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My Dear Brother 2

The Humans
von

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Endloses Unterfangen

»Wohin laufen wir?«, rief Jiro, sichtlich verstört über die Tatsache, dass er bereits seit Minuten auf Alexanders Schulter lag, als wäre er ein Sack Reis. »Ich sehe Vincent doch gar nicht mehr!«

»Aber er wird gleich wieder da sein!«, antwortete ich ihm und holte Alexander ein Stück ein, bog sofort ab und rannte einen schmalen Gang entlang.

»Hiro!«, schrie Kiyoshi meinen Namen und blieb kurz an der Abzweigung stehen. Auch Alexander stutzte, folgte dann doch unschlüssig.

»Huh? Das ist doch -«, murmelte der schwarzhaarige, ließ den Menschen von seiner Schulter gleiten und gesellte ich zu mir in die Parkgarage. Eine Menge Autos standen unterhalb der Mall und warteten auf ihre Besitzer. Kiyoshi und Jiro folgten nur langsam, standen verwirrt inmitten einer Ausfahrt.

»Und jetzt?«, wisperte mein Bruder und kratzte sich am Arm. Einige Brandwunden schienen noch frisch geblieben zu sein.

 

»Jiro?«, sprach ich meinen besten Freund an, der sofort hellhörig wurde. »Wir klauen jetzt ein Auto.«

Die Gesichtszüge der zwei Vampire entgleisten, während die des Angesprochenen regelrecht anfingen zu leuchteten.

»Oh, Hero ... und ich dachte, du würdest mich das niemals fragen«, scherzte er sichtlich erheitert über die Tatsache, dass ich bereit war mit ihm ein Auto zu knacken und fasste sich berührt an seine Brust. »Wie wunderbar!«

Wie ausgewechselt ging er mit schnellen Schritten an mir vorbei und suchte die Autos ab.

»Das ist nicht euer ernst!«, unterbrach Alexander unser Vorhaben und wollte schon dazwischen gehen, da hielt ihn Kiyoshi mit einer Hand ab.

»Lass sie. Wir brauchen ein Auto«, beschwichtigte er ihn.

»Du lässt das zu? Dass sie ein Auto klauen?« Alexanders Empörung stand ihm zum Kragen.

»Ja«, seufzte Kiyoshi sofort verliebt und sah mir dabei zu, wie ich mich an einen alten Benz zu schaffen machte. Mit einer Scheckkarte versuchte ich das Schloss an der Windschutzscheibe zu knacken. Jiro stand schräg hinter mir und rieb sich die Hände.

»Hero, das ist so aufregend, endlich kommt mal was Gutes bei der Sache rum!«

»Kannst es kaum erwarten, die Zündung zu knacken, hm?«, scherzte ich und bekam schließlich die Tür auf. Alte Modelle klappten einfach noch am besten. Diese neuen und modernen Anlagen waren fast unmöglich zu knacken. Jedenfalls mit Standardwerkzeug.

»Oh baby«, rief er erfreut, als er sich in den Fußraum des Fahrers beugte und anfing, Kabel aus der Verkleidung zu ziehen.

»Ich kann das nicht glauben ... ich bin bei einem Diebstahl dabei ... Erst helfe ich Verbrechern zu entkommen, sitze jetzt selber drin und ... werde auch noch straftätig... obwohl ich gar nichts mache!« Alexander ging vor dem Benz auf und ab, konnte sich nicht beruhigen, wischte sich abermals über die Stirn, als würde er schwitzen.

Nur Kiyoshi blieb wie immer ruhig, grinste mich stolz an und trommelte auf die Motorhaube. Er konnte es sicherlich kaum erwarten, endlich mit mir Auto zu fahren. Auch noch in einem geklauten Benz. So viel Aufregung hatte gewiss bisher noch keiner von uns gehabt.

Und bevor ich Kiyoshi in aller Ruhe einen Kuss geben wollte, sprang der Motor wie von Zauberhand an.

»Tada!«, schrie Jiro und kam aus dem Fußraum gekrochen. »Gut, oder?«, witzelte er und wackelte mit den Hüften, als würde er einen Freudentanz aufführen.

»Ich danke dir vielmals Jiro!«, lachte ich, stieg in den Fahrerraum und war froh, dass mein Freund wirklich gute Elektronikkenntnisse pflegte.

»Was denn, du fährst auch noch? Hast du überhaupt einen Führerschein?«, giftete mich Alexander an, als der näher zum Auto kam.

»Ja und jetzt steig ein! Vincent wird gleich hier sein!«

Kiyoshi nahm den Beifahrerplatz ein, ohne überhaupt jemanden zu fragen, ob er das durfte. Jiro stieg immer noch in seinem Erfolg badend hinten ein, sodass Alexander gezwungen war ebenfalls hinten einzusteigen.

»Wehe ... du baust einen Unfall«, mahnte er mich mit dunkler Stimme und tat wie von ihm verlangt. In dem Moment kam eine Schar Menschen runter gerannt. Sie alle steuerten ihre Autos an, darunter auch ein alter Herr, der den Benz suchte.

»Das muss der Besitzer sein!«, hielt Kiyoshi sich die Hand vor den Mund und schien kalte Füße zu kriegen.

»Mein Wagen!«, rief der Mann aufgebracht und kam so schnell er konnte auf uns zu.

»Wir können jetzt aber nicht anhalten! Die Menschen zeigen deutlich, wer gleich folgen wird!« Mit diesen Worten spielte ich mit dem Gas, legte den Gang ein und bewegte den Wagen.

Alexander drehte genervt die Schreibe runter, lehnte sich raus, sah den Mann eindringlich an, der verzweifelt vor sich hin fluchte.

»Schreiben Sie der Von Hofstätt Familie! Die bezahlen Ihnen das Auto!«, rief er dem Mann noch zu, während ich mit quietschenden Reifen die Ausfahrt fuhr.

»Der was Familie?«, fragte Jiro Alexander, als der das Fenster wieder hochkurbelte.

»Meiner Familie. Wir klauen keine Autos«, knurrte er verbittert.

»Du bist kein Japaner?«, hakte sein Sitznachbar weiter nach. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel sagte mir, dass Alexander da lieber nicht drüber reden wollte.

»Nein«, brummte er nur und starrte mit verschränkten Armen aus dem Fenster.

»Alexanders Familie kommt aus Deutschland«, informierte uns Kiyoshi, der ebenfalls aus dem Fenster schaute, und wahrscheinlich aus schulischen Infos heraus plauderte. »Sie sind damals ausgewandert ... als Alexander noch klein war. Seitdem leben sie hier in Japan.«

»Ach krass ... Deutscher ... «, murmelte Jiro vor sich hin und sah interessiert zu Alexander. »Wie ist es so in Deutschland? Ich wollte mal immer dahin, aber ... kein Geld, haha.«

Es dauert eine Weile, bis Alexander antwortete; wenn auch wieder nur recht unfreundlich. »Keine Ahnung. Ich war selber noch nie dort.«

»Oh ... das ist schade.«

 

Während die drei sich unterhielten, fuhr ich aus der Stadt. Die große Landstraße führte weiter in den Süden. Keine Ahnung, wohin ich fahren sollte, doch die Tanknadel war eh nicht sehr hoch. Weit würden wir also nicht kommen. Es sei denn wir tankten ...

»Sieht jemand Vincent?«, fragte ich in die Runde. Ein Allgemeines Umdrehen fand statt, doch keiner antwortete. Erst nach einigen Sekunden gab mir Kiyoshi ein Kopfschütteln. »Nein, er scheint uns verloren zu haben.«

»Gut ... ich höre nämlich auch keinen blöden Vogel.«

Auf einmal seufzte Jiro auf und ließ sich im Sitz fallen. »Und jetzt? Wandern wir aus? ... Vier Männer ohne Geld? Ohne irgendwas?«

»Geld haben wir«, unterbrach Alexander und ließ das mal unkommentiert im Raum stehen. Wahrscheinlich führte er seine Kreditkarte mit. Oder die von Papa. Oder von wem auch immer er sich Geld versprach.

»Trotzdem wandere ich nicht aus! Schon drei mal nicht mit dem da!«, meckerte Jiro und zeigte auf seinen Sitznachbarn, der ihn widerwillig anknurrte.

»Jetzt mal Schluss dahinten! Wir fahren erst mal ... irgendwohin. Übernachten in einer Pension oder so!«, schnauzte ich beide an und konzentrierte mich auf die Straße. Die Sonne ging bereits unter, die Schreiben baten zwar geringen Schutz vor der Strahlung, trotzdem besser als direktes Sonnenlicht. Kiyoshi verstummte schlagartig und sah nachdenklich aus dem Fenster. Nur seine Hand wanderte nach Minuten Autofahrt auf mein Bein, sodass wir wenigstens ein bisschen miteinander verbunden waren.

»Wenn wir ... tauschen sollen, sag Bescheid«, bot Alexander an, der sich nach mehreren Minuten in das schlafende Gesicht von Jiro umblickte.

»Klar, danke ... noch geht's«, murmelte ich, musste mich aber sehr zwingen, nicht auch einzuschlafen.

 

Nach zwei Stunden gab die Tanknadel komplett auf und ich war gezwungen in einen kleinen Ort abzubiegen, um zu tanken. Dort stiegen wir alle aus und machten kurz Rast.

Die Stimmung erreichte einen Tiefpunkt. Alexanders Akku war fast leer.

»Wollt ihr noch einmal mit eurer Mutter telefonieren?«, fragte er missmutig.

»Nein«, murrte ich, während ich den Tank voll tankte. »Sie würde sich nur aufregen. Kiyoshi ... schreib ihr doch eine SMS, dass wir am Strand Urlaub machen würden ... keine Ahnung ... für eine Woche oder so ...«

»Das wird sie nur noch mehr aufregen«, seufzte mein Bruder, nahm aber das Handy dankend an und schrieb schnell eine SMS. Jiro hingegen sah traurig auf den Boden.

»Meint ihr ... wir werden unsere Eltern und Freunde irgendwann wieder sehen?« Seine Stimme klang niedergeschlagen, am Ende und nicht minder enttäuscht über unsere Flucht.

»Bestimmt«, versuchte ich aufheiternd zu klingen, doch auch meine Energie sank gen Boden. Als ich zu Ende getankt hatte, ging Alexander wortlos an mir vorbei in die Tankstation und bezahlte das Benzin.

»Ob Alexander wusste, was er da getan hat, als er uns geholfen hat?«, murmelte ich vor mich hin, erwartete keine Antwort, erhielt aber eine von meinem Bruder, der sich sofort an meinen Arm kuschelte.

»Ich denke nicht. Aber ich bin froh, dass er dabei ist. Ich hätte niemals gedacht ... dass er so hilfsbereit sein kann. Ich hatte ihn komplett falsch eingeschätzt.«

»Haha«, lachte ich kurz auf, »Ich allerdings auch. So wie man ihn in der Schule kannte... wo er mich fast aufgefressen hatte ... könnte man nicht meinen, dass er uns hilft. Und nicht an die Wölfe verfüttert.«

»Ihr scheint wohl nicht so dicke mit ihm zu sein, hm?«, kam es von Jiro, der noch immer am Bordstein saß und Steine vom Rand wegwarf.

»Nicht unbedingt, nein«, meinte Kiyoshi und zuckte mit den Schultern. »Erzfeind könnte man es auch nennen.«

»Verständlich... bei dem Getue.« Jiro schmunzelte kurz auf, als sei es albern, sich überhaupt so zu verhalten, verstummte jedoch und verkniff sich jeglichen Kommentar, als Alexander wiederkam. Und Jiro eine Packung Sandwiches zuschob.

»Ich fahre jetzt weiter«, befahl er in seinem typischen Ton, nahm mir ohne weitere Worte die Schlüssel ab und setzte sich auf den Fahrersitz. Nickend folgte ich ihm, hielt die hintere Tür für Kiyoshi auf. Jiro blieb unschlüssig auf dem Bordstein sitzen, hielt die Sandwiches Packung in seinen Händen, als hätte er sie sich nicht verdient. Traurig betrachtete er die Brotschreiben.

»Komm, Jiro«, bat ich ihn. »Wir fahren weiter.«

Erst dachte ich, er wollte alles hinschmeißen, sitzen bleiben, ein bisschen weinen und hoffen, dass ihn seine Mutter abholen könnte. Schließlich stand er doch auf, ging entmutigt auf uns zu und sah auf die offene Tür, die ich ihm hinhielt.

»Schon okay«, surrte er. »Ich sitz vorne. Dann kannst du mit Kiyoshi zusammen sein.«

Auch hier schien er traurig über die Tatsache zu sein, dass Kiyoshi allen Anschein nach über ihn stand. Bisher war das nie der Fall, nicht mal eine ehemalige Freundin von ihm oder mir konnte dem jeweils anderen die Stellung abreißen. Doch jetzt? Kiyoshi stand auf Platz 1 und hatte Jiro verdrängt. Unbewusst, sicherlich nicht von mir gewollt.

Und als hätte ihn diese Tatsache nicht weiter überrascht, stieg er wortlos auf den Beifahrersitz und schnallte sich an.

»Danke ... für das Essen«, bedankte er sich kleinlaut bei Alexander, der bereits den Wagen startete und nur darauf wartete, dass ich einstieg.

»Du sollst hier ja keinem die Ohren vollheulen, du würdest nichts als Blut kriegen.« Alexanders spitze Worte ließen Jiro kurzweilig lächeln. Noch immer schien er an der Sache gefallen zu haben, dass die Geschichte um die Vampire nicht stimmte. Noch immer glaubte er wahrscheinlich an einen dummen Trick, mit dem wir ihn foppen wollten.

Seufzend und mit einem letzten Blick über den Rastplatz schweifen stieg auch ich in den Wagen zu Kiyoshi auf die Rückbank und schnallte mich an, als Alexander losfuhr. Immer weiter in den Süden, nur die eine Landstraße entlang.

»Wenn du ... eine Pension siehst, halte dort«, schlug ich vor. »Ich glaube, wir passen nicht alle in dieses Auto.«

»Würde notfalls aber auch gehen. Ich mach mich auch klein«, beteuerte Kiyoshi seine hagere Figur und klammerte sich an mich ran. Ein Lächeln streifte meine Lippen, sodass ich ihn sachte küsste.

»Definitiv eine Pension. Oder Hotel. Ihr beiden sollt gefälligst in ein eigenes Zimmer gehen! Ich kann das nicht sehen«, knurrte Alexander und sah uns böse durch den Rückspiegel an. Sofort fuhren wir auseinander und hielten nur noch Händchen über den mittleren freien Sitz.

Jiro aß schweigend seine Sandwiches. Wahrscheinlich fiel ihm zu diesem Thema gar nichts mehr ein. Oder er wollte es einfach nicht weiter ansprechen. Wobei das ausnahmsweise absolut nicht nach Jiro klang. Dinge totschweigen? Nicht bei ihm.

 

Nach nicht nur einer Stunde nickte ich weg. Die Erschöpfung hatte mich doch eingeholt und das beruhigende Geräusch vom fahrenden Auto machten mich schläfrig. Kiyoshi neben mir nickte hier und da auch mal weg, blieb aber so weit es ging wach, um sich mit Alexander zu unterhalten, damit auch der wach blieb. Jiro stattdessen schlief ebenfalls und lehnte sachte an der Autotür. Für einen Menschen, so dachte ich, wirklich bewundernswert, was er für eine Ausdauer hatte. Klar, Alexander half ihm bei einigen Dingen, doch gerade mentale Anstrengungen vollbrachte er recht akzeptabel. Immerhin wurde er von uns ins kalte Wasser geschmissen, wortwörtlich. Niemand hatte ihn langsam darauf vorbereitet, dass der beste Freund aus einem Haushalt voller Vampire kam und jetzt ein gesuchter Verbrecher war. Hier kam alles Schlag auf Schlag für ihn. Und je länger ich ihn durch den Außenspiegel schlafen sah, wusste ich, dass er die Welt nie wieder so sehen könnte, wie davor. Vielleicht hatten wir ihn sogar gebrochen. Der Moment, in dem er auf dem Bordstein saß, verloren und vollkommen fertig mit der Welt, hing noch in meinem Kopf wie Schwefel in der Hölle. Selbst als ich schlief musste ich an sein trauriges Gesicht denken. An all die traurigen Gesichter um mich herum, die sich nichts sehnlicher wünschten, als endlich wieder Ruhe zu haben und nicht um das Leben fürchten zu müssen.

Alexander fuhr recht human, bis er auf einmal bremste und ich durch den Schwung nach vorne wach wurde.

»Was ist?«, fragte ich sofort aufgebracht, da das erste, was mir in den Kopf kam war, dass Vincent vor uns stand. Doch nur die Leuchtreklame eines Motels strahlte uns vier in die Augen.

»Sorry, hab den Wagen abgewürgt«, meinte er locker und stieg aus. »Das war jetzt das erste Ding, was einigermaßen nett aussieht.«

»Ja, sieht okay aus ... Danke, Alexander.« Mein Blick sollte aufrichtig klingen, doch alles, was ich erntete, war ein müder Ausdruck von Genervtheit.

»Haben wir denn noch so viel Geld?«, fragte Kiyoshi schüchtern, als er auch aus dem Auto stieg und die Tür hinter sich zuknallte.

»Solange sie eine Karte annehmen, ja«, murrte Alexander und ging uns allen voraus in die kleine Rezeption. Es war ein typisches, schmuddliges Motel mit vielen Apartments, die man von außen betreten konnte. Einige alte Rostkarren standen auf dem Parkplatz; unsere gleich daneben. Auch wenn der Benz sehr gepflegt war, so war er doch ziemlich alt.

Jiro folgte Alexander wehmütig, nicht mit einem Wort zwischen den Lippen. Sein blasses Gesicht deutete auf Müdigkeit hin, die sich jedoch schnell wieder fing, als wir an der mit bunten Neonröhren versehenen Rezeption standen.

Es war einfach wie im Film, dachte ich. Gleich schmuggeln wir noch ein paar Drogen für die Nebeneinnahmen und kaufen uns davon Knarren.

»Wir bräuchten zwei Zimmer ... nein, besser Drei«, verkündete Alexander dem pickeligen, jungen Typen mit Ziegenbärtchen hinter der Rezeption.

»Hab nur noch eins frei«, raunte der dem Fragenden ins Gesicht. Wenn der nur wüsste, dachte ich, mit wem er es da zu tun hatte, wäre er nicht so unfreundlich. Aber Alexander schien ausnahmsweise mal die Ruhe selbst.

»Nur eins? Da stehen doch nicht mal genug Autos vor der Tür um alle eure Zimmer zu belegen!«

»Ist nicht mein Problem«, sagte der Junge salopp und blätterte desinteressiert in einer Zeitschrift. »Da war so'n Typ, der wollte alle Zimmer gebucht haben. Deswegen hab ich nur noch eins frei. Ist aber ein großes Zimmer mit Sofa.«

»Schon okay«, funkte ich dazwischen und gesellte mich zu Alexander an die Theke. »Wir nehmen das Zimmer.«

Ich bekam zwar einen bösen Blick von der Seite zugeschmissen, wusste aber, dass wir keine andere Wahl hatten, als das Zimmer zu nehmen, was uns der Pickelmann anbot.

»Das macht dann 6830 Yen für eine Nacht.«

»6830? Ich hoffe, das Zimmer ist dafür wenigstens sauber!«, brummte Alexander genervt und reichte dem Typen seine Karte, als wären seine Hände nicht würdig auch nur die Karte anzufassen. Der Pickelmann lachte nur und buchte den Betrag vom Zauberplastik, warf Alexander die Quittung hin, auf die er unterschreiben musste, und steckte sie in einen großen Ordner.

»Hier ist der Schlüssel, morgen früh um 12 muss der wieder hier rein, oder ich muss euch einen neuen Tag berechnen.«

»Schon klar«, raunte Alexander, nahm den Schlüssel an sich und verließ mit unterdrückter Wut den Raum der Rezeption.

»Besser als nichts«, murmelte ich und nahm Kiyoshi an die Hand, der nur gähnte. Wahrscheinlich war er froh gleich in ein Bett steigen zu können.

Als wir an einem kleinen Automaten vorbeikamen, nahm ich mein Kleingeld raus und zog uns Zahnpasta und Zahnbürsten, etwas Duschgel und sogar einen Rasierer. Ich durfte meinen Bartwuchs nicht zulassen. Sonst wäre ich als Weihnachtsmann durchgegangen.

»Was glaubst du, was der eine Mann hier mit all den Zimmern will?«, fragte Kiyoshi leise, der noch auf mich am Automaten wartete und mir die Sachen abnahm.

»Bestimmt irgendwas mit Drogen«, grinste ich vor mich hin, als ich den Rasierer aus dem Schlitz nahm und mich wieder zu den anderen drehte, die schon längst im Zimmer waren. Es befand sich inmitten von anderen im ersten Stock.

»Oh Gott, hoffentlich ... geht das nicht auch noch schief!«

»So lange wir hier nur schlafen und nichts anfassen, was nicht uns gehört ... dürfte da nichts passieren.«

Trotzdem lag natürlich auch in meiner Magengegend ein etwas unwohles Gefühl. Drogengangster direkt nebenan, Vincent noch auf dem Weg zu uns, eine geklaute Karre auf dem Parkplatz. Und Blutpackungen um den Gürtel geschnallt. Top!

 

Das Zimmer war in der Tat etwas größer, als wahrscheinlich die normalen Räume der Pension. Ein Doppelbett in der Mitte mit zwei kleinen Nachttischschränkchen und einem Sofa gegenüber. Ein uralter Röhrenfernseher stand am anderen Ende des Raumes und zeugte von Retrospektive. Letztendlich war das Zimmer zwar relativ sauber, doch sah man gerade in den Ecken einige schwarze Flecken, Schimmel und abgeblätterte Tapeten. Unter dem Bett hausten wahrscheinlich einige Tierchen, über die man besser nicht nachdachte. Das Bad war ebenfalls ziemlich heruntergekommen. Selbst die Toilette war noch ein Hängeklo, sodass man wunderbar eine Knarre in den Wasserkasten verstecken konnte. Ein kurzer Blick meinerseits zeigte mir aber, dass sich keine darin befand. Nur gelbliche Handtücher am ebenso gelblichen Handtuchhalter waren interessanter als das Hängeklo. Der Rest: verschimmelt, verdreckt und gefühlt mehrere Jahre nicht mehr gereinigt worden. Nur die Bettlaken schienen sauber. Zumindest beim ersten Hinsehen.

Als Alexander das Sofa auszog, seufzte er streng. Die Liegefläche war leicht gelblich und schien ebenso lange zu existieren wie der Röhrenfernseher.

»Wie konnte das nur passieren? Ich hause in so einer Schabracke!«, meckerte er vor sich hin und begann die Kissen so gut es ging über die Flecken zu legen.

»Glaube mir ... jeder hier ist einen höheren Standard gewohnt.« Doch mein Kommentar wurde nur belächelt.

»Bei unserem Punk bin ich mir da nicht so sicher«, stachelte Alexander wieder los und sah dabei auffordernd zu Jiro. Doch der starrte nur abwesend auf den beigen Teppichboden und sagte nichts.

»Hast du schon deinen Körper verlassen?«, raunte der schwarzhaarige recht ungeniert und ging auf Jiro zu.

»Ich hab dich gehört«, kam es auf einmal sehr genervt von Angesprochenem. »Ich hab nur keine Lust mehr, mich mit dir zu streiten. Und ich höre nicht auf "Punk". Wenn du dir meinen Namen nicht merken kannst, soll das nicht mein Problem sein.«

Alexander schnaubte aus, verdrehte die Augen und warf sich wortlos auf das Sofa. Mit Schuhen wälzte er sich auf der scheinbar unbequemen Matratze.

»Leg dich doch ins Bett«, schlug ich vor und deutete auf die weißen Laken. »Du bist viel gefahren, vielleicht solltest du ausgeruhter sein.«

»Nein, ich will jetzt einfach nur meine Ruhe«, brummte er mit bereits geschlossenen Augen und seufzte noch einmal laut auf. Kiyoshi gähnte dann auch und ließ seine Schultern knacken.

»Hiro, lass uns auch was schlafen ...«, säuselte er und schmiegte sich an mich ran; verführte mich mit ihm ins Bett zu gehen.

Doch ich negierte. »Nein, danke. Geh ruhig schlafen, ich schiebe Wache. Ich habe im Auto geschlafen, mir reicht das.«

Große Augen trafen meine. »Sicher?«

»Ja, sicher. Wenn ich nicht mehr kann, sage ich Bescheid.«

Kiyoshis Mundwinkel zuckten leicht nach oben, berührten dann meine Lippen. Ein kurzer, feuchter Kuss endete so schnell er gekommen war. »Mein Held.« Kaum bemerkbar strich er mir mit seinen dünnen Händen über meine Hüfte und legte sich ebenfalls mit Schuhen auf die Decke des Bettes. Als auch er die Augen schloss und leise atmete, drehte ich mich zu Jiro. »Leg dich auch was hin. Ich schieb Wache.«

Doch Jiro schüttelte den Kopf und deutete die Veranda an, durch die wir gekommen waren. »Lass uns eine Rauchen gehen ... und Reden.«

Das ließ mich meine Lippen aufeinander pressen, die Blutpackungen abschnallen und Jiro auf die Veranda folgen. Der holte eine Packung Zigaretten raus, machte sie frisch auf und reichte mir eine Zigarette.

Als wir beide für einige Sekunden rauchend am Geländer standen und zwei Männer in schwarz dabei beobachteten, wie sie geheimnisvoll an ihrem genauso schwarzen und geheimnisvollen Van standen, musste ich grinsen.

»Weißt du noch, wie wir uns früher immer ausgemalt haben, wie cool es wäre, wie in den Filmen rumzufahren... ohne Ziel?«

Jiro nickte langsam, musste dann auch schmunzeln und pustete Rauch aus. »Ja, aber ... das ist gar nicht cool gerade.«

»Nee, das könnte besser sein. Ich dachte auch, das würde sich besser anfühlen.«

Da drehte sich Jiro zu mir um und sah mich lange an. Als ich seinen Blick erwiderte, seufzte er.

»Hiro ... wieso hast du mir nichts gesagt?« Seine Stimme klang traurig und verloren. Vielleicht sogar auch ein wenig weinerlich.

»Es tut mir Leid ... ich dachte, es wäre besser bei mir aufgehoben.«

»Aber ich bin dein bester Freund! Du kannst mir doch alles sagen!«, brachte er das wohl beste Argument des Abends, gegen das ich absolut keine Chance hatte.

»Ich weiß ... ich habe mich nicht getraut. Und alle haben mir eingeredet, ich solle darüber schweigen!«, verteidigte ich mich. So war es ja auch! Vampire sollten geheim bleiben. Nur einige wenige waren eingeweiht. Und bei Jiro war ich mir eben manchmal nicht so sicher, ob er auch wirklich dicht halten würde.

»Alle haben dir das gesagt? Meine Güte, wie viele wissen denn davon?«, platzte es aus Jiro raus; frei nach dem Motto, wieso er dann der Letzte war, der es erfahren hat.

»Na ... Mom, Dad ... die Schule ... Ja, eigentlich alle da oben!«

Da schwieg Jiro. Sah mich lange Zeit verwirrt an, bis er Luft holte und sich räusperte. »Reden wir vom Selben?«

»Äh, ich weiß nicht?«, lachte ich verunsichert und kratzte mich am Nacken.

»Ich meine das zwischen dir und Kiyoshi!«

»Oh!«, hustete ich fast heiser heraus, da ich gerade am Rauchen war. »Das meinst du! Haha ... ach so ... ja ...«, nuschelte ich vor mich hin und rauchte einfach stumm weiter.

»Hiro, man, das ist nicht witzig. Er ist dein Zwillingsbruder! Bitte sag mir, dass ihr beiden im Bad nur Spaß gemacht habt!«

Ich biss mir auf die Unterlippe. Kaute hier und da etwas an losen Hautfädchen rum. »Na ja, wie soll ich es sagen? Wir hatten schon... Spaß ...« Ein Räuspern, ein unsicherer Blick zu Jiro folgten. »Leider ist es kein Witz. Ich wünschte, es wäre einer.«

Mein bester Freund rauchte energisch auf, warf den Stummel das Geländer runter und sah für einen Moment den zwei Männern hinterher, die jetzt wieder in einem der Zimmer verschwanden. »Du bist also ... mit deinem eigenen Bruder zusammen?«

Vorsichtig, aber immer noch verunsichert, nickte ich.

»Du kennst ihn doch erst seit einer Woche! Und ... wah!«, rief Jiro, »Er ist dein Bruder, man! Er sieht so aus wie du! Und er ist ein Mann! Was ist los mit dir, Hero?«

Für einen Moment stockte mir das Herz, als er angewidert über mich und meine Liebschaft sprach, seufzte jedoch erleichtert auf, als er mich wieder bei meinem Kosenamen nannte. Wann immer er mich bei meinem richtigen Namen rief, wusste ich, dass es ihm ernst war. Dass ich nichts zu lachen hatte. Doch sobald Hero fiel ... war doch wieder alles in Ordnung, oder?

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist ... es war ... Liebe auf den ersten Blick. Ja, doch. Kann man so sagen«, nuschelte ich wieder vor mich hin und rauchte schließlich ebenfalls auf. Die Zigarette war wirklich ein Segen. Sie ließ mich meine Schmerzen vergessen, die Aufregung und die eigentlich gefährliche Situation.

»Liebe auf den ersten Blick? Dass die auch noch von Kiyoshi kam ... was ein dummer Zufall«, seufzte er erschöpft und ließ die Hände gegen seinen Körper fallen. »Also bist du jetzt schwul?«

»Nein, immer noch bisexuell. Die Frauenwelt lass ich mir nicht nehmen«, lachte ich amüsiert, stieß aber auf weniger Verständnis.

»Da darfst du aber niemals jemandem erzählen, dass du mal mit deinem eigenen Bruder zusammen warst!«

»Ich hoffe auch, dass es länger anhalten wird und ich ... niemals in diese Situation kommen werde, einem neuen Partner etwas über meine Ex-Partner zu erzählen.«

Da stutzte er. »Dir ist es also echt ernst mit ihm?«

»Ja.«

Als sich unsere Blicke trafen und ich ohne mit der Wimper zu zucken in Jiros Augen sah, seufzte er leise.

»Hero, du machst echt nur krasse Sachen... aber damit übertrumpfst du dich selber ...«

»Haha, ja ... ich schätze auch, dass es dafür keine Steigerung gibt. Glaube mir ... unsere Eltern stehen genauso ratlos in der Ecke wie wir.«

»Weiß deine Ma also bescheid?«, fragte er sichtlich überrascht. »Und dein Dad auch?«

»Ja«, seufzte ich abermals und rieb mir die Lider. Sie fühlten sich geschwollen und rau an. Wahrscheinlich auch von den Strapazen. Ein Piepsen machte sich in meinen Ohren breit. Wie ein Tinitus.

»Krass ... und die nehmen das einfach so hin?«

»Was bleibt ihnen anderes übrig?«, schmunzelte ich vor mich hin. »Sie können uns nicht das Gehirn waschen. Sie können nur hoffen, dass wir irgendwann die Einsicht bekommen, dass das, was wir tun, nicht richtig ist.«

Auf einmal ging Licht in einer der gegenüberliegenden Zimmer an – Geschrei folgte.

Wir schwiegen, lauschten dem Vorfall und erwarteten weitere Zwischenfälle. Als nichts kam, wendeten wir unsere Blicke wieder vom Geschehen ab.

»In so einer Welt«, begann Jiro und richtete seine Nietenjacke, dessen er immer noch hinterher trauerte, dass sie einige Schrammen erhalten hatte, »glaube ich langsam nicht mehr an Richtig oder Falsch. Wenn du mit deinem Bruder glücklich bist ... dann soll es so sein.«

Ein sanftes Lächeln umwob seine Lippen, sodass ich nicht anders konnte, als ihn in den Arm zu nehmen. »Danke, Jiro. Du bist wirklich der beste Freund auf der Welt.«

»Haha«, lachte er auf und streichelte meinen Rücken, »Schleimer.« Erst als wir uns lösten sah ich in seine glücklichen Augen und wusste, dass er genauso froh war, mich zu haben. Nichts könnte uns trennen. Nicht einmal die doofe Vampirsache. Nicht mal Vincent.

 

Die Nacht wurde recht kühl, sodass ich die Lage vom Zimmer aus beobachtete. Hier und da gingen noch ein paar Gangster aus ihren Zimmern, verzapften irgendetwas an ihren Vans und gingen wieder rein. Seltsame Geschäfte, von denen ich nicht wissen wollte, worum genau es ging.

Jiro hatte sich noch für ein paar Stunden schlafen gelegt; zu meiner Überraschung neben Alexander auf das Sofa. Die beiden schienen sich nie grün zu sein, doch hier und da überraschte es mich doch, wie gut sie miteinander klar kamen. Es müsste nur mal einer der beiden über seinen Schatten springen und ich war mir sicher, dass sie gute Freunde werden würden. Oder vielleicht auch nicht ... so wie die sich immer in den Haaren hatten?

Um circa vier Uhr morgens wurden meine Augen schwer und ich konnte mich kaum noch mehr auf den Beinen halten. Vorsichtig rüttelte ich an Kiyoshis Schulter, der sofort wach wurde und mich zu sich aufs Bett zog.

»Bist du müde? Soll ich Wache schieben?«

»Das wäre ... mir sehr Recht, ja«, säuselte ich grinsend und wurde sofort mit Küssen übersäht. Ein leises Kichern entfuhr mir, als Kiyoshi mich lautstark auf die Lippen küsste. Alexander brummte dann nur auf und drehte sich zu uns um.

»Was treibt ihr da? Keine unsittlichen Sachen, hoffe ich ...«, murmelte er noch halb im Schlaf. Ich verneinte sofort.

»Nein, keine Angst ... schlaf weiter. Wir tauschen nur die Wache.«

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte er weiter ohne auf meine Antwort einzugehen.

»Äh, gleich vier Uhr«, flüsterte Kiyoshi, bedacht, Jiro nicht zu wecken.

»Dann fahren wir weiter.« Mit diesen Worten erhob sich Alexander und streckte sich. Für einen Moment hob sich sein Shirt und ließ freie Sicht auf seine blassen Muskeln.

»Sofort? Lass mich kurz auf einem Bett schlafen, okay? Nur eine Stunde ... oder so ...«, murrte ich und ließ mich in die Kuhle von Kiyoshi fallen. Sie roch noch nach ihm ...

Und ehe ich dem Gespräch weiter folge leisten konnte, war ich eingenickt. Kiyoshi sprach noch mit Alexander, diskutierte wohl ein wenig, bis auch Jiro wach wurde und eifrig mitredete. Doch ich war viel zu müde, um den Dreien zuzuhören.

Viel zu müde ...


Nachwort zu diesem Kapitel:
Besser spät als nie, wie es so schön heißt! :-)
(bin jetzt erst nach Hause gekommen - die Infos für die gedruckte Version... gibt's dann morgen in aller Frische!) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Veri
2015-10-18T07:48:35+00:00 18.10.2015 09:48
Gute Freunde kann niemand trennen, gute Freunde sind nie allein ... :D
Von:  ellenorberlin
2015-10-17T09:18:11+00:00 17.10.2015 11:18
Hmm die Szene mit den Gangstern hat viel Potential spannend zu werden ^-^
Ich warte schon sehnsüchtig drauf was passieren wird :3
Von:  Annemi91
2015-10-17T05:11:45+00:00 17.10.2015 07:11
Hach, Jiro ist doch 'n echter Freund. Ich mag ihn total. :)

Die Szene mit dem Knacken des Autos fand ich sehr amüsant. :D Dachte aber auch, das Kiyoshi mehr auf Alexanders Seite steht und genauso meckert. Ich konnte mir aber dennoch gut vorstellen, wie Kiyoshi Hiro verliebt anblickte und stolz war. :D

Außerdem fand ich es gut, das du es hier mal wieder ruhiger angehen lassen hast. So hatte Jiro auch mal Zeit nachzudenken und Dinge zu klären, die er vorher nicht verstand.

Ich mochte dieses Kapitel und freue mich auf die weiteren. :)


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