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My Dear Brother 2

The Humans
von

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Nicht dran denken

Bemüht, nicht zu viel Krach mit dem Koffer zu machen, rollte ich ihn zu unserem Hauseingang, welcher am Ende des Ganges lag, genau zur Straßenseite. Der Gang stank etwas nach abgestandener Farbe und die Wände blätterten sich schon an einigen Stellen ab. Ich beobachtete Kiyoshis missmutigen Blick.

»Nicht sehr schön hier, hm?«, murmelte ich, beschäftigt mit der Schlüsselsuche.

»Nicht so, ja…«, gab Kiyoshi ohne nachzudenken zu und sah sich unwohl um.

Ich zuckte mit den Schultern. »Drinnen sieht’s auch nicht besser aus. Ist eben das genaue Gegenteil von eurer Villa.«

Kiyoshi hob eine Augenbraue, als ich endlich die Haustür aufschloss. »Oh.«

Ich lachte. »Überzeug dich selbst.« Mit Schwung öffnete ich die Tür und ließ ihn eintreten. Natürlich war das Wohnzimmer nicht so groß, wie das Wohnzimmer bei Vater, aber für die Wohnung verhältnismäßig zu groß. Und wie immer akribisch aufgeräumt.

»So schlimm ist es doch gar nicht«, sagte er schließlich und betrachtete das sorgsam zusammengesteckte Ikebana meiner Mutter, welches auf dem Esstisch stand.

»Ja, das Wohnzimmer. Ich muss dich wohl noch über einige Dinge in dieser Wohnung aufklären. Eigentlich muss ich dich im Grunde über sehr viele Dinge aufklären, die sowohl die Hausordnung betrifft, als auch die Stadtordnung.«

»Oh je?«, stellte er seine Bedenken in eine Frage. Ich kicherte finster.

»Ja, oh je.« Dann schleppte ich die beiden Koffer in eine freie Ecke des Wohnzimmers. »Hier in der kleinen Wohnung herrscht meine Mutter. Sie ist die Herrin. Das heißt für uns: Wir dürfen nur dann ins Bad, wenn sie weiß, dass sie es grade nicht in Anspruch nehmen muss. Wir dürfen nur dann in die Küche, wenn sie nicht drin ist oder nichts aus ihr braucht. Und nur dann, wenn wir ihr versprechen, nicht irgendwelche Sachen aus dem Kühlschrank vor dem Essen zu nehmen …«

» … das wird wohl nicht passieren …«, murmelte Kiyoshi und schlängelte sich zwischen Wohnzimmertisch und knatschroter Couch zum Fenster.

Ich nickte zustimmend und zuckte mit den Schultern.. »Ja, das stimmt. Aber trotzdem: Wir müssen alles so hinterlassen, wie wir es aufgefunden haben. Jeglicher Bruch einer dieser Regeln führt unverzüglich zu Hausarrest oder Putzen. Meistens hast du beides am Hals.«

Er lachte kurz und drehte sich zu mir um.

…Wie schön dieses Lachen war.

»Ich glaube, sie ist viel strenger als Vater.«

»Hm, ja das könnte schon sein. Aber der Unterschied ist: Vater kann sich durchsetzen.« Da kicherten wir beide. Vorsichtig schlängelte ich mich zu ihm ans Fenster und umarmte ihn von hinten. Sachte legte ich mein Kinn auf seine Schulter. Gut, dass man bei seinem Zwilling nicht allzu weit runter oder hoch rutschen muss.

Wir schwiegen und sahen aus dem Fenster, während er zärtlich meine Hände, die auf seinem Bauch lagen, streichelte.

»Die Stadt ist hässlich, Hiro«, flüsterte er.

»Ich weiß.«

»Hier lebst du seit achtzehn Jahren?«

»Nein, erst seit sieben. Davor wohnten wir in einer anderen Stadt. Wir sind wegen meiner Schule umgezogen.«

»Wo gehst du denn zur Schule?«

»Meine Schule ist etwa zwanzig Minuten von hier entfernt und liegt etwas außerhalb, also eher am Stadtrand.«

»Ich nehme an, eine menschliche Schule.«

»Natürlich.«

»Privat?«

»Viel zu teuer.«

»Staatlich?«

»Yepp.«

»Die... klang nicht so gut, als du mal von erzählt hast. Oder bist du nur faul und sie ist doch gut?«

»Kein Vergleich zu deiner Schule, aber für meine Verhältnisse ist sie klasse.«

Er schwieg. Dann drehte er sich ein Stückchen zu mir um und sah mich verständnislos an.

»Willst du etwa dumm bleiben?«

»Kiyoshi …«, ermahnte ich ihn mit leichtem Druck um seinen Bauch.

»Sorry.«

Ich seufzte leise. Wieso musste er immer so arrogant sein, wenn es um Bildung oder Stammbaum ging? Ja, er war schlauer als ich und ja, er ist höher gestellt als ich, obwohl das bei Zwillingen eigentlich kaum möglich ist. Aber wen interessiert das?

Er drehte sich etwas weiter zu mir um und sah mich mit Hundeaugen an.

»Tut mir Leid, ich wollte nicht wieder so gemein sein.«

»Ist schon in Ordnung.« Ich lächelte ihn an. »Ich weiß ja, wie du das meinst.«

Mit einem zaghaften Lächeln drückte er mir seine blassen Lippen auf meine. So kalt und zart. Weich und trocken zugleich. Ich hielt seinen Körper in meinen Armen, während seine dünnen Finger meine Brust entlang fuhren. Ich vernahm eine feine Note vom Krankenhaus, welches er noch am Morgen besucht hatte, um die Fäden ziehen zu lassen.

Aber ich wollte nicht schon wieder an Vincent, Krankenhaus und Co denken,. Schnell vergrub ich den Vorfall in die hinterste Ecke meines Verstandes und widmete mich lieber wieder meinem Bruder. Ich drückte ihn etwas an mich, schob sachte meine Zunge in seinen Mund. Als meine rechte Hand durch sein weiches Haar fuhr, knöpfte er meinen ersten Knopf auf. Dann den Zweiten. Den Dritten. Bis mein Hemd geöffnet war und er seine kalten Arme um meinen nackten Oberkörper schlingen konnte. Ich löste mich von unserem Kuss und fuhr mit meiner Zunge an seinem Hals entlang. Mein Pony bewegte sich im Takt seines Atems. Schnell knöpfte ich auch sein Hemd auf, er strich mir durch mein Haar, drückte meinen Kopf an seinen Körper.

Verdammt noch mal, wir sind gerade erst angekommen und ich -

Ich konnte nicht mehr.

 

… Aber es ging einfach nicht.

Seufzend erhob ich mich wieder und sah lange in Kiyoshis Augen. Langsam begann ich sein Hemd wieder zuzuknöpfen, doch seine Hände stoppten mich.

»Nicht mal... ganz kurz?«, flehte er schon fast mit seiner zittrigen Stimme und verstärkte den Griff um meine Handgelenke.

»Kiyoshi... Du weißt, dass Mom jede Sekunde wiederkommen könnte. Was, wenn sie uns erwischt?«

Die Einsicht strich seine Mimik und ließ ihn enttäuscht zu Boden sehen. Abermals musste ich ihn zurückweisen.

Vorsichtig nahm ich seine Hand und führte sie an meine Brust; mit der anderen Hand strich ich über seine Wange.

»Heute Nacht«, flüsterte ich kaum hörbar und lächelte ihn an.

Und als hätte ich ihm gerade die schönste Nachricht der Welt gegeben, nickte er eifrig, sah auf und lächelte mich glücklich an. »Heute Nacht.«

 

Wieder versanken wir in einem leidenschaftlichen Kuss. Kiyoshis Spinnenfinger fuhren über meine Brust und übten leichten Druck aus, während ich seinen angeheizten Atem auf meiner Haut spürte.

Es dauerte natürlich auch nicht lange, da spürte ich es in meiner Hose enger werden. Und je unangenehmer dieses Gefühl wurde, desto mehr drückte ich ihn von mir.

»Schluss jetzt«, lachte ich, »sonst wird’s für mich gleich peinlich.«

Kiyoshis Blick fiel nach einigen Sekunden des Überlegens in meinen Schritt, wo er grinsend beide Augenbrauen hochzog. »Das ist doch nicht peinlich... Das ist... heiß....«, murmelte er vor sich hin und kniete sich vor mir auf den Boden.

»Nein, nein! Kiyoshi – Stopp!«

Doch ehe ich ihn von mir drücken wollte, spürte ich schon sein Gesicht und seinen Mund in meinem Schritt, wie er sanft rein biss.

»Nur ein... bisschen«, hörte ich ihn flüstern, als er meinen Gürtel aufmachte und den Reißverschluss runter zog.

»Ein bisschen? Kiyoshi, so was kann man doch nicht nur „ein bisschen“ machen!«

Mein Herz klopfte wie verrückt gegen meine Brust. So gerne ich einen Blow Job von meinem Bruder bekommen hätte, ging es einfach nicht! »Kiyoshi, hör auf! Wenn Mom gleich heimkommt und dich mit meinem Schwanz in deinem Mund erwischt, ist es vorbei!«

Kiyoshi ließ sich nicht von meiner Hysterie anstecken und zog langsam meine Boxershorts runter, um mit der anderen Hand -

 

Da ließ ich mich einfach auf die Knie fallen.

Kiyoshi erschrak etwas, zog sofort die Hände weg und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Während ich auf den Knien saß und mir langsam meine Hose wieder schloss, sah ich ihn rügend an.

»Das geht nicht... Hörst du? … Schon drei mal nicht im Wohnzimmer!«

Kiyoshis Blick wurde erst unergründlich, dann wütend.

Wütend?

Tatsächlich?

»Wieso weist du mich immer zurecht, wenn ich dir näher kommen will?«

»Du fragst noch wieso? Ich habe dir schon ein paar Mal erklärt, wieso.«

Abermals seufzend knöpfte ich mein Hemd zu und richtete den Kragen. »Hast du mir vorhin zugehört? Es geht einfach nicht... Hier können wir uns nicht in ein Zimmer zurückziehen, wo wir für uns alleine sind. In dieser Wohnung hier sind wir nie allein. Denn selbst, wenn Mom nicht da wäre, sind die Wände so dünn, dass wahrscheinlich die Leute unter, über und neben uns alles mitkriegen würden.«

Während ich Kiyoshi meine Sorgen und Bedenken zu verstehen gab, sah der nur kindlich.-trotzig zur Seite und presste die Lippen aufeinander, wie er es gerne tat, wenn Vater ihn rügte.

»Kiyoshi... ich will dich doch nicht abweisen...«

Doch anstatt mir eine Antwort zu geben, beugte er sich noch einmal vor und küsste mich auf die Lippen.

Es war nur ein schneller, fast unbedeutender Kuss. Wahrscheinlich wollte er mir höflich zu verstehen geben, dass ich einfach die Schnauze halten sollte.

 

Mit einem Mal stand Kiyoshi auf und ging zu seinem Koffer. Ich tat es ihm gleich, suchte jedoch noch nach dem Griff, da hörte ich Kiyoshis Schritte, welche mein Zimmer ansteuerten. Schlagartig drehte ich mich um.

»Äh …«, brachte ich unbemerkt raus. Er drehte sich um.

»Ist das nicht dein Zimmer?«, fragte er etwas verwundert.

»Ja, doch, aber ist unord- … Moment - Woher weißt du das?« Mit dem anderen Koffer folgte ich ihm, die Augenbrauen zusammen geschoben.

»Dein Geruch ist sehr stark aus diesem Zimmer. Deswegen dachte ich …«

»Mein Geruch? Stinke ich so?«, scherzte ich und roch kurz an meinem Ärmel. Er winkte leicht lächelnd ab.

»Nein, du duftest«, flüsterte er mir grinsend zu. Sofort drehte er sich wieder um und ging weiter. Er gewöhnte sich langsam an Nettigkeiten, schoss es mir durch den Kopf.

Ich öffnete die Tür und schob den Koffer vor mein Bett. Jetzt war das Zimmer endgültig zugestellt. Es war nämlich so klein, dass nur ein Schrank, ein Bett und ein Schreibtisch reinpassten. Kiyoshi blieb etwas erschrocken an der Tür stehen.

»Das ist wirklich dein Zimmer?«

Ich nickte voller Bedauern.

»Das ist ja eine bessere Abstellkammer!«, fügte er hinzu, immer noch sichtlich entsetzt in welchen Verhältnissen ich wohnte.

»Danke, ich weiß.«

»Und das Zimmer deiner Mutter?«

»Sieht genauso aus. Na ja... Vielleicht ein bisschen größer, aber nicht viel.«

Kiyoshis Blick sagte mir eindeutig, dass es ihm nicht gefiel und er wieder nach Hause wollte.

Aber für ein Flüchtlingslager, was es im Grunde für Kiyoshi war, empfand ich es mehr als in Angemessen.

Er stellte den Koffer neben der Tür ab und betrachtete meinen Schrank, mein Bett, meinen Schreibtisch. Mehr war da ja nicht zum betrachten. Dann fiel sein Blick auf das Bild von meinen Freunden, wo wir im Freizeitpark waren.

»Sind das deine Freunde?«, fragte er neugierig und nahm den Bilderrahmen in die Hand, nachdem er sich mühsam an den Koffern vorbei gequetscht hatte.

»Ja, ich gehe mit ihnen in eine Klasse. Es war ein Schulausflug.«

»Ihr habt noch Klassen?«

»Unsere Schule hält nicht viel von diesem Kurssystem.«

»Ach so …«

Er betrachtete das Bild ausgiebig und schwieg für einen Moment. »Die sind alle so wie du, oder?«

»Wie meinst du das?«, fragte ich verwundert. Immerhin würde ich Lampe nicht als ‚wie ich’ einstufen.

»Sie tragen alle diese Sachen, die du trägst. Sie lachen alle so wie du, so fröhlich. Sieh doch, ihr seht euch alle unglaublich ähnlich.« Dabei ging er mit seinem linken Zeigefinger unsere Gesichter entlang.

»Na ja …« Vielleicht war es einfach ein subjektives Denken, dass ich keinerlei Ähnlichkeiten feststellen konnte. Vielleicht zwischen Roku und Kyo. Die beiden kleideten sich gleich und hatten die gleichen Haare. Aber nur, weil sie sich so gern hatten.

Ob sie vielleicht doch schwul waren? Sie haben es immer bestritten, aber das würde ich ab jetzt auch tun – Bestreiten.

Wann man es wohl bei mir merken wird? Die Horrorvorstellung von meinem Ich war lediglich wie eine typische Schwuchtel rumzulaufen: in engen Schlangenlederhosen und halb offenen Oberteilen, die so eng sind, als wären sie in der Wäsche eingelaufen. Dazu würden dann noch das Getue und die hohe Stimme fehlen und ich wäre ‚perfekt’ schwul.

Schnell schüttelte ich den Kopf. Kiyoshi sah mich fragend an.

»Nee, da sieht sich keiner wirklich ähnlich. Vielleicht auf dem Foto, aber in Wirklichkeit sehen wir alle verschieden aus.« Ich nahm ihm den Bilderrahmen ab und stellte ihn wieder an seinen Platz. Hoffentlich würde er sie nie kennen lernen. Nur Jiro, mein bester Freund, wusste über meinen Bruder Bescheid. Der ganze Rest wandelte noch in Unwissenheit durch die Gegend. Das sollte auch so bleiben.

 

Man hörte die Tür klacken und leise Schritte, die in die Küche gingen und eine Papiertüte abstellten. Wir beide spähten durch meine Zimmertür in die Küche.

»Mom? Bist du wieder da?«, rief ich leicht verwirrt, da sie nichts dergleichen wie ‚Ich bin wieder da’ oder ‚Versteck die Drogen, Hiro, deine Mutter kommt’ geschrien hatte. Vorsichtig tappste ich zu ihr in die Küche, Kiyoshi schlich leise hinter mir her.

»Mom?«, wiederholte ich vorsichtig und sah in die Küche, wo sie schweigend die Brötchen in Plastiktüten einwickelte, um sie einzufrieren. »Ist alles in Ordnung?«

Wie aus der Trance erwacht, zuckte sie kurz zusammen und drehte sich zu mir um. In ihrem Gesicht sah ich die Verzweiflung. Verwirrung, Entsetzten, Verstörtheit, Fassungslosigkeit.

»Mom, ist was passiert? Du bist kreidebleich ...« Besorgt wie ich war, näherte ich mich ihr, doch sie wich einen Schritt zurück.

»Ja … Ja, es ist alles in Ordnung. Du …«, damit drehte sie sich wieder um und packte die Brötchen ein, »wolltest Kiyoshi doch die Stadt zeigen. Mach das doch jetzt, dann können wir heute Abend pünktlich essen.«

Enttäuscht ließ ich meine Hand zurückfallen, die eigentlich nach ihr greifen wollte. Sie wies mich ab. Sie mied jeglichen Augenkontakt mit mir. Es beschäftigte sie etwas. Und es hatte mit mir zu tun.

Sofort fing mein Herz an zu klopfen. Immer schneller hämmerte es gegen meine Brust. Hat sie etwa …?

»Mom, wo warst du so lange? Du warst wirklich lange weg und …«

»Geh jetzt«, sagte sie schroff und bestimmend. Ich drehte mich abrupt um und stürmte aus der Küche, Kiyoshi folgte mir schweigend. Schnell schlüpfte ich erneut in meine Schuhe, die noch vor dem Sofa standen, schnappte mir einen Regenschirm und zog meinen Bruder aus der Tür. Mit einem lauten Knall ließ ich die Tür zufallen.

»Hiro! Was ist denn los? Warte doch mal!«, rief mir Kiyoshi hinterher und stolperte schon fast in den Aufzug. Als die Türen sich endlich geschlossen hatten, sprudelte es aus mir heraus.

»Mom hat uns gehört. Sie kam nicht so spät nach Hause, sie war schon viel früher da. Wahrscheinlich hat sie die Tür so leise geöffnet, weil sie uns schon hat stöhnen hören! Sie hat uns gesehen, wie wir rumgeknutscht haben und du mir einen blasen wolltest, Kiyoshi, hast du nicht ihren Blick gesehen? So verstört und verwirrt, als hätte sie einen Geist gesehen! Sie weiß es, sie weiß von unserer Beziehung, sie ahnte es schon, ich hatte sie angelogen, doch jetzt ist doch alles bestätigt. Was, wenn sie Vater anruft? Was, wenn er davon erfährt und er dich wieder zu sich holt? Dann musst du mich verlassen und wir sind alleine, vielleicht dürfen wir uns gar nicht mehr sehen! Was sollen wir denn dann machen?«

Er sah mich verzweifelt an, hob seine Hände, wusste aber anscheinend nicht ganz, wie er mich beruhigen sollte.

»A-Aber Hiro, bitte weine doch nicht!« Zaghaft strich er mir über die Wange. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass mir bereits die Tränen wie Niagarafälle runterrasselten.

»Oh … Ich …«

Sofort nahm Kiyoshi mich in den Arm. Wir drückten uns feste, sanft strich er über meinen Rücken und meinen Nacken.

Sie hatte alles gesehen. Dessen war ich mir sicher. Heute Abend würde sie mit uns darüber reden wollen. Sie würde Vater alles erzählen. Gott, wenn du uns noch ein wenig magst, trotzdem wir so etwas Verbotenes tun, dann hilf uns doch mal, bitte!

 

Wir verließen das Haus, diesmal durch die vordere Tür und standen direkt an der Hauptverkehrsstraße.

»Und? Wo willst du hin?«, fragte ich ihn schnell, um auf andere Gedanken zu kommen; das Handgelenk schnell über meine Augen streichend. Vorsichtig spürte ich seine dünnen Finger um meine Hand.

»Was gibt es denn hier so?«

Erst zuckte ich mit den Schultern und sah mich sichtlich gestresst um. Vorsichtig ging ich einige Meter die Straße entlang, Kiyoshis an meiner Hand.

»Puh … Einiges. Also eine Innenstadt und-« Ich drehte mich, zu ihm um und starrte für einen Moment fassungslos in seine Augen. Sie leuchteten so wunderschön in der Sonne. Seine fast weißen Haare glänzten wie Silber. Wieso hatte ich das Gefühl, ihn zum ersten Mal so zu sehen?

Dann spürte ich einen leichten Schmerz an meinem Arm. Schnell zog ich ihn zu mir. Leicht verbrannt …

»Oh, die Sonne …!«, bemerkte ich endlich, selbsterklärend wieso mir alles so anders vorkam. Ich blickte nervös zu Kiyoshi.

»Ja, sie ist wirklich hell hier. Aber es geht noch.«

»Wie kannst du einfach so in der Sonne stehen? Ich verbrenne ja schon!« Schnell zog ich ihn zu mir auf die Schattenseite und legte einen Arm um seine Taille.

»Ich hab mich vor unserer Abreise noch mal dick mit starker Sonnencreme eingecremt.«

» … das hilft?« Auf so etwas Banales komme ich natürlich nicht. Er zuckte mit den Schultern.

»Für eine gewisse Zeit, aber du hast ja an einen Schirm gedacht.« 

Ich nickte und spannte ihn ohne weitere Worte zu verlieren auf. Kiyoshi ergriff erneut meine Hand. Ich löste mich jedoch von ihm und nahm den Schirm, um ihn zwischen uns zu halten. Er sah abermals enttäuscht aus.

»Kiyoshi, du weißt, dass das nicht geht …«, murmelte ich. Ich würde ja auch lieber mit ihm Händchen haltend durch die Straßen laufen, am liebsten ein Eis essen gehen und danach mit ihm ins Freibad, um ins kalte Wasser zu springen. Jetzt würde ich mich auch gerne bräunen. Wieso will man immer das, was man nicht haben kann? Verdammt noch mal...

Er nickte traurig, nuschelte gen Boden. »Ich weiß. Wir sind Zwillinge, das sieht jeder …«

Wir beide seufzten. Man hat’s nicht leicht …

Seufzend bot ich ihm meinen Arm an, sodass er sich einhaken konnte. Das sah wenigsten noch normal aus. Ich zog ihn geschützt unter den Regenschirm mit mir über die Straße zur Straßenbahn. »Wir fahren jetzt einfach mal in den Stadtkern, wo Geschäfte sind und so. Ich denke mal, Museen und so was willst du nicht unbedingt sehen.«

Er schwieg. Presste die Lippen aufeinander. Als ich ihn fragend ansah, weil keine Antwort kam, räusperte er sich verlegen.

»Würdest du mich auch noch lieben, wenn ich gerne in Museen gehe?«, fragte er mich kleinlaut und versuchte jeglichen Augenkontakt zu vermeiden. Erst sah ich ihn schweigend an, dann grinste ich.

»Na, ich weiß nicht …«

Sofort schwenkte er seinen Kopf zu mir und holte tief Luft, um zum Satz anzusetzen, beruhigte sich aber schlagartig, als er mein Grinsen sah.

»Ich dachte schon, du meinst das ernst …«

»Als ob! Wir können auch mal in ein Museum gehen, wenn du willst«, bot ich ihm an, wenn er denn schon so einen Spaß an so etwas Langweiligen hat.

»Nein, lass nur. Ich will dich nicht quälen«, gab er lächelnd zu, und kraulte versöhnend meinen Arm.

Ich lachte etwas verkrampft, bemüht es nicht öffensichtlich zu zeigen. Du quälst mich schon genug, dachte ich. Allein seinen Bruder zu lieben, mit ihm diese Dinge tun, ist Qual genug.

Inzucht... Das steht unter Strafe. Aber ich liebte ihn, daran konnte nichts rütteln!

 

Ich ging zum Ticketschalter und zog Kiyoshi ein Ticket für die Bahn.

»Brauchst du keins?«, fragte er, als er das Ticket entgegen nahm.

»Ich hab so ein Dauerticket. Meine Mom zahlt einmal im Monat einen Betrag und ich kann hier rumgurken wie ich will«, prahlte ich mit meinem Plastikkärtchen rum. Kiyoshi nickte nur.

»Aha.« Damit steckte er das Ticket in seine Hosentasche.

Ich seufzte kaum hörbar. Da war es wieder: der gleichgültige Kiyoshi. Von jetzt auf gleich.

Es dauerte nicht lange, da kam eine Straßenbahn, in die wir einstiegen. Sie war voll, wie immer an einem Freitagnachmittag. Viele Berufstätige hatten jetzt Feierabend und die ganzen Schüler hatten Ferien. Viele Mädchen saßen und standen in der Bahn. Wollen wahrscheinlich alle shoppen gehen, dachte ich bei mir, während Kiyoshi und ich uns an einer Stange festhielten. Er hielt den geschlossenen Regenschirm fest in der Hand, sah aus dem Fenster und schien voll konzentriert zu sein.

»Alles klar?«, flüsterte ich. Er nickte wie apathisch, den Blick dann durch die Menge schweifend. In der Tat spürte ich es auch, als ein Windzug durch das kleine Fenster kam. Der Geruch von Menschen, wie ihr Blut in ihnen floss. Die Hälse schienen sich zu bewegen. Im Rhythmus des Pulses, immer wieder. Leise hörte ich Herzschläge. Ich spürte, wie Kiyoshi ein Mädchen anstarrte. Sie hatte lange schwarze Haare, in einem Zopf zusammengebunden, sodass man ihren Hals wunderbar sehen konnte. Ich hörte seinen Atem. Das starke Atmen, das nach Blut verlangte. Auch ich fixierte den Hals dieses Mädchens. Sie hatte helle Haut, so hell, dass man einige Adern sehen konnte. Eine davon stach wahrlich schmackhaft heraus. Sie bewegte sich pulsierend. Eine Windbrise aus dem offenen Fenster ließ den Geruch von ihr zu uns herüber wehen.

Das war gefährlich. Viel zu gefährlich. Mein Blick fiel zu Kiyoshi.

Er blickte mich an erregt an. Seine Augen glänzten. Dieser Glanz, kurz vor dem tödlichen Biss. Er hatte seinen Mund etwas geöffnet, die kleinen Spitzen Eckzähne blitzen durch seine weißen Lippen.

»Hiro … Hast du Hunger?«, fragte er ganz leise.

»Wieso fragst du …?«, flüsterte ich zurück.

Er kam mir ganz nah. Ich spürte seine Nase an meinem Ohr. »Weil du dich verwandelt hast …«

Erschrocken sah ich in ein Fenster. Ich spiegelte mich. Und ja, meine Augen glänzten wie seine und meine Reißzähne waren auch gewachsen. So Unbewusst? Die Gruppe von Mädchen lachte, die Straßenbahn hielt kurz an. Jedes Geräusch schien wie ein Motor auf mein Trommelfeld zu wirken, jeder Puls klopfte wie Hammer auf mein Ohr, der Geruch von Blut stieg immer weiter in meine Nase. Leute stiegen ein und aus, eine kleine Brise von frischer Luft rief mich.

 

Sofort sprang ich aus der sich gerade schließenden Tür nach draußen. Ich hielt es nicht mehr aus. Diese Geräusche, dieser Geruch, alles wirkte so bedrängend auf mich ein. Bevor noch etwas Schreckliches passieren würde, floh ich. Die Menschen sahen mich verwirrt an, blickten mir hinterher. Ich spürte jeden einzelnen Blick von ihnen. Schnell rannte ich hinter die Haltestelle auf die gegenüberliegende Straßenseite und lehnte mich an eine Mauer. Ich hockte mich hin, atmete tief ein und aus.

Mein Hals. Er war so trocken. Er tat so weh. Was sollte ich nur tun? So war es also, wenn man langsam die Kontrolle verlor? Weil man nichts aß? Ich hatte keine Pille geschluckt...

Hastig suchte ich meine Taschen ab; kramte wie ein Junkie im Innenleben meiner Kleidung.

Nichts.

Ich hatte das Döschen nicht mit.

Wahrscheinlich lag es noch im Koffer.

Mit einem nervösem Blick sah ich in die Straße. Menschen blickten mich besorgt, aber abgeschreckt an. Schnell versteckte ich mein Gesicht in beide Hände und blinzelte durch meine Finger. Ich sah jemanden mit schnellen Schritten auf mich zukommen. Mit einem Regenschirm. Sofort seufzte ich erleichtert und sah in das rettende Gesicht.

In fast einer flüssigen Bewegung nahm er mich in den Arm und hievte mich hoch. Schnell verschwanden wir in einer Seitengasse.

»Hiro, versuch dich zu beruhigen!«, sagte Kiyoshi bestimmend und rüttelte etwas an meinen Schultern. Er sagte ein paar Mal meinen Namen, mehr verstand ich nicht. Ich fühlte mich so grausig, die Geräusche um mich herum hämmerten noch immer auf mich ein.

Irgendwann hörte er auf mich zu schütteln und sah sich verstohlen um. Sofort griff ich nach seinen Oberarmen und sah ihn durchdringend an.

»Du hast dich ja selbst nicht im Griff!« Dabei starrte ich in seine glänzenden Augen. Ein Rotschimmer bildete sich auf seiner Iris. Seine Haut glänzte wie Perlmutt und seine Adern schimmerten durch. Sachte legte ich meine Hände auf seine Wangen. Strich mehrmals über sie. Je länger ich meinen Bruder fixierte, desto ruhiger wurde ich. Desto ruhiger wurde es um mich herum.

»Wir sind Monster … Du hast ein Monster aus mir gemacht«, flüsterte ich ihm ins Ohr, während ich mich zu ihm vor lehnte. »Was hast du aus mir gemacht? Sieh mich an …«

Mit einer langsamen, fast bedrohlichen Bewegung, legte er seine Hände auf meine und fixierte wieder meine Augen. Gleichgültigkeit wäre zu viel gesagt, aber eine gewisse Belanglosigkeit war dabei. Wir hatten dieses Thema der Schuldfrage schon so oft gehabt. Wahrscheinlich war er es Leid, mir überhaupt eine Reaktion zu zeigen.

Aber er war Schuld! Es machte mich wütend, nicht mehr mein altes Leben führen zu dürfen. Ich wollte mich nicht damit abfinden. Diese sensiblen Ohren, diese sensible Nase und dieser Durst nach Blut. Es war etwas vollkommen anderes, wenn man kein anderes Leben kannte. Aber wenn man schon einmal ein menschliches Leben führte, war ein solches Leben voller Abstriche. Es war ein so hoher Preis für eine verbotene Liebe zu bezahlen. Wieso musste es er sein? Wieso musste alles so viel kosten? Wieso war es so schwer? Wieso machte mich das wieder so traurig? "Wieso" war eine gute Frage für fast alles in meiner Umgebung.

Ich sah zu Boden und schluckte die steigende Wut einfach runter. Sie brannte widerlich in meinem Hals.

Der Hunger trieb mich in den Wahnsinn.

»Hier«, sagte Kiyoshi mit immer noch dem bestimmenden Unterton. Ich blickte auf und starrte auf sein blutendes Handgelenk, welches er mir schon fast zwingend an den Mund hielt.

Und wie jemand, der seit Tagen ohne Wasser in der Wüste endlich eine Oase sah, stürzte ich mich auf sein Handgelenk und leckte das Blut ab. Gierig trank ich einige Schlucke des süßlichen Nektars. Vorsichtig starrte ich in seine Augen. Etwas schmerzlich blickte er zurück. Mit einem letzten Schluck, löste ich mich von der Nahrungsquelle.

»Du brauchst es auch, oder?«, fragte ich vorsichtig, strich liebevoll über seine Wange. Er nickte erst schüchtern, dann deutlicher, kam mir näher und presste sich gegen mich, den Blick bereits auf meinen Hals gesetzt. Ich lehnte mich an die Wand der Sackgasse und zog ihn in meinem Armen mit mir. Sein Atem löste Gänsehaut auf meiner Haut aus. Diese zarten, kalten Hände, welche nach mir griffen und sachte meine Haut streichelten. Diese Lippen und diese Zunge ließen mich meine anfängliche Wut sofort vergessen. Der Schmerz in meinem Hals tat das übrige.

 

Ich gewöhnte mich daran. Langsam. Der Schmerz des Bisses. Und das unangenehme Gefühl, wenn er das Blut aus den zwei Löchern saugte. Ich hörte seine Schlucke; jedoch nicht lange. Vorsichtig löste er sich von meinem Hals, sah mir tief in die Augen und legte dann sachte seine Lippen auf meine. Die paar Tropfen in seinem und meinem Mund vermischten sich, als ich meine Zunge durch seine Lippen schob.

Mein Herz beruhigte sich langsam wieder. Welch Erleichterung. Genussvoll schlang ich die Arme um seine Taille, zog ihn so weit es ging an mich und vertiefte den Kuss. Zwar kamen Kiyoshi und ich im Grunde auf einen gewissen Nullpunkt, was unsere Nahrung anging; trotzdem fühlten wir uns für den Moment besser.

Etwas erregt, schob ich mein Bein zwischen seine und rieb leicht. Ich hörte ihn gegen meine Lippen seufzen und dachte nur noch an eins: Hier und jetzt, in der dreckigen Gasse.

 

Doch wir hörten Schritte. Sofort sprang Kiyoshi wie ein Tier einen Meter von mir.

Eine etwas rundlichere Frau schob einen Wagen voller Kartons in die Gasse. Sie sah uns erst gleichgültig, dann entsetzt an. Unsere Wunden heilten zwar schnell, aber nicht sofort. Noch quoll etwas Blut aus meiner und Kiyoshis Wunde. Die Frau öffnete bereits ihren Mund, wollte zum Schrei ansetzen.

Schnell liefen wir an ihr vorbei, zurück auf die Hauptstraße und versuchten in der Menschenmasse zu verschwinden, die auf die Einkaufsstraße führte. Etwas verschämt wischten wir uns das Blut vom Mund ab. Unsere Blicke trafen sich manchmal, doch mehr als ein unsicherer Augenkontakt war das nicht.

Wieso hatten wir uns eigentlich nie unter Kontrolle? Wann würde sich das ändern? Wann würde das abebben? ... Wahrscheinlich nie, kam mir sofort in den Kopf. Immerhin waren wir Zwillinge und doch uns gegenseitig fremd. Unsere Genetik ließ es einfach nicht zu, dass wir uns abstießen. Den Gefühlsteil brachten wir natürlich eigenständig in die Beziehung, aber beides zusammen ergab eben die unaufhaltsame, giftige Mischung der Liebe.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute mal noch ein Kapitel, weil ja mal auch was passieren soll :D Ich schreib immer so viel Vorgeplänkel... aber die Story soll ja auch was hergeben! ♥ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Tomanto
2015-10-08T21:42:26+00:00 08.10.2015 23:42
Irgendwie finde ich es gut, das die Frau da vorbeigekommen ist (wäre nicht so ein romantischer Ort gewesen um ehrlich zu sein) (nicht, dass ich ihnen nichtden Spaß gönne).
Aber das mit dem Durst ist echt ein Problem. Und wie schlimm es für Hiro sein muss seine Mutter so verängstigt und entsetzt wegen ihm zu sehen. Ach Schnuffelchen... :(
Von:  ellenorberlin
2015-09-22T10:35:40+00:00 22.09.2015 12:35
Endlich geht es weiter 😍😍😍
Ich kann kaum das nächste Kapitel erwarten!!!
Von:  LeeAnn
2015-09-21T17:41:07+00:00 21.09.2015 19:41
Och mann
Warum musste die Frau kommen, ich hab mich schon Mega darauf gefreut *schmoll*
Von:  hayamei
2015-09-20T20:11:51+00:00 20.09.2015 22:11
Ohh Menno, Kiyoshi ist doch echt en Schnuckelchen ^^ wie er sich an Hiro ranmacht und immer wieder ne Abfuhr kassiert *voll der Schmollmobs* XD Aber die Beiden finden wies scheint doch immer einen Weg allein zusammen zu sein.

Aber das ihre Mutter sie erwischt hat ist garnicht gut..... da bin ich echt mal gespannt, wenn sie wieder nach Hause kommen.

Ich bin aber auch voll der Fan von Hiro, jetzt wo auch noch seine Vampirzüge durchkommen *hach* ^^


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