur-«, begann Alexander, wurde aber sofort von der fast zwei Köpfe kleineren Frau am Arm herausgezogen und auf die Straße geschubst. Gerade so konnte er das Gleichgewicht halten und drehte sich um. Auch Jiro wurde unsanft aus der Scheune gezogen. »Das hier gehört der Bäckerei! Ich dulde keine herumlungernden Jugendlichen! Schlaft euren Rausch woanders aus!«

Mit diesen Worten rannte Jiro zu Alexander, der ihn sofort an die Hand nahm und wegzog. Schnellen Schrittes verließen sie die noch meckernde Frau, welche eine Kiste aus dem Schuppen zog.

»Wieso ist die denn schon hier?«, raunte Alexander los und blickte sich noch einmal um. Ihr ruhiges Versteck war damit beendet.

»Bäcker fangen früh an Brote zu backen«, begann Jiro völlig außer Atem, noch nicht ganz wach, »wir müssten dann um die 4 Uhr haben!«

»4 Uhr schon? Dann geht ja gleich die Sonne auf«, bemerkte der Vampir und sah erschrocken in den immer heller werden-den Himmel. Einzelne Laternen gingen bereits aus und ließen das warme Licht des Tages in die kleine Stadt am Strand. Jiro ging trottend vor, wusste nicht wohin, als er an einem kleinen Stand vorbeiblickte und das weite Blau sah.

»Der Strand ...«, murmelte er sehnsüchtig und sah auf die ruhigen Wellen, die ans Ufer schlugen. »Ich wollte schon so lange mal wieder hierher ... und jetzt?«

»Irgendwann«, begann Alexander und stellte sich neben Jiro, die Hand noch immer fest im Griff, als müssten sie jeden Moment noch einmal fliehen, »kannst du noch einmal hierher. Und die Sonne genießen.«

Jiro lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Ich werde nie wieder an einen Strand gehen können ... ohne an all das hier denken zu müssen.« Er lachte noch ein wenig weiter, verzwei-felt und wahrscheinlich wissend, dass er die Reise, wenn, auch alleine tätigen müsste. Denn sein bester Freund würde nicht mehr mit in die Sonne gehen können. Genauso wenig sein neuer Freund nicht. Und nur das waren die Personen mit de-nen er sich im Moment einen Urlaub hätte vorstellen können.

Alexander blickte sich interessiert um und sah die Promena-de an, die noch wie eine Geisterstadt wirkte. »Wann machen die hier auf?«

»Ich weiß nicht ... vielleicht erst so gegen 10 oder später. So früh kommen ja noch keine Touristen.« Jiro blickte sich eben-falls um und lehnte unbewusst an Alexander. »Wir sollten so langsam eine andere Unterkunft suchen. Sonst verbrennst du.« Ein Blick in den Himmel zeigte nicht eine Wolke. Es würde ein wunderschöner, sonniger Tag werden. Wahrscheinlich ge-nau richtig zum Baden.

»Ja«, hauchte der Vampir, sah ebenfalls in den Himmel, dann in Jiros Augen. »Wohin möchtest du?«

Die grünen Augen blinzelt ein paar Mal, als könnten sie noch immer nicht glauben, wieso sie diese ganze Reise auf sich genommen hatten. »Weiß nicht ... vielleicht in ein Hotel? Vor-erst?«

»Ja, das klingt gut.« Alexander musste schmunzeln. Hatte er gerade ein Hotel vorgeschlagen? Keine Pension? Sie alleine, beide zusammen in einem Hotel? Es sich nach so vielen Tagen wieder gut gehen lassen? Gemeinsam? Oder interpretierte er da zu viel hinein? Waren es die Umstände, die ihn anders über Jiro denken ließen als vorher? Oder die Tatsache, dass die Zwillinge so glücklich zusammen schienen und er dieses Glück ebenfalls suchte?

»Gehen wir dahinten -«, begann der Mensch, zuckte sofort zusammen, als er in die eine Richtung des Strandes zeigte und eine schwarze Gestalt auf sie zukam. »Nein!«

Auch Alexander erstarrt wie vom Blitz getroffen und zog Ji-ro so schnell es ging zu sich. »Das kann nicht sein! Wieso ist der immer noch hier?!«

Sie liefen auf der Promenade entlang, so schnell sie konnten, in der Hoffnung, irgendwo in irgendwelchen Häusern Unter-schlupf zu finden, sodass Vincent sie aus der Augen verlieren würde. Doch der schien die Ruhe weg zu haben – ob vom Schlafmangel oder aus anderen Gründen –, folgte den beiden panisch laufenden Männern nur langsam und schmunzelte vor sich hin. Er richtete seine große Waffe auf die beiden und schoss.

Fesseln schlangen sich um Alexanders Beine, ließen ihn zu Fall bringen und laut aufächzen.

»Nein!«, rief Jiro abermals aufgebracht, blieb sofort stehen, lief einige Meter zurück und half dem sich windenden Vampir mit den rauchenden Schlingen. »Tut es etwa weh?«

»Ah!«, raunte Alexander auf, während er an den schwarzen Seilen zog. »Sie brennen!«

In der Tat färbte sich seine Haut an den gefesselten Stellen direkt rot und hinterließen dunkle Striemen.

»Fuck! Fuck!«, schrie Jiro panisch vor sich hin, zerrte an den Fesseln und hatte das Gefühl, alles nur noch schlimmer zu machen. Es war erbärmlich stark verheddert, ließ sich kaum aufknoten. Nur Alexander schaffte es an einigen Stellen das Band zu zerreißen.

Vincent, ruhig und gelassen, kam immer näher und lachte schließlich manisch auf. Er hatte sie endlich; endlich zwei von vier. Und alles, was er tun musste, war warten, dass sie aus ih-rem dummen Versteck kamen. Die anderen zwei würde er auch noch kriegen.

»Lauf«, befahl Alexander, der noch immer mit schmerzver-zerrtem Gesicht in den Fesseln am Strand lag. »Lauf endlich!«

Jiro hielt inne, zerrt nicht mehr an den Fesseln, sondern sah verzweifelt zu Vincent, der nicht mal mehr 100 Meter entfernt war. Nein, zum Fliehen wäre es zu spät gewesen. Wie könnte er vor allen Dingen den Mann, der ihm schon so oft das Le-ben gerettet hatte, einfach so hier liegen lassen?

»Mach schon!«, schrie Alexander fast schon panisch, drückte Jiro von sich und stolperte dabei mit dem Gesicht auf den As-phalt.

»Nein«, flüsterte Jiro, bekam Tränen in den Augen und wimmerte los. Was war es nur für eine furchtbare Begeben-heit, in der sie alle steckten? Ob es Hiro und Kiyoshi wenigs-tens gut ging? Oder hatte er sie schon getötet?

»Wie rührend«, begann Vincent und stellte sich neben Ale-xander und Jiro. »Wollt ihr also gemeinsam in den Tod gehen? Den Wunsch erfülle ich euch gerne.«

»Wie kannst du einfach sinnlos Menschen töten?!«, begann Alexander wieder voller Wut zu schreien. »Er hat doch über-haupt nichts getan!«

Der schwarz gekleidete Mann zuckte nur die Schultern und grinste amüsiert, noch immer begeistert über seinen Erfolg, zwei Verbrecher zu schnappen. Und das so einfach.

»Ich vollstrecke diejenigen, die gegen das Gesetz verstoßen. Und die Beihilfe zur Flucht gesuchter Verbrecher... ist ebenso ein Verbrechen.«

Die Worte flossen durch die salzige Luft und ließen Jiro nur den Kopf schütteln. »Aber das sind unsere Freunde!«, wim-merte er und begann wieder an Alexanders Fesseln zu zerren, als könnte er noch etwas ausrichten. »Sie haben doch nieman-dem geschadet!«

»Sie haben sich selber geschadet! Und solche niederen Vam-pire fangen schnell an ... auch anderen zu schaden.« Vincent begann seine Schusswaffe zu wechseln und entsicherte die Au-tomatikwaffe. Seine Laune sank mit jedem Wort, welches er aus dem dreckigen Mund des Punks hörte.

»Gibt es denn nur Leben oder Tod? Was ist mit einem fairen Prozess?!«, schrie er los. Sein Zittern wurde stärker – Jiros Nerven lagen blank. Waren es die letzten Minuten?

»Wir sind hier nicht in Amerika. Außerdem sprechen wir von Vampiren. Die fragen dich auch nicht nach einem fairen Prozess, wenn sie dich aussaugen.«

»Das ist nicht wahr!«, rief auch Alexander, robbte, so gut er konnte über den sandigen Asphalt von Vincent weg und ver-suchte sich aus den Schlingen zu befreien. Die Wunden be-gannen aufzuplatzen und bluteten stark. »Du stellst uns immer dar, als wären wir alles hirnlose Zombies, die nur nach Gehir-nen suchen! Wir reden sehr wohl mit den Menschen, wir ver-halten uns ruhig!«

»Nur, weil du dein kleines Haustier noch nicht angeknabbert hast, musst du dich nicht wie der barmherzige Samariter dar-stellen«, brummte Vincent, nicht gewillt, sich noch weiter mit seiner Beute zu unterhalten. Er richtete die Waffe auf den Menschen und sah noch ein letztes Mal in das verängstigte Gesicht, welches in den Lauf der Waffe starrte. Er liebte diese Momente regelrecht. Ja, er sehnte sie herbei.

Als er abdrückte, ertönte ein Schrei und der Mensch fiel zu Boden.

»Oh, du willst also als erstes?«, ertönte Vincents sarkasti-sches Lachen und zog die Waffe erneut durch, um die nächste Patrone zu laden.

Alexander beugte in den Schlingen gefesselt über Jiro, den er kurz vor dem Schuss zu Boden geworfen hatte. Ein Durch-schuss – Schulter.

»Alex -«, begann Jiro zu wimmern, sah fast nichts mehr durch seine tränenüberlaufenden Augen und tastete zittrig die blutenden Wunden ab. Doch der Vampir ließ sich nichts an-merken, biss die Zähne zusammen, schnappte sich Jiro und sprintete auf den Strand. Er wusste nicht wohin; wahrschein-lich war es eine reine Verzweiflungstat. Denn gerade der Strand bot keinen Schutz. Nur einzelne Strandkörbe hätten vielleicht den ein oder anderen Schuss abgehalten.

Vincent seufzte nur auf, als sei er die Flucht der beiden end-gültig satt und erhob erneut die Waffe. Jiro hing in Alexanders Arm, wurde regelrecht von ihm mitgeschleift; weinte und wimmerte vor sich hin. Ein Schuss ertönte, doch traf er einen Schirm, der zugespannt noch aufrecht im Sand stand. Für ei-nen kurzen Moment blieben sowohl Vincent, als auch Alexan-der stehen, um zu verstehen, was für ein dummes Glück er hatte. Nicht weiter nachdenkend, humpelte er weiter. Die Schlingen waren keine Hilfe, rutschten aber mit jedem Schritt weiter runter.

»Ihr seid wohl nicht mehr ganz dicht, mich weiter auf die Folter zu spannen!«, lachte Vincent böswillig auf und folgte den beiden mit schnellerem Schritt. Er hatte keine Lust mehr noch weiter zu warten. Er wollte das Versteckspiel beenden. Endlich seinen Auftrag erfüllen, der ihn sowieso schon viel zu viel Zeit gekostet hatte.

»Alexander«, hauchte Jiro immer wieder den Namen des Mannes, der ihn wieder vor seinem Tod bewahrt hatte. Wieso war er so schwach und musste zusehen, wie sein Freund ver-blutete? Wie er wahrscheinlich wehrlos Vincent zum Opfer fallen würde?

Der Vampir sah verbissen vor sich, humpelte weiter und konnte sich schlussendlich aus den Fesseln befreien. Er warf sie in einen Strandkorb, schlurfte weiter über den Sand und spürte bereits, wie im Schwarz vor Augen wurde. Zu viel Blut hatte er verloren, um noch weiter aufrecht gehen zu können. Kein Herz pumpte genug Flüssigkeit in seinen Kopf. Er müss-te sich hinlegen, etwas trinken, warten, bis die Wunden sich schließen würden. Aber das würde den Tod bedeuten; für ihn und für Jiro!

Vincent fackelte jedoch nicht lange und holte die beiden schnell ein, auch wenn sie im Zick Zack liefen. »Oh, bitte«, war noch das Letzte, was Alexander vor dem Schuss wahr-nahm. »Ihr denkt wirklich, ihr könnt fliehen?«

Als der Schuss fiel und genau Alexanders Bauchraum traf, konnte er nicht mehr stehen. Er fiel zu Boden, direkt auf Jiro, der noch versuchte, den Fall abzufangen. Nichts half, es war vorbei. Die Patrone blieb stecken, hatte Jiro nicht berührt. Gott sei Dank, dachte der Vampir, als er sich mit zittrigen Händen von Jiro rollte, sodass er weiter laufen konnte. Es ka-men keine Worte mehr aus ihm heraus, nur noch der drü-ckende Handgriff, der den Menschen zum Gehen animieren sollte. Doch alles, was er tat, war sich wieder über ihn zu beu-gen, weinen, wimmern und immer wieder seinen Namen zu sagen. Er war besorgt, traurig und panisch, dass er gerade töd-lich getroffen wurde. Die Flüssigkeit aus der Patrone breitete sich in seinen Blutkreislauf aus. Er spürte das Brennen, das furchtbare und schmerzerfüllende Stechen. Einzig und allein die Tatsache, dass er generell wenig Blut in seinem Kreislauf hatte, bot ihm den Vorteil, dass er noch eine Weile wach blei-ben konnte. Dass er sehen konnte, wie Jiro weiterhin bei ihm blieb und immer wieder über seine Wangen strich, als könnte er ihn auf irgendeine Weise zurückholen.

»Bitte nicht«, weinte er los, kniff die Augen zusammen und legte seine Stirn auf Alexanders, die kalt und weiß wurde. A-dern stachen blau-grün heraus, färbten sich irgendwann rot und ließen jede noch so kleine Vene gegen die Haut drücken. Die Flüssigkeit der Patrone schien ihre Wirkung zu entfalten: er verbrannte von innen. Das wenige Blut in seinem Kreislauf verteilte sich nur schleppend, sodass auch die Anzeichen nur langsam voranschritten.

Schnell dagegen waren Vincents Schritte, die sofort hinter den beiden Männern zum Stehen kamen.

»Keine Angst. Ihr seht euch gleich wieder«, brummte er los, lud seine Waffe und zielte auf Jiros Kopf. Der drehte sich mit hasserfülltem Blick um und schrie Vincent entgegen.

»Du bist ein Monster! Ein wahres Monster!«

Er hatte keine Angst mehr um sich, sondern nur noch um Alexander. Er litt, er hatte Schmerzen und er raffte dahin, wie man es nicht einmal einem Tier antun würde. Keine Gemein-heit der Welt hätte Jiro ein solches Ende für Alexander denken lassen. Auch wenn sie sich noch so oft gestritten hatten: das hatte er nicht verdient. Nein, er war ein liebes Wesen; er hatte ihm beigestanden, wann immer es ging, er hatte besseres ver-dient. Ein Leben voller Glück und Liebe; nicht das eines ver-dinglichten Adoptivkindes, was mit viel Geld und noch mehr Druck aufgewachsen ist. Welches bereits im Kindesalter leiden musste und seither keine ruhige Jugend gehabt hatte. All das wollte Jiro ihm zeigen, das Glück der Welt, den Spaß und viel-leicht sogar auch die Liebe, die es wert war, weiterzuleben.

»Sag das deinem Schöpfer, Mensch«, zischte Vincent über Ji-ros Beleidigung los, zögerte für einen Moment, als er die bei-den Männer in einer innigen Umarmung sah. Gemeinsam, ja vielleicht sogar mit der Hoffnung, sich wirklich am Ende des Tunnels wieder an die Hand nehmen zu können, umschlossen sie den Körper des jeweils anderen und warteten auf den töd-lichen Schmerz.
 

»Hey«, rief die bekannte Stimme von einem anderen Punkt des Strandes aus. »Willst du nicht uns?«
 

Vincent blickte auf und sah in meine Augen. Ja, dachte ich, hier spielt die Musik.

Kiyoshi stand gewappnet hinter mir und stierte ebenfalls wi-derwärtig in die Richtung des Mannes, der gerade noch meine Freunde töten wollte. Als er uns sah, grinste er, zog die Waffe weg und sah verachtend auf Jiro und Alexander.

»Na schön. Ich lasse dich am leben ... damit du dieses Da-sein daran fristen kannst, was du getan hast. Vielleicht folgst du ihm ja sogar freiwillig?« Der Mann lachte laut auf, stieg über Jiro und Alexanders Körper, als wären es bereits Leichen und ging auf mich zu. Erst jetzt bemerkte ich den panischen Blick, den mir Jiro zuwarf. Noch immer lag er dicht an Ale-xanders blutenden Körper gepresst und weinte tausende Trä-nen. War es bereits zu spät gewesen?

Eine Wut in mir kochte hoch, ließ mich neue Kraft schöpfen und alles, was mir in meinen Kopf kam war:

Ich töte diesen Mann.

Und wenn es das Letzte ist, was ich tun werde.

Kiyoshi neben mir schien genauso entschlossen der Tatsa-che gegenüber zu stehen, dass wir uns jetzt duellieren würden, und nahm meine Hand. »Wir sollten ihn von den beiden weg-locken.«

»Ja«, kam wie aus der Pistole aus meinem Mund geschossen. Auch die echten Kugeln ließen nicht lange auf sich warten. Ein wahrer Kugelhagel fiel auf uns ein. Vincent schoss wie ein Verrückter auf uns, in der Hoffnung, eine Kugel würde uns wie Alexander treffen. Auf seinen sonst so groß geschriebenen Ehrenkodex, jeden Vampir eigenhändig zu töten, schien er zu verzichten und wirkte auf einmal ganz klein. Hauptsache, wir würden endlich sterben. Hauptsache, wir würden endlich den Löffel abgeben.

Als ich kurz vor dem Vorfall mit Kiyoshi aus dem Wald kam und den Zaun an der Stelle von Alexanders Parker überquer-ten, sahen wir die drei schon von weitem hantieren. Vincent schoss auf sie, mehrmals. Es war zu erwarten, dass er Alexan-der getroffen hatte.

»Dieser Bastard!«, kam es mir wie ein Psalm aus den Lippen gelaufen, während wir den Sandstrand entlang liefen. An ei-nem Bereich, wo nur wenige Strandkörbe lagen und die Pro-menade ihr Ende fand, blieben wir stehen. Hier würden so schnell keine Touristen aufkreuzen. Hier könnten wir uns in Ruhe die Köpfe einschlagen.

Vincent blieb ebenfalls stehen, etwas auf Abstand und lud seine Waffe nach. Er wusste nur zu gut, dass Kiyoshi gerne wie eine Furie auf andere losgehen konnte, weswegen er lieber den Abstand einhielt.

»Hast du ihn getötet?«, fragte ich sofort spitz und sah durch-dringend in seine Richtung. Meine Füße und meine Hände kribbelten. War es das Adrenalin?

»Wenn er die UV-Flüssigkeit überleben kann ... dann viel-leicht nicht«, schmunzelte Vincent und donnerte regelrecht mit seiner Stimme los. »Aber auch der Bauchschuss wird ihm das Leben kosten! Er war eh schon ein ausgetrocknetes Stück Fleisch.«

»Du mieses Schwein!«, rief Kiyoshi neben mir und stampfte in den weichen Sand. »Wieso tust du das den beiden an? Was sind deine Beweggründe?!«

»Die kennt ihr bereits«, begann Vincent wesentlich ruhiger und ließ seine Waffe fallen. »Gerechtigkeit.«

»Gerechtigkeit? War es also auch gerecht, die ganzen Vampi-re in der Innenstadt abzuschlachten? Was haben sie getan? Oder ist ihre reine Anwesenheit schon eine Strafe wert?«, fluchte ich regelrecht und ballte mein Fäuste. Alles in mir vib-rierte. Mein Bein schmerzte nicht mehr. Alles wurde taub. Der Atem abgehackt. Vincents Stimme war ganz weit weg.

»Wieso musst du immer schwätzen?« Vincents Frage schien rhetorisch zu sein, da nicht weiter auf eine Antwort warten ließ. »Die Gruppe Vampire hatte Menschen abgeschleppt und sie ausgeblutet. Für ihre Zwecke. Als ich sie bat, mit mir mit-zugehen, haben sie das Feuer eröffnet. Ich war gezwungen, sie umzubringen.«

»Ha!«, lachte Kiyoshi auf einmal sarkastisch auf. »Kann ich mir gut denken, wie du gefragt hast! Mit deiner Waffe, hm?«

»Halt dein blutendes Maul«, konterte Vincent recht salopp und legte seine sonst glatte Stirn in Falten. »Ihr seht aus wie zwei Raubtiere. Was habt ihr gerissen? Einen Hasen? Igel? Oder gleich ein Reh?«

»Wüsste nicht, was dich das angeht«, schnaubte ich los und kam einige Schritte auf Vincent zu. Soll er doch schießen, dachte ich und machte mich auf einen Sprint bereit. »Vielleicht haben wir ja noch nicht genug bekommen und wollen mehr ... so sind wir doch, oder nicht? Tiere, willenlose Wesen ... die nur ihr Blut wollen.« Mit diesem Satz fuhr ich mir über meine Lippen und stierte auf Vincents Nacken. Soll er ruhig etwas mehr Respekt vor uns haben. Wir sind zwar jung, aber genau-so gefährlich.

»An mir werdet ihr euch die Zähne ausbeißen«, lachte Vin-cent abermals donnernd los und richtete seinen Ledermantel, der durch den schnellen Gang zu Alexander und Jiro ver-rutscht war. »Versucht es ruhig. Es wird euer letzter Versuch sein.«

Kiyoshi hinter mir riss seine Lippen auf, zeigte ihm seine langen Fangzähne und begann zu fauchen. Es war das Fau-chen eines Tieres, ganz klar, aber schockierte mich das noch? Nein, wir waren Tiere.

Ich sah nur noch einen Schatten an mir vorbei rennen, Kiy-oshi auf Vincent losspringend und ihn packend. Das war mei-ne Chance, dachte ich und sprang ebenso auf ihn zu. Meine Gelenke schmerzten, es fühlte sich an, als würden sie brechen. Mein Herz raste, meine Atmung wurde flach.

Dieses Gefühl, was in mir hervorstieß – ich kannte es.
 

»Alexander«, weinte Jiro noch immer und streichelte immer wieder über die kalten Wangen des Vampirs. Der holte schon gar keine Luft mehr, sah nur noch in die grünen Augen des Menschen. Allein sein Blinzeln zeigte, dass er noch lebte.

»Was kann ich tun?«, fragte der Schwarzhaarige immer wie-der und tastete Alexanders Körper ab. »Irgendwas muss ich doch tun können!«

Doch dem Vampir war klar, dass es das Ende war. Was soll-te jetzt noch helfen? Er hatte kaum noch Blut in sich, dazu auch noch die tödliche Flüssigkeit der Patrone, die in seinem Bauchraum lag. Er spürte fast nichts mehr von seinen Körper-teilen.

Und trotz allem bereute er nicht eine seiner vergangenen Ta-ten. Er konnte Jiro retten, er hat ihn lebend aus der Sache ge-bracht. Er hat den Zwillingen geholfen, die jetzt einen letzten Kampf ausführen würden. Er hatte in einer Woche mehr er-reicht als in den ganzen letzten Jahren seines Lebens. Geld mache glücklich? Ja, vielleicht, aber nur mit den richtigen Leu-ten. Zwar murrte er oft, als er die Kreditkarte vorzeigen muss-te, trotzdem hatte er das Gefühl wenigstens dafür gut gewesen zu sein. Einen Sinn in der Gruppe zu haben. Ihnen behilflich sein zu können, auch wenn sie sich anfänglich alle nicht moch-ten.

Jiros Tränen liefen immer weiter über sein Kinn auf Alexan-ders Gesicht. Es war, als würden sie niemals mehr aufhören. Ein ganzer See bildete sich immer wieder am unteren Rand seiner glasigen Augen.

»Was kann ich tun?«, flüsterte er erneut, suchte seinen Kör-per nach Gegenständen ab. »Wenn ich dir Blut gebe – das brauchst du doch, oder? Wenn ich es dir gebe ... das hilft dir, oder? Es hat bisher immer geholfen!« Seine Stimme klang weit weg, fast aus einer anderen Dimension und ließ Alexander entspannen. Er war hier ... in den letzten Momenten seines Lebens. Hatte sich das alles gelohnt?

Mit letzter Kraft hob Alexander seine Hand und strich über Jiros Wangen. Ja, es hatte sich gelohnt. Der scheiß Punk sollte nur mal seine Prioritäten überdenken. Nicht so viel dummes Zeug tun und stattdessen stolz auf seine Leistungen sein. Stolz auf den besten Abschluss der Stufe sein. Stolz auf sich und seine Ziele sein. Sich nicht dümmer geben, als er war.

Als die grünen Augen in die Eisblauen sahen und immer wieder Tränen fallen ließen, konnte sich auch Alexander eine leichte Feuchte nicht verkneifen. Wieso dauerte das so lange? Er wollte endlich gehen, dem Menschen seinen Frieden lassen. Je länger er hier liegen würde, desto länger würde Jiro leiden.

»Ich geb dir mein Blut«, verkündete Jiro, tastete abermals seine Kleidung ab. »Ich brauche ... einen spitzen Gegenstand... irgendwas ... « Er suchte den Strand ab, die Körbe, fuhr mit den Augen die komplette Gegend ab. Jiro hätte aufstehen, auf Suche gehen müssen, um einen Gegenstand zu finden, der ihn verletzen könnte. Doch das hätte alles zu lange gedauert, er wäre definitiv zu spät gekommen!

»Beiß mich!«, befahl Jiro schlussendlich, zog das Shirt von seiner Schulter und entblößte dabei seine Hauptschlagader. »Das kannst du doch, oder? Dann kannst du trinken!«

Der Mensch war sich selbst nicht so sicher, was er da von sich gab. Wollte er sich also nun endlich eingestehen, dass es Vampire gab und dass genau vor ihm einer saß, der im sterben lag?

Alexander schüttelte den Kopf und streichelte abermals über Jiros Wange. An seiner glatten Haut fuhr er zur Schulter und strich über die blasse Stelle. Für einen Mann hatte Jiro wirklich gepflegte Haut. Vor allen Dingen für einen Punk.

Ein leichtes Schmunzeln fuhr über Alexanders Lippen. Die-ser Mensch war ihm sehr ans Herz gewachsen. Und ihn mit Tränen in den Augen verzweifelt über ihm hockend zu sehen, brach ihm regelrecht das Herz.

»Trink doch!«, befahl Jiro erneut, beugte sich über Alexan-ders Gesicht und presst ihm regelrecht seinen Hals auf die Lippen. »Ich halte das aus! Ich fühle mich gut, ich kann dir helfen!« Zwar brach jedes Wort am Ende ab, da er schluchzte und Luft holen musste; und somit nicht mal ansatzweise ernst zu nehmen klang; trotzdem presste er sich willensstark gegen Alexander und wollte ihm dadurch zeigen, dass er es ernst meinte.

Doch alles, was kam, war ein sanfter Kuss auf Jiros Hals.

»Nein!«, rief Jiro und löste sich noch einmal von Alexander. Mit etwas erröteten Wangen sah er in die blauen Augen, die ihn nur noch durch Schlitzen ansahen. »Nicht so was ... bei-ßen!«

Alexander schmunzelte eine Weile. Dass sie noch so viel Zeit füreinander hatten, freuten ihn auf eine gewisse Weise. So konnte er Abschied nehmen; auch wenn es gleichzeitig furcht-bar quälend war, ihn so lange auf die Folter zu spannen.

Jiros Blick hingegen wurde immer panischer, einzelne Trä-nen trockneten schließlich, obwohl noch welche hinzukamen, als er ein Stück vom Strandkorb neben ihnen abbrach und sich gegen den Hals drückte. Es würde keine saubere Wunde wer-den, aber es ging Jiro nur noch darum, dass Alexander von ihm trank. Ehe er sich versah, schlug ihm eine Hand gegen den Arm, sodass er das Stück Holz fallen ließ, einen Kratzer hinterließ und nach vorne zu Alexander kippte. Der packte ihn für seine Verhältnisse noch recht fest am Arm und sah ihn wütend an.

»Aber du musst!«, rief Jiro erneut, suchte sofort mit der an-deren Hand nach dem abgesplitterten Stück Holz. Verzweifelt durchsuchten seine Hände den Sand und schabten durch die Blutlache, welche von Alexander kam.

Noch mit den Gedanken bei seinem selbstverletzenden Ver-halten, merkte er nicht, wie Alexanders Hand in seinen Na-cken fuhr und den kleinen Kratzer an seinem Hals fixierte. Sollte er es tun? Ein letztes Mal die Regeln brechen und Jiro schmecken? Die süßen Tropfen als Erinnerung in den Tod nehmen?

Als Jiro sich nicht mehr gegen den festen Griff von Alexan-der wehren konnte, blickte er wieder in sein Gesicht und kam seiner Nase recht nah. »H-Hör auf! Wie kannst du jetzt an so was denken?«, rief er an einen Kuss denkend, streifte noch mit der Wange an den kalten, blauen Lippen vorbei und sah im Augenwinkel die spitzen Zähne aus Alexanders Mund stechen.

Er hielt die Luft an, wurde an den kalten Körper gepresst und sah auf das Meer.

Schmerzverzerrt öffnete er den Mund, um einen Schrei zu entlassen, bekam jedoch keinen Mucks heraus und klammerte sich an Alexanders Schultern. Es war real, es war so real, wie es nur sein konnte, dachte Jiro und kniff letztendlich die Au-gen zu, während er dem Schmerz an seinem Hals nachgab. Alexanders Zähne hatten sich bereits bis zum Anschlag in sei-ne weiche Haut gepresst und ließen die warme Flüssigkeit in seinen Mund laufen. Entsetzt hörte Jiro den Vampir gierig schlucken; sein Blut schlucken. Bis zu letzten Sekunde, wo er vorhatte, sich den Hals aufzuschneiden, um Alexander zu näh-ren, hatte er gehofft, dass es alles nicht real war. Egal, was pas-siert war, die Hoffnung blieb bestehen, dass das, was in den Packungen, kein Blut, sondern irgendein Saft war. Dass der Sonnenbrand fake war. Dass das Gerede um Vampire nur Show war.

Aber jetzt, wo er die Zähne gesehen hatte, die vorher nicht da waren, und sie aus erster Hand in seinem Hals spürte, musste sich Jiro eingestehen, dass es wahr war. Alexander war ein Vampir. Und er trank sein Blut.

Es war wie ein nährendes Lebenselixier, was Alexanders Körper durchstreifte und ihn wieder seinen Körper spüren ließ. Er trank viel zu viel, das wusste er und er spürte, wie Jiros Körper langsam schwächer wurde. Vorsichtig griff er in den Nacken des Menschen, die andere Hand um seine Taille, dreh-te ihn auf die Seite und legte sich sachte auf den fast bewusst-losen Körper. Jiros Hände lagen noch immer auf Alexanders Schultern, rutschten schließlich an seiner Brust entlang und ruhten angewinkelt auf seiner eigenen Brust. Die liebevolle Umarmung ließ den Vampir schlussendlich wieder zu Sinnen kommen, sodass er noch ein letztes Mal die zwei Löcher küss-te, aus denen bereits keinerlei Blut mehr floss. Nur langsam kam ein feuchter Schimmer zurück.

Ihre Augen trafen sich abermals, doch diesmal war es ein ruhiger Augenkontakt. Jiro musste schwächlich grinsen. War das gerade wirklich passiert? Er wurde von einem Vampir ge-bissen? Würde er jetzt auch einer werden? Oder hatte er ein-fach nur seinen Freund gerettet?

Vorsichtig strich Alexander mit dem Daumen über Jiros Wangen; sah ihn dabei dankend an. Die Wunde an seinem Bauch war noch immer offen und blutete; auch die inneren Verbrennungen taten seinem Körper nicht gut.

Doch das tat nichts zur Sache.

Der Moment gehörte ihnen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
War das nicht romantisch? ;-))

Nächstes Kapitel geht's natürlich in die finale Runde, in der sich Hiro und Kiyoshi gut schlagen müssen! PRÜGELEI :D

Bis also in zwei Tagen! :3

Und ich entschuldige mich für diese dummen Bindestriche! Manchmal tauchen sie auf - manchmal nicht! :-/ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Liang_Sixth
2016-01-07T21:43:31+00:00 07.01.2016 22:43
Bin gerade am Arbeiten und lese nur nebenbei aber es haut mich einfach voll raus.. ich bring gerade nichts mehr zu Stande und heul meinen Kunden fast ins Telefon... WWW XD

Danke das mein ödes Leben mit deinen Story wieder Sinn hat! XD
<3
Von:  Veri
2015-10-28T20:57:24+00:00 28.10.2015 21:57
Oh mein Gott war das schön !
Das war echt auf die schönste Art romantisch, wie es nur sein konnte <3
Ich freu mich auf mehr <3
Von:  KarliHempel
2015-10-28T20:25:00+00:00 28.10.2015 21:25
Ich weiß nicht, irgendwie habe ich noch immer die Hoffnung, dass jeden Moment Papi kommt und Vincent fertig macht. Aber ich glaube, damit liege ich völlig falsch... Jedenfalls...
Hatte ich jetzt richtig Herzrasen. Hier wird doch wohl keiner von den guten sterben? Ich kann das nächste Kapitel kaum erwarten.... Und hoffe, dass ich jetzt noch schlafen kann XD


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