Ich stehe im Dojo der Kinomiyas und beobachte ihn. Seit wann ist es eigentlich so? Warum kann ich meine Augen schon wieder nicht von ihm abwenden? Was an ihm zieht mich an?
Er sitzt neben Makkusu und lacht über irgendeinen Witz, den ich nicht gehört habe, weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt bin. Aber es scheint auch nicht schlimm zu sein, denn wir trainieren gerade nicht. Die WM ist vorbei und auch die Folgen von BEGA sind zum größten Teil behoben. Unser heutiges Zusammentreffen ist nur so, als Freundschaftssache quasi. Trotzdem bin ich leicht genervt.
Kyoujou hämmert schon seit einer halben Stunde auf seinen Laptop ein, Ray wird zum gefühlt hundersten Mal von Hiromi geärgert, weil Mao ihm fehlt und er unseren Sieg gerne mit ihr feiern wollte. Makkusu und er sitzen auf dem Boden in der Mitte und plappern aufeinander ein, als wären sie zwei lästernde Mädchen. Früher wäre ich nicht zehn Minuten, sondern eher zehn Sekunden geblieben und dann abgehauen – solche Veranstaltungen liegen mir eben nicht.
Aber ich bin hier, stehe eben jene zehn Minuten schon hier herum, unbeachtet von allen und ertappe mich selbst dabei, immer wieder zu ihm herüber zu sehen. Schließlich schließe ich meine Augen und lehne mich mit dem Hinterkopf gegen das harte Holz, versuche, alles auszublenden, wie es mir früher auch gelungen ist. Es klappt nur teilweise, denn sofort taucht die nächste Störung auf: Hitoshi, Takaos großer Bruder. „Hey, bist du schon wieder nicht dabei, sondern nur so gerade nebendran?“ Seine Stimme klingt herausfordernd frech. Wieso nur bei mir? Was hat dieser junge Mann gegen mich? Ich ignoriere seinen Kommentar – er sieht doch eh, wie es ist. „Komm schon“, versucht er es noch einmal, „Du solltest dich mehr einbringen!“ „Zum Beispiel?“, frage ich zurück, ohne mich sonst zu bewegen. Was will der denn von mir? Dass ich Babysitter für den Rest spiele?
„Zum Beispiel, indem ihr mal was gemeinsam unternehmt, alle zusammen. Etwas, was mal nichts mit eurem Lieblingssport zu tun hat!“ Alles, was ich mir abringe, ist ein leises Schnauben. Kein Interesse, danke vielmals!
„Ja, das wäre echt gut!“, meldet sich Hiromi. Kann das Mädchen nicht mal still sein? Wiederwillig öffne ich mein Augen also und sehe zu ihr herüber. Sie trägt wieder so eine kurze Hose und ein Shirt, welches wohl ihren praktisch nicht vorhandenen Busen in Szene setzen soll. Schon länger habe ich das Gefühl, dass sie jemand Bestimmtem aus unserer Gruppe damit ein Zeichen geben und sich von ihrer besten Seite zeigen will. Zumindest körperlich. Ihr Charakter ist meiner Meinung nach genauso furchtbar wie sie laut ist – und laut ist sie immer. Sie stemmt ihre Hände in die zu schmalen Hüften und sieht uns der Reihe nach an. „Ich habe mich immer schon gewundert, warum ihr alle zusammen trainiert, wir aber nie unsere freie Zeit miteinander verbringen können. Ständig haut ihr ab zu weiß der Geier welchen Orten!“ Hiromi schnappt nach Luft und schafft es tatsächlich, dass sowohl Ray als auch Makkusu reuevoll aussehen. Kyoujou allerdings bemerkt sie gar nicht und Hiromi lässt ihn auch in ihrer Runde an Blicken aus. Wie nett, sie denkt gar nicht an den Mechaniker, ohne den wir gegen BEGA wohl echt alt ausgesehen hätten. Ein Taktgefühl wie ein Trampeltier. Und als hätte sie geahnt, dass ich so über sie denke, trifft ihr Blick mich. „Und du bist der Schlimmste von allen, du hälst es ja eh nie lange bei uns aus, Kai!“ Hitoshi nickt bedächtig und brummelt zustimmend.
Wut flackert in mir auf und ich bin kurz versucht, ihr eine Gemeinheit an den Kopf zu werfen. Diese beiden Nichtsnutze haben doch überhaupt keine Ahnung, wovon sie reden! Hier ging es immer nur um den Kampf zwischen Takao und mir, ich habe nie etwas anderes gewollt, als meinen Rivalen endgültig einzuholen! Tief einatmend halte ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle und platze mit einem eisigen Tonfall heraus: „Du bist doch eh froh gewesen, dass du mich nicht mehr sehen musstest.“ Hiromi schnappt verletzt nach Luft und ich höre, wie die anderen sich wieder einmal über meine unterkühlte Art aufregen. Vorwürfe treffen mich, dass ich nicht so fies sein solle. Ich schnaube noch einmal und verschränke die Arme vor meinem Körper. Wenn sie mich nicht verstehen wollen, bitte, ich kann ja gehen und- „Leute! Kommt mal wieder runter, Kai hat das nicht so gemeint. Außerdem war er doch jedes Mal für uns da, wenn wir ihn gebraucht haben!“, geht Takao dazwischen und beendet so den kleinen Streit, der ausgebrochen war. Ich sehe ihn an und ein klein wenig Dankbarkeit durchströmt mich, weil er mich verteidigt, obwohl ich ihn schon wieder verraten habe. Weil er an mich glaubt, wenn alle anderen mich schon abgeschrieben haben. Ich weiß, dass ich ein ziemlich schwieriger Mensch bin, aber in Takao habe ich einen wahren Freund gefunden, der mich so akzeptiert, wie ich nun mal bin. Sicher, er lästert gerne auch mal über mich, er schimpft über mich oder schreit mich an, weil ich nicht den Kuschelkurs fahre, aber im Endeffekt hat er mir immer verziehen. Manchmal frage ich mich, was ich noch tun kann, ohne seine Treue zu verlieren. Ein verbotener Gedanke, ich will ihn doch nicht verletzen.
„Also bist du dabei?“, fragt er mich plötzlich und ich ärgere mich, dass ich schon wieder abgedriftet bin. Worüber reden wir gerade? Wobei soll ich sein? Takaos leuchtende, erwartungsvolle Augen lenken mich ab. „Hn“, gebe ich von mir und hoffe, dass damit die Sache erledigt ist. Ich schaue weg und meine Verwirrung legt sich etwas. „Wow, Kai ist einverstanden. Dass ich das noch mal erleben darf!“, murmelt Ray halblaut und lacht dann auf. Makkusu nickt ebenfalls und Hiromi wirkt unglücklich, obwohl sie doch angefangen hat mit allem. Worauf habe ich mich jetzt schon wieder eingelassen? „Dann gebe ich euch morgen die Adresse und wir vereinbaren eine Zeit, okay?“, fragt Makkusu in die Runde. Alle nicken und ich seufze lautlos. Meinetwegen, was auch immer es ist wird wohl nicht so schlimm sein. Was kann bei diesem Haufen schon groß herauskommen an gemeinsamen Hobbys?