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Ein einfaches Ende

Yamato Ishida x Taichi Yagami
von

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„Du warst heute sehr abwesend und zurückgezogen“, bemerkt Reiji beiläufig, während er mit der Abrechnung beschäftigt ist. „Zumindest fiel es mehr auf als sonst.“ Ich sage nichts, sondern spüle, inzwischen routiniert, die letzten Gläser ab. Mein Arbeitskollege hält in seinem Tun inne und sieht mich vorwurfsvoll an. „Yamato, ich rede mit dir.“

„Ja“, antworte ich genervt. „ Und was möchtest du jetzt von mir hören?“

„Eine Erklärung wäre nicht schlecht.“

„Geht dich nichts an“, weise ich ihn ebenso mürrisch wie unbedacht ab.

„Dann solltest du dein Verhalten während der Arbeitszeit überdenken“, ermahnt Reiji mich ungewohnt streng. „Deine privaten Probleme haben hier nichts zu suchen. Egal, wie es dir geht, du musst lächeln und freundlich sein. So ist das nun einmal im Dienstleistungsgewerbe.“

„Dienstleistungen kann ich auch ohne Lächeln erbringen. Es ist alles eine Frage der Fertigkeiten.“

„Du klingst wie ein Stricher. Allerdings ist dieser Klub kein Bordell, in dem du deinen Körper verkaufst. Also hör auf, solchen Unsinn von dir zu geben.“ Mein Arbeitskollege klingt verärgert. Dessen ungeachtet fahre ich mit meiner Arbeit fort. Seufzend wendet sich Reiji wieder der Abrechnung zu. „Zum Glück war der Boss heute nicht da. Ein solches Verhalten hätte er dir nicht lange durchgehen lassen. Vor Jahren führte ich ein ähnliches Gespräch mit ihm und musste schnell feststellen, dass es zwecklos ist. Er vertritt seinen Standpunkt, ohne Kompromisse einzugehen. Mittlerweile sehe ich den Sachverhalt ähnlich. Also reiß dich bitte zusammen, okay?“ Ich nicke mechanisch, lasse das Wasser aus dem Spülbecken und nehme ein Handtuch, um die Gläser abzutrocknen und zu polieren. Für eine Weile widmet sich jeder von uns seiner Aufgabe, schweigend, gedankenversunken.

„Reiji?“, nehme ich das Gespräch schließlich wieder auf.

„Hmm.“

„Es tut mir leid, dass ich vorhin so gereizt reagierte.“

„Schon gut“, meint er nachsichtig. „Du hast Stress mit deinem Freund, oder?“

„Nicht direkt... ich habe derzeit keinen Kontakt zu ihm.“ Überrascht sieht Reiji mich an.

„Habt ihr euch getrennt?“ Für einen kurzen Moment halte ich inne.

„Keine Ahnung“, antworte ich letztlich ehrlich, woraufhin mein Arbeitskollege sich mir mit ernstem Blick zuwendet. Liebevoll streicht er eine Haarsträhne hinter mein Ohr.

„Trenn dich endgültig von diesem Typen. Er ist nicht gut für dich.“ Schmerzlich kommen mir Akitos Worte von damals in den Sinn, die genau das gleiche forderten.

„Nein, ich liebe ihn“, antworte ich entschieden.

„Verdammt, er macht dich kaputt, Yamato!“ Ich schüttele traurig meinen Kopf.

„Das Problem ist eher, dass ich ihn kaputt mache.“ Bestimmt streift mein Gegenüber durch meine Haare, bis seine Hand mit festem Griff in meinem Nacken verweilt.

„Hast du in letzter Zeit in den Spiegel geschaut? Du siehst schlecht aus. Dünn warst du, seit ich dich kenne, aber allmählich wird es bedenklich. Ich vermute zudem, dass du wieder Drogen konsumierst. Stimmt das?“ Nahrung nahm ich in letzter Zeit tatsächlich nicht viel zu mir. Hin und wieder, wenn er nicht drauf war, kochte Shinya etwas für uns. Ansonsten verspürte ich kein Hungergefühl, weshalb ich nicht daran dachte, etwas zu essen. Vermutlich wäre mir ohnehin übel davon geworden. Schon früher wirkte sich meine psychische Verfassung auf mein Essverhalten aus. Je tiefer ich fiel, desto weniger aß ich, in der Hoffnung, irgendwann zu verschwinden. Und wenn der Körper sich daran gewöhnt hat, kaum Nahrung zu bekommen, reagiert er bereits auf kleine Mengen empfindlich und es ist kaum möglich, normale Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Krämpfe, Übelkeit und Erbrechen sind die Folge. „Dein Schweigen bestätigt meine Befürchtung.“ Die Stimme meines Gegenübers holt mich aus meinen Gedanken.

„Ich... nicht regelmäßig“, gebe ich ehrlich zu.

„Wieder Heroin?“

„Nein.“

„Okay, ich bedränge dich nicht weiter, zumal es deine Sache ist. Vergiss aber bitte nicht, was ich dir im Bezug auf den Boss und Drogen sagte. Wenn du diesen Job behalten willst, versuche besser nicht durch Lügen deine Sucht zu verbergen. Ich glaube, er ist durch mich sensibilisiert. Zumindest konnte ich ihm nie etwas vormachen, was ich in der Anfangszeit oft austestete. Du solltest versuchen, clean zu werden. Ich weiß, dass das nicht einfach ist, und wenn du es nicht allein schaffst, sprich mit ihm. Der Boss rechnet es seinen Mitmenschen hoch an, wenn sie ihr Fehlverhalten von sich aus beichten und er es nicht selbst herausfindet. Er wird dir so schnell keine Kündigung aussprechen, sondern zunächst seine Hilfe anbieten. Allerdings erwartet er von dir ernsthafte Mitarbeit und vor allem Ehrlichkeit.“

„Willst du, dass ich mit dem Chef spreche?“ Ich löse Reijis Hand von meinem Nacken und gehe zu einem der Schränke, um mein inzwischen durchnässtes Handtuch gegen ein trockenes zu tauschen.

„Denkst du, du kommst von dem Zeug allein los?“ Nachdenklich betrachte ich die Gläser, die ich noch abzutrocknen habe.

„Momentan gibt es für mich eigentlich Wichtigeres.“

„Wichtiger als dich vor dem kompletten Absturz zu retten?“, fragt Reiji verständnislos. „Vergiss es“, fügt er seufzend an. „Ich sah deinen Körper und was du ihm antust, das ist leider Antwort genug.“ Mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck wendet er mir den Rücken zu und verlässt die Bar, um die Stühle verkehrt herum auf die Tische zu stellen. Am Ende des Tresens bleibt er jedoch stehen. „Weißt du, dass ich deinen Freund hasse?“ Seine Worte klingen feindselig und endgültig. „Auch wenn ihr Differenzen hattet, sieht er nicht, dass du ihn dringend brauchst? Ist er blind, stumpfsinnig oder ignorant? Dieser Idiot macht mich wirklich wütend.“

„Erlaube dir kein Urteil, wenn du die Situation nicht kennst“, rüge ich meinen Arbeitskollegen missbilligend.

„Sollte nicht egal sein, was passiert ist, wenn die Person, die ich liebe, sich Stück für Stück tötet?“

„Reiji?“ Er dreht sich zu mir um, mustert mich eingehend und sieht mir dann in die Augen. Ich lächle verzerrt. „Du bist ein Idealist und Romantiker.“ Mit unveränderter Miene kommt er auf mich zu. Hart packt er mich am Handgelenk und schiebt meinen Ärmel nach oben. Kurz hält er inne und starrt auf meinen Arm.

„Verdammt, sieht das für dich nach Romantik aus?“, schreit er mich plötzlich an. „Die frischen Verletzungen, die gerade erst beginnen zu verheilen... was wolltest du damit erreichen? Wie tief willst du noch schneiden?“

„Ich war betrunken. Außerdem bin ich dir keine Rechenschaft schuldig und jetzt lass mich los!“

„Darf ich raten? Der Grund für deinen Exzess war dein Freund?“

„Ich sagte, es geht dich nichts an!“ Verzweifelt versuche ich mich von ihm zu befreien. „Taichi geht dich, verdammt noch mal, nichts an! Letztlich willst du mich nur ficken, oder? In Ordnung.“ Erhitzt öffne ich mein Hemd, dann meine Hose. „Komm schon...“ Kräftig schlägt mir Reiji mit der Rückhand ins Gesicht, sodass ich ins Taumeln gerate und mich am Tresen festhalten muss.

„Du hast recht, ich will mit dir schlafen. Aber nicht so, nicht um jeden Preis.“ Behutsam zieht er mich in eine aufrechte Haltung und gibt mir sanft einen Kuss auf die Wange, die von der Ohrfeige noch immer schmerzt. „Ich mag dich, Yamato“, flüstert er. „Deshalb habe ich Angst um dich. Und es macht mich wütend, dass dein Freund die offenbar nicht hat. Natürlich geht mich deine Beziehung zu ihm nichts an, aber du als Person gehst mich etwas an, weil du mir wichtig bist. Aus diesem Grund mische ich mich ein. Verstehst du?“ Sorgsam schließt er meine Hose und knöpft mein Hemd wieder zu. „Biete deinen Körper nicht so leichtfertig an.“ Mit einem schmerzlichen Lächeln entfernt er sich einen Schritt. „Schon gar nicht einem Kerl wie mir, der ohnehin so sehr auf dich steht, dass er immer einen Ständer bekommt, wenn potentiell mehr laufen könnte.“ Unbeabsichtigt schaue ich auf seinen Schritt.

„Soll ich dir...“

„Ich muss mal kurz zur Toilette.“ Verwundert schaue ich ihm nach. Reiji erwartet nicht einmal, dass ich ihm mit meinem Mund Abhilfe verschaffe. Nachdenklich wende ich mich erneut den Gläsern zu. Seine Zuneigung fühlt sich irgendwie anders an, verwirrend, unlogisch. Ebenso wie meine Gefühle für ihn.

„Tut mir leid.“ Mein Arbeitskollege bringt mir ein verlegenes Grinsen entgegen, als er zurückkommt, welches ich schüchtern erwidere. „Mit der Abrechnung bin ich gleich fertig, dann helfe ich dir beim Abtrocknen. Danach gehen wir irgendwo was Essen, ich sterbe vor Hunger.“ Bevor ich etwas sagen kann, spricht er weiter. „Ein Nein wird nicht akzeptiert. Ich lade dich ein.“ Schweigend schaue ich ihn an. Er jedoch richtet seine Aufmerksamkeit konzentriert auf das Heft vor sich, in welches er verschiedene Zahlen einträgt. Lächelnd wende ich meinen Blick ab.
 

Müde lege ich mich zu Shinya ins Bett. Es ist bereits weit nach Mitternacht. Ich arbeitete an einer Melodie zu dem Text, den ich im Alkoholrausch verfasste, weshalb ich nicht auf die Zeit achtete. Aufgrund der Kälte ziehe ich die Decke fest um meinen Körper.

„Shinya?“, flüstere ich, da ich ihn nicht wecken möchte, falls er schon schläft. Heute ging er, wie die Tage zuvor, zeitig ins Bett. Dass es ihm nicht gut geht, ist ihm deutlich anzusehen.

„Hm.“ Wie ich vermutete, ist er wach. Eine weitere Nacht.

„Du kannst nicht schlafen, hab ich recht?“

„Nicht so richtig.“ Seine Stimme wirkt angespannt und doch kraftlos. Ich drehe mich zu ihm und streiche behutsam über seine Schläfe. Meine Fingerspitzen fühlen sich feucht an.

„Obwohl es in der Wohnung nicht unbedingt warm ist, schwitzt du.“ Fürsorglich lege ich meine kalte Hand auf seine erhitzte Stirn. Mit der anderen gleite ich unter seine Decke, über den Brustkorb, um seinen beschleunigten Herzschlag zu spüren. „Denkst du, ich bekomme nicht mit, wenn du auf Entzug bist?“, frage ich vorwurfsvoll. „Warum bittest du mich nicht um Hilfe bei dem Versuch, von den Drogen loszukommen oder zumindest deren Konsum einzuschränken?“ Bisher sagte ich nichts, weil ich hoffte, er brauchte lediglich etwas Zeit, doch statt sich mir wieder anzunähern, entfernt er sich immer weiter. Seit er mich im Flur zu Sex zwingen wollte und ich diese absolut unnötige, äußerst bittere Aussage über seinen Sohn fallen ließ, bemerkte ich eine Veränderung in seinem Verhalten. Er geht mir nicht aus dem Weg oder ignoriert mich, aber emotional zieht er sich völlig in sich zurück. Dabei zuzusehen, wie er sich allein quält, obwohl er versucht, seine Schmerzen und das Zittern vor mir zu verbergen, tut unglaublich weh. Ich hasse diese Hilflosigkeit, die ich auch bei Tai verspüre.

„Weil ich möchte, dass du dich... auf deine eigenen Probleme konzentrierst. Damit meine ich insbesondere deine Beziehung mit Taichi.“

„Warum bringst du jetzt dieses Thema zur Sprache? Es geht im Augenblick um dich und nicht um ihn.“

„Yamato...“ Er klingt überreizt. „Auch wenn du versuchst... es zu verbergen, leidest du unter der Situation mit deinem Freund... und zerbrichst daran. Was kann ich sonst tun, um...“

„Um mich solltest du dir momentan am wenigsten Sorgen machen. Shinya, dein Körper glüht. Du hast Fieber.“

„Das kommt schubweise. Es ist... alles in Ordnung...“ Allmählich driftet mein einstiger Freier ins Delirium. Ich merkte bereits, wie schwer ihm die kurze Unterhaltung mit mir fiel, welche Schwierigkeiten er hatte, sich darauf zu konzentrieren. Angst ergreift Besitz von mir, obwohl ich die Auswirkungen eines Entzugs eigentlich kenne. Shinyas Atmung ist schwerer, flacher und er krampft leicht. Verzweifelt nehme ich ihn in den Arm. „Shota.“ Der Name seines Sohnes kommt kaum hörbar über seine Lippen. Ich drücke ihn fester an mich. Tränen benetzen meine Haut.
 

Mit einem merkwürdigen Gefühl steige ich die Außentreppe zu den Wohnungen hinauf. Ich frage mich, ob ich gerade dabei bin, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen. Zögernd laufe ich den Flur entlang, die Namen auf den Türschildern lesend. Bei einem mit der Aufschrift Nishizawa bleibe ich stehen. Noch ist es nicht zu spät. Noch kann ich umkehren. Entgegen meiner Angst und erfüllt von Zweifeln betätige ich den Klingelknopf. Angespannt warte ich. Niemand öffnet. Ich sollte gehen, stattdessen krame ich aus meiner Hosentasche meinen Player und setze mich neben die Tür auf den Boden. Dann schiebe ich die Kopfhörer von meinem Nacken zurück auf meinen Kopf. Unzählige Male höre ich das neue Demotape von ‚So easy’. Bewohner des Hauses laufen hin und wieder an mir vorbei, bedenken mich mit seltsamen, teils skeptischen Blicken. Es wird schon dunkel, als eine Frau, die ich als Shotas Mutter zu erkennen glaube, die Treppe hinaufkommt. Ich hoffte, zuerst auf Shota selbst zu treffen, stehe aber sofort auf und schalte die Musik ab. Höflich verbeuge ich mich.

„Möchten Sie zu mir? Oder sind sie ein Bekannter meines Sohnes?“ Die Stimme der Frau ist genauso liebenswürdig wie damals. Als ich mich wieder aufrichte, zeichnet sich Erkennen auf ihrem Gesicht ab. „Sie sind der Junge, der früher gelegentlich bei uns... zu Besuch war.“ Mit ihrem Schlüssel öffnet sie die Tür und bedeutet mir, einzutreten. „Es freut mich, die Gelegenheit zu bekommen, mich noch einmal mit Ihnen zu unterhalten.“ Ihre Worte rufen in mir ein merkwürdiges Gefühl hervor, welches sich verstärkt, als ich die fremde Wohnung betrete. Ich ziehe meine Schuhe und Jacke aus, dann folge ich ihr. Wohnzimmer und Küche sind keine separaten Räume, sondern gehen ineinander über. Auf der anderen Seite befindet sich ein kleiner Flur, der zu den restlichen Räumen führt. „Setzen Sie sich. Möchten Sie Tee?“ Ich nicke und nehme an dem Tisch, der vermutlich als Esstisch genutzt wird, Platz. Verkrampft lächle ich, als sie das heiße Getränk vor mir auf der Tischplatte abstellt. Anschließend setzt sie sich auf den Stuhl mir gegenüber und mustert mich eingehend. Die Situation fühlt sich unangenehmer an als erwartet. „Ist mein Mann der Grund für Ihren Besuch?“ Der Klang ihrer Stimme ist sanftmütig und voller Sorge. Sie scheint Shinya keinerlei negative Gefühle entgegenzubringen. Auch die Tatsache, dass sie ihn noch immer als ihren Mann bezeichnet, deutet darauf hin, dass sie die Scheidung nie wirklich akzeptierte oder verwunden hat.

„Auch wenn einige Zeit vergangen ist, können Sie weiterhin Yamato zu mir sagen.“ Sie lächelt.

„In Ordnung, Yamato. Und meine Frage?“

„Ja, es geht um ihn, aber Herr Takano weiß nichts von meinem Besuch.“

„Shinya. So nennst du ihn doch normalerweise, nicht wahr? Ich weiß, dass du nicht sein Schüler, sondern sein Geliebter warst und offenbar noch immer bist.“ Ihre ruhige, gefasste Art irritiert mich, weshalb ich meinen Kopf senke, um ihr nicht mehr in die Augen sehen zu müssen. „Bitte schau mich an, Yamato. Ich mache weder dir noch meinem Mann einen Vorwurf. Seine sexuelle Orientierung kann man sich nicht aussuchen und niemand sollte dafür verurteilt werden. Ich liebe Shinya, doch seine Liebe kann ich nicht erzwingen. Und trotzdem gab er mir nie das Gefühl, diese Ehe nur eingegangen zu sein, um vor der Gesellschaft den Schein zu wahren. Er war immer sehr fürsorglich und besonders seinen Sohn liebt er über alles.“ Leider etwas zu sehr. Ein bitteres Lächeln legt sich auf meine Lippen. Da ist sie wieder, die beschissene Ironie des Lebens. Ich hasse es. Und ich hasse mich für meine Schwäche, nichts ausrichten zu können.

„Frau Nishizawa, ich...“ Die Wohnungstür öffnet sich. Als Shotas Blick in unsere Richtung fällt und er mich erkennt, verfinstert sich seine Miene.

„Was willst du hier? Verpiss dich, du hast schon genug Schaden angerichtet!“ Seinem Tonfall entnehme ich nichts als Verachtung. Dann werden seine Gesichtszüge milder, seine Mutter betrachtet er unerwartet liebevoll. „Bitte Mama, lass solchen Abschaum in Zukunft nicht mehr in unsere Wohnung. Dieses widerliche Stück Dreck machte alles kaputt. Seinetwegen vögelt mein Vater minderjährige Jungs.“

„Shota!“, maßregelt Frau Nishizawa ihren Sohn bestürzt. Dieser wendet sich wortlos ab. Kurz darauf höre ich, wie sich im Flur eine Tür öffnet und schließt.

„Seit der Scheidung reagiert er oft aggressiv und abweisend. Mich jedoch versucht er vor der ganzen Welt zu beschützen“, erklärt Frau Nishizawa das Verhalten ihres Sohnes, ohne entschuldigend zu klingen.

„Ich würde gern mit ihm reden“, entgegne ich fast eindringlich.

„Du kannst es versuchen. Sein Zimmer ist auf der linken Seite. Aber ich bezweifle, dass er dir öffnet. Und falls doch, wird er, wie eben, nicht gerade freundlich sein.“

„Dessen bin ich mir bewusst. Vielen Dank, Frau Nishizawa.“ Ich erhebe mich rasch und gehe zu Shotas Zimmer. Ohne anzuklopfen, trete ich ein und schließe die Tür hinter mir.

„Sagte ich nicht, du sollst dich verpissen?“ Wütend erhebt sich Shota von seinem Stuhl am Schreibtisch und kommt auf mich zu. „Oder verstehst du nur die nonverbale Sprache?“ Abrupt drückt er mich mit seinem Unterarm an meiner Kehle hart gegen die Tür.

„Dein Vater braucht Hilfe“, bringe ich unbeeindruckt, aber mühsam hervor. Die Augen meines Gegenübers weiten sich. Er lässt von mir ab.

„Was?“, haucht er beinahe stimmlos.

„Er ist dabei, sich zu töten.“ Ich atme tief durch. „Für das, was er dir antat, verachte ich ihn. Trotzdem ist er mir zu wichtig, um ihn einfach sterben zu lassen.“

„Du widerst mich wirklich an. Nur um dich uneingeschränkt vögeln zu können, ließ er meine Mutter und mich allein.“ Seine Worte sind hasserfüllt. Bestürzt betrachte ich Shinyas Sohn.

„Denkst du das allen Ernstes? Shota, er will dich schützen! Die Scheidung war die einzig richtige Konsequenz, nachdem er die Kontrolle verlor und dich vergewaltigte.“

„Noch einmal, er hat mich nicht verg...“

„Verdammt, es ist passiert! Durch Leugnen kannst du den Übergriff nicht ungeschehen machen!“

„Du billige Hure! Wie kommst du eigentlich dazu, mir diesbezüglich Vorhaltungen zu machen, wenn...? “ Er unterbricht sich selbst und starrt mich erschüttert an. Ich schweige. „War es mein Vater?“, fragt er vorsichtig. Seine ernsten Gesichtszüge lassen ihn älter wirken.

„Nein.“ Meine Antwort ist ungewollt zögerlich, da ich an den Vorfall vor einigen Jahren denken muss, als er völlig zugedröhnt bei mir auftauchte, weil er seinen Sohn schon damals beinahe vergewaltigt hätte.

„Bezahlt mein Vater dich auch für das Lügen? Denn wenn er dir so wichtig wäre, wie du behauptest, hättest du dich nicht gegen ihn entschieden. Wärst du bei ihm geblieben, hätte er mich nicht als Ersatz für dich...“ Um Shota am Weitersprechen zu hindern, ziehe ich ihn dicht an mich und umfange ihn mit meinen Armen.

„Bevor du anfängst, dich zu wehren, hör mir bitte zu“, flüstere ich mit ruhiger Stimme. „In einem Punkt liegst du richtig. Dass dein Vater Hand an dich legte und dich letztlich sogar vergewaltigte, habe ich durch mein Fehlverhalten zu verschulden. Er ging mit mir ins Bett, um seinem Verlangen nach dir ein Ventil zu geben. Und obwohl ich die Gefahr eines Kontrollverlustes seinerseits kannte, handelte ich einmal mehr egoistisch. Ich hoffte durch diese Entscheidung meinen Freund nicht zu verlieren und opferte dafür deine Familie. Am Ende vergeblich.“

„Was erwartest du jetzt von mir?“, will Shota tonlos wissen. „Soll ich meinen Vater noch einmal ranlassen?“ Er schiebt mich ein Stück von sich. „Soll ich ihm vergeben und wir spielen glückliche Familie?“

„Ich weiß es nicht“, antworte ich kleinlaut. Meine Befürchtung bewahrheitet sich, ich hätte nicht herkommen sollen. Unverständnis zeichnet sich auf Shotas Gesicht ab. Ich weiche seinem Blick aus und schaue zu Boden. „Die Angst um deinen Vater ist einfach zu groß und ich glaube, du bist der Einzige, der ihm noch helfen kann, auch wenn du dich dadurch mit Geschehnissen konfrontieren musst, die du lieber vergessen möchtest.“

„Egoistischer Wichser“, zischt mein Gegenüber voller Abscheu. Ich ignoriere die Beschimpfung.

„Hast du dir jemals den Tod deines Vater gewünscht?“, füge ich stattdessen traurig an.

„Nein. Aber deinen.“ Aufgrund seiner Worte hebe ich meinen Kopf und blicke ihm erneut in die Augen. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Seltsamerweise fühle ich Erleichterung und eine plötzliche, tiefe Zuneigung für den Jungen vor mir. Ich verstehe, warum Shinya ihn liebt. Er besitzt eine ungewöhnliche Anziehungskraft. „Du bist echt nicht normal“, höre ich ihn abwertend sagen. „Und jetzt geh endlich. Ich ertrage deine Anwesenheit nicht mehr.“ Liebevoll berühre ich seine Wange, doch Shota schlägt meine Hand sofort weg und wendet sich von mir ab. „Nimm deine ekelhaften Finger von mir. Im Gegensatz zu meinem Vater stehe ich nicht auf dreckige Stricher.“

„Keine Angst, ich will nicht mit dir schlafen.“ Sofort nehme ich etwas Abstand, um Shinyas Sohn Sicherheit zu vermitteln.

„Ich weiß. Du lässt dich nur ficken, wenn du dafür bezahlt wirst, billiges Miststück. Existiert in dir eigentlich auch nur ein einziges Gefühl? Selbst jetzt schaust du mich völlig teilnahmslos an. Du versuchst nicht einmal mich vom Gegenteil zu überzeugen.“

„Wozu?“, antworte ich kalt. „Du siehst nur, was du sehen willst. Genau wie Taichi und mein Vater. Egal, wie ich mich verhalte, eure Meinung kann ich nicht ändern, weil ihr sie nicht ändern wollt. Was du gefühllos nennst, würde ich als Resignation bezeichnen.“

„Ich kotze gleich. Erwartest du Mitleid von mir? Du bist erbärmlicher, als ich dachte.“

„Das Einzige, das ich von dir möchte, ist Hilfe. Denn trotz meiner nicht vorhandenen Gefühle bedeutet mir dein Vater unglaublich viel.“

„Klar, schließlich ist der dein Freier und bezahlt dich dafür, dass er dich in den Arsch ficken darf und du seinen Schwanz lutscht.“ Ich seufze.

„Du verhältst dich wie ein bockiges Kind. In gewisser Weise erinnerst du mich an mich selbst.“ Plötzlich beginnt Shota unkontrolliert zu lachen. Dann schaut er mich mit vernichtendem Blick an.

„Ich rate dir, jetzt zu gehen. Sonst gebe ich womöglich meiner Fantasie nach, dir mit dem Cutter, der auf meinem Tisch liegt, dein hübsches Gesicht zu zerschneiden. Dann kannst du niemanden mehr täuschen, weil dein Äußeres deinem Inneren entspricht.“ Schmerzlich betrachtet er mich. „Ich hatte dich damals wirklich lieb und hoffte jeden Tag, dass du uns wieder besuchen kommst. Nicht nur, weil mein Vater in deiner Gegenwart entspannter war und sich inniger mit mir beschäftigte. Oft wünschte ich mir, du wärst mein großer Bruder, besonders, wenn du dich nicht nur irgendwelchem Schreibkram widmetest und somit lediglich anwesend warst, sondern aktiv Zeit mit uns verbrachtest. Heute widern mich meine Gefühle für dich nur noch an. Du widerst mich an.“

„Ich wollte dir nie wehtun, Shota.“ Ohne ihn noch einmal anzusehen, wende ich mich ab und verlasse sein Zimmer. Frau Nishizawa sitzt noch immer am Esstisch, nippt gedankenversunken an ihrer Teetasse. „Entschuldigen Sie bitte die Störung und vielen Dank, dass Sie trotz der Situation freundlich zu mir waren.“ Sie lächelt traurig.

„Ich mache mir Sorgen um Shinya. Normalerweise telefonieren wir regelmäßig, aber in letzter Zeit kam weder ein Anruf von ihm noch reagierte er auf meine Anrufe.“

„Er...“

„Pass auf ihn auf, okay?“, unterbricht sie mich sanft. Ich spüre, wie sich ein unangenehmer Druck auf meine Kehle legt und mir das Schlucken erschwert. Auch mein Brustkorb zieht sich schmerzhaft zusammen. Erfüllt von Selbsthass und Schuldgefühlen senke ich meinen Kopf. Die passenden Worte finde ich nicht, weshalb ich mich nur tief verbeuge. Dann gehe ich ohne ein weiteres Wort. Trotz der frischen Winterluft, die meine Atemwege durchströmt, habe ich das Gefühl, zu ersticken. Entmutigt und ratlos blicke ich in den wolkenverhangenen Nachthimmel.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  TheDarkVampire
2015-06-15T21:49:39+00:00 15.06.2015 23:49
Hi,

ich habe schon deine anderen Fanfictions um Yamato gelesen. Nach "So einfach" hatte ich gehofft, dass es eine Fortsetzung gibt, aber ich habe leider recht spät, erst letze Woche gesehen, dass dies hier die Fortsetzung ist.

Was kann ich groß sagen?

Shinya tut mir leid. Yamato erst recht. Er möchte es doch nur allen recht machen, aber keiner glaubt ihn :(

Die Kapitel sind alle super und ich freue mich, wenn es weiter geht

Du schreibst klasse und ich liebe es, dein Schreibstil zu lesen und freue mich über jedes Kapitel :)

Mach weiter so!

Lg
Vampy


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