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My Dear Brother 2

The Humans
von

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Ersehnt

»Fuck!«, rief ich laut los und zog Kiyoshi vom blutenden Mann weg, der noch immer am Boden lag und sich nicht regte. »Ich höre den Vogel! Er kommt näher!«

»Was?«, peitschte Jiro in einer extrem hohen Stimme aus seinen Lippen und klammerte sich stärker an Alexander ran. Der sah sich ebenfalls energisch um, rannte mit Jiro an der Hand aus der Scheune und blickt ein den Himmel.

»Wir müssen fliehen«, murmelte er, als er eine schwarze Gestalt am dunklen Himmel fliegen sah. »Sofort!«

Ich fackelte nicht lange rum, durchsuchte die Taschen des Mannes und zog ein Handy raus. Schnell tippte ich den Notruf, wartete kurz, bis jemand ranging.

»Dafür haben wir keine Zeit, man!«, schrie Alexander genervt und deutete mir und Kiyoshi an, dass wir uns endlich in Bewegung setzen sollten.

»Hallo? Hallo, ja, ein Mann liegt hier verletzt in seiner Scheune! Wir sind auf der Durchreise und haben ihn hier entdeckt, er braucht Hilfe!«, sprach ich aufgeregt in das Telefon, viel zu hektisch und wahrscheinlich viel zu schnell, denn die Dame am anderen Ende fragte mich all die Dinge, die ich ihr davor sagte, alle noch einmal. Kiyoshi zog mich unterdessen von dem Mann weg, aus der Scheune und den anderen beiden Männern hinterher, die bereits hilflos am Laufen waren. Irgendwo ins Feld rein, nicht wissend, welche Richtung die richtige wäre.

Erst als ich das hektische Gespräch beendete, das Handy in meine Hosentasche steckte, sah ich die Landkarte in Kiyoshis Hand. Er hatte sie wahrscheinlich noch schnell gegriffen, sodass wir nicht ganz ohne irgendwelche Hilfsmittel dastanden.

Der Vogel kreiste weiterhin über unsere Köpfe und krähte hier und da einige Laute. Wahrscheinlich informierte er Vincent über unsere Lage, sodass er ruhig folgen konnte.

»Wie konnte er uns so schnell finden? Hier? Mitten im Nichts?«, rief Alexander aufgebracht, während er durch das Gestrüpp des Feldes lief.

»Wahrscheinlich durch die Polizei! Die hatte eine Fahndungsmeldung im Radio raus gebracht!«, antwortete ich mit Kiyoshi an der Hand rennend. So langsam holten wir die beiden anderen Männer wieder ein und liefen auf gleicher Höhe.

»Die haben was?!«, bekam ich als Antwort zu hören. »Das ist ja wohl ein schlechter Scherz!«

Ja, das hoffte ich auch. Doch die Zeichen standen gegen uns.

Wir liefen und liefen, wussten nicht wirklich wohin, bis der Vogel ein wenig von uns Abstand nahm und wir kurz verschnauften. Besonders Jiro rang mit Luft. Er hatte seit Tagen nichts anständiges gegessen und musste sich trotzdem so verausgaben. Er würde früher oder später umkippen, so war ich mir sicher.

»Ich schau kurz auf die Karte«, gab Kiyoshi zu verstehen und faltete die kleine Landkarte aus, die er hat mitgehen lassen. »Dann wissen wir wenigstens wohin wir laufen müssen!«

An Alexanders Blick konnte ich erkennen, dass ihm das so gar nicht gefiel, noch groß Sightseen zu planen. Doch eine andere Möglichkeit blieb uns nicht. Wir mussten langsam mal mit System an die Flucht rangehen.

»Wir sind da ... und ... äh ...«, murmelte Kiyoshi vor sich hin, während er die Karte hielt. Er sah auf die bunten Felder, als seien sie Hieroglyphen.

»Lass mich mal gucken!«, kam Jiro hinter Alexander hervorgetreten, atmete immer noch ein wenig schwerfällig, nahm sich die Karte jedoch recht zügig und studierte sie schnell. »Wir müssen Richtung Osten laufen ... wie finden wir jetzt raus, wo Osten ist?«, seufzte er, blickte sich um, deutete dann mit dem Finger die Landschaft an.

»Die Sonne ging vorhin da hinten unter, also ...«, murmelte Alexander dann vor sich hin, stellte sich zu Jiro an die Karte und lugte auch kurz rein.

Da kam der Vogel wieder näher. »He, Leute, jetzt mal schnell, wir müssen uns entscheiden!«, brummte ich nervös und beobachtete den Greifvogel, wie er über uns drehte, als wären wir leichte Beute.

»Da lang!«, rief Jiro schlussendlich und schien Orientierung gefunden zu haben. Schnell faltete er die Karte wieder zu, lief sogar voraus, sodass wir Drei nur noch folgen mussten.

 

Nach nicht einmal wenigen Schritten endete das Feld abrupt, sodass wir wieder mitten auf einer Straße standen. Nur einzelne Straßenlaternen leuchteten in die Dunkelheit und ließen auf eine Landstraße schließen, die in unsere Richtung führte.

»Die können wir nehmen!«, bestätigte Jiro und fing an zu laufen.

»Wieso haben wir sein Auto nicht mitgenommen?«, stöhnte ich über unseren Fehler und voreilige Flucht.

»Kein Diebstahl mehr!«, fluchte Alexander genervt und rannte hinter Jiro her.

Doch ehe wir uns in Sicherheit bringen konnten, kam ein riesiger Jeep auf uns zugefahren. Wir stoppten, während er unaufhörlich auf uns zufuhr, sprangen verzweifelt von der Straße und hörten den Jeep quietschend anhalten. Für einen Moment hoffte ich auf jemanden, der uns helfen wollte, doch diese Hoffnung wurde schnell durch ein bekanntes Gesicht getrübt.

»Endlich!«, donnerte es aus der Tür, die mit Schwung aufging und schwere, schwarze Boots folgen ließen. Der schwarze Ledermantel wehte im Wind und kam bedrohlich schnell auf uns zu. »Endlich, ihr Flüchtlinge! Kriminelle! Mörder!«

Jede dieser Anschuldigungen hatten einzig und allein ihn als Grund! Wäre er nicht hinter uns her ... hätten wir niemals irgendeine dieser Sachen getan! Und wieso nahm er sich jetzt auch noch Autos? Das war unsere Idee!

»Lauft, lauft!«, schrie ich verzweifelt, scheuchte die anderen auf, die sofort von der Landstraße flüchteten und ins Kornfeld rannten. Wohin sollten wir jetzt fliehen? Hier gab es weit und breit kein Wald, keine Bäume, keine Büsche, in denen man sich hätte verstecken können. Nicht einmal Häuser gab es!

Vincent folgte uns, diesmal ohne Jeep und rannte mit Schusswaffen bewaffnet hinter uns her. Außerdem hielt er eine Schlinge in der Hand, mit der er wahrscheinlich hoffte, einen von uns gefangen nehmen zu können. Dieser Mann würde erst ruhen, wenn wir alle tot wären!

»Was sollen wir machen?«, wimmerte Jiro, der von Alexander an der Hand regelrecht gezogen wurde. Man merkte an seinem kraftlosen Schritt, dass ihn nur das Adrenalin zu solchen Fähigkeiten noch brachte. Auch meine Schusswunde schmerzte noch hier und da, ließ mich aber auch vergessen, dass ich noch weitere Wunden zu tragen hatte. Kiyoshi neben mir schwieg einfach, konzentrierte sich auf den Weg vor ihm. Wahrscheinlich war das wieder sein "ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll" – Schweigen.

Vincent blieb hartnäckig hinter uns, holte sogar ein Stück auf und richtete seine Schusswaffe auf uns. Ein heißer Schub durchfuhr meinen Körper, als ich in den nahen Lauf sah.

Er schoss.

Ein Kreischen ging los, Kiyoshi bückte sich sofort, Alexander blieb stehen und stellte sich sofort schützend vor Jiro, während ich auf den Boden fiel.

Ich zitterte, sah an mir runter, fand aber keine Schusswunde. Nein, dachte ich, er hat mich nicht getroffen. Da auch alle anderen nur verzweifelt in die Gegend sahen, schien niemand getroffen worden zu sein. Glücklich über das vorübergehende Glück, richtete ich mich wieder auf, wollte loslaufen und fiel sofort wieder hin. Etwas an meinem Fuß hielt mich davon ab. Es war eine Art Leine, eine Fessel oder irgendetwas anderes, was mich am linken Fuß gepackt hatte und mit einem langen Schlauch zu Vincent führte, der sofort auf uns zugerannt kam.

»Fuck, nein!«, rief ich verzweifelt, packte mein Bein und versuchte es aus der Schlinge zu befreien. Vergebens. »Lauft! Lauft schon!«

Doch die anderen blieben starr stehen, konnten wahrscheinlich selber noch nicht ganz fassen, dass ich mich in Vincents Fängen befand.

In dem Moment zog Vincent eine andere Schusswaffe und richtete den Lauf auf mich. Kiyoshi neben mir warf sich sofort auf meinen Körper und klammerte sich feste an mich.

Nein, dachte ich, das will ich nicht! Nicht du! Geh weg! Renn! So schnell du kannst!

Ich blickte noch in den Lauf der Schusswaffe, die sich fast direkt vor meinem Gesicht befand, als ein Schatten über uns hinweg flog, Vincent umwarf und ihn zu Fall brachte. Er schoss, jedoch in die Luft, sodass sowohl Kiyoshi als auch ich gerettet waren. Zumindest für's Erste.

»Du Abschaum!«, schrie Vincent erbost über die Tatsache, dass sich Alexander wieder auf ihn geworfen hatte, um ihn mit seinem Fuß ins Gesicht zu treten.

»Du bist der Abschaum!«, brüllte er als Antwort, trat noch einmal zu, sprang dann auf und sprintete an uns vorbei. Kiyoshi hatte in der Zwischenzeit das Seil zerrissen, da es aus Gummi schien und half mir auf. Schnellen Schrittes rannten wir von Vincent weg, der sich nur langsam vom schmerzenden Tritt von Alexander erholte. Im Augenwinkel erkannte ich eine schiefe Nase und roch Blut. Sie war wohl gebrochen.

»Ich danke dir, Alexander!«, brüllte ich ihm zu, der Jiro mittlerweile wieder auf die Arme genommen hatte, sodass wir schneller voran kamen.

»Pass einfach mehr auf!«, war die nicht ganz zu Unrecht gesprochene Antwort.

Das Feld erstreckte sich noch einige Meter und war mit einem hohen Zaun umzäunt. Stacheldraht schützte die oberen Ebenen vor Eindringlingen.

»Das muss das Naturschutzgebiet sein!«, verkündete Kiyoshi und sah sich interessiert um. Doch ein Eindringen schien schier unmöglich zu sein; selbst für Vampire war der Zaun zu hoch.

»Naturschutzgebiet?«, wiederholte Alexander, der Jiro noch weiter trug und am Zaun entlangging. »Wie kommen wir zum Strand?«

»Da ist ein Strand, aber eben ohne Menschen!«, erklärte ich und ging den Zaun ebenfalls ab. Es musste doch irgendwo einen Eingang geben, damit auch Menschen mal hierher kommen konnten!

Doch Vincent blieb uns auf den Fersen, kam schon wieder angerannt und donnerte mit seiner Stimme verheißungsvolle Drohungen. »Gleich seid ihr endlich Geschichte!«

»Räuberleiter!«, schlug ich vor, bückte mich und half Kiyoshi auf meine Hände.

»Trotzdem zerreißen wir uns die Haut an dem Draht«, bemängelte Alexander, der Jiro trotzdem hochhob, damit er von Kiyoshi angenommen wurde.

»Ich regel das«, brummte Jiro, zog sich seine Lederjacke aus, warf sie über den obersten Draht und deutete mit einer Handbewegung an, dass es sicher ist.

»Deine Lieblingsjacke«, rief ich sofort aufgebracht, als sie beim Übersteigen von Jiro einige Risse bekam.

»Die war eh hinüber. Alles hat ein Ende«, lachte er sichtlich traurig über die Tatsache, dass er sie verloren hatte. In ihr steckte viel Liebe, viel Zeit und eigentlich auch viel Kunst. Immerhin war alles an ihr selbst gemacht. Diese Flucht schien mehr Opfer zu verlangen, als uns allen lieb war.

Als Jiro auf der anderen Seite am Gitter hing, deutete Kiyoshi mit einem Nicken Alexander an, dass er ebenfalls rüber springen sollte. Ohne weiter zu Zögern, nahm er Anlauf, ließ sich von Kiyoshi hoch helfen und sprang mithilfe der Jacke über dem Draht auf die andere Seite. Dort fing er den Fall von Jiro ab, der das Gitter losließ und in Alexanders Armen landete.

»Jetzt du«, schubste ich Kiyoshi ein gutes Stück hoch, sodass er sich am obersten Gitter festhalten konnte. In dem Moment kam Vincent mit seiner Schlingenwaffe und schoss erneut auf uns los. Er traf Kiyoshi am Arm, versuchte ihn vom Gitter zu ziehen. Mühselig kämpfte er dagegen an und verzerrte das Gesicht. Ich ließ mir die Show nicht lange nehmen, sprintete also auch einmal auf Vincent zu, schlug ihm mit voller Kraft den Arm weg, sodass er die Waffe fallen ließ.

»Du miese Ratte!«, rief ich ihm zu und trat noch einmal zu, doch Vincent war schneller. Er packte mich am Bein, zog mir den Boden unter den Füßen weg und warf sich mit Gewalt auf mich.

»Hiro!«, schrie Kiyoshi, blieb noch immer auf der obersten Sprosse des Zaunes sitzen und sah verzweifelt zu, wie ich mit Vincent kämpfte.

»Für einen Noneternal gar nicht mal so schlecht«, lobte mich Vincent recht amüsiert und schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Da waren Stahlkappen drin; wie bei einem Schlagring. Es brannte, es tat weh und ich hatte das Gefühl meine halbe Gesichtshälfte war hinüber.

»Scheiße! Ich reiß dir die Augen aus!«, brüllte ich ihm entgegen, hob beide Arme und presste meine Daumen in sein Gesicht. Zwar verfehlte ich seine Augbälle, kratzte ihn trotzdem recht effektiv ins Gesicht, sodass er von mir abließ. Ich nutzte die Gelegenheit, um unter ihm herzukriegen, schnell auf den Zaun zuzuspringen, Kiyoshis Hand zu schnappen und vom ihm über den Zaun geworfen zu werden. Ich landete nicht sehr sanft, ganz im Gegenteil: ich spürte sofort den harten Boden unter meinem Körper.

Mein Bruder folgte natürlich sehr elegant, kam kaum auf dem Boden auf und zog mich mit viel Kraft wieder auf die Füße.

»Geht's?«, fragte er aufgebracht mit Tränen in den Augen. Ich nickte nur, murmelte irgendwas unverständliches und fing bereits wieder an zu laufen. Ich wollte nur noch weg. Das bisschen "Kämpfen" hatte mir den letzten Rest gegeben. Mein Körper fühlte sich an, als wäre er Gummi.

Jiro und Alexander fügten sich wieder zusammen, sodass Jiro auf den Schultern des Vampirs ruhen konnte. Trotzdem er kaum noch etwas tun musste, atmete er angestrengt, sein Kopf war rot und auch er schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Diese ständige Flucht machte uns allen zu schaffen. Die Todesangst hingegen ließ uns immer wieder neue Kraft schöpfen. Niemand wollte aufgeben und sich dem Feind stellen.

Das Naturschutzgebiet war in der Tat sehr schön und naturbelassen. Eine großflächige Wiese mit vielen Blümchen und Kräutern wuchs wild am Zaun entlang. Sogar ein paar Bäume und Büsche gab es, auf die wir zu rannten, in der Hoffnung, wir könnten uns darin verstecken. Denn Vincent ließ es sich auch nicht nehmen unsere Lederjackenvorrichtung zu seinen Zwecken zu benutzen und uns zu folgen.

Es wunderte mich, dass er nie wild um sich schoss. Hätte er einfach mal draufgehalten, hätte er uns mit Sicherheit längst erwischt. Doch wahrscheinlich lag es in seinem Ehrenkodex zugrunde, dass er jeden Vampir eigenhändig mit seinen Stahlkappen in den Handschuhen und einem miesen Grinsen im Gesicht verabschiedete und dem Gott der Toten überließ.

»Wohin?«, fragte Kiyoshi aufgebracht und drehte sich immer wieder um. Sein Händedruck wurde stärker, als wir den Wald erreichten. Nie und nimmer war der groß genug, um uns Schutz zu bieten, dachte ich und betrachtete die spärlich verteilten Bäume. Und das Meer wäre auch keine Alternative, jedenfalls keine nahe liegende mit dem Meuchelmörder im Nacken.

»Keine Ahnung«, brummte ich aufgeregt und spürte meine Knochen. Die Wunden taten weh, verheilten viel zu langsam und ließen mich Sternchen sehen. Mein Gesicht brannte, der Atem stockte und ich wurde langsamer. Ich konnte nicht mehr!

»Nein, Hiro, wir müssen weiter! Komm!«, rief Kiyoshi und zerrte an meinem Arm, sodass ich mit geschlossenen Augen weiterlief. Vincents Schritte wurden lauter und aufdringlicher, sie vibrierten regelrecht in meinen Ohren und ließen mich fast taub werden. Alles in mir drehte wieder durch; jetzt hatte ich sogar das Gefühl, ich könnte den rauchigen Opiumgeruch von Vincent riechen, obwohl der mehrere Meter von uns entfernt war.

 

Schließlich spürte ich ihn. Den Sand unter meinen Füßen.

Endlich, so dachte ich, endlich waren wir hier.

Das Meer rauschte angenehm und schien die Ruhe selbst zu sein. Nichts ließ darauf schließen, dass vier Männer um ihr Leben rannten.

Es war eine lange Bucht, in der wir uns befanden. Zwar war das Meer aufgrund der Nacht bedrohlich schwarz gefärbt; trotzdem konnte ich mir gut vorstellen, wie traumhaft schön es am Tag hier sein musste. In der Sonne zu liegen und sich zu bräunen. In den Himmel zu schauen und zu sinnieren. Einfach die Seele baumeln zu lassen, ohne andere Menschen um uns herum. Nur wir... alleine... an einem schönen Ort, mit schönen Menschen und einer schönen Zeit.

Wieso konnte es nicht so sein? Wieso mussten wir bei Nacht über den beschwerlichen Sandweg rennen, um unserem Mörder zu entfliehen?

Von weitem konnte ich das Ende des Naturschutzgebietes sehen. Eine nette, kleine Promenade verlief am Strand, wo man kleine Souvenirs kaufen konnte. Strandliegen und zusammengeklappte Schirme standen noch vom Tag benutzt auf dem Sand. Doch alles hatte zu, die Nacht hatte erst begonnen. Ein schneller Blick auf das Handy sagte mir, dass es gerade mal 23 Uhr war. In nicht einmal 6 stunden würde die Sonne wieder aufgehen. Doch 6 Stunden konnten lang werden, wenn wir sie laufend verbringen mussten. Wir brauchten eine neue Gelegenheit zu entkommen.

»Wo sollen wir hin?«, stöhnte Alexander angestrengt, der noch immer bewundernswert lange Jiro auf seiner Schulter trug.

»Ich weiß nicht«, murrte ich verzweifelt zurück und hielt mir die Hand vor die Brust. Es stach gewaltig und es tat weh ...

»Vielleicht finden wir ein Haus, in das wir können?«, schlug Kiyoshi vor, der auch immer langsamer wurde.

Nein, dachte ich. Es war nun soweit.

Wir mussten uns stellen. Anders ging es nicht. Es musste ein Ende haben und das war jetzt gekommen!

 

Als ich stehen blieb und mich außer Atem nach vorne beugte, fing Kiyoshi wieder an nervös an mir zu ziehen. »Nicht stehen bleiben! Hiro!«

Doch ich konnte mich nicht mehr regen. Da war keine Kraft mehr, da waren nur noch Schmerzen. Nach all diesen Strapazen, in denen wir es trotzdem geschafft hatten auch mal zu Lachen, fand es ein Ende.

Als Alexander merkte, dass wir nicht mehr folgten, blieb auch er stehen und sah mit großen Augen zu uns rüber. Kiyoshi zog wie ein Weltmeister an mir, versuchte mich weiter ins Laufen zu kriegen, während ich einfach nur noch vorne gebeugt auf den Sand starrte und versuchte Luft zu kriegen.

»Ist es ...«, murmelte Jiro leise, der ebenfalls seine Augen nicht von mir lassen konnte. Eine kleine Träne bildete sich in seinen Augen. »Ist es vorbei?«

Sanft, fast schon liebevoll, nahm Alexander den Mann von seiner Schulter und setzte ihn auf dem Sand ab. Nur ein halber Kopf trennte ihre Größe, trotzdem blickte Jiro zum Vampir hoch, als sei er die Instanz, die es entscheiden sollte.

Ein zögerliches Nicken folgte. Die Augen starr auf mich gerichtete. Erst, als Vincent wieder näher kam, seinen Schritt ebenfalls verlangsamte, kam die Hoffnungslosigkeit in Alexanders Statue. Der starke Griff um Jiros Hüften wurde nun lockerer, die Schultern sanken zu Boden und der Blick senkte sich. Doch Jiro blinzelte noch immer aufgeregt in Alexanders Gesicht, als könne er seine Entscheidung noch einmal überdenken.

Nur Kiyoshi bebte noch voller Leben, brüllte, zerrte und riss förmlich an mir rum. Erst als Vincent fast direkt hinter mir stand und er direkt zu meinem Bruder sah, der wie erstarrt aufhörte an mir zu zerren, richtete ich mich auf und seufzte.

»Ist es das, was du wolltest?«, fragte ich in einem direkten Ton. Die Wut lag tief in meinen Knochen und kam langsam hoch. Als ich mich umdrehte, in Vincents Augen sah und eine leichte Brise seine langen Haare verwehten, presste ich meine trockenen Lippen zusammen. Es war zwar vorbei, aber Vincent sollte nicht denken, einer von uns würde sich einfach so ergeben.

 »Es ist zumindest endlich so weit, dass ich euch in Gewahrsam nehmen kann«, schmunzelte der Angesprochene, fuhr sich mit seinem Lederhandschuh über das Gesicht und verschmierte das Blut. »Ihr habt euch tapfer geschlagen, das muss ich gestehen. Ihr wart hartnäckiger als so mancher tausendjähriger Vampir.«

»Erfüllt dich das mit Stolz? Vampire abzuschlachten als wären es keine Lebewesen?«, fragte ich ihn in einem harschen Ton und kam einen Schritt auf ihn zu. Kiyoshi packte sofort meinen Arm, als wolle er mich von unüberlegten Handlungen abhalten.

Vincent lachte gedämpft, sah kurz zu Boden und schüttelte den Kopf, als könne er nicht ganz fassen, dass ich tatsächlich ein Gespräch mit ihm anfangen wollte. »Ja, es erfüllt mich mit Stolz den Abschaum der Gesellschaft zu vernichten.«

»Du hältst uns für Abschaum?«, schrie Alexander los, als hätte ihn genau dieser Satz wieder zum Leben erweckt. Das Wort Abschaum fand in seinem Kopf eine ganz neue Bedeutung. »Kennst du überhaupt irgendjemanden von uns näher? Bist du überhaupt in der Position so über uns zu urteilen und zu entscheiden, wer sterben soll und wer nicht?«

Doch Alexanders Worte fanden bei Vincent keinen Anklang. Nur ein leichten Schmunzeln streifte seine Lippen. Der drei Tage Bart auf seinen Wangen zuckte amüsiert.

»Ich kenne dich Alexander Von Hofstätt. Ich kenne deine Familie und sie kennt mich. Und sie sind sehr darüber pikiert, dass ihr eigener Sohn sich mit Kriminellen abgibt«, säuselte er, als könne er Alexander damit noch weiter erniedrigen. »Sie waren bereit, dich als ihren Erbe einzutragen. Als Nachfolger. Doch das wird jetzt wohl nicht mehr geschehen ...«

Alexanders Blick blieb unergründlich, doch Jiro, der ihm so nah wie noch nie stand, sah in seinen Augen die Wut und die Trauer, die Vincents Worte ausgelöst hatten.

»Ein Jammer, dass gerade Adoptivkinder auf die schiefe Bahn geraten ...«, brummte er noch mit einem fiesen Grinsen, schwang seine Waffe in seinen Händen und entsicherte sie. Alexander ballte die Fäuste, stieß ein Knurren aus und wollte schon auf Vincent zu stürmen – da stellte sich Jiro vor ihn und hielt sachte die Hände gegen Alexanders Brust. Wie erstarrt, blieb der Schwarzhaarige stehen, atmete angestrengt aus, unterdrückte die Wut, so gut es ging und begann mit den Lippen zu zittern.

»Du mieses Arschloch ... du gehörst einfach nur in die Hölle«, murmelte er vor sich hin und ließ Jiro vor sich stehen. Der senkte den Blick und lehnte gegen die Brust des Vordermanns. Gerade noch so hatte er Alexander vor einem weiteren Angriff abgehalten. Blind vor Wut wäre es sicherlich sein letzter gewesen. Und genau das wollte Vincent erreichen.

»Du willst uns jetzt also alle abschlachten? Obwohl es zu Beginn nur um mich ging?«, fing Kiyoshi nun auch an, sich mit Vincent zu unterhalten. Ich wusste nicht genau, was wir damit erreichen wollten, denn sicherlich ließ Vincent nicht einfach so mit sich reden. Wir würden ihn in keinem Fall von der Absicht abbringen, uns zu richten. Im besten Falle hatten wir eine Verschnaufspause.

»Kabashi ... Ich kann euch nicht leiden«, begann Vincent und schwang abermals bedrohlich seine Waffe in der Hand. »Ich kann euren Vater nicht leiden, euren Einfluss und eure abgehobene Art.«

»Das ist ein wirklich toller Grund«, platzte ich dazwischen und ging noch einen Schritt auf ihn los. Auf einmal klickte es, er schoss und ich spürte ein weiteres Loch in meinem Bein. Diesmal war es der Unterschenkel gewesen. Ich stieß einen stummen Schrei aus, öffnete den Mund und schloss die Augen. Zu meiner eigenen Verwunderung blieb ich stehen, fiel nicht zu Boden. Kiyoshi hinter mir hielt sofort meine Brust, sah mich eindringlich an und tastete meinen Hals ab, ob ich noch anwesend wäre. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich in sein besorgten Augen, die sich schnell wieder zu Vincent umdrehten und ihn vernichten ansahen.

»Du bist das wohl dreckigste und niederste Tier, was ich je gesehen habe!«, schrie er aufgelöst. Tränen bildeten sich in seinen Augen, während ich mit dem Bewusstsein rang.

»Ha!«, pustete Vincent aus seinen Lippen und ging einige bedrohliche Schritte zur Seite, als würde er gerne eine Plauschchen mit seinen Opfern halten. »Du nennst mich ein Tier? Was bist du? Als was würdest du dich bezeichnen? Behindertes Kind?«

Kiyoshis Augen weiteten sich, zitternd öffnete er seinen Mund, um etwas Gegenteiliges zu sagen, schloss ihn jedoch wieder und ließ der ersten Tränen freien lauf.

»Wie kannst du«, hauchte ich angestrengt durch meine Lippen, öffnete die Augen und sah verschwommen zu Vincent, der gefühlte fünf Meter näher gekommen war, »wie kannst du nur meinen Bruder behindert nennen? Du ... Mistkerl!«

»Wie ich das kann?«, raunte er und blieb schlussendlich auf einer Stelle stehen. Nah am Wasser, welches kurz vor seinen Füßen auf und ab sank. »Dein Bruder ist bei der Geburt gestorben! Er hatte einen Herzfehler. Und wie das eben so ist mit elterlicher Liebe ... er wurde gerettet: durch euren Vater. Aber so stark die Liebe auch war, es konnte nicht verhindern, dass das unvermeidbare passierte: Menschen, die einmal gestorben sind und dann zu Vampiren werden, sind geschädigt! Er kann froh sein, dass es "nur" die 15 Tage im Monat sind, in denen sein Blut kocht. Trotzdem ist es ein Gendefekt, ausgelöst durch das unachtsame Verhalten eures ach so tollen Vaters! Und als hätte eure Familie nicht aus diesem Fehler gelernt, macht ihr es bei eurem zweiten Sprössling genauso falsch!« Vincent kam wieder in Bewegung und schabte Sand auf. Fast energisch, wütend und aufgebracht zugleich. »Ich weiß nicht wie euer Vater es damals geschafft hatte, die Regeln zu umgehen, aber Kiyoshi durfte leben bleiben. Ihr wurdet mit dem Gedanken getrennt, dass Kiyoshi den kleinen Hiroshi sonst irgendwann getötet hätte. Wäret ihr gemeinsam aufgewachsen wäre das früher oder später passiert. Und jetzt? Reitet ihr euch gemeinsam in den Tod, ist das nicht romantisch?«

Sein sarkastisches Lachen ließ alle erstarren. Selbst Alexander, für den diese Informationen über Genmutationen anscheinend ebenso Neuland zu sein schien, wie für uns selber, sah ausdruckslos in die Richtung des Hunters. Jiros Blick haftete entsetzt auf meinem Rücken. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass sein bester Freund aus solchen Familienverhältnissen stammte. Niemals hätte ich das selber gedacht und jetzt? Hörte ich es aus einer sehr vertraulichen Quelle.

»Ihr sollt ja nicht dumm sterben, also gebe ich euch noch ein bisschen mehr zum Nachdenken«, lachte Vincent amüsiert auf, als sei es für ihn die größte Erfüllung uns noch bis zur letzten Minute zu quälen. »Euer Vater ... Fudo Kabashi, ist eigentlich ein Mitglied der Kämpfergarde. Vor sehr vielen Jahren kämpften sie gegen feindliche Machenschaften und errangen viele Siege. Im Mittelalter und weit danach. Er wurde in ein nobles Haus geboren, als Vampir. Sie achteten akribisch darauf, dass die Vampire unter sich blieben. Tja, wie das eben so war, fand er keine Kontrolle über sich selber und seine Kräfte. Sowohl er als auch seine ganze Familie töteten wahllos Menschen und tranken sie aus. So tolle Erfindungen wie Blutkapseln oder Tabletten gab es damals eben noch nicht.«

Kiyoshi klammerte sich an mich heran, umarmte mich feste, als Vincent wieder näher kam.

»Nach also so rund 100 Jahren, in denen er Angst und Schrecken verbreitete, gründete er die Academy Red Rose und sorgte dafür, dass auch der Rest seiner Familie da mitmachte. Zusammen mit anderen Vampiren, die sich Besserung schworen, taten sie sich zusammen und setzten Regeln auf. Aber wie das so ist mit Regeln: wenn sie keiner einhält, sind Regeln sinnlos. Also riefen sie die Hunter zusammen. …Ja, richtig, euer Vater rief meinen Beruf hervor. Er selber war es, der meine Familie darum bat, euch unter Kontrolle zu bringen. Und alles, was es meiner Familie brachte, war Tod und Verderben. Denn euer Vater war es auch, der vor zwanzig Jahren meinen Vater tötete, weil er ihm nicht mehr gehorchte. Könnt ihr jetzt meinen Hass auf die Kabashis verstehen? Ihr zwei dummen Kinder, die bisher jegliche Sonderregelung erhalten haben?«


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wir nähern uns dem letzten Drittel!
Natürlich wird's noch ein bisschen dramatischer und es wird noch weiter aufgelöst, aber im Groben und Ganzen geht's bald zu Ende ;-) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  KarliHempel
2015-10-22T21:13:59+00:00 22.10.2015 23:13
Ein tolles Kapitel. Gänsehaut pur und Herzrasen. Irgendwie ist mir Vincent gar nicht mehr so..... Weiß nicht. Ich kann ihn schon irgendwo verstehen. Aber das ist doch kein Grund, Jagt auf die beiden zu machen... Vater hin oder her...
Von:  hayamei
2015-10-22T20:02:42+00:00 22.10.2015 22:02
Oh wow. das mal ein Gespräch zwischen ihnen aufkommen würde hätte ich nie gedacht. Aber was die Jungs jetzt zu hören bekommen haben ist nicht ohne. *puhhhh* das muss erst verdaut werden.

Aber ich hoffe, das Hiro nicht noch mehr abbekommt und das er endlich zum vollwertigen Vampir wird *muhahahaha*^^
Von:  Veri
2015-10-22T19:14:12+00:00 22.10.2015 21:14
Aber er kann doch meinen Yoshi nicht behindert nennen :((((
Von:  susel212
2015-10-22T17:47:01+00:00 22.10.2015 19:47
Wow , dass War total cool. dein Schreibstil ist total cool 😍


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