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Bruderliebe

von

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~°~11~°~

 

 

Am nächsten Tag wachte ich spät am Mittag auf. Schon lange hatte ich nicht mehr so gut geschlafen, vor allem traumlos, was man sicherlich auf das Schlafmittel zurückführen konnte. Zwar tat mir jeder einzelne Knochen bei jeder Bewegung weh, sonst aber war so weit alles in Ordnung, wenn man von meinem Seelenheil absah.

Der Blick auf die Uhr bestätigte – es war tatsächlich weit in den Mittag hinein.

Gähnend kroch ich aus dem weichen, warmen Bett, was ich am liebsten nicht verlassen hätte und suchte nach meinen Klamotten. Da ich meine Kleidungsstücke nicht vorfand, zog ich mir den Morgenmantel von gestern über meinen Schlafanzug und ging auf die Toilette, um mich zu erleichtern. Dabei hörte ich, dass unten leise Radiogeräusche liefen und Carstens summende Stimme dazu. Sie kam aus der Küche.

Ein flaues Gefühl breitete sich aus, als ich daran dachte, warum ich hier war und wie ich gerettet wurde.

Alles war so surreal. Die Selbstmordgedanken jedoch, die waren verschwunden. Doch wie sollte es weitergehen?

Das mulmige Gefühl im Bauch nahm zu, als ich den Weg zur Küche herunterschritt. Der Flor dämpfte meine Schritte.

Basta hatte mich allerdings gewittert. Ich sah, wie er die Ohren aufrichtete. Er lag auf einer Hundedecke und hatte ein Mittagsschläfchen gehalten, stand aber nicht auf, gähnte und legte seinen Kopf auf seine Vorderpfoten ab.

Fauler Hund!

„Ausgeschlafen?“, fragte mich Carsten, als ich die Küche betrat.

„Danke, ja.“ Ich stand etwas verloren in der Tür und sah ihm verstohlen zu, wie er ein Tablett mit Wurst, Käse, Butter, Marmelade und Brot, sowie Geschirr und Besteck drapiert, mitten auf dem Tisch platzierte. Dann deckte er den Tisch, obwohl die Zeit für ein Frühstück schon lange vorbei war. Er wirkte verschlafen, in seinem blauen Hausanzug. Die Haare standen leicht wirr vom Kopf ab.

Ich ließ meinen Blick kurz über die gedeckte Tafel schweifen. Alleine vom Anblick der vielen Lebensmittel wurde mir ein wenig übel und ich griff instinktiv nach meinem Bauch, der daraufhin leise vor sich hin gluckerte. Doch verspürte ich keinen Hunger, aber auf etwa anderes – Nikotin. Der Nikotinentzug machte sich bemerkbar, meine Hände zitterten ein wenig. Carsten sah auf meine Hände, sagte aber nichts. Ich unterdrückte den Drang, mich zurückziehen zu wollen.

„Setz dich!“, bat er milde. Ich nickte, setzte mich an den Tisch. „Ich habe uns Tee gemacht. Kaffee finde ich für die Tageszeit nicht passend.“ Ich schon!, dachte ich wehmütig, nickte aber ein weiteres Mal.

Carsten schenkte mir Tee ein. Als er bemerkte, dass ich nichts anrührte, sah er mich besorgt an: „Du solltest was essen – zu Kräften kommen.“ Er selbst hatte sich ein Vollkornbrot mit Butter beschmiert und mit Käse belegt. Alleine der Anblick davon und ich wusste, ich konnte keinen Bissen herunterbringen.

„Ich habe keinen Hunger“, war daraufhin meine ehrliche Antwort.

„Jaden, bitte!“

„Sorry … ich kann nicht.“ Ich senkte meinen Blick, fühlte mich hilflos.

Er sah mich lange an, dann seufzte er. „Na gut! Dann trink wenigstens deinen Tee.“ Wieder diese warme und weiche Stimme, die weder bedrohlich noch beängstigend auf mich wirkte. Ich nickte und trank an meinem schwarzen Tee.

Zwischen uns entstand eine Stille. Ich fühlte mich zwar fremd in seiner Umgebung, und doch wollte ich irgendwie hier nicht weg. Würde ich jetzt gehen müssen? War das gestern, dass ich mit ihm gegangen war, nur für eine Übernachtung gewesen? Fragen über Fragen häuften sich.

Ich entschloss mich nach langem innerem Kampf, ihn zu testen und unterbrach unser Schweigen, was mir nicht leicht fiel. „Ich müsste heute in meine Wohnung – brauche ein paar frische Klamotten.“ Die Worte waren gesagt. Mein Herz klopfte schnell und hart gegen die Brust, als ich ihn ansah. Wie würde er reagieren?

Carsten, der zwischenzeitlich in die Tageszeitung geschaut hatte, klappte sie zu und fuhr sich über sein blondes Haar. „Eine gute Idee.“ Er klang offensichtlich zufrieden. „Ich werde dich begleiten.

„Ja?“ Ich ließ sie absichtlich als Frage klingen.

„Ja! Und du wirst so lange hier bleiben, bis es dir wieder besser geht. Also pack ruhig ein paar Sachen mehr ein. Ich versprach dir einen Ausweg, einen Neuanfang, daran halte ich mich auch.“

Wenn mein Herz bereits schnell schlug, so raste es nun bei seinen Worten. Ich war sprachlos.  Hatte Carsten meine Gedanken erraten? Stand mir meine Hilflosigkeit so sehr ins Gesicht geschrieben?

Ich konnte ihn kaum ansehen. Was wusste Carsten Großartiges von mir? Außer meinem Namen rein gar nichts. Wenn ich so recht überlegte, wusste ich von ihm auch nicht viel. Doch war ich es gewesen, der sich umbringen wollte. Ich wusste in diesem Augenblick nur, dass von Carsten nichts Böses ausging.

Aber aus was für einem Grund wollte er mich bei sich wohnen lassen, ohne richtige Informationen über mich zu besitzen, oder gar nachzufragen, was der eigentliche Grund meiner Misere war?

Ich widmete mich weiter dem Tee, der mir gut bekam, und vergaß ganz, dass Carsten auf eine Antwort wartete. Das warme Gebräu füllte weiterhin angenehm meinen Magen, während ich in meiner ganz ureigenen Welt verschwand. In die, seit Darian in mein Leben getreten war.

Darian!

„Jaden?“ Ich schreckte auf, sah ihn beinahe verängstigt an, doch sein warmer Blick beruhigte mich sofort. Überhaupt strahlte er Ruhe und Gelassenheit aus. „Alles in Ordnung?“

Ich stellte die Tasse auf den Unterteller und nickte – schüchtern. Mir wurde bewusst, dass ich auf ihn wie ein Häufchen Elend wirken musste.

Ich konnte meine Magerkeit nicht ganz vor ihm verbergen, und was gestern im dunklen Licht geschickt zu verbergen war, kam nun ans Tageslicht. Doch anstatt mir einen Vortrag zu halten, nahm er von meinem Aussehen keinerlei Notiz oder er versteckte seine Gefühle darüber sehr gut. Ich trank meinen Tee leer.

Carsten war ebenfalls fertig mit seinem Frühstück, stand auf und ich folgte ihm. Er überreichte mir meine getrockneten und vor allem sauber gewaschenen Klamotten, die im Keller in einem kleinen Raum aufgehängt waren. Der Raum war warm beheizt und komfortabel. Man hätte auch darin wohnen können.

Dankend nahm ich das Bündel entgegen und ging auf mein Zimmer zurück.

Eine halbe Stunde später war ich umgezogen, Carsten hatte auf mich im Flur gewartet. Wir fuhren nach Hamburg in meine WG, die ich zu meiner Erleichterung leer vorfand. Die ganze Zeit über hatte ich während der Fahrt darüber nachgegrübelt, was ich ihnen hätte sagen sollen.

„Ich hätte jetzt keinen ertragen können“, sagte ich schließlich zu ihm, obwohl er nicht danach gefragt hatte. Wir gingen den Flur entlang und blieben vor meinem Zimmer stehen.

Carsten nickte verständnisvoll.

„Das wird schon wieder und ich bin auch noch da, um die Situation zu klären.“

Ich öffnete die Tür, zu meinem Zimmer, das vor Sauberkeit nur so glänzte. Carsten sagte zu meinem spartanisch eingerichteten Zimmer nichts. Ob er meine Armut erahnte? Spielte das eine Rolle?

Ich wusste es nicht; ich machte mich an die Arbeit, holte einige meiner Klamotten aus dem Schrank und packte sie in meinen alten Koffer. Carsten hatte ich die ganze Zeit über ausgeblendet. Während des Packens fiel mir das Bild von Darian in die Hände. Nun wurde mir die Anwesenheit von meinem Retter schnell bewusst. Ich sah verstohlen zu ihm, doch Carsten war ans Fenster getreten und hatte die Situation nicht mitbekommen. Dennoch war ich rot angelaufen. Weiterhin hochrot im Gesicht, versteckte ich rasch das Bild zwischen meiner Unterwäsche. Dabei kam ich mir wie ein Verbrecher vor. Mein Herz raste. Seit dem Einzug hatte ich niemals mehr das Bild in den Händen gehalten. Ein innerer Zwang wollte, dass ich das Bild erneut herausholte und ansah – es betrachtete, was ich dann auch tat.

Wut und Trauer kamen und gingen, als ich sein Gesicht vor mir sah. Eigentlich hätte ich es einfach zerreißen sollen. Doch aus welchen tieferen Gründen auch immer, ich brachte es nicht über das Herz. Auch wenn mein Halbbruder mir so viel Leid zugefügt hatte in jener schrecklichen Nacht, waren die Gefühle immer noch sehr stark für ihn.

„Jaden, alles in Ordnung?“ Carsten war an mich herangetreten. Schnell legte ich die Fotografie zurück, versteckte sie im Koffer. Ob Carsten das Bild nun doch gesehen hatte, konnte ich nicht erkennen. Irgendwann würde ich ihm, wenn die Gelegenheit sich ergab, davon erzählen müssen, wenn ich überhaupt über meinen Bruder erzählen konnte. Mir fiel Susan ein. Meine einzige wahre Freundin, und ich hatte sie vor den Kopf gestoßen. Ich fühlte mich plötzlich schlecht, als ich wieder an sie dachte.

Warum hätte ich mich nicht einfach in sie verlieben können? Sie hätte mich glücklich gemacht.

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Ich sah meinen Retter an und nickte, schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. Er fragte nicht weiter, als er trotzdem meinen weinerlichen Ausdruck im Gesicht erkannte. Wieder ein Pluspunkt für ihn. Mit zittrigen Händen packte ich zu Ende.

„Fertig?“, fragte er mich.

„Ja, fertig. Ich habe alles.“

Meinen Mitbewohnern hinterließ ich einen Zettel mit einer Nachricht, dass ich für einige Zeit bei jemand anderes wohnte. Zum Schluss bat ich um Aufschub der Miete. Als Carsten den Zettel liegen sah, nahm er ihn einfach unter schwachem Protest meinerseits an sich, las den Betrag, den ich für die Miete noch schuldete. Er hob seine Augenbrauen, dann sah er mich an. Ich konnte sein Mienenspiel nicht deuten, ob er wütend war oder einfach besorgt, dazu kannte ich ihn zu wenig.

Er zückte ohne zu zögern seinen Geldbeutel und legte schließlich 200 Euro neben den Zettel. Strich den letzten Satz mit einem daneben liegenden Kugelschreiber durch.

„Carsten, ich kann das nicht annehmen.“ Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Zumal er mit mir nur Unkosten hatte. Ich biss mir auf die Lippen, sah ihn an, verlor mich in seinen Augen.

Sie waren so klar wie das Meer, so rein.

Ich machte mir meine eigenen Gedanken um ihn, warum er wirklich so viel für mich tat?

„Das regeln wir alles noch. Erst einmal sollten dich solche Dinge nicht belasten“, sagte er schlicht und ich verließ wie in Watte gepackt, mit meinem Koffer in der Hand, die Wohnung. Weit kam ich nicht, denn fürsorglich, so wie ich ihn bis jetzt kennengelernt hatte, nahm er ihn mir ab. Beschämt ließ ich es zu, meiner Schwäche bewusst und stieg in den BMW. Ich betrachtete Carsten von der Seite her. Seit ich ihm richtig in die Augen geschaut hatte, nahm ich ihn anders wahr. Die Art der Kleidung, wie er sich bewegte, in seiner Jeans und seinem weißen, aber edlem Hemd. Dass er Geld hatte, war nicht zu übersehen. Aber warum interessierte es mich auf einmal, was er anhatte? Schnell verscheuchte ich die Gedanken über ihn und kam auf meine Mitbewohner zurück.

Was würden sie nur sagen, wenn sie den Zettel mit dem Geld vorfanden? Ich musste zumindest Ina oder Sabine Bescheid geben. Mit ihnen war ich doch enger in Kontakt.

Als wir losfuhren, Carsten hatte sich geschickt in den Verkehrsfluss eingefädelt, konnte ich auf einmal meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Ich konnte es selbst nicht ganz begreifen, aber es war so.

Als Carsten meinen Zustand sofort bemerkte, fuhr er an die Seite, sah mich kurz an und dann gab er mir ein paar Tropfen – Johanniskraut las ich als Wirkstoff, was meinen Kopf schnell leer werden ließ. Ich fühlte mich danach in Watte gepackt, als ich zehn davon auf einem Stückchen Zucker eingenommen hatte. Ich wurde stutzig. Hatte Carsten die immer auf Vorrat? Was war Carsten von Beruf? Irgendwann würde ich ihn fragen. Doch nicht heute. Das schwermütige Gefühl wurde besser. „Danke.“

„Geht’s nun besser?“

Ich nickte, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich war Carsten dankbar, dass er auch da nicht nachgefragt hatte.

Als wir ankamen, zog ich mich für den Rest des Tages zurück. Zwar bat mich Carsten, mit ihm Abend zu essen, weil ich immer noch nichts gegessen hatte – ich verneinte, versprach aber am nächsten Morgen zum Frühstück zu erscheinen. Das Einzige, worauf ich Hunger hatte, waren Zigaretten.

Doch ganz ohne alles wollte mich Carsten nicht gehen lassen. Und so überredete er mich, wenigstens eine Kanne Kräutertee mit Zucker mit aufs Zimmer zu nehmen.

Als ich für mich war, packte ich meine Sachen in den Schrank. Wieder fiel mir das Bild in die Hände, als ich bei der Unterwäsche angekommen war. Um nicht wieder in ein mentales Loch zu fallen, schob ich es unter die Wäsche. Die Wirkung der Tropfen half mir schnell, die Gedanken an Darian zu verbannen.

„Nein, heute wirst du mich in Ruhe lassen!“ Ich lenkte mich ab, sah das Telefon auf meinem Zimmer stehen, und bevor ich groß nachdachte, hatte ich schon die Nummer von der WG gewählt. Ich war über mich selbst erstaunt.

Lag es wirklich an der Wirkung der Johanniskrauttropfen? Sabine nahm das Gespräch entgegen. „Hallo?“

„Hi, hast du meine Nachricht gelesen?“, fragte ich, ohne groß um den heißen Brei zu reden.

„Ja, habe ich – danke, aber warum wohnst du nun woanders und wo überhaupt? Die Nummer ist keine Hamburger Nummer.“

Ich seufzte – manchmal war die Technik nicht immer optimal platziert.

„Ich brauche einfach Abstand …“ Ich erzählte ihr nicht mehr, nur, dass ich jemanden kennengelernt hatte.

Als sie nachfragte, ob auch wirklich alles in Ordnung sei, versuchte ich sie davon zu überzeugen. Frauen hatten einfach die feineren Antennen, vielleicht lag es an meiner nicht sehr festen Stimme, dennoch bohrte sie nicht weiter und wünschte mir eine gute Zeit. Als ich auflegte, fühlte ich, dass ich richtig gehandelt hatte. Wovor hatte ich so viel Angst gehabt?

 

 

 

 

©Randy D. Avies 2012 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Veri
2015-08-20T20:04:59+00:00 20.08.2015 22:04
Wieder ein sehr schönes Kapitel !
Antwort von:  randydavies
21.08.2015 14:49
Dankeschön! :)


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