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Schnee mitten im Sommer

von

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Kapitel 16 - Zurückgelassen (Ohne Adult)

Zufälle gibt es immer wieder. Grade jetzt, wo wir zu Tore und Oskar kommen, musste ich mal wieder im Fernsehen mitansehen, wie die liebe katholische Kirche über Homosexuelle denkt. (Nicht alle natürlich. Ich kenne auch Ausnahmen) Doch es ist echt traurig, wenn man hört, dass es eine 'Niederlage für die Menschheit' sein soll, jetzt, wo in Irland gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen. Da reißt mir die Hutschnur!

Hätte ich das eher gewusst, kämen die in der Story hier nicht ungeschoren weg. Òó Man muss sich wirklich fremdschämen, dass solche menschenverachtenden Aussagen in aller Öffentlichkeit breitgemacht werden, und dass von einer Kirche die Nächstenliebe predigt, selbst aber ihre eigenen Sünden schön unter das Messgewand kehren. Jetzt weiß ich auch, warum der so lang ist …

*seufz* Ich könnte mich jetzt echt stundenlang über diese Verlogenheit auslassen, aber über den Punkt, mich über die Kirche furchtbar aufzuregen, bin ich zum Glück schon seit ein paar Jährchen hinaus. Obwohl es wirklich schwer ist, ruhig zu bleiben, wenn die wieder solche Sätze in die Welt hinaus plärren.
 

Und weil ich das jetzt unbedingt loswerden wollte, gibt es das nächste Kapitel schon heute. Es handelt sich dabei um einen kleinen Rückblick, wie sich Tore und Oskar begegnet sind.

Als ich dabei war, das Ende des 17. Kapitels zu schreiben, fiel mir auf, dass ich nicht weiterschreiben konnte, nicht, bevor ich die Anfänge der beiden auf Papier gebannt habe. Mir fehlten die Bilder in meinen Kopf, damit ich mir die zwei richtig vorstellen konnte, sowie deren Beziehung zueinander. Wenn ich schon Probleme damit hatte, dann ihr doch bestimmt auch. Und weil ich nicht will, dass euch ebenfalls die Hintergrundgeschichte der beiden fehlt, kommt dieses rückblickende Kapitel nun vor dem 17ten Kapitelchen. ^^

Viel Spaß, trotz der ernsten Worte zu Anfang.

Eure Stephie, die jetzt trotz dem Vorsatz, sich nicht zu sehr aufzuregen, Bauchschmerzen hat.

In diesem Sinne: Amen.
 


 

Kapitel 16 - Zurückgelassen (Ohne Adult)
 

"Sollen wir uns um den Blumenschmuck kümmern, oder möchten Sie ihn selbst aussuchen?"

"Machen Sie das bitte", antworte ich. Darum will ich mir nicht auch noch Gedanken machen müssen.

"Irgendwelche Wünsche was die Farbe oder die Blumen betrifft?"

"Weiße Rosen." Was weiß ich? Weiß ist immer gut für Beerdigungen, oder? "Meine Schwester wollte ein Herz vor den Sarg mit roten Rosen. Den Text für die Schleife habe ich allerdings noch nicht. Dafür müsste sie sich selbst bei Ihnen melden."

"In Ordnung. Dann werde ich das erst einmal so weitergeben." Ich bedanke mich bei dem Bestatter, schüttle ihm die Hand und verlasse beinahe fluchtartig das Bestattungsinstitut. Nur weg von hier!

In meinem Auto sortiere ich zuerst meine wirren Gedanken, ehe ich es starte und losfahre. Ich muss noch zum Pfarrer. Ein Weg, den ich ungern antrete. Ich habe nichts am Hut mit Kirche oder Religion, auch wenn meine Mutter eine fleißige Kirchgängerin war. Wegen ihr bin ich zwar getauft worden, und musste durch den zähen Kommunions- und danach auch durch den Firmungsunterricht, aber für mich war das alles nur ein notwendiges Übel. Als ich volljährig wurde, trat ich aus der Kirche aus. Meine Mutter war darüber nicht sonderlich begeistert gewesen, doch sie nahm es hin. Genau so, wie sie meine Vorliebe für das männliche Geschlecht hinnahm. Trotz allem, was manchmal zwischen uns stand, sie war immer für mich da gewesen, wenn ich in Schwierigkeiten steckte.

Ich wische mir über die Augen. Ich kann es nicht fassen, dass sie auf einmal nicht mehr da sein soll. Es kam so plötzlich, so unvorbereitet, obwohl sie seit dem Tod meines Vaters immer wieder über ihren eigenen Tod nachgedacht hat. Ich wollte es nicht wahrhaben, oder besser gesagt, ich konnte mir nicht vorstellen, dass auch sie auf einmal sterben könnte. Als hätte sie es vorausgesehen …
 

Ich habe mich mit dem Pfarrer im Pfarrheim verabredet. Dort angekommen, prüfe ich kurz mein Gesicht, kontrolliere, dass meine Augen nicht verheult aussehen. Tun sie zum Glück nicht. Ich steige aus und marschiere auf den Eingang zu.

Das Pfarrheim ist relativ groß und besitzt neben einem Treff für Jugendliche auch einen großen Saal, den man für Geburtstage oder dergleichen mieten kann. Das Büro des Pfarrheims liegt genau neben diesem Saal. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch klopfe ich an die Tür. "Herein!", ruft eine weibliche Stimme. "Guten Tag."

"Hallo", grüße ich zurück. "Ich hatte einen Termin bei Pfarrer Leiermann. Wegen der Beerdigung meiner ... Mutter." Shit! Nicht heulen!

"Ach her je! Hat er Ihnen nicht Bescheid gesagt?"

"Nein. Was ist denn?"

"Pfarrer Leiermann ist etwas dazwischen gekommen. Er wollte Sie anrufen, und absagen." Auch das noch!

Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Nichts. Kein Lebenszeichen. "Der Akku ist leer", stelle ich fachmännisch fest.

"Warten Sie ..." Sie kramt in den herumliegenden Unterlagen herum. Sehr ordentlich ist die Gute nicht. "Pfarrer Leiermann hatte einen neuen Termin aufgeschrieben ... Ah! Hier steht es." Sie hebt den Kopf, schielt aber mit ihrer bebrillten Nase nach unten auf den Zettel. "Heute Abend um sechs bei Ihnen? Ginge das?"

"Ich bin zu Hause", seufze ich. Da muss ich jetzt wohl durch.

"Fein! Dann sage ich dem Herrn Pfarrer Bescheid, ja?"

"In Ordnung. Danke und auf Wiedersehen."

"Wiedersehen!", trällert mir die unordentliche Sekretärin hinterher. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf den Heimweg zu machen und auf den Pfarrer zu warten. Womit habe ich das verdient?

Ich schließe die Tür leise hinter mir und greife mir an die Stirn. Mein Hirn fühlt sich wie eine weiche, umher schwimmende Masse an. Wieso bleibt eigentlich immer alles an mir hängen? Nadine, meine Schwester, hat alles mir überlassen. Sie liegt zuhause bei ihrem Mann und ihren drei Söhnen und heult sich die Seele aus dem Leib. Natürlich kann ich sie verstehen. Schließlich ist es auch ihre Mutter, die gestorben ist, aber ich könnte wirklich ein wenig Hilfe gebrauchen. Und jemanden, der mir zuhört ...

Meine Glieder fühlen sich schwer wie Blei an, als ich mich aufraffe, und den Flur entlang laufe. Ich bin so in meinen Gedanken vertieft, dass ich die hastigen Schritte vom Eingang her gar nicht richtig mitbekomme. Erst als es zu spät ist, und ich um die Ecke biege, fängt es in meinem Kopf an zu rattern und ich denke noch: 'Pass auf, da kommt wer', aber zu spät. Ich stoße mit der Person, die es so eilig hat, zusammen.

"Auch du liebe Zeit!", keucht dieser jemand und packt mich an den Armen, weil ich zu schwanken anfange. "Es tut mir leid! Ich habe Sie gar nicht gesehen!"

"Schon okay", murmle ich, verwirrt darüber, dass der Kerl mich noch immer festhält. Ich bin beinahe versucht, mich einfach gegen ihn fallen zu lassen. Ich fühle mich plötzlich so kraftlos ...

"Tore? Sind Sie das?" Jetzt hat mich die Verwirrung endgültig gepackt. Woher kennt der Kerl meinen Namen?

"Ja, der bin ich. Woher wissen Sie, wie ich heiße?" Erst jetzt schaue ich mir den Typen genauer an. Blondes Haar, grau-grüne Augen. Ein kleines Grübchen am Kinn. Er ist größer als ich und ziemlich gut gebaut. Nicht schlecht, aber ich bin nicht wirklich in Flirtlaune. "Kennen wir uns?" Ich bin mir sehr sicher, dass wir das nicht tun, denn an jemanden wie ihn würde ich mich erinnern. Ganz sicher.

"Nicht direkt", antwortet der Kerl mir grinsend. Was für eine angenehm ruhige Stimme ... "Ihre Mutter hat mir viele Bilder von Ihnen gezeigt." Meine Mutter?

"Sie kannten meine Mutter?" Oh je! Bitte keine Beileidsbekundungen!

"Ja, ich kannte sie. Sie war sehr oft bei mir." Ich schlucke. Das kann nur eins bedeuten. Ich stehe gerade unserem Pfarrer gegenüber!

"Pfarrer Leiermann?"

"Der bin ich", lacht dieser. "Wie schön, dass ich Sie noch erwischt habe. Sie sind nicht an ihr Telefon gegangen, da habe ich mich beeilt, rechtzeitig hier zu sein." Wie lieb ist das denn?

"Mission geglückt", schmunzle ich. Ja wirklich! Das erste Mal seit Mutters Tod bringe ich so etwas wie ein Lächeln zustande. Es fühlt sich ungewohnt an. Leider werden bei dem Gedanken meine Augen wieder feucht. Ich versuche es zu kaschieren, doch Pfarrer Leiermann bemerkt das natürlich sofort. Pfarrer scheinen eine Antenne dafür zu haben.

"Kommen Sie mit in mein Besprechungszimmer", schlägt er mir vor und legt eine Hand in mein Kreuz. Es ist nicht zu glauben, aber es geht mir allein dadurch schon besser. Verrückt!
 

Er führt mich in einen kleinen Raum, in dem zwei gemütlich aussehende Sessel stehen, dazwischen ein kleiner runter Eichentisch und an der Wand dahinter steht ein riesiges Bücherregal. Das obligatorische Kreuz, das über der Tür hängt, übersehe ich geflissentlich. Ich mochte das noch nie. Für mich ist es bloß ein Abbild für Folter und Tod in einer Zeit, in der noch die Römer das Sagen hatten. Noch schlimmer finde ich es allerdings, wenn daran noch der dürre, geschundene Jesus hängt. Wie kann man sich so etwas um den Hals hängen? Nun ja, für manch andere bedeutet dieses Symbol sehr wahrscheinlich was ganz anderes, wie für meine Mutter, zu ihren Lebzeiten ...

"Setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Tee oder Wasser?"

Ich lasse mich auf einen der Sessel fallen. "Einen Tee, wenn es keine Umstände macht." Etwas Alkoholisches wäre mir jetzt lieber, doch das sage ich besser nicht. Und auf Messwein habe ich schon mal gar keinen Bock.

Pfarrer Leiermann nickt mich freundlich an und geht an einen kleinen Schrank, der neben der Tür steht. Als er ihn öffnet steht da doch tatsächlich ein Wasserkocher und eine kleine Kaffeemaschine! Wasser gibt es dort auch. Er setzt das Wasser auf und drückt auf den Knopf, damit es warm wird. Danach stellt er zwei Tassen raus und kramt in einer Box nach Teebeuteln. "Ich hätte Pfefferminze da, grünen Tee, eine exotische Mischung, keine Ahnung was da drinnen ist, und Kamille."

"Ähm ... Pfefferminze bitte."

Pfarrer Leiermann lacht. "Den mochte Ihre Mutter auch immer."

"Ich weiß", flüstere ich und sinke tiefer in den Sessel.

Um mich von der wieder hochkommenden Trauer in mir abzulenken, beobachte ich Pfarrer Leiermann, wie er die Teebeutel aus der Box zupft. Ich bin überrascht, wie jung er ist. Sind Pfarrer nicht immer alte Knochen mit einem stets tadelnden Ausdruck im Gesicht? Ich jedenfalls, kenne nur diese Sorte. Doch Pfarrer Leiermann müsste so ungefähr in meinem alter sein, vielleicht zwei, drei Jahre älter. Mehr aber nicht. Außerdem scheint er wirklich nett zu sein.

Je ein Teebeutel wandert in die beiden Tassen, dann dreht sich der Pfarrer zu mir herum, bleibt aber an den Schrank gelehnt stehen. Ich schaue sofort weg. Hat er bemerkt, wie ich ihn gemustert habe? "Ihr Tod kam sehr plötzlich", sagt er leise und ich kann seinen Blick auf mir spüren. "Ich konnte es erst nicht glauben. Sie war noch so fit." Er schüttelt den Kopf. Der Wasserkocher pfeift. In aller Ruhe brüht er den Tee auf und kommt mit den beiden Tassen zu mir. "Zucker?"

"Nein, danke." Die Tassen wandern auf den kleinen Eichentisch, dann setzt sich Pfarrer Leiermann mir gegenüber.

"Sie haben sie gefunden, nicht wahr?", fragt er mich und lehnt sich zurück. Woher weiß er das?

"Ja, habe ich", gebe ich zu. "Ist wohl das Stadtgespräch gerade."

"Die Leute sind neugierig."

Ich lache auf. "Das ist die Untertreibung des Jahres!", rufe ich, werde aber sofort wieder ernst.

Traurig greife ich nach meinem Tee und spiele mit dem Teebeutel. "Wir sind eine relativ kleine Vorstadt. Hier kennt jeder jeden. Es ist ganz klar, dass darüber geredet wird, wenn jemand stirbt."

"Getratscht trifft es besser."

"Ihre Mutter war bei den Gemeindemitgliedern sehr beliebt. Sie meinen es sicher nicht böse, wenn über ihren plötzlichen Tod geredet wird."

Ich stelle die Teetasse wieder ab und schaue Pfarrer Leiermann an. "Können Sie das bitte lassen? Mich ständig zu siezen?" Es nervt mich, dass er das tut. Keine Ahnung wieso, aber wenn er mich duzten würde, wäre es mir lieber.

"In Ordnung", sagt er. "Ich bin Oskar." Er hält mir seine Hand hin.

"Tore", antworte ich und ergreife sie. Es ist komisch, aber als ich sie berühre, überkommt mich wieder dieses beruhigende Gefühl, wie zu Anfang, als er mich in dieses Zimmer hier geführt hat. Das, und noch etwas anderes, dass ich hektisch versuche zu verdrängen. Mit meinen Gefühlen geht es seit Tagen mit mir drunter und drüber. Ich kann mir selbst nicht mehr trauen. Der kurzzeitig empfundene Verlust, als sich unsere Hände wieder trennen, ist der beste Beweis dafür.

"Hast du dir schon überlegt, wie die Trauerfeier aussehen soll?" Ich schüttle den Kopf.

"Meine Mutter hat das irgendwo schriftlich festgehalten. Welche Lieder gesungen werden sollen und so. Das muss ich erst suchen." Mir wird leicht übel. "Seit mein Vater gestorben ist, war sie total darauf fixiert. Wie alles ablaufen soll, welche Passagen vorgelesen werden sollen. Ich hielt das immer für verrückt, aber jetzt bin ich sogar froh darum." Ich schlucke hart und greife nach dem Tee. Obwohl er noch heiß ist, trinke ich hastig davon. "Das ist doch furchtbar, oder?", frage ich Oskar erstickt. "Dass ich froh darum bin, dass meine Mutter ihre eigene Beerdigung vorgeplant hat."

"Ist es nicht", sagt er ruhig. "Sie wusste, wie schwer es ist, sich nach dem Tod einer geliebten Person um das alles kümmern zu müssen. Sie wollte es dir und deiner Schwester leichter machen."

"Sie hat mir dir darüber gesprochen?" Ich blinzle, weil meine Augen feucht werden. Mist!

"Ja, sehr oft. Sie hat deinen Vater sehr vermisst." Ich nicke. Sie vermisste ihn so sehr, dass sie selbst nach der Trauerzeit nur noch in schwarz herumgelaufen ist.

Ich seufze und starre das Kreuz über der Tür an. "Sicher bist der festen Überzeugung, dass die zwei jetzt zusammen sind, wo auch immer das sein mag."

"Natürlich", nickt er. "Der Gedanke ist doch recht tröstlich. Am Ende wieder mit der Person vereint zu sein, die man geliebt hat. Mit allen Verwandten und Freunden."

"Kann sein", murmle ich und schlürfe am Tee.

"Du bist nicht gläubig, nicht wahr?"

"Nein." Ich habe keinen Grund zu lügen. Bestimmt hat meine Mutter ihm davon auch erzählt. "Damals schon hielt ich diese ganzen Bibelgeschichten für langweilige Märchen. Mein Vater las mir immer die Märchen der Gebrüder Grimm vor und danach meinte er, das sei alles nur erfunden. Also dachte ich, dass alles erfunden ist, was mir damals vorgelesen wurde. Auch das religiöse Zeug. Na ja ... und als ich älter wurde, fand ich diesen ganzen religiösen Kram für total abwegig." Nervös schiele ich rüber zu Oskar. Ist er jetzt sauer, dass ich so ehrlich war?

Überraschenderweise grinst er. "Weißt du was ich denke?", fragt er mich. Ich verneine. "Es ist egal, ob man daran glaubt oder nicht, solange man überhaupt an etwas glaubt."

Wieder schafft er es, dass ich lächeln muss. "Und das aus dem Mund eines Pfarrers!", empöre ich mich gespielt.

"Ich meine ja nur, deiner Mutter hat es geholfen, an Gott zu glauben. Sie hatte immer die Hoffnung in sich, dass sie eines Tages wieder mit deinem Vater zusammen ist. Das hat sie aufrecht gehalten." So habe ich das noch gar nicht gesehen.

Ich trinke den letzten Rest des Tees aus und stelle die leere Tasse zurück auf den Tisch. "Gibt es schon einen Termin für die Beisetzung?", möchte ich wissen. "Der Bestatter hat gefragt."

"Ja, den gibt es. Samstag, wenn ich mich recht erinnere. Um halb elf beginnt die Kirche und danach die Trauerfeier auf dem Friedhof." Samstag also. Noch fünf Tage.

"Dann muss ich zusehen, dass ich den Umschlag finde, den meine Mutter zurechtgelegt hat", denke ich laut nach.

"Soll ich dir dabei helfen? Ich war oft bei ihr."

"Das würdest du tun?"

"Natürlich. Und wenn wir ihn gefunden haben, bereden wir auch gleich alles."

"Danke", flüstere ich. "Alleine würde ich bestimmt ewig dafür brauchen." Und ich muss da nicht alleine durch.
 

***
 

Auf meiner Arbeitsstelle habe ich mir gestern für den Rest der Woche Urlaub genommen. Nur deswegen kann ich am Dienstag Morgen um halb neun in dem kleinen Häuschen meiner Mutter stehen, und in ihren Schubladen wühlen. Um elf Uhr will Pfarrer Leiermann ... ähm Oskar vorbeikommen. Ich wollte schon etwas früher hier sein, und schon mal dort suchen, wo meine Mutter sicher nicht ihren Lieblingspfarrer haben möchte. Im Schlafzimmer. In ihren Schränken war nichts, auch unter dem Bett im Bettkasten war kein Umschlag in Sicht. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Dort hatte sie früher immer unsere Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke versteckt. Ich wusste immer vorher, was meine Schwester und ich bekommen haben.

Ich versuche es als nächstes in ihrer Nachttischschublade. Fehlanzeige. Dann vielleicht auf Papas Seite. Und Bingo! "Na wer sagt es denn?" Vorsichtig öffne ich die Lasche des Umschlags und spähe hinein. Ich erkenne Mamas Handschrift. Schnell mache ich den Umschlag wieder zu und laufe in die Küche. Dort landet er auf dem Küchentisch. Besser, ich mache das, wenn Oskar hier ist. Dazu fehlt mir alleine die Kraft. Wieder geht mir durch den Kopf, dass ich eventuell Nadine noch mal anrufen sollte. Die ganze Last der Trauerfeier auf meinen Schultern zu haben, setzt mich ganz schön unter Druck. Was, wenn es meiner Schwester nicht gefällt? Was, wenn ich was Wichtiges vergesse, trotz Mamas Notizen? Ich greife zum Festnetztelefon. Es klingelt nicht lange. /Mama?/ Ich schließe die Augen und unterdrücke ein Seufzen.

"Nein. Ich bin es." Ein Schluchzen am anderen Ende der Leitung. Sie will es immer noch nicht wahr haben, dass Mama tot ist. "Hör mal, der Pfarrer kommt gleich hier her, um alles für die Messe zu bereden. Willst du nicht doch herkommen?" Nadine schnieft und brabbelt mir ein Nein ins Ohr. "Gut, wie du willst. Falls du deine Meinung noch änderst, komm einfach vorbei."

/Mal sehen./ Aufgelegt. Mal sehen? Das ich nicht lache! Ich verwette meinen Hintern darauf, dass sie nicht vorbei kommt. Meine Schwester wälzt sich viel lieber in ihrem Selbstmitleid. Aber warum rege ich mich eigentlich noch auf? So war sie schon immer. Jedes Mal, wenn wir einen Todesfall in der Familie haben, dreht sie vollkommen am Rad. Sonst war es immer unsere Mutter, die einen kühlen Kopf bewahrt hat, und alles was zu regeln galt, auch geregelt hat. Jetzt bin anscheinend ich derjenige, der da durch muss.

Dann mal los. Weiter mit den Trauervorbereitungen, doch zuvor mache ich in der Zwischenzeit ein wenig Ordnung, nicht, dass das nötig wäre, meine Mutter achtete immer auf Sauberkeit, aber ein bisschen ist seit ihrem Tod liegen geblieben. Außerdem hilft es mir beim Abschalten.

So vergeht die Zeit wie im Flug, und als ich zufällig auf die Uhr im Wohnzimmer schiele, ist es bereits halb elf. Bevor Oskar hier aufschlägt, setze ich mal schnell Wasser und Kaffee auf. Je nachdem, was er trinken möchte. Danach geht es wieder ans Putzen. Ich wische gerade den Staub vom Esszimmerschrank, da klingelt es bereits.

Wie erwartet ist es Oskar, der vor der Tür steht. "Komm rein", bitte ich ihn und trete zur Seite. "Du weißt sicher wo die Küche ist."

"Ich kenne mich hier aus", antwortet er und lächelt mich an. Ich folge ihm und komme nicht umhin, ihm dabei auf den Hintern zu starren. Nur für einen kurzen Augenblick, doch ich fühle mich schuldig dabei. Ich glotze einem Pfarrer im Haus meiner kürzlich verstorbenen Mutter auf den Hintern! Ich hab sie nicht mehr alle, obwohl Oskars Kehrseite wirklich nicht von schlechten Eltern ist ... Konzentriere dich Tore!

"Möchtest du Tee oder Kaffee? Wasser müsste auch noch irgendwo sein."

"Einen Kaffee bitte."

Ich stelle alles auf den Tisch und setze mich ihm gegenüber. "Wie ich sehe, hast du schon gefunden, was du gesucht hast." Er deutet auf den Umschlag.

"Ja, habe ich. Ging schneller als gedacht." Hoffentlich geht er jetzt nicht wieder. Er war ja zum Suchen gekommen. "Bleibst du trotzdem noch?"

Oskar runzelt die Stirn. "Natürlich. Wir müssen doch noch die Messe besprechen." Ach stimmt ja! Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Ich war so auf den Umschlag fixiert, dass ich das Wichtigste vergessen habe. "Hast du schon hineingesehen?"

"Nein. Ich konnte nicht."

Oskar trinkt einen Schluck, stellt die Tasse dann ab und nimmt den Umschlag in die Hand. "Soll ich das machen?"

"Wenn es dir nichts ausmacht." Fast flehend schaue ich ihn an. Er lächelt mich beruhigend an und öffnet die Lasche. Das leise Aneinanderreiben von Papier ist zu hören, als er die Blätter herauszieht.

Er überfliegt die geschrieben Zeilen, nickt hin und wieder und legt sie nacheinander neben sich. "Der hier ist sicher nur für deine Augen bestimmt", sagt er plötzlich und reicht mir das letzte Blatt von den beschriebenen Seiten.

Ich nehme ihn Oskar mit feuchten Fingern ab. "Ihr letzter Wille?" Perplex schaue ich von dem Stück Papier auf direkt in Oskars Gesicht. "Das hat sie einfach so auf ein Stück Karopapier geschrieben?" Ich fasse es nicht!

"Solange es handschriftlich verfasst ist, ist es gültig", klärt mich Oskar auf.

Ich lege das Blatt vor mir auf den Tisch und knete nervös meine Finger. "Ich will das nicht lesen. Nicht jetzt."

"Du wirst nicht drum herum kommen." Ich atme tief ein und wieder aus. "Ich kann ihn dir auch vorlesen, wenn ich darf?"

Ich verziehe meinen Mund. "Dann lese ich ihn lieber selbst", blaffe ich ihn an, versuche aber zu lächeln. Oskar lächelt zurück. Das gibt mir aus irgendeinen Grund genug Kraft, um die ersten Zeilen des Testamentes zu lesen.

Am Ende des Geschriebenen, wische ich mir über die Augen und versuche den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Als es mir gelingt, klammere ich mich an meine Kaffeetasse. "Alles in Ordnung?" Oskar scheint besorgt zu sein. Oder er tut nur so, weil ein Pfarrer eben Mitgefühl zeigen muss. Wie auch immer, es hilft mir. Er setzt sogar noch einen obendrauf und legt seine Hand auf meinen linken Unterarm. Beruhigend drückt er ihn leicht und sieht mich abwartend an.

"Sie hat veranlasst, dass ich das Haus bekomme. Da steht auch eine Adresse, von einem Notar, bei dem sie das alles hinterlegt hat."

"Also doch kein handgeschriebenes Testament."

"Nein." Ich schüttle den Kopf. "Das hier hat sie verfasst, damit meine Schwester und ich Bescheid wissen." Mehr nicht. Kein: Ich liebe euch, oder: Trauert nicht um mich. Nichts dergleichen. "Ich fasse es nicht", flüstere ich. "Sie wollte, dass ich das Haus bekomme?"

"Willst du es nicht?" Ich zucke mit den Schultern. "Das musst du ja nicht sofort entscheiden", sagt er, womit er recht hat. Zuerst liegen dringendere Angelegenheiten an.

Ich wende mich von der Betrachtung dieser To-Do-List ab und versuche nicht weiter darüber nachzudenken. "Und hast du alles, was du für die Messe wissen musst?", frage ich Oskar.

"Was die Wünsche deiner Mutter betreffen ja."

"Gut." Ich nicke und bin beruhigt.

"Aber was ist mit deinen Wünschen?" Ich runzle die Stirn. "Möchtest du, dass ich etwas bestimmtes über sie sage? Irgendeine Episode aus deiner Kindheit, schöne Momente, die ihr zusammen erlebt habt?"

Ich schüttle den Kopf. "Nein ... Na ja, bis auf die Tatsache, dass ich ihr immer viel Ärger gemacht habe, sie es mir aber nie richtig übel genommen hat."

"Das ist schön. So eine Mutter hat nicht jeder."

"Ja ..." Meine Gedanken wandern an den Tag zurück, als ich ihr gebeichtet habe, dass ich schwul bin. "Sie hat sich ständig Gedanken um mich gemacht. Sie wurde nicht schnell wütend, und wenn, dann nur aus Sorge darüber, was andere Leute über uns denken könnten. Mir war das schon immer schnuppe, solange sie nur über mich herzogen, aber wenn es um meine Familie geht, da werde ich wütend."

"Verständlich."

"Darin sind wir uns gleich", grinse ich. "Als ich ihr erzählt habe, dass ich schwul bin und auf Kerle stehe, da hat sie ..." Ich verstumme. Jetzt habe ich mich verplappert!

Ich schaue Oskar an, der meinem Blick jedoch weder geschockt noch angeekelt erwidert. Er wirkt noch nicht mal überrascht. "Schau nicht so erschrocken. Deine Mutter hat mir erzählt, dass du homosexuell bist."

Ich atme laut aus. "Das hätte ich mir denken können", murmle ich. "Und? Hat sie bei dir für mich um mein Seelenheil gebeten?"

"Nein", sagt er ungerührt. "Eher im Gegenteil. Sie hat von dir geschwärmt." Was hat sie?

"Das sagst du jetzt nur, weil du nicht willst, dass ich etwas Schlechtes von ihr denke."

"Tore? Unterstellst du gerade einem Pfarrer, dass er lügt?" Schluck!

"Nein!" Oh Fuck! Nimmt er mir das jetzt übel? "Es tut mir leid! Wirklich, aber ..." Sein lautes Lachen unterbricht meinen gestotterten Erklärungsversuch. Mir fällt die Kinnlade runter. Der Kerl lacht mich aus! "Das ist fies!", gluckse ich, weil ich inzwischen ebenfalls lachen muss. Oskars Lachattacke ist ansteckend. "Hör auf!"

"Kann nicht."

"Och Mann!" Ich patsche ihm mit der Handfläche leicht auf den Arm. "Ist ja gut jetzt."

"Entschuldige. Du sahst eben nur so lustig aus, wie du versucht hast, dich herauszureden."

"Ausgerechnet ich gerate an einen hundsgemeinen Pfarrer. War ja wieder typisch." Grinsend lehnt sich der Herr Pfarrer zurück und nippt an seiner Tasse. "Dann hast du keine Vorurteile gegen mich?", möchte ich von ihm wissen.

"Warum sollte ich das?" Da fragt er noch?

"Weil ich schwul bin und dazu noch ein Ungläubiger. Alles Dinge, die ein katholischer Pfarrer doch eigentlich verteufeln müsste."

"Ich verteufle niemanden", schmunzelt er. "Höchstens vielleicht den Teufel selbst, aber sonst bin ich ziemlich vorurteilsfrei. Jeder muss selbst wissen, welchen Weg er im Leben einschlägt. Und solange dabei kein anderer Verletzt oder hintergangen wird, ist das für mich in Ordnung." Was für ein liberaler Pfarrer.

"Hätte ich einen Pfarrer wie dich damals im Reliunterricht gehabt, würde ich heute vielleicht ein klein bisschen anders über die Kirche denken", sinniere ich.

"So? Wie war denn der Pfarrer in deiner Schule?"

"Furchtbar!" Mit leichtem Grauen erinnere ich mich an meine Schulzeit zurück. "Der Typ konnte überhaupt nicht mit Kindern. Er schrie, wenn jemand von uns auch nur den kleinsten Mucks machte, oder schlug mit der Faust gegen die Tafel. Einmal hatte er seinen Schlüsselbund nach uns geworfen, doch zum Glück niemanden erwischt."

"Ach du liebe Zeit!" Oskar schüttelt den Kopf. "Auch Pfarrer sind nicht unfehlbar. Kein Mensch ist unfehlbar, auch wenn er vielleicht die besten Absichten dabei hat." Sehr höflich ausgedrückt, wie ich finde.

"Schon, aber jemand, der Kinder unterrichtet, sollte doch wenigstens dafür qualifiziert sein." Schön wäre es, oder? "Unterrichtest du auch?"

"Nein", lächelt Oskar. "Das machen besser die qualifizierten Lehrer." Ich lächle ebenfalls. "So! Dann fangen wir besser mal an, den Ablauf der Trauerfeier zu besprechen."

"Ist gut", nicke ich und trinke meine Kaffeetasse leer. Was bin ich froh, dass Oskar ein so netter und unkomplizierter Zeitgenosse ist. Mit einem anderen Pfarrer, zum Beispiel dem, der mich damals versucht hatte zu unterrichten, würde ich sicher gleich aus dem Fenster springen. Blöd nur, dass die Wohnung ebenerdig liegt.
 

***
 

"Hui! Es ist ganz schön spät geworden!" Ich bin richtig erschrocken eben, als ich aus dem Küchenfenster geschaut habe. Der Himmel ist schon ganz rot.

"Abendrot. Wie schön."

"Das Selbe dachte ich eben auch", antworte ich Oskar und strecke mich. Die Küchenstühle sind auf die Dauer recht unbequem. "Möchtest du noch was?" Ich deute auf den Kuchen, den ich uns vorhin als Mittagessenersatz beim Bäcker geholt habe.

"Nein danke. Ich muss auf meine Linie achten."

"Du? Unter dem weiten Messgewand sieht man die doch gar nicht", feixe ich und grinse frech.

"Aber ich sehe sie, wenn ich morgens in den Spiegel schaue." Ist da etwa jemand eitel? Oskar wird mit immer sympathischer.

"Okay, überredet. Keinen Kuchen mehr für Sie, Herr Pfarrer." Demonstrativ ziehe ich den Teller mit dem restlichen Kuchenstückchen zu mir und genehmige mir noch eins. Oskar lacht und ich lecke mir genüsslich über die Lippen. "Hmmm ..."

"Iss nur. Du kannst es auch vertragen." Oh! Ein Kompliment von Hochwürden persönlich! "Ich werde mich dann mal auf den Heimweg machen", meint er und steht seufzend auf.

"Hab ich dich zu lange aufgehalten?" Das angebissene Stück Streuselkuchen landet auf meinem Teller, ehe ich ebenfalls aufstehe, um Oskar zur Haustür zu begleiten.

"Nein, nein", winkt Oskar ab. "Es war ein schöner Tag."

"Fand ich auch ... Bis auf den Grund deiner Anwesenheit." Oskar legt seine Hand auf meine Schulter. Eine tröstende Geste, die in mir jedoch ganz andere Gefühle weckt. Ich ignoriere sie. Seit Mamas Tod bin ich total durcheinander, ich hatte es schon mal erwähnt, nicht? "Das du hier warst, hat mir sehr geholfen."

"Das freut mich." Oskar lächelt. Seine Hand ruht weiterhin auf meiner Schulter.

"Ich meine das ernsthaft!"

"Daran zweifle ich doch gar nicht", erwidert er und lässt mich wieder los. Wie unangenehm kalt sich die Stelle nun anfühlt. Mich fröstelt es für einen winzig kleinen Moment lang, dann geht es wieder.

Ich habe dies wirklich ernst gemeint. Oskars Anwesenheit, mit ihm alles zu besprechen, über meine Mutter zu reden und zum Schluss sogar noch über ganz andere Themen, hat mir unheimlich gut getan. Lange habe ich nicht mehr so viel mit jemanden geredet. Vor allem ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, oder darauf achten zu müssen, was ich sage. Meine Art kommt nicht bei jedem gut an, und meine Meinungen haben schon oft Streit vom Zaun gebrochen. Aber nicht bei Oskar. Er hat mich ernst genommen und ist auf das eingegangen, was ich gesagt habe. Und wieder einmal schießt mir durch den Kopf, dass es sein Beruf ist, der ihn so sein lässt. Vielleicht hat er insgeheim ja gedacht, was für ein Idiot ich doch bin, doch das glaube ich nicht wirklich. Wenn ich in Oskars Augen sehe, weiß ich, dass er mir nichts vor macht. Wir haben uns wirklich auf Anhieb gut verstanden. Verrückt! Der Kerl könnte tatsächlich ein guter Freund für mich werden. 'Leider nicht mehr ...' Wo kam der Gedanke denn jetzt her?

Wo auch immer er herkam, ich schüttle den Gedanken ab und begleite Oskar noch bis zur Haustür, doch bevor er sie öffnet, um hinaus zu gehen, dreht er sich noch einmal zu mir um. "Deine Mutter hat dich sehr geliebt", sagt er leise zu mir.

Ich zwinge mir ein Lächeln ab, obwohl mir gar nicht danach zumute ist. Aus zweierlei Gründen nicht ... "Sie hat immer viel von dir erzählt, und ich kann sie verstehen. Du bist wirklich ein toller Mensch."

"Danke", antworte ich ihm mich räuspernd. "Das ist nett von dir." Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich habe das dumme Gefühl, dass meine Wangen anfangen zu glühen.

"Das muss dir nicht peinlich sein", grinst Oskar und kommt einen Schritt auf mich zu.

"Ist es nicht!", wehre ich mich halbherzig und versuche einen grimmigen Blick aufzusetzen. Es misslingt wohl, denn Oskar grinst noch breiter. "Es war nur ein langer Tag."

"Das glaube ich dir. Es ist hart jemanden zu verlieren, dem man sehr nahe stand." Ich nicke und studiere die Dielen unter meinen Füßen. "Tore, ich ... also ..." Stirnrunzelnd beende ich das Studium der Holzmaserung und hebe den Kopf an. Stand Oskar eben auch schon so dicht vor mir?

"Was denn?", frage ich ihn, weil er nicht weiter spricht, mich stattdessen bloß merkwürdig ansieht. "Oskar? ... Ist alles in Ordnung mit dir? Langsam bereitest du mir Sorgen." Was um alles in der Welt hat er denn? In mir wächst leise Angst. Hat er so was wie einen Anfall?

Ich strecke meine Hand aus, möchte nach seinem Arm greifen, aber soweit kommt es gar nicht. Denn ehe ich ihm meine Hand auflegen kann, hängt plötzlich mein Gesicht zwischen seinen Händen. "Was ...?" Weiter komme ich nicht. Mein Mund wird verschlossen. Von Oskars!

Ich erstarre zur Salzsäule. Geschieht das hier gerade wirklich? Küsst mich gerade ein Pfarrer?

Ich keuche auf, versuche mich von ihm zu lösen, weil ich irgendwie das dumme Gefühl habe, ich hätte was falsch gemacht, aber Oskar packt mich fester, schiebt mich gegen die Wand und presst seinen Körper gegen meinen. Ich weiß noch immer nicht wie mir geschieht, mein Körper allerdings schon.

Meine Arme schlingen sich um Oskars Rücken und ich drängle mich ausgehungert an ihn. Eine leise Stimme in meinem Kopf macht sich bemerkbar, dass das hier nicht okay ist, dass ich hiermit alles aufs Spiel setze, was da zwischen uns an diesem einen Tag gewachsen ist, aber sie verstummt, als ich das spüre, was zwischen Oskars Beinen gerade anwächst. Er will es! Warum soll ich es dann nicht wollen? Ich bin auf dem besten Wege, es mit einem Pfarrer zu treiben! Das glaubt mir kein Mensch!
 

*
 

Da liegt er. Oskar. Der Pfarrer. Unglaublich, aber es ist wahr. Wir haben letzte Nacht miteinander geschlafen. Wie es genau dazu gekommen ist, kann ich nicht sagen. Das Einzige, das ich sagen kann ist, dass es unglaublich schön war. Beinahe zu schön. Vielleicht sogar zu schön um wahr zu sein? Ich weiß es beim besten Willen nicht.

Nachdenklich liege ich neben ihm und betrachte sein schlafendes Gesicht. Er sieht wirklich gut aus. Und ich weiß nun aus erster Hand, dass er tatsächlich auf seine Figur achtet. Doch es ist nicht nur sein Aussehen, dass es mir gerade so gut wie unmöglich macht, meinen Blick von ihm abzuwenden. Das Kribbeln in meinem Bauch, das Verlangen ihn zu küssen und mein wummerndes Herz sind der Grund dafür. Eindeutiger geht es wohl nicht mehr. Ich bin auf dem besten Wege, diesen Kerl neben mir in mein Herz zu schließen. Mehr, als wahrscheinlich für ihn oder auch für mich gut ist.

Wie ich damit umgehen soll? Auch das entzieht sich meinem Wissen. Ich hatte noch nie was mit einem Pfarrer. 'Oskar ist ein Pfarrer ...' Das Kribbeln in meinem Bauch flaut ab. Stattdessen regt sich Sorge in mir. Ich habe urplötzlich Angst davor, dass er aufwacht, habe Angst vor seiner Reaktion. Ich überlege, wie ich dem entgehen kann. Bis auf aufstehen, duschen und schon mal Frühstück machen, fällt mir nichts ein. Also tue ich das einfach und gebe Oskar Zeit, für was auch immer er sie brauchen könnte.

Leise schnappe ich mir ein paar Kleidungsstücke und schleiche aus dem Zimmer. Im Bad atme ich erleichtert auf. Wie surreal!

Auch nach der Dusche legt sich das sorgenvolle Gefühl nicht. Mit wild klopfenden Herzen öffne ich die Badezimmertür. Ein Blick in mein ehemaliges Zimmer genügt, um erleichtert festzustellen, dass Oskar noch immer schläft. Dann gehe ich mal Frühstück machen. Ich setze Kaffee auf und durchforste die Schränke nach etwas Essbaren. Der Kuchen hat über Nacht draußen gestanden, weshalb er jetzt hart wie ein Brett ist. Den kippe ich lieber gleich in den Biomüll. Schade drum, doch gestern habe ich gar keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet. Ich hatte ja auch etwas viel Besseres zu tun …

Den Tisch eingedeckt, ich habe sogar noch ein paar Scheiben Toast im Tiefkühler gefunden, gieße ich den Kaffee in die Thermoskanne um und beginne mit dem kargen Mal. Auf Oskar zu warten halte ich für unsinnig. Und ihn wecken möchte ich auf gar keinen Fall, obwohl sich alles in mir danach sehnt, wieder zu ihm zu gehen.

Also sitze ich da, denke über den vergangen Tag nach, ohne nach Möglichkeit an die Folgen zu denken, die sich mir nur allzu sicher und allzu schnell offenbaren werden, und bemerke gar nicht, dass Oskar die Küche betreten hat. Erst als er sich räuspert, schaue ich erschrocken auf. Fix und fertig angezogen steht er da. "Guten Morgen", sage ich zu ihm und lächle ihn willkommen an. Allerdings ziert dieses Lächeln nicht lange mein Gesicht.

Oskars Gesichtsausdruck sagt schon alles: Reue, Verlegenheit, Angst. Dazu muss er mich noch nicht mal direkt anschauen, was er auch nicht tut, sondern bloß den Küchenboden mit seinen herumirrenden Augen studiert. Ich schlucke hart und wende den Blick ab. "Ich habe Frühstück gemacht", erkläre ich unnötiger weise, weil ich nicht weiß, was ich sonst zu ihm sagen soll. "Setz dich doch."

"Nein Danke." Bamm! Ich fühle mich, als habe mich gerade ein Linienbus überrollt. "Ich muss los ... Ins Pfarrheim ... Bin schon viel zu spät", stottert er und fährt sich nervös mit den Fingern durch die Haare, ehe er sich auf den Absatz herumdreht, und in den Flur hinaus flüchtet. Die Haustür wird geöffnet, dann wieder zugeschlagen. Er ist weg. Geflüchtet vor mir, vor unserer gemeinsam verbrachten Nacht.

"Und jetzt Tore?", frage ich mich selbst und schiebe den Teller vor mir in die Mitte des Tisches. Hunger habe ich jetzt keinen mehr. Sein Abgang war eindeutig, oder? Er bereut es, mit mir geschlafen zu haben. Obwohl er ja erst alles in Gang gesetzt hat. Wahrscheinlich sucht er jetzt nach Ausflüchten, gibt mir die Schuld an allem. "Ich sollte ihn schleunigst vergessen", rate ich mir. Leider habe ich das dumme Gefühl, dass das gar nicht so leicht wird.
 

***
 

Meine Schwester schnäuzt in ihr Taschentuch. Immer wieder schluchzt sie auf. Musik erklingt. Ich halte ihr mein Gesangbuch hin. Reine Schau. Sie wird nicht mitsingen. Eben so wenig wie ich. Im Playback singen bin ich einsame spitze.

Vorsichtig schiele ich hoch zu Pfarrer Leiermann. Nicht Oskar. Ich darf nicht an Oskar denken, sondern muss mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass der Mann dort hinter dem Alter ein einfacher Pfarrer ist, der die Trauerfeier meiner Mutter begleitet. Mehr nicht.

Ich starre wieder auf die Noten in meiner Hand. Wem lüge ich hier etwas vor? Da vorn steht Oskar. Der Mann, mit dem ich vor wenigen Tagen im Bett war. Der Mann, in den ich mich ... Oh Gott! Ich kann es nicht fassen und will es auch gar nicht wahr haben, aber ich habe mich in ihn verliebt!

Vorhin, als er die Kirche betrat, sich hinter den Altar stellte und die vielen Gesichter in der Kirche angeschaut hat, da wusste ich es. Eigentlich wusste ich es schon vorher, aber nachdem ich ihn das erste Mal nach diesem grauenhaften Morgen wieder vor mir hatte, da konnte ich es nicht mehr leugnen.

Und als sein Blick für wenige Sekunden auf mir gehaftet hatte, da schien die Welt still zu stehen. Ich liebe dich, Pfarrer Oskar Leiermann. Und dafür sitze ich gerade in meiner ganz persönlichen Hölle. Umringt von meiner Familie, meiner Schwester, die immer wieder zusammenzubrechen droht und deiner unmittelbaren Nähe, deiner Stimme, die jede Faser meines Körpers erfasst, sitze ich hier und verbrenne.

Die Musik verstummt. Um mich herum stehen alle auf. Oskar tritt hinter dem Altar hervor. Wie gut er aussieht. Selbst unter diesem weiten Messgewand. Ich sauge seinen Anblick geradezu in mir auf. Wieder ertönt Orgelmusik. Oskar und die Messdiener kommen herunter und laufen zwischen den Sitzbänken entlang auf den Ausgang zu. Jetzt geht es auf den Friedhof. Nadine harkt sich in mir ein. Langsam zockeln wir hinter den Messdienern her. Meine Schwester kann nun gar nicht mehr aufhören zu heulen, und auch in mir kommt die Trauer hoch. Gleich kommt meine Mutter unter die Erde. Ich muss mich kurz an einer der Kirchenbänke festhalten, damit ich nicht beginne zu schwanken. In mir geht alles drunter und drüber. Mein ganzer Körper spielt verrückt.

Draußen scheint die Sonne. Ich höre Vögel zwitschern. Es könnte so ein schöner Tag sein ... "Ich will nicht", jammert Nadine. "Ich kann nicht."

"Du musst. Das müssen wir alle", brumme ich barsch. Es tut mir leid, dass ich sie so anfahre, aber ich habe mit mir selbst zu kämpfen. Sie klammert sich noch fester an meinen Arm und ich halte sie. Das ist das Einzige, das ich im Moment für sie tun kann. Tröstende Worte bedeuten einen Scheiß. Das bringt niemanden wieder. Wie ich es gehasst habe, am offenen Grab meines Vaters ihre scheinheiligen Beileidsbekundungen zu hören. Den Meisten sah man an, dass sie dies nur sagten, weil man das eben bei einer Beerdigung sagt. Heuchler!

Ich bekomme Kopfschmerzen. Dennoch laufe ich mit meiner Schwester im Schlepptau hinter dem Tross her, der Richtung Friedhof marschiert. Und jedes Mal, wenn ich dabei Oskars Rücken zu sehen bekomme, stolpert mein Herz. Was mache ich nur? Wie soll ich das durchstehen? Ich bin hin und hergerissen zwischen der Trauer um meiner Mutter und dem brennenden Verlangen nach Oskar. Ich komme mir vor, als säße ich in einem völlig durchgedrehten und furchtbaren Traum fest. Als ob ich die in den vergangenen Tagen nicht schon genug gehabt hätte!

Irgendwie schaffe ich es bis zum Friedhof. Mittlerweile habe ich meinen Arm ganz um Nadine gelegt. Nachdem sie aus der Ferne den Sarg, der in der Trauerhalle steht, erblickt hatte, wäre sie mir beinahe zusammengesackt. Ich muss sie regelrecht neben mir herschieben, damit sie weiter vorwärts geht. "Willst du dich setzen?", frage ich sie und nicke zu den wenigen Stühlen, die links und rechts neben dem Sarg und den Kränzen stehen. Sie verneint und bleibt vor dem Sarg stehen. Mit zittrigen Fingern nimmt sie den Zweig, der in einem mit Weihwasser gefüllten Gefäß liegt, und benetzt damit den Sarg. Ihn zu berühren traut sie sich nicht, so wie es manch andere aus unserer Familie tun. Ich vollziehe das gleiche Ritual, dann setzten wir uns zusammen endlich auf die Stühle. Meine Knie wollen nicht mehr. Sie sind weich wie Butter.

Nachdem sich der Großteil der Leute einen Platz gesucht haben, geht die Trauerfeier weiter. Ich höre nicht, was Oskar sagt. Es sind wahrscheinlich die Dinge, die meine Mutter vor ihrem Tod bestimmt hatte. Ich versuche nicht zu oft auf Oskar zu starren, betrachte stattdessen die Blumen. Anders weiß ich mir gerade nicht zu helfen. Es ist einfach nur total surreal …
 

***
 

Irgendwie habe ich es geschafft, und die Beerdigung überstanden. Meine Schwester ist standhaft geblieben, sogar, als sie den Sarg in die Erde abgelassen haben. Jetzt muss ich nur noch den Tröster überstehen, der ausgerechnet im Pfarrheim stattfindet. Selbstredend ist Oskar auch anwesend. Er steht bei meiner Schwester, der ihr die Hand hält und verständnisvoll dreinschaut, während sie ihm ihr Herz ausschüttet. Ich beneide sie ...

"Tore?" Ich drehe mich halb um die eigene Achse. Frau Krämer!

"Hallo Frau Krämer", begrüße ich Mamas Bekannte. Die beiden hatten immer ein gutes, freundschaftliches Verhältnis zueinander. "Ich habe Sie noch gar nicht gesehen heute."

"Ich habe mich dezent im Hintergrund gehalten", meint sie leise, wobei sie sich dicht zu mir rüber beugt. Die alte Dame hört schwer, und wenn sie flüstert, dann hört man es meist schon von weiter weg. "Auf diesem Wege mein herzliches Beileid, Tore. Ich wollte mich am Grab nicht aufdrängen."

Ich lächle sie an. "Danke." Sie ist eine der wenigen, deren Beileid nicht geheuchelt ist. "Haben Sie schon etwas gegessen? Kaffee oder Kuchen?"

"Ich bin versorgt, danke. Aber wenn Sie mir ihren Arm leihen würden?"

"Natürlich." Ich geleite Frau Krämer sicher bis zu ihrem Platz, der bei einer Reihe anderer Damen ist, die in etwa ihr Alter haben. Alles rüstige Frauen, deren Männer alle schon unter der Erde liegen. Wahrscheinlich hat sich meine Mutter deshalb so gut mit ihnen verstanden, obwohl sie noch um einige Jährchen jünger als Frau Krämer und ihre Bekannten war.

Ich lasse die fleißig miteinander quasselnden Frauen wieder alleine und mische mich unter die anderen Trauergäste. Hier und da nickt mir jemand zu. Ich nicke zurück. "Tore?" Wieder spricht mich jemand an. Doch diesmal würde ich mich gerne verkriechen, vor demjenigen davonrennen, auf der anderen Seite jedoch einfach nur in seine Arme fallen.

Langsam drehe ich mich um und erblicke Oskar vor mir. Er wirkt wieder nervös, kann es aber ganz gut verstecken. "Danke für die einfühlsame Trauerfeier", sage ich zu ihm. Eigentlich habe ich von dem ganzen Zauber kaum was mitbekommen, aber das ist auch wieder so was, was man tun muss. Sich beim Pfarrer für seine mitfühlenden Worte bedanken.

Oskar lächelt mich an. Ein gespieltes Lächeln. Ich kenne sein richtiges Lächeln schon viel zu gut. Ich träume jede Nacht davon, wenn ich mal keine Albträume habe, wie er mich beschimpft, und mich beschuldigt, ihn verdorben zu haben. "Gerne doch", erwidert er und schaut sich um. Wir stehen nicht direkt bei den anderen, die sich inzwischen alle am Buffet gütlich tun, sondern ein wenig abseits. "Bist du heute Abend zuhause? In dem Haus deiner Mutter meine ich."

"Was?" Habe ich mich eben verhört?

"Ich würde gern zu dir kommen und mit dir reden." Die anderen um uns herum lösen sich in Luft auf.

"Ich bin da", flüstere ich atemlos. Wieder lächelt Oskar, nickt und läuft an mir vorbei. Ich kann sein Rasierwasser riechen und schließe die Augen. Oskar kommt nachher zu mir!
 

***
 

Zuhause, beziehungsweise in dem Haus, in dem ich groß geworden bin, laufe ich unruhig von einem Zimmer ins andere. Oskar hat sich noch nicht blicken lassen. Seit seinem Versprechen, mich heute Abend zu besuchen, leide ich unter noch größeren Gefühlsschwankungen, als sowieso schon. Während des restlichen Trösters war es besonders schlimm. Oskar direkt vor meiner Nase, die beinahe greifbare Trauer, die über allem hing, gepaart mir der Neugier, warum er mich sprechen möchte und der Sehnsucht nach ihm. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, was darin endete, dass ich mich auf meinem Sitzplatz zurückzog, und versuchte nicht aufzufallen. Außerdem plagten mich erneut Gewissensbisse. Ich saß während der Beerdigung da, und konnte nur noch an Oskar denken. Schlimmer geht es doch kaum!

Auch jetzt fühle ich diese Schuld in mir. Ich kann es nicht abstellen, so sehr ich mich auch darauf freue, dass Oskar mit mir reden möchte. Die Aufregung wächst von Minute zu Minute. Was er mir bloß zu sagen hat! Hoffentlich nichts Schlechtes. Verständlich also, dass ich nervös aufspringe, als es an der Haustür klingelt.

Bevor ich sie öffne, atme ich tief aus und wieder ein und käme mir mit den Fingern grob das Haar zurück. "Hallo", begrüße ich Oskar und lächle ihn an, doch wieder kann ich es nicht lange aufrecht erhalten. Der Ausdruck in seinen Augen sagt alles. Er hat mir definitiv nichts Gutes zu sagen. "Komm rein", bitte ich ihn und trete zur Seite. "Wollen wir in die Küche?"

"Nein", lehnt Oskar ab und bleibt mitten im Flur stehen. Meine Brust schnürt sich zu. Das bedeutet ja dann wohl, dass er bei mir nur einen kurzen Besuch eingeplant hat. Am liebsten würde ich wegrennen und mich irgendwo verkriechen, nur um nicht das zu hören, was er im Begriff ist mir zu sagen. Aber ich schätze, da muss ich jetzt durch. Ich versuche mich innerlich dagegen zu rüsten und meine Mimik ungerührt aussehen zu lassen. Das ist das Einzige, das ich tun kann, fürchte ich.

Oskar betrachtet die alte Garderobe meiner Mutter, sucht sichtlich nach den richtigen Worten. Als er sie gefunden hat, sieht er mich traurig an. Mein Herz wird ganz schwer, und jede Faser meines Körpers drängt mich dazu, ihn in meine Arme zu ziehen. Doch natürlich verweigere ich mich diesem Drang. "Tore, das mit uns ... Das was passiert ist ..." Oskar leckt sich nervös über die Lippen und kann meinem Blick nicht mehr stand halten. Ich dagegen starre ihn weiter an und verbiete mir jede Regung. "Das hatte ich nicht geplant. Es ist passiert und es war auch schön. Sogar sehr schön, aber ..." Nun sieht er mich wieder direkt an. "Ich habe viel nachgedacht die letzten Tage. Über dich, über mich, über das, was passiert ist. Ich habe dich gern Tore, mehr als vielleicht gut für mich ist." Meine Maske fällt. Stück für Stück. Bedeutet das etwa, dass ...? "Ich habe Gefühle für dich, die ich nicht haben darf." In meinem Kopf summt es so laut, als startet dort ein Jumbojet. Ich bekomme keinen klaren Gedanken mehr zu fassen. Seine Worte werden von dem startenden Jet durcheinandergewirbelt, ergeben keinen Sinn mehr für mich, hinterlassen nur einen süßen-herben Nachgeschmack. Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung?

"Und das bedeutet?", frage ich ihn geradeheraus.

"Das bedeutet, dass ich gehe", antwortet er leise. "Ich habe gestern um eine kurzzeitige Versetzung gebeten." Mich trifft der Schlag. Im wahrsten Sinne. Nun weiß ich, was dieser Spruch wirklich bedeutet. Es ist wie ein fester Schlag direkt in die Magengrube, der hinauf wandert, und einem das Herz zusammenquetscht, als wäre es eine überreife Frucht.

"Du gehst weg? Wegen mir?" Ich muss mich an dem Türrahmen hinter mir festhalten. Der Boden schwankt plötzlich. Ich will nicht dass er geht! Ich weiß, es ist idiotisch und würde sowieso nichts bringen, auch wenn er hier bliebe, aber ich will ihn wenigstens in meiner Nähe wissen. Wir hätten uns aussprechen können, und Freunde werden können. Ja, das klappt nie, aber vielleicht hätte es das bei uns.

Oskars Adamsapfel hüpft auf und ab. "Größtenteils wegen mir", flüstert er.

"Und wohin? Für wie lange?"

"Das weiß ich noch nicht." Ich hole tief Luft. Mir meiner Fassung bin ich völlig am Ende.

"Wann gehst du weg?"

"Morgen." Schlag Nummer zwei. Heftiger sogar noch als der erste.

"Morgen schon?" Ein eisiges Band legt sich um mein Herz. "Kommst du denn wieder?"

"Irgendwann. … Ja, sicher."

"Irgendwann?", krächze ich und kann es einfach nicht glauben. Das muss ein böser Traum sein! Meine Augen werden feucht, auch wenn ich krampfhaft versuche es zu unterdrücken. Ich kann nicht. Mir geht es beschissen und es tut so weh!

Oskar weicht meinem Blick aus und dreht sich halb zur Haustür. "Es tut mir leid Tore", sagt er noch, dann öffnet er sie. "Es tut mir so leid."

Meine Glieder sind schwer wie Blei. Ich kann nur zuschauen wie er aus dem Haus, aus meinem Leben verschwindet. Ich greife mir an die Brust und starre auf die geschlossene Haustür, die vor meinen Augen verschwimmt, als meine Tränen endgültig die Oberhand gewinnen. Oskar ist weg. Er hat mich einfach zurückgelassen und mir fehlt die Kraft, um ihm nachzulaufen und ihn an seinem Weggang zu hindern …
 

******
 

Sicher hasst ihr Oskar jetzt, oder? Nehmt es ihm nicht übel. Er ist ja wieder zurückgekommen.

Wie es mit den beiden jetzt schlussendlich weitergeht, erfahrt ihr wieder im nächsten Kapitel.

Also bis dann. ^^



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