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Götterdämmerung

von

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Eclipse

Der Aufprall presste die Luft aus Manas Lungenflügeln. Ein scharfer Schmerz zog durch ihre linke Schulter und trieb einen hissenden Laut über ihre Lippen. Sie benötigte einige Momente um wieder klar zu sehen.

„Mana! Ist alles okay? Mädchen… erschreck mich doch nicht so!“

Verwirrt blinzelte Mana in das helle Gegenlicht des Einstieges, von dem Joeys Stimme zu ihr herunter drang.

„Sag schon, ist alles okay?“ In Joeys Stimme schwang besorgte Alarmbereitschaft und Mana beeilte sich zu antworten: „Alles gut… glaube ich.“ Vorsichtig rappelte sie sich auf die Knie und zuckte zusammen, als ihre Schulter gegen die Bewegung rebellierte. Langsam sah sie sich um und versuchte ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie befand sich auf einer unebenen Treppenstufe, deren Ende in der Schwärze verloren ging. Der Einstieg, durch den sie gefallen war, schwebte einen halben Meter über ihr – der Sturz war zum Glück nicht so tief gewesen, wie es ihr während des Fallens erschienen war.

Joey überwand die kurze Distanz ohne Schwierigkeiten und kam mit einem gedämpften Laut neben Mana zum Stehen. „Da fehlt’n Stück“, murmelte er und musterte die Treppe, die bis zu Manas Landeplatz reichte, wo sie in einem Berg aus Trümmern endete.

Mana hustete leise. „Die Stufen haben früher scheinbar bis zum Fundamentsstein gereicht. Sie müssen im Laufe der Jahre zusammengebrochen sein.“

„Den Architekten würde ich feuern“, Joey grinste schief, wurde dann aber sofort ernst und deutete auf Manas Schulter. „Ist echt alles okay? Der Sturz sah ziemlich wüst aus.“

Mana presste die Lippen zusammen und stemmte sich vom Boden hoch. „Nur eine Schürfwunde“, log sie. „Komm, lass uns weiter. Wir sind so kurz vor dem Ziel.“ Sie unterdrückte das leise Keuchen, das ihr auf den Lippen lag. Ihre Schulter pochte heftig und Mana glaubte zu spüren, dass ihre Tunika von warmem Blut getränkt wurde. Stufe um Stufe stieg sie hinab, dicht gefolgt von Joey, dessen Atem sie in der Dunkelheit in ungekannter Schärfe wahrnehmen konnte. Ihre Schritte hinterließen kaum ein Geräusch auf dem Stein, als sögen die steinernen Mauern jeden Hall in sich auf.

Mana fröstelte. Die abgestandene Luft änderte sich je weiter sie hinabstiegen, bis sie so schwer von Moder und Altertum gesättigt war, dass das Atmen schwer fiel.

Die Zeit bröckelte und verschwand in der Bedeutungslosigkeit. Wie lange stiegen sie diese Treppe bereits hinab? Waren es Minuten? Oder Tage? Mana wusste es nicht. Monoton setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Schmerz in ihrer Schulter war abgeklungen, hatte einer tiefen Dumpfheit platz gemacht. Der durchnässte Fleck ihrer Tunika klebte kalt und unangenehm an ihrer Haut. Sofern sie den Arm nicht bewegte, schien zumindest kein neues Blut aus der Wunde zu laufen.

Eine Unregelmäßigkeit in Joeys Schritten ließ sie aufblicken. Trotz der Dunkelheit konnte sie sehen, wie fahl und angespannt sein Gesicht wirkte. Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch sie konnte die Worte nicht greifen, die durch ihre Gedanken stoben. Stattdessen tat sie einen weiteren Schritt. Und noch einen. Und trat plötzlich in knöcheltiefes Wasser. Es war eisig kalt. Und doch war es gerade diese Kälte, die Mana aus ihrem Schweigen holte. „Da… da ist das Ende der Treppe.“
 

Joeys Tunika raschelte, als er sich an ihr vorbei schob. Er sagte nichts, sondern tastete sich nur an der Wand entlang. Der Weg führte nur noch wenige Schritte geradeaus, ehe er in einer scharfen Linkskurve endete. Joey zögerte einen Moment und spähte schließlich entschlossen um die Ecke. Er erstarrte und Mana beeilte sich zu ihm aufzuschließen.

Vor ihnen erstreckte sich ein weiter Raum, nur spärlich erhellt durch ein diffuses, grünliches Licht, das keinen Ursprung zu haben schien. Die aufstrebenden Säulen verschwanden in der Dunkelheit, als wäre die Schwärze die einzige Decke, die es zu tragen galt. Das Wasser, das den Boden vollständig überflutete, lag so glatt vor ihnen wie ein blank polierter Spiegel. Manas Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Rippen. Sie spürte, dass ihre Knie nachzugeben drohten und zwang sich dazu, einen Schritt nach vorne zu tun. Das Wasser wurde tiefer, es reichte ihr nun knapp bis an die Knie. Dunkle Schatten umringten ihre Beine und Mana zuckte erschrocken zurück, bis sie erkannte, dass es sich um Fische handelte.

„Nilwelse“, murmelte sie überrascht. „Das hier … das ist der Nil, Joey.“

Statt einer Antwort fühlte sie, wie sich Joeys Finger auf ihre Schulter legten und sie dazu zwangen, sich einen halben Schritt nach links zu wenden. Sie hob irritiert den Blick und spürte, wie ihr der Mund aufklappte. Weit in der Mitte des Raumes ragte ein quadratisches Plateau aus dem Wasser. Dort oben, umrahmt von vier schlichten Torbögen, ruhte ein steinerner Sarkophag.

Mana zitterte am ganzen Leib. Sie konnte die übermenschliche Aura mit jeder Faser ihres Körpers spüren, bis sie im Begriff war, wahnsinnig zu werden. Einen kurzen Moment schoss die Frage durch ihren Kopf, ob Atemu tagtäglich eine ähnliche Präsenz ertragen musste, doch der Gedanke war verschwunden, noch ehe sie ihn wirklich begreifen konnte.

Sie näherte sich langsam.  Die Nilwelse flohen unter den zögerlichen Schritten, die das Wasser aufwühlten. Der Sarkophag ragte vor ihnen auf wie eine Trutzburg, die in Stille und Düsternis die Jahrhunderte überdauerte.

„Da drin?“ Joeys Stimme klang abgehakt.

„Ich … ich weiß es  … nicht.“ Alles in Mana schrie danach umzukehren, den Sarg und das darin eingeschlossene Etwas in Frieden zu lassen.

Mit energischen Schritten trat Joey neben den Sarkophag. Er konnte nicht verbergen, dass seine Hände zitterten, als er sie an den schweren Deckel legte und sich mit aller Kraft dagegenstemmte. „Na dann, los.“ Nach wenigen Minuten war er schweißgebadet. Seine Muskeln traten angespannt unter seiner Haut hervor, doch der schwere Stein bewegte sich nur um Millimeter.

Mana versuchte ihm zu helfen, doch ihre linke Schulter versagte ihr nun endgültig den Dienst. Mit zusammengebissenen Zähnen lehnte sie ihr ganzes Körpergewicht gegen den Sarg. Der Widerstand begann zu bröckeln, bis sich der Deckel plötzlich mit einem Schaben löste und donnernd zu Boden fiel.

Das Innere des Sarkophags erstrahlte. Eine Säule aus gleißendem Licht schoss in den Himmel, waberte an den steinernen Mauern entlang, als suche es einen Ausweg. Mana schlug sich hastig die Hände vors Gesicht. Ihre Augen tränten. Jedes Haar an ihrem Körper vibrierte, jede Faser schien zum Bersten angespannt. Ein schriller Schrei, krächzend wie der eines Geiers, erfüllte den Raum, immer und immer wieder, bis Mana gequält aufstöhnte.

Plötzlich war es vorbei. Das Licht wich der raumgreifenden Dunkelheit. Die Stille kehrte zurück. Würgend; Bedrückend.
 

Nur langsam wagte Mana, zwischen ihren Fingerspitzen hindurch zu sehen. Es dauerte lange, bis sie sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Nechbets Grabstätte lag ruhig da, die erdrückende Präsenz war verschwunden. Bebend richtete Mana sich auf, trat entschlossen näher und beugte sich über den offenen Sarg. Das Erste, was sie erblickte, war Staub. Das Innere des Steinsarges wirkte alt und verwittert, schuf einen krassen Gegensatz zu der zeitlos perfekten Außenhaut.

Er war leer.

In Mana stieg eisige Kälte auf. „Das kann doch nicht…“, begann sie erstickt und unterbrach sich wieder. Es durfte nicht sein. War alles umsonst gewesen? Sie spürte die Schwäche, die durch ihre Glieder floss, die Erschöpfung nach dieser langen, erfolglosen Reise. Mit einem unterdrückten Schluchzen verbarg sie ihr Gesicht in ihren bebenden Armen. Sie war ausgelaugt. Und leer.

„Mana…“, Joeys Stimme war so nah an ihrem Ohr, dass sie zusammenzuckte. „Was ist das da?“

Unwillig sah Mana auf und folgte Joeys Fingerzeig zum Kopfende des Sarkophags. Ihr Atem stockte, als sie das schwache, goldene Blitzen sah, dass Joeys Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Dort, unscheinbar und verborgen unter einer Schicht grauen Schmutzes, lag ein kleines, schmales Artefakt.

Schwarze Linien auf goldenem Grund formten ein ägyptisches Auge, die smaragdbesetzte Iris war blind vom Staub vieler Jahre. Mit bebender Hand griff Mana danach und keuchte leise, als sie die sanfte Wärme spürte, die von dem kleinen Artefakt ausging.

„Das ist es, Joey,“ presste sie atemlos hervor. „Das ist es!“

Das Schmuckstück begann vor ihr zu verschwimmen, als sich Tränen der Erleichterung in ihren Augen sammelten. Endlich. Jetzt würde alles gut werden.

„Lass uns abhauen, Mana.“ Joeys Stimme war belegt. „Ich will raus aus diesem muffigen Loch. Wir haben’s geschafft, wir-“ Er unterbrach sich.

Sie hörten die Schritte nicht. Sie spürten sie. Als Mana zaghaft über ihre Schulter nach hinten blickte, sah sie das Wesen sofort. Groß und stumm stand es am anderen Ende des Raumes. Die lebende Sphinx – Wächter des heiligen Bezirkes.

„Lauf, Joey…“

Der Löwenkörper der Sphinx spannte sich. Manas Stimme überschlug. „Bei Osiris: LAUF!“
 

~oOo~
 

Er würde das Geräusch nie vergessen können. Seit seiner Kindheit war er in Kampf und Militärwesen ausgebildet worden. Er wusste, wie er die Chepesch richtig einsetzte, er verstand es, einen Streitwagen zu führen und er hatte die Bildung, um auf gegnerische Taktiken sofort antworten zu können. Doch auf den Laut, der entstand, wenn eine scharfe Klinge durch die Kehle eines Menschen glitt, hatte ihn niemand vorbereitet. Genauso wenig wie auf den Würgereiz, der aufstieg, wenn die Speichen seines Streitwagens Knochen zermalmten, ohne zwischen Toten und Verletzten zu unterscheiden. Atemu presste die Lippen aufeinander. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte. Die Schlacht war in ihrer vollen Härte entbrannt, kaum, dass er mit seinem Heer vor Memphis angekommen war. Sein Erscheinen hatte seinem Heer einen Euphorieschub gegeben, sie kämpften so verbissen, wie nie zuvor. Und starben in Massen.

Atemu wischte sich Schweiß und Blut aus dem Gesicht, versuchte den Gedanken beseite zu schieben, dass es sich bei dem Blut nicht um das seinige handelte. Mit einem harschen Zug an den Zügeln brachte er seine nervösen Pferde vor dem hastig aufgebauten Baldachin zum Stehen, unter dem die nächste Strategiebesprechung stattfinden würde. Der Pharao fluchte leise. Die Situation begann, ihm zu entgleiten. Er wusste nicht, wo Seto mit dem Streitwagenkorps blieb und den Kontakt zu den Feldärzten hatte er vor einigen Stunden verloren. Wo waren Mahad und Karim? Wo war Ishizu? Und … Yugi?

Er spürte, dass seine Hände zitterten und ballte sie so fest zur Faust, dass seine Haut vom Leder der Zügel aufgerieben wurde. Das Millenniumspuzzle lag schwer um seinen Nacken, als wolle es ihn daran erinnern, dass er noch immer eine Möglichkeit hatte, die Geschicke dieses Krieges zu seinen Gunsten zu wenden. Sein Herz schlug so heftig, dass jeder Schlag die Luft aus seinen Lungen drängte. Er wusste, was in seiner Macht stand. Aber er wusste auch, dass er es nicht tun konnte.

Eine Hand löste sich von den Zügeln und legte sich um das Millenniumspuzzle. Es schien unter seinen Fingerspitzen lebendig zu werden, Atemu glaubte zu hören, wie es ihn rief. Sein Atem stockte. Etwas in ihm rebellierte, bäumte sich gegen unsichtbare Ketten und zerriss sie Glied um Glied. Das Milleniumspuzzle glühte, brannte sich in seine Fingerspitzen. Atemus Blick glitt zu den mächtigen Stadtmauern Memphis‘, die vor ihm lagen; so nah, dass er glaubte, sie greifen zu können, und doch noch so weit entfernt.

Die erste Angriffswelle war niedergeschlagen worden. Hinter den vorderen Reihen der Infanterie, die sich neu formierten, beeilten sich Atemus Soldaten, ihre verwundeten Kameraden vom Schlachtfeld zu schleppen. Atemu wusste, dass er nicht zögern durfte. Er musste erneut angreifen. Doch er rührte sich nicht. Er klammerte sich an das Puzzle, an die Dunkelheit, die in ihm aufstieg. Atemu bebte. Er konnte fühlen, wie sich sein Ka ballte; wie es aus dem engen Gefängnis des sterblichen Körpers ausbrechen wollte. Sein Geist begann nach den drei Göttern zu rufen, angestachelt durch die Kraft, die Seth ihm gab. Und endlich… endlich konnte er fühlen, dass Obelisk seinen Ruf erwiderte.

Memphis würde brennen. Und mit ihm Senator Neferabu, der Usurpator, der den Tod Aknamkanons genutzt hatte, um sich selbst zum Pharao aufzuschwingen. Er würde in der Stadt sein Verderben finden, in der er den Putsch angezettelt hatte.

Blutdurst begann ihn zu quälen, während sich sein Ka verdichtete. Es fiel ihm schwer den Streitwagen zu halten. Die persischen Hengste tänzelten panisch. Atemu biss sich auf die Lippen, um ein Keuchen zu unterbinden.
 

„Pharao?“

Der Streitwagen tat einen Satz nach vorne, als sich die Pferde wiehernd aufbäumten. Atemu riss fluchend an den Zügeln und fuhr herum, als der den Wagen wieder unter seiner Kontrolle wusste.

Er stockte, als sein Blick auf die Gestalt fiel, die hier, im Herzen des Krieges, unendlich klein und verloren wirkte. Yugi hatte die Hand auf den Mund geschlagen, offenkundig erschrocken darüber, wie sehr sein plötzlicher Ruf die Pferde aufgescheucht hatte. Die Dunkelheit in Atemu schwand. Der grausame Griff der Rachgier lockerte sich, gab seine Gedanken langsam wieder frei.  

„Was hast du hier zu suchen?“ Atemu sprang vom Streitwagen, noch ehe Yugi die Möglichkeit hatte zu antworten, und trat unter den Baldachin. Erst als er sich dort auf den einfachen Thron niedergelassen hatte, nahm der Pharao sich die Zeit, sein Gegenüber eingehend zu mustern.

Yugis Tunika war dunkel vor Schmutz und Staub. Seine Hände bebten deutlich sichtbar, als er dem Pharao einen Papyrus entgegen streckte. „Ishizu sagte, ich soll Di-Euch dies übergeben. Es ist ein knapper Lagebericht.“ Yugis Stimme war leise und bedrückend monoton.

Atemu nahm das Schriftstück nach einem kurzen Zögern entgegen. Während er den Bericht überflog, glitt sein Blick immer wieder über den Rand des Papyrus hinweg zu Yugi. Der junge Mann schien keine äußerlichen Verletzungen zu haben. Doch der leere Ausdruck in seinen Augen trieb Atemu eine Gänsehaut über den Nacken. „Wo ist Ishizu?“

Yugi deutete vage in eine Richtung. „Da hinten. Sie sagte, sie würde gleich nachkommen. Sie wollte noch einem Mann helfen, der unter einen Streitwagen geraten ist und...“ Sein Blick flackerte.

Atemu beeilte sich, sein Gegenüber mit einer Handbewegung zu unterbrechen. „Das genügt mir.“ Er zögerte unmerklich, ehe er sich um einen ruhigeren, fast sanften Ton bemühte. „Danke, Yugi.“

Es wirkte. Yugis leerer Blick zuckte nach oben, bohrte sich in das Gesicht des Pharao. In die aschfahlen Wangen kehrte ein Hauch von Farbe zurück. Es schien, als sei ein Teil von Yugi in die vorher so leer wirkende Hülle zurückgekehrt.

Atemu wandte den Kopf als er spürte, dass ihm dieser Anblick näherging, als er es zulassen wollte.

„Verzeiht, Pharao, ich wurde aufgehalten!“ Mahads Stimme durchschnitt das Schweigen. „Ich bringe jedoch gute Neuigkeiten. Seto ist mit dem Streitwagenkorps endlich eingetroffen und bringt zudem die Verstärkung der Infanterie mit.“

Atemu unterdrückte nur schwer ein erleichtertes Aufatmen. Er erhob sich und sah dem Hohepriester entgegen, der, flankiert von Karim und Ishizu, näher eilte. „Gut.“ Entgegnete der Pharao gelassener als er sich fühlte. „Wir werden sofort in den Angriff übergehen.“

Mahad und Karim tauschten kurze Blicke. „Eure Männer sind sehr erschöpft, Pharao“, begann Karim vorsichtig, doch Atemu schnitt ihm das Wort mit einer harschen Bewegung ab. „Besetzt die Streitwagen mit allen übriggebliebenen Bogenschützen, die ihr auftreiben könnt, sie werden in erster Welle ausrücken. Danach die Infanterie. Bringt mir jeden Soldaten, der noch in der Lage ist, eine Chepesch zu halten.“

Die Hohepriester schwiegen. Atemu konnte ihre Missbilligung körperlich spüren, doch schließlich nickte Mahad hölzern und wandte sich ab. Atemu versuchte den schalen Geschmack auf seiner Zunge auszublenden, als ihm bewusst wurde, dass sich der Hohepriester zum ersten Mal nicht vor ihm verneigt hatte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Ishizu auf ihn zu trat, doch erst als seine Augen Mahad in dem Gewühl der Soldaten verloren hatten, wandte der Pharao seine Aufmerksamkeit seiner Hohepriesterin zu.

Ihr feines Gesicht wirkte vor Erschöpfung hager und eingefallen. „Seid Ihr verletzt, Pharao?“ Sie versuchte zu lächeln, doch die Müdigkeit überdeckte die ihr sonst eigene Wärme.

Atemu fror plötzlich. „Nein. Kümmere dich um die anderen.“ Seine Stimme klang in seinen Ohren so dumpf, so weit entfernt.

Ishizu zögerte, nickte dann aber und wandte sich Yugi zu, der die ganze Zeit schweigend und reglos wie ein Schatten an ihrer Seite gestanden hatte. Als sie ihre Hand sanft auf seine Schulter legte, zuckte er leicht zusammen, folgte ihr dann jedoch mechanisch. Atemu schloss einen Moment die Augen und atmete tief ein, ehe er Ishizu noch einmal zu sich zurückrief.

„Bring ihn von der Schlacht weg.“

„Aber Pharao-“               

Atemu packte die Hohepriesterin so fest am Oberarm, dass ihr ein schmerzerfüllter Laut entkam. „Ich sagte: Bring ihn weg.“

Ishizu musterte ihn mit weit aufgerissenen Augen, schien etwas sagen zu wollen und schwieg doch. Schließlich nickte sie, wand sich aus seinem Griff und eilte davon. Atemu widerstand dem Drang, ihr nachzusehen. Stattdessen bestieg er seinen Streitwagen und griff nach den Zügeln. Das raue Leder schmiegte sich in die Schwielen seiner Hände. Das königliche Diadem schien wieder enger zu werden; statt ihn zu zieren, erdrückte es ihn. Mit versteinertem Gesicht sah der Pharao dem hochgewachsenen Hohepriester entgegen, der an der Spitze der Streitwagen zu ihm heranpreschte. Es war das letzte Aufbäumen in diesem Krieg. Die letzte Angriffswelle, die er in der Lage war zu starten. Atemu strich noch einmal mit den Fingerspitzen über das Millenniumspuzzle, fühlte das Vibrieren dieses mächtigen Gegenstandes. Dann gab er seinen verbliebenen Männern den Befehl zum Angriff.
 

~oOo~
 

Er hatte sie verloren.

Es traf Joey wie einen Schlag in die Magengrube. Bis vor wenigen Augenblicken war Mana doch noch direkt hinter ihm gewesen! Joey hielt keuchend inne und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Ihre Flucht hatte sie tief unter die steinerne Sphinx getrieben, in ein weit verzweigtes, scheinbar endloses Labyrinth. Joey unterdrückte einen Fluch, während er sich an der Wand entlang zurücktastete. Über sein hämmerndes Herz hinweg konnte er keinen Laut vernehmen, weder von Mana, noch von diesem Wesen, das sie jagte. In der beklemmenden Düsternis glaubte er eine Silhouette zu erkennen, die sich näherte, aber es war, als weigere sich sein Gehirn, die Schemen vor seinen Augen richtig zusammenzusetzen. Je näher der Schatten kam, desto eher glaubte Joey, Mana zu erkennen und lief ihr mit einem erleichterten Seufzten entgegen.

Er erkannte seinen Fehler erst, als es zu spät war. In seinen Gedanken hörte er Manas Stimme, die ihm zurief, den Wächter nicht direkt anzusehen, aber Joey war wie erstarrt. Sein Blick bohrte sich in das ausdruckslose Gesicht der Sphinx, wurde verschluckt von blinden Augen und verlor sich in bodenlosem Nichts.

 
 

Er sah die Bewegung im letzten Moment und wich hastig aus. Die Faust seines Vaters traf die Wand und hinterließ ein klaffendes Loch in dem billigen Putz. Joey rappelte sich schnell auf. Sein Magen schmerzte – der vorherige Schlag schien das Ziel getroffen zu haben, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte. Hastig ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen, doch um den einzigen Ausweg zu erreichen, der sich ihm bot, musste er irgendwie an seinem Vater vorbeikommen.

Putz bröselte auf ihn herab, brannte in seinen Augen, als er sich an der Wand entlangschob. Sein Vater folgte jeder Bewegung. Joey schluckte. Er kannte die Saufeskapaden seines Vaters, sie waren nichts Neues für ihn. Aber heute war es anders. Die Bewegungen seines Vaters waren koordiniert und schnell, die Augen klar und voller Wut. Joey wurde bewusst, dass Gegenwehr heute gefährlich werden würde.

„Wegen dir ist deine Mutter abgehauen, Joey. Nur wegen dir.“

Joey presste die Lippen zusammen und ignorierte die Worte. Er hatte sie schon zu oft gehört. Er tat einen weiteren, langsamen Schritt zur Seite und stieß sich mit einem Mal von der Wand ab. Sein Vater schnellte nach vorne, doch Joey schaffte es, sich unter den zupackenden Händen wegzuducken und warf sich im vollen Lauf gegen die Tür. Während hinter ihm das Gebrüll seines Vaters anschwoll, stürmte Joey das Treppenhaus hinunter, bei jedem Schritt zwei Stufen auf einmal nehmend. Er hielt erst inne, als er den Asphalt der Straße unter seinen Füßen wiederfand. Schwer keuchend lehnte er sich an die Hausmauer und versuchte seinen Atem zu beruhigen, der wie Feuer in seiner Lunge brannte.

Motorengeräusch ließ ihn aufsehen. Mehr beiläufig als wirklich interessiert musterte Joey den roten Kleinwagen, der an ihm vorbei fuhr, bis sein Blick auf die Insassen fiel. Einen kurzen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das junge, braunhaarige Mädchen auf dem Rücksitz und die Frau hinterm Steuer. „Serenity…“, Joeys Stimme brach. „Mama…“

Das Auto war mittlerweile fast gänzlich verschwunden. Obwohl er wusste, dass es aussichtslos war, stieß er sich ab und rannte. „Wartet... Wartet!“ Der Wagen wurde immer kleiner. „Serenity!“ Joey wurde langsamer. „Mama!“ Sein Körper verweigerte den Dienst. Nach Atem ringend fiel Joey auf die Knie. Schweißtropfen rannen über seine Stirn, brannten in seinen Augen. Verzweifelt versuchte er, die Tränen zu unterdrücken, und war sich doch bewusst, dass er den Kampf verlor.
 

„Joey?“

Er fuhr heftig zusammen, als er plötzlich Manas Stimme hinter sich hörte. Hastig fuhr er sich über die Augen und sah über seine Schulter hinweg zu dem Mädchen auf, dass in ihrer altertümlichen Tunika und dem schweren Goldschmuck gänzlich fehl am Platz wirkte. Schwerfällig stemmte Joey sich vom Boden hoch, zögerte einen Moment und zog Mana plötzlich in seine Arme. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und schloss die Augen. Der schwere Geruch der Hibiskusblüten, den Manas Haar verströmte, beruhigte ihn. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er dieses Mädchen an seiner Seite brauchte.

Mana bewegte sich und löste die klammernde Umarmung. „Warum heulst du?“

Joey erstarrte. „Was…?“

„Na, ist doch wahr“, bemerkte Mana mit einem Schulterzucken, „sie ist doch wegen dir gegangen, oder? Warum aalst du dich jetzt in Selbstmitleid?“

„Spinnst du?“ Joeys Stimme war nur noch ein zittriges Keuchen.

Mana schüttelte den Kopf. „Es geht dir immer nur um dich selbst, nicht wahr? Was kann denn dein Vater für seine Arbeitslosigkeit? Nicht nur deine Mutter, auch du hättest dafür ein wenig Verständnis zeigen können. Kein Wunder, dass er sich schließlich in den Alkohol geflüchtet hat. Du bist-“

Etwas in Joeys Kopf setzte aus. Er wusste nicht mehr, was geschah. Wie in Trance sah er sich dabei zu, wie sich seine Hand in Manas langem Haar vergrub und der das Mädchen heftig gegen die Hauswand schleuderte. Seine Ohrfeige traf sie, noch ehe sie sich von dem Aufprall erholt hatte. Ihr Aufschrei hallte in seinen Ohren wieder. Sie sollte aufhören. Sie sollte still sein!

Ein scharfer Schmerz schoss durch seine rechte Hand, durchbrach den Wall aus Zorn und Hilflosigkeit, die seine Sinne betäubten. Joey hielt keuchend inne. Sein Blick wurde klarer und fiel auf das junge Mädchen zu seinen Füßen. In einer Schutzhaltung zusammengekauert, hatte Mana ihren Kopf in ihren Armen vergraben, ihre weit aufgerissenen Augen blitzten panisch unter ihren zerzausten Haaren hervor.

Joey glaubte zu ersticken. Er streckte seine Hand aus, hielt jedoch sofort inne, als er sah, dass Mana ängstlich zusammenzuckte. Sein Magen zog sich so schmerzhaft zusammen, als würde er implodieren.

„Mana…“, Joeys Stimme war fast unhörbar. „Es … es tut mir so leid… Ich … ich wollte das nicht…“

Er spürte plötzlich, dass jemand hinter ihm stand. Er wusste wer es war, noch ehe er sich umwandte.

Die starren Augen der Sphinx schienen ihn zu durchdringen. „Doch, Joey. Das wolltest du.“

Joey ächzte. „Nein… Nein! Ich wollte nicht… Sie hätte nur…“

„Sie hätte dich verstehen müssen. Sie hätte dir zuhören sollen.“ In der Stimme der Sphinx lag keine Regung. „Es war nicht deine Schuld, nicht wahr, Joey?“

Jedes Wort traf Joey wie ein Schlag. Er wich zurück. Die Sphinx folgte ihm. „Es war ihre Schuld.“ Die Züge auf ihrem Gesicht begannen zu schmelzen. „Du bist der Mann. Sie die Frau. Sie hätte es besser wissen müssen.“

Joey schrie auf, als er plötzlich seinem Vater gegenüberstand. Dass es dessen Gesicht war, das diese Worte von sich gab. „Halt’s Maul! Halt sofort das Maul!“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Ich bin nicht wie du, alter Sack! Ich bin kein gewalttätiger, fauler-“

„Sieh hin, Joey.“ Das Gesicht kam näher. Sein Vater war daraus verschwunden. Joeys Knie gaben nach, als ihm bewusst wurde, dass er sich selbst gegenüber stand. „Du kannst deinem Vater nicht entkommen, Joey. Er ist ein Teil von dir.“ Die Sphinx erhob sich und entfaltete ihre Flügel. „Du warst es, der zugeschlagen hat.“

Joey öffnete den Mund, versuchte, etwas zu sagen, und gab doch kraftlos auf. Er horchte in sich hinein. Die hässliche, dunkle Seite in ihm bäumte sich auf, streckte ihm ihre klammen Fänge entgegen. Die Sphinx hatte Recht. Er würde seinem Vater niemals entkommen. Er konnte sich selbst nicht entkommen. Er schloss die Augen, als die Flügel der Sphinx ihn umschlangen.

Dunkelheit. Überall war Dunkelheit.


Nachwort zu diesem Kapitel:
[A/N]: Der Thron auf dem Atemu mitten im Kriegsgewimmel sitzt, wirkt in dieser Szene etwas seltsam. Pharaonen hatten stets einen mobilen Reisethron, den sie auf Reisen mitnahmen, um überall angemessen sitzen zu können. Nichts desto trotz finde ich das Wort "Reisethron" ganz gruselig, weswegen ich lange damit gehadert habe, ob ich Atemu nicht einfach auf den Boden setze. Am Schluss hat aber doch die historische Genauigkeit gewonnen. Und jetzt steht da eben so ein Klappthron.
Ich schaudere noch immer. :D Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: ShioChan
2016-10-16T05:43:04+00:00 16.10.2016 07:43
Joey kann einem echt leid tun mit seinen Eltern. >___< Man möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen und ganz doll knuddeln. D: Das fand ich in der Serie schon traurig, dass er privat solche Probleme hat. >___<

Und bei Atemu wird es auch langsam beängstigend. O____O Ich hoffe Joey und Mana schaffen es doch noch rechtzeitig um das schlimmste zu verhindern, aber ich denke mal den Gefallen wirst du uns nicht tun. XD

Freu mich schon aufs nächste Kapitel. Kanns kaum erwarten. *___*
Antwort von: ShioChan
16.10.2016 07:44
Und wegen dem Klappthron... Jetzt stell ich mir vor wie Atemu mit seinen Hohepriestern bei ikea shoppen ist. XDDDDD Verdammtes Kopfkino... XD
Von:  Usaria
2016-10-16T01:32:15+00:00 16.10.2016 03:32
Huu! Düster! Ich habe es in YGO schon nicht verstanden, und jetzt empfinde ich nur noch Wut! Erklär mir mal einer als wäre ich 5 Jahre alt, wie eine Mutter ein Kind mit nehmen kann und das andere bei dem gewaltätigen Vater lassen kann! Am liebsten würde ich jetzt zu Joeys Mutter fahren und ihr eine Ohrfeige links und recht´s verpassen! Die Spinx, Joeys größten Alptraum war werden! Oh meno mit tut er sooo leid! Am liebsten würde ich ihn jetzt ganz fest an mich drücken.

Und in Atemu scheint die Dunkelheit zu erwachen! Super! Wieso habe ich nur das Gefühl das diese FF nicht gut ausgehen wird, nicht gut aus gehen kann. Weger dem Titel!
Bitte warn mich rechtzeitig vor, damit ich mir unmengen von Taschentüchern und genauso viel Schokolade besorgen kann!

Antwort von:  Mieziliger
07.12.2016 17:18
Hui... manchmal bin ich echt unglaublich vergesslich...
Ich hatte dein Review im Oktober noch gelesen, ich erinnere mich daran. Aber die Tatsache, dass ich antworten wollte, ist dann irgendwie aus dem kurzzeitgedächtnis verschwunden. :D
Sorry XD

Ja, Joey kann einem in diesem Kapitel echt leid tun. Es ist für ihn sicher der größte Albtraum wenn er in den Spiegel schaut und seinen eigenen Vater in sich selbst erkennt. Es ist zwar "nur" eine Vision, aber sie muss für ihn schon sehr schrecklich sein. Ich mag mir das gar nicht vorstellen.

Also ich kann dich beruhigen: Im neuen Kapitel brauchst du noch keine Taschentücher. Aber eventuell im Kapitel danach. :D

Danke für deine regelmäßigen Rückmeldungen und dass du immer noch eine Stammleserin bist. :)
Von:  RandaleEiko
2016-10-15T14:56:33+00:00 15.10.2016 16:56
Die Geschichte mit dem Trohn haut mich ein wenig um :D kannst doch den Pharao nicht so einfach auf den Boden setzen XD. Was Klapptrohn angeht muss ich sagen, dass sich Reisetrohn wesentlich besser anhört >U<
Antwort von:  Mieziliger
15.10.2016 17:02
Einigen wir uns einfach darauf, dass wir den Thron allesamt ignorieren. XD

Ich finde sowohl Reisethron als auch Klappthron grauenhaft. XD Ich stelle mir das immer als Ikea Variante eines ägyptischen Pharaonenthrones vor und kriege solche Bilder dann natürlich nicht aus dem Kopf. >.<
In meinem Weltbild existiert er einfach gar nicht. Atemu sitzt da, aber der Stuhl selbst wird ausgeblendet. So einfach isses. XD


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