Zum Inhalt der Seite

Ein einfaches Ende

Yamato Ishida x Taichi Yagami
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

„So kommen wir nicht weiter“, meint Kozue plötzlich und lässt ihre Drumsticks sinken. Ich trete vom Mikrofon zurück und gehe zum Tisch, auf welchem ich zuvor meine Zigaretten ablegte, um eine davon zu entzünden. Auch Naoki stellt seine Gitarre beiseite und greift ebenfalls nach seiner Zigarettenschachtel.

„Was meinst du?“, reagiert er anschließend auf die Aussage unserer Schlagzeugerin.

„Masao. Seit der Überlegung, Itaru in die Band zu holen, ist er nicht mehr zu den Proben erschienen. Telefonisch erreicht man ihn ebenfalls nicht. Eine derartige Unzuverlässigkeit bin ich von Yamato gewohnt, aber nicht von Masao.“ Ich quittiere Kozues Bemerkung mit einem gespielt empörten Blick, denn wenn ich ehrlich bin, hat sie nicht ganz Unrecht. „Wenn er keine Lust mehr auf die Band hat, soll er es sagen. Ohne klare Verhältnisse hängen wir in der Luft. Und die Proben können wir uns unter diesen Umständen eigentlich auch sparen.“

„Naja, es ist besser als nichts“, wendet Naoki vergebens ein.

„Findest du sein Verhalten etwa in Ordnung?“, reagiert unsere Schlagzeugerin aufgebracht.

„Nein, natürlich nicht. Aber ich kenne auch nicht die Hintergründe.“

„Die würden nichts an seinem indiskutablen Benehmen ändern.“ Verständnislosigkeit ist eine Eigenschaft, die man bei Kozue in diesem Ausmaß nicht oft erlebt. Naoki erzählte mir vor einiger Zeit, wie viel ihr diese Band bedeutet, weshalb ich ihre heftige Reaktion ein wenig nachvollziehen kann. Ich nehme einen kräftigen Zug von meiner Zigarette. Selbst ich mache mir inzwischen Gedanken bezüglich Masaos Aggressivität beim letzten Mal und dem darauffolgenden Rückzug. Immer wieder frage ich mich, ob es etwas mit dem Disput bezüglich Itarus Aufnahme in die Band zutun hat. Möglicherweise ist er von meiner Ablehnung seines Freundes enttäuscht und sucht vorerst Abstand.

„...to! Hey, Yamato!” In meinen Gedanken unterbrochen, schaue ich zu Kozue, die mir mit vorwurfsvoller Miene begegnet. „Würde uns der Herr auch einmal mit seiner mentalen Anwesenheit beehren?“, greift sie mich genervt an.

„Lass deinen Frust nicht an mir aus“, entgegne ich tonlos, inhaliere erneut den Rauch und drücke den verbliebenen Filter im Aschenbecher aus.

„Die Zukunft der Band interessiert dich wohl nicht?“

„Doch, aber was soll ich deiner Meinung nach tun? Ihn gewaltsam zu den Proben schleifen?“

„Warum wirst du gleich sarkastisch? Yamato, ich verlange nichts weiter als etwas Interesse beziehungsweise Beteiligung deinerseits.“ Sichtlich gereizt entnimmt sie der auf dem Tisch liegenden Schachtel eine Zigarette und entzündet diese, um das beruhigende Nikotin in sich aufzunehmen. „Manchmal geht mir deine Gleichgültigkeit wirklich auf die Nerven. Hast du überhaupt Gefühle oder bist du nur eine leblose Puppe? Ich...“

„Es reicht, Kozue! Du gehst zu weit“, greift Naoki nun ein. Verärgert schaut er seine Freundin an, dann wendet er sich mir zu. Ich senke meinen Blick, starre gedankenverloren zu Boden. Kozues Worte sind Taichis Worte sowie die Worte meines ehemaligen Sportlehrers, nachdem er mich in der Turnhalle der Schule das erste Mal... für meine körperlichen Dienste bezahlte. Die Erinnerungen schnüren mir die Kehle zu. Erneut habe ich den Geschmack seines Spermas auf meiner Zunge, seine lüsterne Stimme an meinem Ohr. Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Haut und ich bin kaum in der Lage, das Zittern meines Körpers zu unterbinden.

„Yamato.“ Sachte berührt Naoki meinen Oberarm, doch ich weiche reflexartig, von Angst erfüllt, zurück. „Verzeih, ich wollte dich nicht erschrecken“, versichert er aufgrund meiner Reaktion. „Aber du bist sehr blass.“

„Entschuldige“, bringe ich mit bebender Stimme hervor. „Ich... mir ist etwas schwindelig.“ Unsicher nehme ich auf einem der Stühle Platz und atme tief durch. Für eine Weile herrscht Stille im Raum.

„Geht es wieder?“, fragt Kozue schließlich. „Yamato? Auch ich muss mich entschuldigen. Mein Verhalten dir gegenüber war nicht in Ordnung. Ich habe dich verletzt, was ich nicht beabsichtigte. Meine Worte waren unbedacht. Du wirkst zwar manchmal kaum greifbar für mich, bisweilen unnahbar, aber du bist keinesfalls gefühllos, sonst könnten deine Lieder keine derart starken Emotionen beinhalten.“ Ich lächle, welches sie sofort erwidert.

„Ihr seid wie Geschwister“, meint Naoki plötzlich mit einem Grinsen.

„Zugegeben, er wäre ein süßer kleiner Bruder, aber dass ich ihn nicht knuddeln darf, disqualifiziert ihn.“ Sie deutet eine Umarmung an. Als ich nicht zurückweiche, schaut sie mich überrascht an. „Keine Abwehrreaktion?“

„Vielleicht, weil ich dir mittlerweile vertraue und weiß, dass du mich nicht gedankenlos und ohne meine Zustimmung inniger berühren würdest.“

„Danke. Dein Vertrauen bedeutet mir viel, da es nicht leicht zu erlangen ist.“ Ihr Blick wird plötzlich wieder ernst. „Jemanden gegen seinen Willen anzufassen, ist das Letzte“, meint sie bedeutungsschwer und mit Wut im Unterton. Naokis Miene vermittelt Zustimmung. Es ist eindeutig, dass die beiden von mindestens einem Übergriff wissen. Woher? Von Masao? Dabei kann ich mich nicht erinnern, ihm jemals etwas davon erzählt zu haben. Aber falls doch, würde er mit niemandem darüber sprechen, dessen bin ich mir sicher. Wahrscheinlicher ist, dass sie aus bestimmten Verhaltensmustern die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.

„Ich werde Masao nachher einen Besuch abstatten und hoffen, dass er mir öffnet, sollte er zu Hause sein“, versuche ich das Thema umzulenken.

„Dann komme ich mit“, reagiert Kozue sofort. Als Naoki seine Hand auf ihre Schulter legt, wendet sie sich ihm zu. „Was?“

„Da wir nicht wissen, welche Probleme Masao gerade belasten, halte ich es für angebrachter, wenn nur einer von uns geht, damit er sich nicht in die Enge getrieben fühlt. Aufgrund deiner situationsbedingten Emotionalität siehst du sicher selbst ein, dass du momentan die falsche Person dafür bist.“ Unsere Schlagzeugerin atmet tief durch.

„Diesem Argument kann ich leider nicht widersprechen.“ Sie seufzt erneut. „Warum musst du immer so verdammt rational denken? Du warst schon früher nicht aus der Ruhe zu bringen, weshalb es auch keinen Spaß macht, mit dir zu streiten.“

„Ihr verhaltet euch viel mehr wie Geschwister“, lache ich.

„Da wir uns bereits seit frühester Kindheit kennen, sind wir fast wie Geschwister aufgewachsen. Nicht wahr, kleine Schwester?“

„Irgendwie schon. Zumindest versuchst du mich oft zu bevormunden wie ein großer Bruder.“

„Bevormunden klingt so negativ. Ich möchte nur verhindern, dass dich deine Hitzköpfigkeit irgendwann in ernste Schwierigkeiten bringt. Oder Andere.“

„Schon gut. Yamato geht allein. Aber bitte verdeutlich Masao, dass sein Verhalten inakzeptabel ist. Ich verlange keine privaten Details, aber eine kurze Info bezüglich seines Fernbleibens, ob und wann er wiederkommt, ist nicht zu viel verlangt, oder? Wir sind keine Schulband, sondern wollen den Sprung zu Berufsmusikern schaffen, da können wir uns solche Eskapaden eigentlich nicht leisten.“

„Die Predigt überlasse ich dann lieber dir“, entgegne ich zwinkernd auf Kozues Ausführungen.
 

Nachdem ich zum zweiten Mal die Klingel betätige, wird die Tür geöffnet. Überrascht schaut Masao mich an.

„Yamato? Mit dir hatte ich irgendwie nicht gerechnet. Komm rein.“ Seiner einladenden Geste folgend stelle ich im Flur meine Tasche ab und ziehe die Schuhe aus. Die Wohnung ist klein, abgesehen vom Bad gibt es nur ein Zimmer, welches zugleich Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche darstellt. Im Gegensatz zu Reijis Saustall scheint hier alles seinen Platz zu haben, man erkennt Struktur und Ordnung. „Setz dich. Möchtest du Kaffee? Ich habe ihn vorhin aufgebrüht. Er dürfte zwar nicht mehr heiß, aber noch warm sein.“ Ich nehme auf dem Boden an dem kleinen Esstisch Platz.

„Ja, danke.“ Masao füllt zwei Tassen mit der schwarzen Flüssigkeit, stellt beide auf dem Tisch ab und setzt sich zu mir. Amüsiert betrachte ich das Motiv auf einem der Gefäße. Es ist eine fette, weiß-orange-graufarbene Katze aus einem bekannten Anime, dessen Titel ich jedoch nicht kenne.

„Die Tasse bekam ich von Itaru zum Geburtstag“, erläutert Masao, der offenbar meine Reaktion beobachtet hatte. „Wir schauten uns den Anime zusammen an und ich fand ihn ganz gut. Du bist sicher wegen der Band hier“, wechselt er unvermittelt das Thema.

„Ja. Kozue ist ziemlich wütend auf dich, weil du ohne Weiteres den Proben fernbleibst und niemand weiß, ob und wann du zurückkommst. Du reagierst nicht einmal auf Anrufe.“ Ich versuche meine Wort neutral klingen zu lassen, ohne jeglichen Vorwurf.

„Es tut mir leid.“ Traurig senkt er den Blick.

„Bei mir musst du dich nicht entschuldigen, allenfalls bei Kozue.“ Ein versöhnliches Lächeln legt sich auf meine Lippen. „Möchtest du reden?“, füge ich vorsichtig an.

„Mir ist bewusst, dass es für mein Verhalten keine Rechtfertigung gibt. Dennoch brauchte ich Abstand von der Band, um Entscheidungen treffen zu können.“ Masaos gesamte Haltung drückt Schwermut, fast schon Resignation aus. Er seufzt. „Ich kann mich erinnern, dir vor einiger Zeit von den Eltern meiner Freundin erzählt zu haben, dass sie mich nicht akzeptieren. Um doch in die Familie aufgenommen zu werden, muss ich den Willen dazu beweisen, indem ich das Leben lebe, welches sie für mich vorsehen. Das bedeutet vor allem, dass ich meinen Job im Konbini und die Band aufgeben muss, um in der Firma ihres Vaters angelernt zu werden, damit ich später die Buchhaltung übernehmen kann. Ich hoffte, sie anderweitig überzeugen zu können, aber sie wollen weder mit mir sprechen, geschweige denn mir zuhören.“ Fahrig streicht sich Masao über die Schläfe. „Im Gegenteil, sie stellten mir das Ultimatum, bis Ende des Monats meine Angelegenheiten nach ihren Bedingungen geregelt zu haben, ansonsten unterbinden sie den Kontakt zu meiner Freundin. Sie haben sogar bereits Omiaipartner für sie ausgesucht.“

„Wie empfindet deine Freundin die ganze Situation?“, frage ich, bestürzt von Masaos Ausführungen. Offenbar verliebte er sich in ein Mädchen aus einer reichen, altjapanischen Familie, die noch viel Wert auf Traditionen und standesgemäßen Umgang legt.

„Für sie ist es eine starke Belastung zwischen ihren Eltern und mir zu stehen. In letzter Zeit streiten wir uns oft, weil sie sich ihren Eltern nicht widersetzen kann und deshalb von mir Gehorsam erbittet.“ Verzweifelt verbirgt er sein Gesicht in seinen Händen. Ich schaue auf meine Tasse und den inzwischen kalten Kaffee. Das Gefühl der Überforderung lässt mich betreten schweigen. Gern würde ich ihm sagen, dass er sich für ‚So easy’ entscheiden soll, obwohl ich hingegen immer Taichi wählen würde. Sogar wenn ich dafür auf meinen Vater verzichten müsste, den ich ähnlich liebe und begehre. Allerdings besitze selbst ich so viel Feingefühl, meine egoistischen Gedanken für mich zu behalten, da sie im Moment alles andere als angebracht sind. Nachdenklich richte ich meinen Blick wieder auf meinen Gegenüber und stelle verwundert fest, dass er mich mit einem traurigen Lächeln betrachtet. „In deiner unbeholfenen Art, was zwischenmenschliche Beziehungen anbelangt, erinnerst du mich oft an Akito. Manchmal ähnelt sich euer Verhalten so sehr, dass es schmerzt, dich weiter anzusehen und dennoch kann ich den Blick nicht von dir wenden. Es tut mir leid, wenn ich dich dann anstarre, trotz des Wissens, dass es dir unangenehm ist.“ Ich schüttele leicht meinen Kopf.

„Es irritierte mich, aber nun kenne ich den Hintergrund. Siehst du in solchen Momenten Akito in mir?“ Die Frage klingt merkwürdig in meinem Ohr nach und ich würde sie am liebsten zurücknehmen.

„Nein. Nur den Menschen, den er liebte und dem er sich ein wenig öffnen konnte.“

„Und du liebst deine Freundin. Ihr Verlust dürfte noch weitaus schmerzvoller sein. Letztlich hast du deine Wahl doch schon längst getroffen, oder?“ Meine Worte beinhalten die Kehrseite meines Wunsches. Einmal mehr spreche ich Dinge aus, die ich nicht einmal denke. Andererseits ist Masao zu einer wichtigen Person in meinem Leben geworden und ich möchte, dass er für sich die richtige Entscheidung trifft.

„Ich liebe meine Freundin. Aus diesem Grund möchte ich ihr nicht irgendwann völlig verbittert vorwerfen, dass ich ihretwegen mein selbstbestimmtes Leben aufgab, um anderen zu gefallen und deren Leben zu leben. Ich müsste zu einer Person werden, die ich nicht bin. Eine Maske tragen, die irgendwann mein neues Gesicht darstellt. Und selbst dann würde ich den Anforderungen ihrer Eltern nicht gerecht werden. Egal, wie sehr ich mich anstrenge und verbiege, ihre Akzeptanz geschweige denn ihren Respekt erlange ich nie, weil sie es nicht wollen.“ Masaos Stimme zittert und er schaut zur Seite, sein Gesicht von mir abgewandt. Einem Impuls folgend stehe ich auf und lege von hinten meine Arme um die leicht bebenden Schultern. Lange verharren wir schweigend und unbewegt in diesem Zustand.
 

Während Reiji die Tür vom Koki abschließt, versuche ich meine Jacke in meine Tasche zu stopfen, da die Temperaturen in den letzten Tagen stark angestiegen sind, sodass es auch nachts noch relativ warm ist.

„Wirst du von Taichi abgeholt?“, will mein Arbeitskollege plötzlich wissen, als er sich mir zuwendet.

„Nein. Seit er wieder zu Hause ist, fuhr er kein einziges Mal mit dem Auto. Nach dem Grund habe ich ihn bisher nicht gefragt.“

„Um diese Zeit fährt keine Bahn mehr“, wendet Reiji ein.

„Kein Problem, ich nehme ein Taxi. Also bis...“

„Komm mit zu mir, dann fahre ich dich.“

„Danke, nicht nötig“, lehne ich höflich ab und wende mich zum Gehen.

„Ich wollte ohnehin etwas mit dir besprechen. Nutzen wir doch die Gelegenheit.“ Seufzend wende ich mich meinem Arbeitskollegen zu.

„In Ordnung. Worum geht es?“ Langsam laufen wir nebeneinander auf dem Fußweg. Weitere Passanten sind nur in der Ferne auszumachen. Es ist bereits nach drei Uhr, die meisten Menschen sind eher im Auto unterwegs.

„Ich mache mir Sorgen deinetwegen“, beginnt Reiji. „In letzter Zeit bist du oft abwesend und wirkst unkonzentriert.“

„Ist das so? Hör auf mich zu beobachten. Du überinterpretierst mein Verhalten. Ich bin nur ein bisschen müde. Das ist alles.“

„Deine Erklärung wirkt nicht sehr überzeugend“, widerspricht mein Arbeitkollege. „Yamato, ich bin nicht der Einzige, der sich sorgt und denkt, dass mehr als nur Müdigkeit oder Erschöpfung dahinterstecken. Der Boss fragte mich, ob ich wüsste, was mit dir los ist. Sicher wird er demnächst das Gespräch mit dir suchen, denn trotz allem hat er auch einen Laden zu führen und braucht verlässliche Mitarbeiter. Ich sagte dir vor einiger Zeit bereits, dass sowohl er als auch ich dir helfen würden, aber du musst es zulassen, verstehst du?“

„Ich werde aufhören“, verkünde ich unvermittelt. Reiji bleibt stehen.

„Was? Warum?“

„Die Gründe sind privat.“ Etwas grob greift Reiji nach meinem Handgelenk und dreht mich zu sich. Ich halte meinen Kopf gesenkt, da es mir unangenehm ist, ihn anzusehen.

„Hat Taichi es endlich geschafft?“, fragt er aufgebracht.

„Lass mich los!“, befehle ich mit Nachdruck. „Es ist nicht Tais Schuld.“ Statt meiner Aufforderung nachzukommen, verstärkt sich der Griff meines Arbeitskollegen.

„Warum nimmst du ihn immer in Schutz? Begreife endlich, dass du nicht sein Eigentum bist!“

„Misch dich nicht in Angelegenheiten ein, die nicht deine sind und lass mich endlich los, verdammt!“ Meine Stimme zittert. Mit Gewalt entreiße ich mich der Umklammerung. „Ich nehme doch ein Taxi.“ Ohne Reiji eines Blickes zu würdigen, wende ich mich zum Gehen. Dieser versucht erneut, mich aufzuhalten, indem er von hinten seine Arme um mich legt und meinen Körper fest an seinen presst. „Fass mich nicht an!“, zische ich wütend, doch er reagiert nicht.

„Yamato“, flüstert er dicht an meinem Ohr. „Wovor läufst du weg?“

„Bitte... Rei...“ Meine Stimme versagt. Tränen laufen über meine Wangen. „Lass... nicht...“

„Shh...ganz ruhig. Du kannst nicht fallen, ich halte dich fest.“ Verkrampft kralle ich meine Fingernägel in die Haut von Reijis Unterarm. Ob ich ihn wegstoßen oder an mich ziehen möchte, weiß ich selbst nicht.

„Warum bist du immer so... aufdringlich?“, frage ich schwach.

„Weil du mir wichtig bist und ich anders keinen Zugang zu dir finde. Meinst du, es macht mir Spaß, dich in eine solche Verfassung zu bringen? Aber ich habe Angst, du könntest Dummheiten begehen, wenn du durch deine Probleme zu sehr in die Enge getrieben wirst. Lass mich versuchen, dir zu helfen. Bitte Yamato...“

„Warum?“, hauche ich. Unerwartet küsst Reiji meine Wange.

„Das muss ich dir nicht noch einmal erklären.“ Liebevoll streicht er durch meine Haare. „Geht es wieder? Setzen wir uns einen Moment dort vorn auf die Bank, okay?“ Ich nicke, da mein Arbeitskollege eine andere Antwort wahrscheinlich ohnehin nicht akzeptieren würde. Als wir die Bank erreichen, stellen wir unsere Taschen daneben ab und setzen uns. Schweigend hält Reiji mir seine Zigarettenschachtel entgegen.

„Das hier ist kein Raucherpunkt“, bemerke ich, entnehme aber dennoch eine Zigarette und entzünde sie.

„Es ist niemand zu sehen, der sich aufregen könnte. Außerdem müssen wir unsere Kippen ja nicht auf der Straße liegen lassen“, meint Reiji, während er sich ebenfalls eine Zigarette anzündet. Tief inhaliert er den Rauch, beim Ausatmen entweicht dieser seinen Lippen und bildet kurzzeitig einen leichten Nebel in der lauen Nachtluft. „Also, warum willst du aufhören?“

„Wenn der Chef den Grund erfährt, wird er mich ohnehin kündigen. Ich komme ihm lediglich zuvor.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein? Ich glaube, du schätzt Seishiro falsch ein. Er...“

„Ich habe mich wahrscheinlich mit dem HI-Virus infiziert“, unterbreche ich meinen Arbeitskollegen und konfrontiere ihn direkt mit der Antwort, nach der er verlangte. Ich schaue ihn nicht an, weshalb mir sein Gesichtsausdruck verborgen bleibt. „Und weißt du, wie Taichi darauf reagierte? Er wollte mit mir schlafen. Ungeschützt.“

„Das ist... hast du dich darauf eingelassen?“, fragt Reiji bestürzt.

„Ja.“ Mein Arbeitskollege nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette, atmet den Rauch hörbar aus.

„Ich habe deinen Freund wohl doch falsch eingeschätzt. So weit zu gehen... das ist... Wahnsinn...“ Sichtlich durcheinander streicht er sich durch sein kurzes, rot gefärbtes Haar. „Weißt du, wann es passiert ist? Ich meine, hattest du wieder aus Selbsthass Sex mit einem fremden Mann?“ Der Rest meiner Zigarette gleitet mir aus dem Fingern und fällt glimmend zu Boden. Unbewegt bleibe ich sitzen.

„Ja, ich hatte Sex“, antworte ich monoton.

„Warum, Yamato? Ich dachte, du wolltest für Taichi...“

„Für Tai... für ihn...“, murmle ich abwesend, den Kopf weiterhin gesenkt.

„Yamato, hey...“ Mit seiner Hand an meinem Kinn dreht Reiji meinen Kopf in seine Richtung. „Was...“ Er hält inne, als er mein tränennasses Gesicht sieht.

„Ich wollte ihn schützen und habe ihn getötet.“

„Wovon sprichst du?“ Beruhigend streicht er über meine Wange, wischt die Tränen von meiner Haut. „Es war nicht einfach nur Sex, hab ich recht? Bitte sag mir, was vorgefallen ist.“

„Der Sportlehrer“, bringe ich lediglich hervor. Reiji überlegt kurz.

„Der Typ, der dich damals in Shinjuku vergewaltigen wollte?“ Ich nicke.

„Er fing mich in Odaiba ab, als ich auf dem Weg zu meinem Vater war. Offenbar hatte er Nachforschungen angestellt, zumindest wusste er von meiner Beziehung zu Taichi.“

„Dieser Wichser verging sich ein weiteres Mal an dir?“ Fassungslosigkeit und Wut bestimmen seinen Tonfall.

„Nein. Ich ging freiwillig m...“ Verärgert legt Reiji einen Finger auf meine Lippen, um mich am Weitersprechen zu hindern.

„Solchen Unsinn möchte ich nicht mehr hören.“ Er streicht erneut Tränen von meiner Wange. „Kannst du dir nicht eingestehen, dass dir etwas Schlimmes angetan wurde? Ist es auf diese Weise leichter für dich zu ertragen?“ Ich schweige. „Yamato, sieh mich an. Du wurdest vergewaltigt und mit dem HI-Virus infiziert. Verspürst du denn gar keinen Hass oder Wut gegenüber diesem Mann?“, fragt mein Arbeitskollege verständislos.

„In Bezug auf Taichi schon.“ Reiji seufzt.

„Was muss man dir antun, damit du um deinetwillen solche Gefühle entwickelst?“ Nachdem ich eine Antwort schuldig bleibe, bemerke ich, dass Reiji aufsteht, halte meinen Blick jedoch am Boden. Ich starre auf seine Schuhe, als er vor mir stehen bleibt, sich zu mir beugt und mich schießlich mit seinen Armen umfängt. „Du solltest dir mehr wert sein“, meint er mit gedämpfter Stimme.

„Bitte lass mich los“, versuche ich meinen Arbeitskollegen nicht sehr überzeugend abzuwehren.

„Nein“, entgegnet dieser bestimmt.

„Reiji...“ Kraftlos, aber unerwidert lasse ich die Nähe geschehen. „Ich will sterben.“ Sofort drückt Reiji meinen Körper stärker an sich.

„Du weißt, dass ich solche Worte von dir nicht hören möchte.“

„Warum? Hätte ich mich getötet, würde Tai jetzt nicht...“ Heftiges Schluchzen bringt mich zum Schweigen. Zwar versucht Reiji mir Halt zu geben, doch ich spüre deutlich seine Hilflosigkeit.

„Du musst diesen Wichser anzeigen, Yamato.“ Ich schüttle den Kopf.

„Genau das ist mir zum Verhängnis geworden“, erkläre ich tonlos.

„Ist dir also egal, wenn er auch andere ansteckt?“

„Ja. Wie alles andere auch.“ Reiji sieht mir direkt in die Augen. Sein Griff an meinen Oberarmen ist schmerzhaft, doch die Emotionen, die er mit seiner Mimik vermittelt, fühlen sich schlimmer an.

„Wann hat dieser... ich meine, hast du dich testen lassen?“

„Nein, noch nicht.“

„Du willst aufgeben, ohne sicher zu wissen, ob du wirklich infiziert bist?“

„Er selbst sagte es mir danach. Warum sollte er lügen?“ Reiji lässt mich los, setzt sich wieder neben mich und entzündet eine Zigarette.

„Als dieser... Mann dich damals in Shinjuku vergewaltigen wollte, zog er ein Kondom aus der Tasche. Er hätte nicht ungeschützt mit dir geschlafen. Entweder war er selbst damals noch nicht infiziert oder er log... aus welchen Gründen auch immer.“ Verwirrt schaue ich meinen Arbeitskollegen an.

„Wirklich? Daran erinnere ich mich gar nicht.“

„Naja...“ Ein bitteres Lächeln legt sich auf Reijis Lippen. „Der Fokus der Aufmerksamkeit bei einem sexuellen Übergriff liegt bei der betroffenen Person sicher anders, als bei einem Außenstehenden. Du warst damals ziemlich apathisch.“ Schweigend entzünde ich ebenfalls eine Zigarette und inhaliere den Rauch tief. Dabei schaue ich nachdenklich in den wolkenverhangenen Nachthimmel.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück