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Kapitel 8

„Billstedt ist nicht cool, Billstedt ist auch nicht sexy, Billstedt ist einfach nur asi“, sagt meine Schwester, wann immer sie mich in meiner kleinen Bude besucht; doch weil diese Besuche eben sehr oft passieren, glaube ich, sie findet den Stadtteil gar nicht so schlimm, wie sie immer behauptet. Auch wenn sie im Grunde genommen Recht hat und Billstedt ganz sicher nicht hip und trendy und vielleicht auch nicht 100 prozentig sicher ist; was sich allerdings positiv auf die Wohnungspreise auswirkt und unmittelbar darauf Einfluss hat, dass mir das Amt das Ein-Zimmer-Appartement mit Balkon hier auch mitfinanziert.

 

Ich habe mich ganz gut eingerichtet, das Hochbett mitgenommen, den Schreibtisch aus meinem Kinderzimmer. Anna-Maria hat mir einen neuen Kleiderschrank geschenkt, Vanessa hat mir schwarze Vorhänge mit Totenkopf-Muster genäht – ein tolles Geburtstaggeschenk, wirklich. Ich war total happy, als sie es mir überreicht hat und wir sie dann im Anschluss zusammen angebracht haben.

 

Das Bad ist zwar klein – ich kann mich hier aber trotzdem gut stylen und die Dusche ist auch okay. Auch die Kochnische reicht für meine Bedürfnisse. Das Wichtigste: Hier ist alles meins und das Essen im Minikühlschrank bezahle ich auch aus eigenen Taschen.

 

Ich hab gelernt, mit dem Geld umzugehen. Auf den wenigen Partys, auf die ich mittlerweile gehe, saufe ich auch nicht mehr so viel – und ich kaufe mir auch nicht mehr so oft Pommes oder Döner, oder sonst was außerhalb. Das tut meinem Portemonnaie auch gut.

 

Richard hat mir die Geldbörse geschenkt. Symbolisch – als ich meine letzten Sachen aus seiner Bude geräumt habe. Das war ein seltsamer Abschied.

 

Es war nicht leicht, meine Gefühle für ihn zu unterdrücken, die letzten Wochen unseres Zusammenlebens nach dem heftigen Gespräch, in dessen Verlauf er mir die Wahrheit auf einem unschönen Tablett serviert hatte, sind hart gewesen. Auch danach, als ich ausgezogen und Tigris nicht mehr jeden Tag ausgeliefert war, war es trotz des Eingestehens dieser Wahrheit schwer; ich habe Monate gebraucht, um meine eigenen Gefühle zu sortieren. Dabei geholfen haben sicherlich auch die Gespräche mit meiner echt verrückten Therapeutin. Gesa – blond, fett und immer perfekt gestylt mit langen glitzernden Fingernägeln. Sie hat mich jedes Mal mit einem total schlechten Witz verabschiedet. Ich habe sie echt von Anfang an gemocht; und mich ihr gegenüber wahrscheinlich genau deswegen geöffnet.

 

Aber Gesa sehe ich schon lange nicht mehr.

 

Evelyn sehe ich auch nicht mehr jeden Tag, denn sie ist schwer beschäftigt, hat nach der bestandenen Abendschule eine Ausbildung zur Friseurin angefangen; ich bin ihr Testobjekt und lasse mir auch gern von ihr die Haare schneiden, damit sie ihrem heißen Chef zeigen kann, wie geil sie ist.

 

Auch ich habe die Schule bestanden.

 

Eine spießige Ausbildung im klassischen Sinn habe ich aber nicht angefangen – was nicht heißt, dass ich auf der faulen Haut liege. Ich arbeite – ich lerne und es macht verdammt viel Spaß. Es nervt zwar, dass das nur durch Richards Hilfe möglich geworden ist, aber… das muss ich akzeptieren. Und sagen wir’s mal so: Hätte ich kein Talent und wäre ich nicht fleißig, hätten auch Richards Connections nix gebracht. Aber Johnny ist ein Fan von mir und fördert mich und hat letztens erst gesagt: „Sobald du sicher mit der Nadel umgehen kannst, und das wird in wenigen Wochen der Fall sein, wenn du so weiter machst, darfst du mir eines deiner abgefahrenen Monster stechen.“

 

Ich blühe auf im Tattoo-Studio, in dem sich auch Richard hat vor Jahren seinen Tiger stechen lassen. Es gehört seinem alten Schulfreund – Johnny eben. Und Johnny ist klasse.

 

Angefangen hatte ich direkt nach dem Abschluss als Praktikant – und mehr als Müll rausbringen und Utensilien putzen war an Aufgaben auch zunächst nicht drin. Ich habe mich jedoch sofort mit allen Mitarbeitern angefreundet, ihnen über die Schulter geschaut und eben in den Stunden, in denen nichts zu tun war, aus Spaß Tattoo-Entwürfe gezeichnet. Eine Stammkundin war dann plötzlich so von meinem Wolf-Alien-Hybriden begeistert, dass Johnny ihr das dann auch gestochen hat.

 

Von da an war für ihn klar, dass er mich behalten und ausbilden will.

Und ich bin immer noch begeistert.

 

Von Roxy, die bei uns für die Piercings zuständig ist, habe ich mir am selben Tag dann noch als Belohnung mein langersehntes Prinz Albert machen lassen. Das geilste Intimpiercing, was es meiner Meinung nach gibt. Hat sau wehgetan, aber ich hab es überlebt – und es sieht einfach nur verdammt hot aus.

 

Haben mir Kurt und die wenigen One-Night-Stands, die ich so im letzten Jahr gehabt habe, auch gesagt. Wobei ich ehrlich sagen muss: Ich bin ruhiger geworden. Vielleicht auch, weil ich eben den ganzen Tag im Studio und am Ende des Abends so kaputt bin, dass ich einfach nur noch die Füße hochlegen will.

 

Einmal im Monat ist Familienwochenende. Anna-Maria hat das eingeführt, nachdem wir alle miteinander gesprochen haben.

 

…ich weiß allerdings nicht, ob ich behaupten kann, dass alles wieder gut sei zwischen meiner Familie und mir. Es sieht folgendermaßen aus:

 

Ich habe mich mit Anna-Maria ausgesprochen und ihr eine Chance gegeben. Ich werde sie zwar immer spießig finden und ihren Porzellan- und Tupperwarenfimmel weiter auslachen, aber ich bin ihr dankbar für alles, was sie für mich getan hat, und ich akzeptiere sie, weil auch sie mich akzeptiert, so wie ich bin. Auch wenn sie meine Tattoos hasst – sie ist tatsächlich stolz auf mich und meinen eingeschlagenen Berufsweg, weil ich ihren Worten zufolge meinen Traumjob gefunden habe und darin wahrlich aufblühe und mich anstrenge. Sie bringt mir und meinen Kollegen ab und an selbstgemachte Muffins und Cupcakes vorbei. Und ich muss zugeben: Sie ist besser geworden, die alte Hobbybäckerin.

 

Mit Vanessa läuft alles rund – ich bin wohl ein Stückchen mehr zu dem großen Bruder geworden, den sie sich immer gewünscht hat. Als sie irgendwann wieder tatsächlich mit Deniz zusammengekommen war und er sie dann betrogen hat, war ich für sie da. Sie hat sich ausgeheult bei mir, wir haben uns zusammen betrunken – und dann bin ich irgendwann zu dem Typen hingefahren und habe ihm so richtig eine gescheuert; der hatte mächtig Schiss vor mir und Vanessa hat einen Lachanfall bekommen, als ich ihr davon erzählt habe.

 

Mit meinem Vater… das ist wohl so eine Sache für sich.
 

Nachdem ich in meine eigene Wohnung gezogen war, hat es da dieses eine, sehr bedeutende Familienessen gegeben; das erste Zusammentreffen meines Vaters und mir, angezettelt und forciert durch meine Stiefmutter und Schwester. Weder Karl noch ich hatten eine Wahl; er wurde festgehalten und ich wurde abgeholt, und hätte ich mich gewehrt, hätten Vanessas Kumpels mich wohl mit Gewalt in das Auto gedrängt. Die Wahrheit ist aber: Ich wollte dieses Treffen ebenso sehr wie die beiden Frauen, die es in Gang gebracht hatten.

 

Klar, ich war total nervös und noch nervöser wurde ich, als ich Richard an unserem Esstisch entdeckte und er mich zur Begrüßung umarmte. Ganz kurz, wirklich minimal, keimten diese unerklärlichen Gefühle wieder in mir auf und ich wollte mehr von ihm, mehr von seiner Nähe, in deutlich an mir spüren – doch so urplötzlich dieses Verlangen aufgetaucht war, war es auch wieder verschwunden.

 

Schließlich war Richard einfach nur Richard – ein krankes, heißes Arschloch, im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Karl war aber noch nervöser als ich, er wusste gar nicht, wie er mich begrüßen sollte, letztendlich hielt ich ihm die Hand hin, die er dann irgendwie dankbar ergriff. Im Schweigen tranken wir Kaffee – dann entdeckte Anna-Maria ihr schlummerndes Moderationstalent und führte Karl und mich durch die Konversation, zu der auch Richard dann und wann seinen Senf dazugab, als wir die gesamte Abendschulzeit und ihre Resultate bezüglich der Familiensituation aufarbeiteten.

 

Schließlich, nach rund einer Stunde des Aussprechens, und als ich mich bei Karl entschuldigt hatte für mein Verhalten der letzten Jahre, ihm von meinen Therapiestunden berichtete – ohne den Punkt Tigris zu nennen – seufzte auch er schwer, sah mir in die Augen und wirkte sehr zerbrechlich, als er mir sagte: „Ich hatte wirklich das Gefühl, dass du auf die Schnauze fallen musst, um endlich aufzuwachen. Als Elternteil ist das nicht leicht – aber… der Tropfen, der für mich das Fass zum Überlaufen gebracht hat, hätte ein anderer sein sollen als… diese Videos…“

 

Er sagte mir, es sei schwer für ihn zu akzeptieren, dass ich bi sei – oder schwul, oder was auch immer, dass eben mit demselben Geschlecht zu tun habe. Aber er würde daran arbeiten, das zu akzeptieren. Das tut er noch immer – es ist ein harter Weg für ihn. Deswegen reden wir auch nicht so oft, aber das Wichtigste ist eben, dass wir wieder miteinander reden.

 

Richard fuhr mich an diesem Abend nach Hause. Wir schwiegen die ganze Fahrt lang über, hörten dem sinnfreien Gebrabbel der Moderatoren im Radio zu, ich schaute aus dem Fenster und versuchte diese seltsame Atmosphäre zwischen uns so gut es geht zu ignorieren. Herr Vogt hatte Glück, er fand einen Parkplatz fast direkt vor meiner Tür.

 

„Kann ich noch mit hochkommen?“, fragte er plötzlich, als ich ihm schon ein knappes „tschüss“ zugeworfen hatte. Ich hielt inne. „Ich wollte deine Wohnung mal sehen…“, erklärte er und ich nickte.

 

Sie gefiel ihm natürlich nicht, aber das sagte er nicht, lediglich, dass ich eine nette Aussicht vom Balkon aus hätte, und dass die Bude zu mir passen würde. Wir sahen einander an und ich hasste mich dafür, dass mein Herzschlag sich beschleunigte, als unsere Augen sich trafen. Mit ihm verbundene, intime Erinnerungen spielten sich in meinem Gedächtnis ab und ich dachte an all das, was ich mir bezüglich Tigris gesagt hatte. Dass es vorbei war. Dass er Recht hatte. Dass ich hungrig nach Geborgenheit gewesen war. Dass ich gewisse Dinge auf ihn projiziert hatte. Und dennoch: Ein kleiner Prozentpunkt fehlte offensichtlich noch, um vollkommen mit ihm abzuschließen.

 

„Richard… darf ich dich ein letztes Mal küssen?“, fragte ich ihn, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

 

Auf seinem männlichen Gesicht spiegelte sich kurz Verwirrung wider. „Meinst du, das ist eine gute Idee?“, hakte er skeptisch nach.

 

„Ich muss etwas austesten“, erklärte ich lediglich, ein paar Schritte auf ihn zugehend.

 

„Okay…“, murmelte er – und ließ es geschehen.

 

Meine Lippen legten sich auf die seinigen und seine Hände legten sich sachte auf meine Hüften, als er seine Zunge in meine Mundhöhle wandern ließ. Unser Kuss dauerte nicht lang.

 

„Und?“, hakte er nach.

 

„Nur Sex – so wie du es gesagt hast, keine Liebe“, entgegnete ich ihm, nachdem ich mich wieder gefangen hatte, und beinahe hätte ich laut losgelacht, so erleichtert war ich, dass ich die Wahrheit sagte. Richard grinste und sein Blick wanderte zu meinem Hochbett, da verringerte ich die Distanz zu ihm ein weiteres Mal, stahl mir einen weiteren, feuchten Kuss und just in diesem Moment, in dem Richards Umarmung an Ruppigkeit gewann und er mich ziemlich sicher in Richtung des Bettes ziehen wollte, unterbrach ich unseren Kontakt, ging einen Schritt zurück und sagte ihm: „Ich danke dir für alles. Aber das zwischen uns ist vorbei. Für immer. Du bist ein Psychopath, und Psychopathen kann ich in meiner Welt nicht mehr gebrauchen.“

 

Richard lachte - auf seine Psycho-Art - und ging; und seitdem habe ich ihn auch nicht wiedergesehen.

 

Dagegen meine Mutter, denn auch mit ihr habe ich wieder Kontakt. Unsere Aussprache war harsch. Sie hat sich entschuldigt, diese Entschuldigung habe ich jedoch nicht einfach so annehmen können und ihr mal so richtig die Meinung gegeigt. Das hat geholfen. Mir und meiner Ma. Wir arbeiten beide an unserem Verhältnis und mit dem Typen, wegen dem sie so eiskalt zu mir gewesen ist, hat sie nach unserem Gespräch Schluss gemacht, weil sie eingesehen hat, dass er einen schlechten Einfluss auf sie ausübt. Sie gelobt Besserung – und freut sich tierisch, dass ich dabei bin Tätowierer zu werden.

 

Auch wenn ich eigentlich noch nicht stechen darf, hat Johnny da eine Ausnahme gemacht, weil meine Mutter ihn wochenlang bearbeitet und letztendlich auch angefleht hat. Ich durfte ihr tatsächlich was stechen – eigentlich etwas sehr unkreatives, aber was soll’s, die Geste habe ich verstanden: Sie hatte sich die Geburtsdaten von mir und Vanessa gewünscht, und ich habe sie ihr gegeben. Meine Schwester hat geheult, so berührt war sie davon.

 

Ja, ich mag mein neues Leben irgendwie, stelle ich auch heute fest, an diesem kalten Märztag. Mein Praktikum ist längst vorbei, ich bin mitten in der Ausbildung und darf mich heute ein weiteres Mal an der Kunsthaut, die Johnny en masse besorgt hat, austoben. Er hat mir den ganzen Tag dafür gegeben. Lediglich beim Aufräumen muss ich dann und wann helfen, und beim Abkassieren, aber das ist schon okay.

 

Die Tättowiermaschine ist kompliziert, aber ich habe ihren Gebrauch wirklich schon zu 90 Prozent drauf, bekräftigen mir auch meine Kollegen, denen ich immer noch tagtäglich über die Schulter gucke und mir all möglichen Tipps die sie mir geben, penibel in mein schwarzes Notizbuch notiere.

 

Ich versuche heute zum ersten Mal etwas Farbiges, einen bunten chinesischen Drachen, doch so richtig zufrieden bin ich nicht mit dem Resultat. „Die Farbkombi ist kacke“, kritisiert auch Johnny und erklärt, wie er es gemacht hätte und warum. „Machste morgen nochmal, ja?“ Ich nicke grinsend. Und dieses Mal wird es mir auch gelingen, denke ich mir und gehe gut gelaunt zurück in unseren Hauptraum an den Tresen, um die neue Kundschaft in Empfang zu nehmen.

 

Doch als ich dort ankomme, fällt mir fast alles aus dem Gesicht. Zwei junge Männer warten an der Kasse. Der eine mit schwarzer St. Pauli Mütze auf dem Kopf und Snakebites im Gesicht, gehüllt in einen braune Lederjacke – der andere, offenbar dessen Begleitung, ein hochgewachsener Typ im schwarzen Parka mit Fell an der nicht aufgezogenen Kapuze, mit vollem, pechschwarzen Haar, das ihm leicht über die Stirn fällt, und blau-grünen Augen, die ich wirklich überall wiedererkennen würde.

 

Das ist Bastian.

 

Bastian steht vor mir und als sich unsere Blicke treffen zeichnet sich auch in seinem Gesicht eine Art Schock ab, in dem Moment in dem ich die beiden wie ein Volldepp stotternd und beinahe über meine eigene Füße stolpernd begrüße. Doch seinem Schock folgt unmittelbar eine arktische Kälte.

 

Sein Freund – Sammy – hat einen Termin bei Roxy, die schon auf ihn wartet, er will sich ein Industrial stechen lassen; Bastian ist tatsächlich nur als Begleitung da und ich frage mich, während ich die beiden zum designierten Raum führe, ob sie wohl zusammen sind?
 

Der Snakebite-Typ ist hässlich und hat einen dummen Gesichtsausdruck. Bastian dagegen sieht… einfach nur unfassbar heiß aus. Ich kann nichts dagegen tun, meine Handflächen werden schwitzig und ich glaube, ich bin rot wie eine Tomate im Gesicht. Das Schwarz steht ihm gut, viel besser noch als mit den blonden Strähnchen damals. Als er den Parka auszieht bemerke ich noch eine weitere Veränderung: Unter seinem engen, schwarzen Pullover zeichnen sich bullige Muskeln ab. Nicht zu viel, als dass er aussieht wie einer dieser Eiweiß fressenden Bodybuilder; nicht zu wenig, als dass er aussieht wie ein Spargeltarzan, sondern einfach nur genau richtig. Er sieht aus wie ein Model.

 

„Ist noch was, Schatzi?“, will Roxy von mir wissen, als ich stillschweigend dastehe und Bastian angaffe. Als mich alle drei nun ansehen, und Bastians Blicke könnten töten, reiße ich mich zusammen, schüttele den Kopf und eile wieder hinaus.

 

Erst als ich mich kurz in unseren Pausenraum im hinteren Bereich setze, merke ich, wie krass mein Herz schlägt, und wie unschön es sich dort in meiner Brust zusammenzieht; erst jetzt bemerke ich diesen Klumpen in meinem Hals und das Zittern meiner Finger. Wie gut, dass ich das Test-Tattoo bereits fertig habe, jetzt dürfte ich wirklich keine Nadel mehr anfassen. Nichts eigentlich, so durcheinander bin ich.

 

Ich bin so aufgewühlt – und aufgeregt!

 

Als ich höre, dass Roxy die beiden zur Kasse bitte, springe ich wie von der Tarantel gestochen auf, schreie sie beinahe schon an, dass „ich das übernehmen“ werde und haste, wieder beinahe über die eigenen Füße stolpernd, zur Kasse.

 

Bastian würdigt mich jedoch keines Blickes mehr, sein Kumpel – oder Freund – ist auch ziemlich wortkarg und ehe ich mich versehen habe, fällt auch schon die Tür ins Schloss. Eine Sekunde vergeht, zwei, drei… Dann haste ich den beiden hinterher. Dass ich keine Jacke anhabe und mir in dem Motörhead-Shirt draußen schweinkalt ist, lasse ich außer Betracht.

 

„Bastian!“, rufe ich und die beiden drehen sich um. Die Arme um mich schlingend im kalten Wind starre ich ihn an und er starrt zurück. „Kann… Hast du nur eine Minute Zeit für mich? Unter vier Augen? …bitte?“ Er scheint kurz zu überlegen und meine Zähne klappern schon, da wendet er sich an Sammy und sagt, er würde gleich „zu Mark“ nachkommen. Sammy nickt einfach nur, mustert mich skeptisch und haut endlich ab.

 

Die erste Minute bringe ich allerdings einfach kein Wort hinaus, bis Bastian total abfällig den Kopf schüttelt und spöttisch meint: „War’s das?“

 

„Nein!“, antworte ich hastig und schimpfe innerlich mit mir selbst. „Ich“, setze ich an, nur um wieder abzubrechen. Verdammt nochmal! Jetzt hatte ich schon so viele emotionale, klärende Gespräche und fange hier gerade trotzdem bei Null an. Oder sogar bei Minus Eins, verfluchte scheiße!

 

„Ey…“, setzt er genervt an, da falle ich ihm ins Wort.

 

„Es tut mir leid! Es tut mir so unfassbar leid, was ich dir damals angetan habe und dass ich so ein Feigling gewesen bin und mich erst jetzt entschuldige. Das war nicht fair, ich war ein Riesenarsch, du hast das nicht verdient und ich verstehe, dass du mich hasst. Das… Das war’s eigentlich, so… im Groben…“

 

Bastian starrt mich mit hochgezogener Augenbraue an. Und dann sagt er einfach nur: „Aha. Danke, oder so.“

 

…dann geht er und ich starre ihm minutenlang hinterher, bis ich Roxys Gebrüll hinter mir hören kann: „Sag mal spinnst du?! Willst du dir den Tod holen, komm sofort wieder rein, Püppi!“

 

Sie schimpft noch eine ganze Weile mit mir. Roxy, die erst Anfang 30, aber trotzdem so was wie eine Ersatzmutti für mich ist. Nach Feierabend trinken wir noch ein Bier unweit unseres Ladens und ich erzähle ihr, wer das heute gewesen ist und wie ich damals mit ihm umgegangen bin.

 

„Nichts für ungut, aber wäre ich an seiner Stelle, ich würde dir auch immer noch die Augen auskratzen wollen“, sagt sie und leert ihr Glas. „Aber“, meint sie dann noch und lächelt mir zu, „gut, dass du dich entschuldigt hast. Dann kannst du damit auch abschließen“.

 

Kann ich eben nicht.

Noch tagelang wurmt mich Bastians Abgang und wann immer ein Kunde mit Parka unseren Laden betritt, rast mein Herz wie bekloppt.

 

Warum habe ich mich damals nicht Hals über Kopf in den Typen verlieben können? Ich meine, er hat mich auf Händen getragen und ich habe regelrecht auf ihm herumgetrampelt. Ja, ich bin ein Idiot gewesen. Definitiv.

 

Es ist endlich Freitag und ich schließe zusammen mit Max den Laden ab. Wir verabschieden uns, müssen in verschiedene Richtungen, ich allerdings schaffe nur einige Schritte. Dann bleibe ich wie versteinert stehen. Vor mir steht Bastian in seinem dunklen Parka, nach dem ich die letzten Tage Ausschau gehalten habe. Er hat zwei Dosen Astra in der Hand und grinst leicht.

 

„Hey…“, sagt er und kann damit wirklich nur mich meinen. Trotzdem sehe ich mich noch mal zur Sicherheit um, aber da ist niemand außer mir auf dem Gehweg. Bastian lacht leise, dann drückt er mir das Bier forsch in die Hand. „Ich fand’s scheiße wie ich auf deine Entschuldigung am Montag reagiert habe“, sagt er, während ich ihn weiterhin regungslos, die kalte Bierdose umklammernd, anstarre. „Deswegen dachte ich mir, wir quatschen mal. Hast du Zeit?“

 

Ich vergesse beinahe zu antworten, so durcheinander bin ich. „Viktor?“

 

„Was? Ja! Ja, klar!“

 

Es ist kalt aber das scheint Bastian egal. Er öffnet seine Bierdose und ich tue es ihm gleich. Wir schlendern den Weg Richtung U-Bahn-Haltestelle langsam entlang, die sporadisch uns passierenden Menschen ignorieren wir. Während der ersten Schlucke sagt keiner was, nicht einmal unsere Blicke treffen sich. Schließlich entweicht meinem Mund ein langer Seufzer und ich bleibe stehen; wir schauen einander an.

 

„Ich wollt… Ist schon okay, wie du reagiert hast, ehrlich“, sage ich. „Ich meine“, und muss an Roxys Worte denken, „jeder an deiner Stelle würde mir die Augen auskratzen wollen, zurecht. Ich war damals ein Arschloch, ich hab’ weder gecheckt, dass du wirklich in mich verliebt warst, noch was ich damals an dir eigentlich gehabt hab. Du warst echt…“, ich suche nach den richtigen Worten und Bastian schenkt mir ein vorsichtiges Lächeln. Er hat an Männlichkeit gewonnen, gar keine Frage; sein Gesicht erscheint mir irgendwie kantiger, reifer. „Du warst echt der beste Teil meines Lebens damals. Ich hab das damals nur irgendwie nicht gerafft“, beende ich meinen Satz und möchte nach diesen melodramatisch klingenden Worten eigentlich lachen, aber ich tue es nicht.

 

Bastian grinst und geht einen Schritt auf mich zu. „Okay“, sagt er, „nun also noch mal die Reaktion wie sie eigentlich schon vor ein paar Tagen hätte ausfallen müssen: Lieber Viktor“, fängt er an und wir lachen beide, weil er sich unfassbar förmlich anhört. Ich klinge jedoch wesentlich nervöser, wahrscheinlich, weil ich es schlicht und einfach auch bin. „Ich find’s echt schön, dass du dich endlich dafür entschuldigst und deswegen einfach: Danke. Wirklich danke, ich hatte echt eine ganze Weile dran zu knabbern.“

 

„Oh, du glaubst gar nicht, an was ich alles zu knabbern hatte…“, meine ich und nehme einen Schluck Bier mit meinen zittrigen Händen. „Ich… hab echt mal auf die Fresse fallen müssen, um so einiges zu checken, das in meinem Leben schief läuft“, sage ich und lächel vorsichtig. Es ist so… schön wieder mit Bastian zu sprechen. Auch wenn ich total nervös in seiner Gegenwart bin, irgendwo hat es doch etwas so Vertrautes. Und wie damals hört er mir aufmerksam zu.

 

„Achja, was denn so alles?“, hakt er nämlich interessiert nach.

 

Ich winke ab. „Das ist eine lange Geschichte und definitiv keine, die man so auf offener Straße erzählen sollte“, meine ich.

 

„Dann lass uns in ne Kneipe gehen“, schlägt er vor und ich starre ihn ungläubig an.

 

„Ist das dein ernst?“

 

„Mein voller. Man ist doch immer ein wenig neugierig, wenn es um das Leben seines Ex’ geht, oder nicht? Gossip und so“, fügt er grinsend an und ich nicke, ebenfalls grinsend.

 

„Aber ich lade dich ein“, sage ich. „Als Wiedergutmachung.“

 

„Na, dann sehe ich zu, dass ich das teuerste Getränk auswähle, das es auf der Karte gibt“, witzelt er.

 

„Verdient hätte ich das.“

 

„Wohl wahr“, meint Bastian, aber sein Blick ist warm.

 

Wir leeren unser Bier, kurz bevor wir den erstbesten Laden betreten. „Und dieser Sammy…   wird nicht sauer?“, hake ich noch nach.

 

Bastian schaut mich verdutzt an, lacht dann und schüttelt den Kopf. „Ne, ich schreib meinem Cousin gleich, dass es länger dauert, der ist da ganz locker.“

 

„Oh.“

 

Er zieht die Augenbraue skeptisch hoch. „Hast du gerade versucht, herauszufinden, ob ich Single bin?“

 

Ich schüttel den Kopf, seufze dann aber und sage die Wahrheit: „Ja…“

 

„Ich warne dich, selbst wenn das so wäre, bräuchtest du dir keine Chancen auszurechnen“, meint er lachend. Ich lache mit – aber es tut schon irgendwo weh. Das Leben zeigt mir gerade: Das hättest du haben können, wärst du nicht so scheiße gewesen. Ein Blick nach dem Motto „was wäre wenn“…

 

Wir bestellen uns ein weiteres Bier, Bastian macht seine Drohung also nicht wahr. Ich erzähle ihm alles; fast alles. Den Teil mit Tigris und unseren nächtlichen Eskapaden lasse ich aus. Doch alles andere beichte ich ihm: irgendwo ist er ja auch ein Teil des großen Ganzen gewesen. Er hört aufmerksam zu, nickt schweigend, nippt an seinem Bier, hakt hier und da mal genau nach.

 

„Krasse Geschichte“, sagt er und blickt Gedanken verloren in die Ferne.

 

Ich lache nervös. „Eine Lektion, oder so. Aber viel spannender: Was ist mit deiner Geschichte? Immer noch bei Edeka in der Selbstentdeckungsphase?“

 

Bastian lacht und dann erzählt er mir tatsächlich seine Geschichte. Er ist viel unterwegs gewesen, hat Work and Travel gemacht. Das war seinen Worten nach „der bessere Weg, um den Kopf freizukriegen“. Das BWL-Studium hat er geschmissen. Studiert jetzt Ernährungswissenschaften. Erklärt zum Teil auch seinen verbesserten Körperbau, die beinahe makellose Haut. „Ernährung und Sport sind auch irgendwo zu meinen größten Hobbys geworden, ich bin jetzt auch ein richtiger Hobbykoch“, sagt er zufrieden.

 

„Also nichts mehr mit Tiefkühlpizza?“, stichele ich und er schüttelt stolz den Kopf.

 

Ich weiß nicht, ob es an der steigenden Anzahl der Biere liegt, oder einfach an der Tatsache, dass wir uns eigentlich kennen, aber meine extreme Nervosität hat nachgelassen; ich fühle mich wohl, wie wir beiden hier am Tisch sitzen und uns so viel Persönliches erzählen.

 

„Du bist echt erwachsener geworden“, sagt Bastian, als wir das Lokal letztendlich verlassen, weil er morgen früh raus muss, um eine Verabredung im Schwimmbad einzuhalten und eben noch bei seinem Cousin und dessen Kumpels vorbeischauen muss.

 

„Danke, oder so. Du auch – auch wenn du schon vorher der erwachsenere von uns beiden gewesen bist“, gebe ich zurück.

 

„Vielleicht sieht man sich ja bald mal wieder, war nett heute“, sagt er, hebt die Hand und marschiert davon.

 

Die nächsten Tage habe ich das zweite Mal in meinem Leben so richtig Liebeskummer. Nur ist es im Fall Bastian so, dass ich nicht irgendwelche komischen Gedanken auf ihn projiziert habe, sondern dass ich mich nun wirklich in ihn verknallt habe. So, wie es hätte damals geschehen sollen. Der alte Bastian war toll, der neue ist noch viel toller.

 

Ich vergrabe das Gesicht in meinem Kissen. „Scheiße…“, murmele ich. Irgendwann starre ich mein Handy an – und hoffe, dass er noch dieselbe Nummer hat wie damals, als ich wie ein wahnsinniger auf der Display einhacke, nur um ihm zu sagen, dass ich hoffe, dass sein Schwimmbesuch geklappt und er nicht zu müde von dem gestrigen Bier gewesen ist. In einem Halbsatz danke ich ihm dann erneut für das klärende Gespräch und wünsche ihm noch einen schönen Tag.

 

Dann liege ich da und starre das Teil an. Stundenlang. Als es vibriert, springe ich fast auf vor Freude, nur um feststellen zu müssen, dass mir mein Mobilfunkanbieter Werbung geschickt hat. Dann fragt Bartosch noch, ob ich Bock auf Party habe und Vanessa schickt mir bescheuerte Selfies, die mich aber tatsächlich zum Lachen bringen. Als ich ein weiteres von ihr erwarte – starre ich plötzlich auf eine Nachricht von Bastian.

 

Er teilt mir mit, dass das Schwimmen toll war, dass er mir empfiehlt, das auch regelmäßig zu tun und fragt mich, was ich denn so Schönes getrieben habe.

 

Wir schreiben uns hin und her. Nicht nur an diesem Wochenende, auch an den kommenden Tagen. Bastian will Bilder meiner Wohnung sehen und ich räume alles penibel auf, damit er einen guten Eindruck bekommt; er mag mein Reich sehr und ich glaube es ihm.

 

Wochen schreiben wir uns häufig und ich kann mich kaum auf der Arbeit konzentrieren, weil ich ständig auf eine neue Nachricht warte. Es ist erneut ein Freitag, als Bastian plötzlich nach Ladenschluss vor unserem Studio steht – ohne Ankündigung. „Bock feiern zu gehen?“, fragt er mich und ich nicke.

 

Ich gebe ihm Cocktails aus, wir treffen seine alten Mitbewohner, die aus Altona, die mich als den „Schreihals“ bezeichnen. Es ist wie früher. Nur eben, dass Bastian und ich an diesem Abend nicht rumknutschen, Händchen halten und nachher miteinander schlafen werden.

 

Als wir schließlich in dem Laden landen, in dem wir uns kennengelernt haben, beginnt mein Herz wieder einmal damit mir einen Streich zu spielen. Fast schon zum wilden Rhythmus der Musik beginnt es zu klopfen. Bastian grinst – und sieht verdammt scharf aus. Enganliegendes, ärmelloses Shirt, das seine Muskeln offen legt, dazu eine ebenso enge dunkelblaue Jeans. Um seinen Hals eine silberne Kette, die tiefschwarzen Strähnen durcheinandergewirbelt, an den Seiten abrasiert, zwei silberne Stecker in seinen Ohren. Er tanzt – mit Adam, einem Kommilitonen, der erst jetzt dazugekommen ist.

 

Vom Rande der Tanzfläche aus beobachte ich ihn, wie seichter Schweiß seine Arme benetzt, wie er seine Hüften kreisen lässt, mit seinem Mitstudenten herumblödelt. Ob sein Freund wohl auch gleich auftauchen wird? In seinen Nachrichten hat er ihn zwar nie erwähnt, aber nach unserem Gespräch, nach diesem „selbst wenn das so wäre“, glaube ich schon, dass er vergeben ist. Vielleicht ist es auch eine Frau? Wer weiß das schon so genau. Wir haben uns schließlich aus den Augen verloren. Vielleicht hat er mir auch nicht alles erzählt, so wie ich ihm einige Details verschwiegen habe. Tigris zum Beispiel.

 

Ich seufze und leere meine Whiskey-Cola-Mischung.

 

Meine Augen kleben an seiner Erscheinung, als hinge mein Leben vom Beobachten seiner Bewegungen ab. Die Musik wechselt – aber Bastian kennt auch dieses Lied. Er singt mit, schwingt die Arme in die Luft, hüpft ungeniert auf und ab. Beim nächsten, langsameren Lied tanzt er hingebungsvoll. Schließt die Augen, fährt sich mit seiner Zunge über die Lippen. Mädchen und Jungs werfen ihm verheißungsvolle Blicke zu. Auf manche geht er kurz ein, andere ignoriert er. Und schließlich blickt er mich an und zwinkert mir zu, nur um sich dann, bei einem harten Lied von Korn, mitten in die wildgewordene Masse zu stürzen.

 

Schweißgebadet lässt er sich dann neben mich plumpsen, ich will ihm gerade sagen, dass er unfassbar heiß aussieht, wenn er tanzt – so weit habe ich meinen Mut zusammengenommen – aber Bastian springt auf, als eine Gruppe von zwei Mädchen und drei Männern sich uns nähert. Er begrüßt sie enthusiastisch. Es ist so laut, dass ich ihre Namen nicht hören kann, nicht verstehe, wer sie sind, als sie sich vorstellen. Nur eines fällt mir sofort auf: Die Art und Weise wie er einen der dazu gestoßenen Männer begrüßt, wie er ihn innig umarmt, ihm einen Kuss auf die Wange drückt, wie sie sich angeregt laut in dieser noch lauteren Umgebung unterhalten und wie ihn dieser Mann beim Beginn des neuen Songs, einem Stück von Rage against the Machine, an den Händen auf die Tanzfläche zieht.

 

Mir wird schwindelig und einer der Altona-WG-Mitbewohner bellt mir noch ins Ohr: „Alles okay, Mann?“, da haben sich meine Beine schon in Bewegung gesetzt. Ich halte es nicht länger in diesem Raum aus, alles dreht sich, aber nicht, weil ich zu viel Alkohol gesoffen habe, oder zu viel geraucht hab. Der Anblick von Bastian und diesem… Mann… das ist zu viel für mich.

 

Eigentlich hatte ich mich mental darauf vorbereitet und mich damit abfinden wollen, dass Bastian und ich einfach nur noch Freunde sind.

 

Aber das reicht mir nicht.

 

Es ist laut auf dem Kiez. Ich lehne mich gegen die kalte Wand des Gebäudes und zünde mir eine Kippe an, schließe die Augen. Es ist schweinekalt und ich bin saufroh, dass ich noch geistesgegenwärtig meine Jacke geschnappt habe. Der Qualm in meinen Lungen beruhigt mich. Ich schnipse den Rest der Kippe weg und treffe damit fast Bastian, der gerade in seinen Parka schlüpft. Er ist allein, baut sich vor mir auf. Die Hände in den Taschen vergraben schaut er mich an.

 

„Alles okay?“, fragt er mich.

 

Und ich schüttele bitter lachend den Kopf und kämpfe gegen die Tränen an, die sich in meinen Augen zu formen beginnen. Seit wann bin ich eigentlich so eine Heulsuse?! „Nein“, unterstreiche ich noch verbal und zünde mir eine weitere Kippe an. Ich biete auch ihm eine Zigarette an, aber er schüttelt den Kopf.

 

„Was ist los? Hast du irgendwie ne schlimme Nachricht bekommen, oder warum bist du eben raus gerannt?“, hakt er nach und macht mit seiner milden Stimme eigentlich alles noch schlimmer. Es ist wohl auch nur eine Frage der Zeit, bis sein behinderter Freund hier auftaucht, mit dem er eben so abgegangen ist. Wie damals mit mir…

 

Ich ziehe unschön die Nase hoch und Bastian kommt mir noch näher, lehnt sich mit einer Hand nun gegen die Wand, damit wir besser sprechen können.

 

„Rede mit mir“, fordert er mich auf und ich kann einfach nur bitter lachen.

 

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll!“

 

„Vielleicht einfach das, was du gerade denkst?!“

 

„Seit wann bin ich dir Rechenschaft schuldig?“, zische ich und will mich für meine Art gerade eigentlich nur ohrfeigen.

 

„Seit ich all meine Freunde oben habe stehenlassen und wegen dir runtergekommen bin in die kalte Nacht?“, pfeffert er mir ins Gesicht und legt seine Hand auf meine Schulter, damit ich ihn ansehe und als ich ihn ansehe bricht es aus mir heraus:

 

„Ich wünschte, wir hätten nie Schluss gemacht…“, dann schließe ich die Augen, weil ich seinen Anblick nach meiner Äußerung sicherlich nicht ertragen kann.

 

Er sagt nichts und ich presse meine Zähne schmerzhaft aufeinander. „Sorry...“, murmele ich. „Ich will dich mit meinen Gefühlen nicht belasten, ich weiß, dass ich das verbockt habe und es kein Zurück mehr gibt. Ignorier mich einfach.“

 

„Nein“, kommt es bestimmt von Bastian, dann schnappt er plötzlich meine Hand und zieht mich über den Seitenarm des Kiez zu den Taxen, drängt mich in einen der Wagen und geht auf meine Fragen – was er da tut, wohin wir gehen und was mit seinen Freunden im Club ist – gar nicht ein. Er nennt dem Fahrer eine mir unbekannte Adresse und weil ich keine Antworten von ihm bekomme, beiße ich mir einfach auf die Zunge und starre aus dem Fenster.

 

Wir fahren in Richtung Norden, Barmbek oder Bramfeld, so recht weiß ich es nicht. Bastian zahlt und dann stapfen wir die Stufen eines 50er-Baus in den dritten Stock, wo Bastian eine Tür zu einer Wohnung öffnet, seiner Wohnung.

 

Er schweigt noch immer, macht die Lichter an, holt zwei Flaschen Cola aus dem Kühlschrank und nickt mir kurz zu, um mir klarzumachen, dass ich ihm folgen soll. Wir setzen uns auf eine einladende Eckcouch offenbar im Wohnzimmer. Er öffnet die Flaschen und nimmt einen Schluck. Dann starrt er mich an – und lacht.

 

„Du siehst aus wie ein panisches Kaninchen“, sagt er und auch mir gelingt es kurz zu lachen. Er mustert mich noch immer und ich kann mich keinen Zentimeter bewegen.

 

„…was machen wir hier?“, frage ich ihn schließlich fast im Flüsterton.

 

„Reden“, meint er nur gelassen und faltet die Hände ineinander.

 

„Und warum hier?“

 

„Weil ich es ziemlich unpersönlich finde auf dem Kiez.“

 

„…was ist… mit deinem Freund?“

 

„Freund? So boyfriend mäßig?“ Ich nicke. „Wenn du Nick meinst, mit dem ich getanzt habe, als du weggerannt bist – das ist nur ein sehr, sehr guter Freund von mir, mit dem ich ab und zu mal rummache.“

 

„…oh… hm… okay…“

 

„Müsste dir ja sehr bekannt vorkommen, das Konzept“, fügt er etwas spitz an und ich wende beschämt den Blick ab. Bastian seufzt. „Ach, kacke, das wollte ich nicht sagen. So. Neustart.“

 

Ich sehe ihn an und er lächelt. „Eigentlich müsste ich dich hassen“, sagt er. „Nach der Sache, die du mir angetan hast.“

 

„Ich weiß…“, flüstere ich heiser.

 

„Das Problem ist… dass das nicht so ist.“

 

Bumm, bumm, bumm – mein Herz dreht durch.

 

„Und jetzt weiß ich nicht mehr weiter, weil ich gerade echt nicht eloquent bin und ich nicht weiß, wie ich das sagen soll, sodass es sich nicht mega abgedroschen anhört“, meint er nach einer kurzen Pause.

 

Fragend – und hoffnungsvoll – blicke ich ihn an und er schüttelt irritiert den Kopf.

 

„Alter, ich krieg das grad echt nicht auf die Reihe. Nochmal – Neustart. Also…“, abermals blickt er mich an und dann scheint er plötzlich von dem eben gefassten Gedanken abzulassen. Dann sagt er irgendwie barsch: „Ach, scheiß drauf!“ – rutscht in meine Richtung, schlingt seine Arme um mich und zieht mich in den wohl intensivsten Kuss meines Lebens. Er schiebt seine Zunge in meinen Mund und beginnt mit meiner zu spielen, seine Hand fährt unter mein Shirt und streichelt meinen Rücken, während seine andere sich in meinem Nacken wiederfindet und mich dort irgendwie besitzergreifend packt. Er neckt mich, stupst mich mit seiner Zunge an, lässt unsere Lippen immer wieder aufeinandertreffen, bis ich ungehalten in seinen Mund stöhne.

 

Ich kann nicht glauben, dass das hier gerade geschieht und es erscheint mir weiterhin wie einer meiner Träume der vergangenen Tage, als ich ihn nach dem Kuss anblicke, sein Gesicht meinem immer noch so nahe, Spuren von meinem Speichel an seinem Mund. Vorsichtig fahre ich mit meinen Fingerkuppen über sein Gesicht und als ich über seine Lippen fahre, kräuselt er sie leicht, um meine Hand zu küssen.

 

Ich bin so geflasht von dem Ereignis, dass ich debil murmele: „Willst du mit mir gehen?“

 

Bastian prustet los und ich stimme ein in diesen Lachanfall. Dann werde ich aber nervös. Lacht er mich gerade aus, weil ich das so blöd formuliert habe – oder weil ich mir Chancen ausrechne und er… einfach nur Sex will? Bastian scheint meine Unruhe aufgefallen zu sein, er fängt sich wieder, drückt mir einen hastigen Kuss auf die Lippen und haucht gegen sie: „Ja.“

 

Ein Damm bricht und ich klammere mich an ihn, drücke ihn fest an mich, bis er unter Lachen herausbringt: „Vik, du erwürgst mich.“

 

„Sorry“, stammele ich und schaue ihm in die Augen.

 

„Du drehst keine dieser komischen Videos mehr, oder?“

 

„Nein, mach ich nicht“, versichere ich ihm. „Nur noch du. Ohne Kamera.“

 

„Klingt gut“, sagt er kuschelt sich an mich.

 

Wir knutschen wie zwei Teenager. Wild und irgendwie verzweifelt. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie scheiße glücklich ich eigentlich bin. Erst recht nicht als Bastian plötzlich gluckst und mir ins Ohr wispert: „Ich weiß, gerade erst zusammengekommen, erstes richtiges Date und so… aber… wollten wir nicht trotzdem in mein Bett gehen und ganz versaute Dinge miteinander anstellen?“

 

„Scheiße, ja!“, rufe ich beinahe schon laut aus und löse mich aus seiner Umarmung, nur um ihn dann in sein Schlafzimmer zu schieben. Ein wenig enttäuscht bin ich ja schon, dass er sein quietschendes IKEA-Bett ausgemustert hat, aber das kleine Boxspringbett tut es auch; tut es sogar besser.

 

Wir wälzen uns darin, ziehen den anderen aus und als Bastian mein kleines Piercing da unten entdeckt, rastet er vollkommen aus.

 

„Das ist ja mega-heiß!“, stößt er aus – und dann zeigt er mir seine Begeisterung mit ganz bestimmten Taten… und es ist um so vieles intensiver als es jemals mit Tigris gewesen ist…

 

Erschöpft liegen wir danach neben einander und starren die Decke an. Es ist wie damals. Nein. Eigentlich noch viel schöner. Denn es ist meine erste richtige Beziehung und ich muss mir eingestehen: Monogamie rockt total!

 

Bastian und ich verbringen viel Zeit miteinander. Oft holt er mich nach der Arbeit ab. Wir gehen ins Kino, feiern, shoppen, haben verdammt viel Sex. Wir kochen zusammen, dann aber eher bei ihm, denn er besitzt schließlich die größere Wohnung - und er ist wirklich ein Meisterkoch geworden. Selbst seine komische Pizza aus irgendwelchen Mehlen, die mir bis dahin gar nicht bekannt gewesen sind, schmeckt fantastisch. Manchmal lädt sich sogar Vanessa mit ihrem neuen Freund Damian selbst zum Dinner bei Bastian ein, auch sie findet ihn total toll. Meiner Mutter und Anna-Maria geht es genauso. Wann immer ich mit den beiden spreche, sagen sie mir ich solle „den süßen Basti“ doch von ihnen grüßen.

 

Den in der Tat süßen Basti lädt Frau Zetel letztendlich dann auch zum Weihnachtsfest ein – das auch in diesem Jahr ohne Richard stattfindet.

 

Ein wenig Bammel habe ich ja schon.

Obwohl Bastian und ich jetzt schon echt viele Monate zusammen sind, hat mein Vater ihn noch nicht kennengelernt. Das hat sich einfach nicht ergeben. Und: er hat noch immer mit seiner Akzeptanz zu kämpfen.

 

„Da muss er durch“, sagt Anna-Maria schroff am Telefon, als ich meine Bedenken äußere und ich könnte sie knutschen für ihre Aussage. Also – nicht wirklich; die eigene Stiefmutter abzuschlabbern ist schon irgendwie eine perverse, eigentlich eher ekelhafte Vorstellung.

 

An Heiligabend checke ich mein Outfit tausendfach und Bastian schiebt mich irgendwann regelrecht aus dem Flur, damit ich nicht mehr in den Spiegel glotzen kann. „Du siehst heiß aus. Nicht vulgär heiß, ansehnlich, in Ordnung, ganz schick, okay?“, witzelt er und ich versuche zu lachen, was allerdings in einem nervösen Krächzen endet. Er küsst mich und für diesen kurzen Moment setzt mein Hirn dann auch tatsächlich mal aus; wofür ich extrem dankbar bin.

 

„Das wird schon, ok?“, spricht er ruhig auf mich ein.

 

„Wenn Karl irgendetwas Dummes sagt, gehen wir!“, bestimme ich gereizt.

 

„Dein Vater wird schon nix Dummes sagen“, meint er kopfschüttelnd und hält mir meine Jacke hin. „Ich bin gut erzogen, sehe super aus, bin gebildet, fahre einen Volkswagen, kann mich über Politik unterhalten und bin ein guter Zuhörer. Mich kann man nur gut finden. Selbst wenn ich den Sohn bumse.“

 

„Idiot…“, murmele ich grinsend, während mein Freund mich auch schon aus der Wohnung schiebt, um meinen Arsch ins Elternhaus zu kutschieren.

 

Vanessa öffnet uns die Tür, umarmt uns. Anna-Maria eilt herbei, begrüßt uns ebenfalls freudig. Es riecht ganz wunderbar im ganzen Haus. Die weihnachtliche Tanne ist bunt geschmückt, es brennen rote Kerzen im Raum, der Esstisch ist prachtvoll gedeckt. Und dann steht uns plötzlich Karl gegenüber. Ich schlucke.

 

Er umarmt mich kurz, klopft mir auf die Schulter – dann schaut er Bastian an.

 

„Guten Abend“, grüßt mein Freund in freundlich, der ein dunkelrotes Hemd und eine teure schwarze Jeans trägt und einfach unfassbar gut aussieht heut. „Viktor hat mir schon viel von Ihnen erzählt; schön, dass wir uns endlich kennenlernen.“ Mein Vater ergreift die ihm ausgestreckte Hand und schüttelt sie; ein fester Handschlag. Fast schon zu förmlich, aber immerhin.

 

„Ja, guten Abend“, entgegnet er, „schön, dass Sie da sind.“

 

„Und weil wir Weihnachten in familiärer Atmosphäre feiern wollen, vergesst ihr beide das Sie und geht über zum Du“, bestimmt Anna-Maria im Vorbeigehen und meint noch salopp: „Karl – Bastian, Bastian – Karl. Jetzt kennt ihr euch.“

 

Ich muss mir ein Lachen verkneifen.

 

Nach nettem Smalltalk, an dem Karl sich jetzt nicht wirklich beteiligt, sondern lieber an seinem Rotwein nippt, und nachdem auch noch Vanessas Liebster dazugestoßen ist, setzen wir uns gemeinsam an den Tisch. Die gebratene Gans ist Anna-Maria wirklich sehr gelungen. Bastian und Damian loben sie in hohen Tönen und der Kopf meiner Stiefmutter ist ganz rot.

 

Während wir immer mehr in uns reinschaufeln und mehr Rotwein in uns kippen, taut auch langsam Karl auf. Er stellt Bastian Fragen, was er denn so macht, woher er kommt und mein Freund beantwortet alles freudig. Letztendlich reden sie tatsächlich angeregt über Politik. Und als wir nach dem Essen dann noch eine Runde Monopoly spielen, da geht Karl richtig ab. Lacht laut, schaut Bastian mittlerweile ohne irgendwelche Zurückhaltung in die Augen, macht Witze.

 

Ich bin begeistert. Und überrascht. Anna-Maria zwinkert mir in einem Moment zufrieden zu und ich erwidere das mit einem Lächeln.

 

Ja, als ich die lachende Runde hier so betrachte, kann ich meinen Augen wirklich kaum trauen. Ich hätte nie erwartet, Weihnachten mal so… entspannt zu verbringen. So… nett. Ich habe wirklich Spaß.

 

Vanessa dreht die Anlage auf und zwingt alle zum Karaoke singen. Es ist zum schießen. Als meine Schwester gerade mit Bastian Felicita zum Besten gibt, schleiche ich mich kurz nach Draußen. Es ist kalt, Eiskristalle benetzen den Terrassenboden. Als ich mir eine Zigarette anstecke, kommt Karl plötzlich dazu, ebenso in seine dicke Jacke gehüllt. Sein Atem erzeugt eine weiße Wolke.

 

„Na“, ziehe ich ihn auf, „willste auch ne Kippe?“

 

Karl überrascht mich ein weiteres Mal, denn er zuckt mit den Schultern und sagt: „Warum nicht?“

 

Es ist seltsam ihn mit einer Zigarette zu sehen, aber irgendwie hat es auch etwas beruhigendes stillschweigend in dieser kalten Nacht den wolkenfreien Himmel, die Sterne zu betrachten und gemeinsam zu rauchen.

 

„Der Bastian“, setzt Karl an und stößt den Rauch aus seinen Lungen, „das ist ein Netter.“

 

Ich lächel und sage leise: „Ich weiß“.

 

Dann schweigen wir wieder.

 

Und bevor ich den letzten Zug meine Kippe nehmen kann, legt mein Vater seine schwere Hand auf meine Schulter, sieht mir in die Augen, lächelt und sagt:

 

„Ich bin stolz auf dich.“

 

 

ENDE



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  z1ck3
2017-10-17T10:31:13+00:00 17.10.2017 12:31
Also...wow! Danke für diese Geschichte!
Ich habe sie regelrecht verschlungen und das obwohl ich Viktor am Anfang richtig scheiße fand, halt so typisch verwöhnten Hör! Es passiert nicht oft, dass ich Geschichten lesen kann bei denen ich den Protagonisten nicht leiden kann. Aber dein Schreibstil ist Wahnsinn. Und ich hab genau wie Viktor erst kapiert dass er eigentlich nur ein verletztes Kind ist als Richard es ihm vor den Kopf geknallt hat. Die Wendunen haben mich echt immer wieder überrascht weil sie immer komplett das Gegenteil vom erwarteten bewirkt haben. Echt super!
Das Viktor sich seinen Eltern wieder annähern konnte, finde ich stark, ich hätte das nicht so gekonnt.
Und das Happy end ist wunderschön!
Du schreibst so mitreißend und toll, es ist eine wahre Freude 😀 ich hoffe ganz dolle dass du noch mehr so tolle Dinge fabrizierst! (Zum Beispiel Whiskey und Schokolade zu Ende schreibst *Hundeblick aufsetzt*, sorry will nicht nerven aber ich liiiiebe die Geschichte!!!!!)

Achso und krass das jemand deine Sachen geklaut hat! Wer macht denn sowas und wieso???? Tut mir total leid, und ich freue mich ,dass es dir nicht die Freude am schreiben genommen hat!

Ganz ganz liebe Grüße
Z1CK3!
Antwort von:  z1ck3
17.10.2017 12:32
Das sollte verwöhntes Gör heißen. Und bitte entschuldige meine nicht vorhandene Kommasetzung 😅
Von:  niki28
2015-05-03T09:41:57+00:00 03.05.2015 11:41
Huhu

Eine ganz super toll geschrieben ff, mir hat es super gefahllen aber am anfang war ich überzeugt das die zwei am ende zusammenkommen aber am ende hat er doch Bastian genommen und sich won seinen lehrer getrennt, gut geschrieben und ich habe eine ganze kapitel verweint als karl ihm aus dem haus geworfent hat ich fand das so traurig, zum glück ist am ende alles doch noch gut geworden!

Gruß


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