Der Turm
Der alte Wachturm, wie ihn Seine Lordschaft bezeichnet hatte, befand sich außerhalb des Schlosses auf einem Hügel. Schon lange wurde er nicht mehr als solcher genutzt und so stand von ihm nur noch das steinerne Erdgeschoss, während die hölzernen Oberbauten verschwunden waren. Allerdings wurde die Decke, ebenfalls aus Stein, stets in Ordnung gehalten wie auch die schwere, hölzerne Tür und der Riegel daran. Hierher schickte der Inu no Taishou menschliche Geiseln, denen er keinen Kerkeraufenthalt zumuten wollte, denn hier fand man durchaus Platz und saubere Räume.
Davon wusste Kameko allerdings nichts, als die beiden Hundekrieger sie an den Handgelenken gepackt dorthin führten und so wandte sie sich an den einzigen Menschen, der sie begleitete und den sie kannte: „Yuudai, das...das kann er doch nicht machen mich hier verhungern zu lassen!“
„Nun,“ erwiderte Yuudai, ein großgewachsener Mann an die Fünfzig, dessen Würde als Hausmeister der Schlüssel in seiner Hand anzeigte: „Ich bin da kaum die richtige Adresse, nicht wahr? Seine Lordschaft hätte dazu das Recht, da er momentan an der Stelle des Fürsten handelt. Allerdings wurde mir gesagt, dass du nur zwei Tage hier bleiben sollst – daran stirbt kein Mensch.“
„Du solltest lieber still sein, Kameko,“ ergänzte einer der Krieger: „Es gibt nicht viele, Menschen oder Dämonen, die Hand an den Prinzen legten und das überlebten. Er war offenbar sehr milde gestimmt.“
„Das da...da soll ich hin?“ Sie hatte unterdessen vor sich den abgebrochenen Turm entdeckt: „Da gibt es sicher Geister!“
„Unsinn!“ knurrte der Hausmeister: „Das wird alles in Ordnung gehalten, falls der Herr wieder jemanden dort unterbringen möchte. Ich bin doch nicht nachlässig!“
„Außerdem stehen wir vor der Tür,“ meinte der zweite Krieger: „Und Shinichi hat Recht: Seine Eisigkeit muss in sehr gnädiger Stimmung gewesen sein dich hier nur zwei Tage einsperren zu lassen und dich nicht in Stücke zu schneiden.“
„Wir stehen vor der Tür, Yoshiku?“ fragte Shinichi irritiert zurück. „Ich dachte, wir bringen sie nur hin, legen den Riegel wieder vor und fertig.“
„Nun, du kannst das halten, wie du willst, Kamerad. Ich verspüre nicht die mindeste Lust Lord Sesshoumaru zu erklären, warum dieses jammernde Etwas entkommen konnte. Und halte Wache, wie der Prinz befahl.“
Kameko hörte das Gespräch nicht gerade mit Freude und suchte ihr Heil erneut bei dem Menschen: „Yuudai, du bleibst doch aber mit mir...da drinnen?“
„Nein.“ Der Hausmeister hob den Schlüssel. „Ich öffne das Schloss am Riegel, zünde dir die Lampe an... Diese Sache hast du dir selbst eingebrockt. Nicht zu sehen, dass da der Prinz steht!“
„Diese dumme Yori hat mich abgelenkt, mit diesem blöden Heilermädchen...“ verteidigte sie sich.
„Heilermädchen?“ wiederholte Yoshiku: „Du redest von Sakura-san?“
„Mir doch gleich, wie sie heißt. Ich habe ihr jedenfalls gezeigt, dass sie damit nicht durchkommt.“
„Ach du je,“ meinte Shinichi: „Er muss heute wirklich ausgezeichnete Laune haben. Wie viele Tote es wohl gestern gab? - Yuudai, mach mal auf.“
Der Menschenmann in dunkler, schwarzer, Hose und Oberkleid, eilte an den Dreien vorbei zu der Pforte, an der sich in Brusthöhe ein fast handbreiter, schwerer Holzbalken befand, der rechts und links neben der Tür auf eisernen Haken ruhte. An einem dieser Haken war eine Kette befestigt, an der ein schweres Kastenschloss hing, um den Riegel in der Querlage zu halten. So sollte verhindert werden, dass neugierige Menschen, spielende Kinder oder auch Tiere hier hineingelangten.
Shinichi fuhr dagegen fort: „Du bist noch törichter als andere Menschen. Hast du etwa nichts davon gehört was Sakura-san macht, wenn sie nicht gerade bei Neigi-sama lernt und heilt?“
„Was schert mich dieses Mädchen? Ich höre auf keinen Tratsch!“ Instinktiv versuchte sich die Hofmeisterin loszureißen, als Yuudai das Schloss öffnete und die Kette abnahm.
„Das solltest du wirklich tun. Sakura ist dann nämlich...nennen wir es die, die Lord Sesshoumaru persönlich all seine Bedürfnisse stillt. Und, wo er die Hand drauf hat, sollte man vorsichtig sein.“
„Der Riegel ist zu schwer für einen Menschen,“ erklärte Yuudai. „Wenn einer der Herren Dämonen vielleicht weniger reden und mehr handeln würde?“ Kameko sollte sich nicht so haben. Sie hatte sich in den zwei Monaten hier schon genug Feinde geschaffen, nur war sie diesmal an den Falschen geraten – und würde das sogar überleben. Er hatte durchaus Chiyokos Ärger und Sorgen mitbekommen, auch noch ganz anderes.
Yoshiku hielt die Hofmeisterin mit scheinbarer Lässigkeit fest, als Shinichi hinzutrat und den hölzernen Riegel abnahm, an die Steinmauer lehnte. Diese war aus großen, massiven Quadern aufgeschichtet worden, über mannshoch, um zu verhindern, dass mögliche Angreifer den Turm zu leicht anzünden konnten. Damals war der eigentliche Eingang auch im ersten Stock gelegen. Dieser hier war erst geschaffen worden, als die oberen Etagen abgerissen wurden. Das war zu einem Zeitpunkt geschehen, an den sich selbst Dämonen kaum mehr erinnerten. Der Vater des jetzigen Fürsten hatte das Schloss hier bauen lassen.
Yuudai öffnete die Tür und griff zielsicher nach links unten, wo sich ein Körbchen befand. Es hatte etwas für sich, wenn man sich auf seine Mitarbeiter verlassen konnte, dachte er, da er sich ungern vor den Dämonen und erst recht Kameko blamiert hätte, und nahm eine kleine, vollgefüllte Öllampe hinaus, stellte sie auf den Boden, ehe er Zunderschwamm und Feuerstein ergriff um Funken zu schlagen und den Docht zu entzünden.
Kameko Yamamoto versuchte an ihm vorbei zu sehen, sich durchaus nicht sicher, ob es da keine Geister gab. Dämonen wohl kaum, dafür würde der Inu no Taishou schon sorgen, aber....Immerhin musste sie nicht völlig im Dunklen da sitzen, bekam Licht. Ob die Anderen wirklich Recht hatten? Sie hatte nie zuvor mit Lord Sesshoumaru so direkt Kontakt gehabt, nur mit dessen Vater und der war ihr für einen Fürsten recht mild erschienen.
Dieses Gefängnis, in dem sie nun zwei Tage sitzen sollte, ohne Wasser oder Nahrung, schien mehrere Wände zu haben. Sie erkannte einen schmalen Gang, der in die Dunkelheit führte, rechts und links durch gewöhnliche mit Papier bespannten Holzgitter begrenzt, eine Schiebetür nach rechts, eine nach links, gleich hinter dem Eingang,. Ihre Angst buchstäblich angekettet in einem Kerker zu sitzen schwand etwas.
„So.“ Yuudai richtete sich auf: „Hier auf der linken Seite....“ Er öffnete die Schiebetür: „Ist das eigentliche Wohnzimmer. Das hat auch eine zweite Tür, dort vorne, weil es einmal zwei Räume waren, die aber zusammengelegt wurden. Hier geradeaus, wo der Gang endet, ist eine weitere Tür, die zur Latrine führt. Rechts befinden sich zwei kleinere Räume, Schlafzimmer oder so. Aber im großen Zimmer wirst du auch Matten finden. Ich zünde jetzt da noch die anderen Lampen an. Sie sind unter Glasstürzen, und da solltest du sie auch lassen, Kameko, schließlich willst du hier nicht verbrennen. - Wartet einen Moment, ich bin gleich wieder da.“
Keine drei Minuten später schimmerte warmes Licht im linken Zimmer durch die dünnen Wände, das verriet, dass sich die Lämpchen auf der Gangseite befanden, dann kehrte der Hausmeister zurück: „So, werte Krieger, das war es für mich. Ich schließe in zwei Tagen wieder ab.“ Yuudai kam.aus dem Haus, betrachtete ohne erkennbare Gemütsbewegung, wie sich seine Kollegin noch einmal, wenn auch vergeblich, zur Wehr setzen wollte, und die beiden Dämonen sie hineinzerrten.
„Jetzt hab dich nicht so!“ knurrte Shinichi: „Was hättest du denn erst gemacht, wenn er dich hätte auspeitschen lassen wie du die anderen Menschenfrauen?“
„Das....“ Sie brach ab. Ja, das war ihr Recht gewesen – und es war das Recht des Fürsten, in diesem Fall des Erbprinzen, über sie zu urteilen. Aber nie zuvor hatte sie eine Strafe von dieser Seite aus gesehen. Früher war sie immer allem ausgewichen. Akimaru Mawashi war ein sanftmütiger Herr, der einen auf gar keinen Fall strafte, zumal so hart. Auch, wenn es diesen Dämonen nicht so schlimm erschien. Aber zwei Tage ohne ihren geliebten Tee, ja, auch nur Wasser? Von Nahrung ganz zu schweigen? Sie wollte doch nur auch wie diese Kaliko leben, die Frau des Grundherrn, oder dessen Bruder und Schwägerin, so viele andere....Es war so ungerecht, das Leben war einfach ungerecht!
Sie ließ sich einfach auf eine Matte zu Boden sinken und spürte nur noch, wie ihr Tränen über das Gesicht liefen, als sie endlich freigegeben wurde.
Vor der Tür hoben die beiden Dämonen den Riegel wieder vor. „Der Hausmeister ist schon weg,“ erklärte Shinichi: „Und trotz des Riegels willst du hier stehen bleiben?“
„Ich schon. Und Yuudai hat hier nichts mehr zu schaffen, also?“
„Ja, aber wer soll dieses Menschenweib denn hier rausholen?“
„Keine Ahnung.“
Sie wandten jedoch beide ihre Rücken nur dem Turm zu und hielten Wache, eine Nacht, einen Tag und eine weitere Nacht lang, bis zum Nachmittag des folgenden Tages.
Dann hoben sie den Riegel weg und öffneten die Pforte, eigentlich sicher, dass die Hofmeisterin sie bereits erwarten würde. Aber diese war nicht zu sehen. Es roch nicht so dumpf, wie sie es nach zwei Tagen erwartet hatten, eher nach...was?
„Äh...Mensch?“ fragte Shinichi: „Schläfst du?“ Es war im Gegenlicht der Lämpchen kein Schattenriss zu erkennen.
Yoshiku war praktischer und schob die erste Tür links beiseite, erstaunt, auf einen Widerstand zu stoßen. „Ach du....“
Beide Krieger starrten auf Kameko, die ihnen mit dem Rücken voran langsam entgegen gefallen kam. Sie sprangen unwillkürlich zurück, ehe sie im Schein der Öllämpchen das Messer in ihrer Brust stecken sahen, begriffen, dass sie das getrocknete, menschliche Blut gewittert hatten.
Die zwei Unglückshunde blickten sich an. „Wir werden knobeln, wer es ihm sagt...“ flüsterte Yoshiku unwillkürlich, als sie ein leises Geräusch hörten,dann ein:
„So, da bin ich wieder. Dann muss ich ja nur noch hinter euch abschließen...“ des Hausmeisters.
Die Dämonen sahen sich kurz verstehend an, ehe Shinichi den Kopf wandte und sagte: „Nun, wir müssen hier Wache halten, Yuudai. Du gehst also zu Lord Sesshoumaru und teilst ihm mit, dass Kameko Yamamoto tot ist.“