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Stumme Sehnsucht

von

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Das helle Licht der Mittagssonne fiel durch die staubblinden Fenstergläser auf die abgenutzte Tischplatte und malte Schattenkringel auf die unzähligen Blätter vor Oscar. Mit einem langgezogenen Seufzer ordnete sie die Schriftstücke. Es war erstaunlich, wie viele Theoretiker, Philosophen, Analytiker und Wirtschaftstheoretiker aus der Nichts aufgetaucht waren und ihren Beitrag zu einem besseren, neuen Frankreich leisten wollten. Sie schüttelte ihre verkrampfte Hand aus, bevor sie die Feder erneut in das Tintenfass tauchte und zum Schreiben ansetzte. Verblüfft hielt Oscar inne. Geschrei und erboste Schreie hallten zu ihr, in das kleine Zimmer und sie kamen nicht nur aus dem Gebäude. Sie kamen von draußen. Sie kamen nicht aus einzelnen Kehlen, sondern aus Hunderten von Kehlen. Sie glichen dem wütenden Brüllen eines riesigen Tieres. Rasch schob sie ihren Stuhl beiseite und lief zum Fenster. Auf dem Place du Parivis hatte sich eine entschlossene Menschenmenge zusammen gefunden. Zum größten Teil aus Frauen bestehend, reckten die Menschen ihre Fäuste erbost dem Himmel entgegen. Viele waren mit Stöcken bewaffnet, ein nicht unerheblicher Teil mit Waffen. Begann ein zweiter Sturm auf die Bastille?

Hinter Oscar schlug die Tür hart auf. Mit einem aggressiven Fauchen schlürfte Madam Merman in das Zimmer. Ihre Augen sprühten Blitze.

"Diese verdammten Bastarde!"

"Wer?" Oscar sah sie fragend an. Madam Merman's Zähne knirschten vor Wut.

"Die Offiziere der königlichen Leibwache. Diese Mistkerle sollen auf einem Bankett unsere Trikolore mit den Füßen zertreten haben. Unsere Trikolore! Unser Symbol der Revolution! Das werden sie bezahlen."

"Was habt ihr vor?"

Sie schwenkte ihren Krückstock triumphierend. "Die Marktfrauen aus den Hallenvierteln haben sich zusammengetan. Und nicht nur sie, es werden von Minute zu Minute mehr. Dieser Tag ... welchen Tag haben wir derzeit?"

"Es ist der 5. Oktober."

Sie nickte. In ihren Augen stand ein beängstigendes Feuer. "Dieser Tag wird ebenfalls in die Geschichte eingehen. Wir ziehen nach Versailles!"

Oscar erbleichte. Nach Versailles? Marie Antoinette? Sie zogen gegen den König und die Königin. Sie überlegte. Ab wann hatte sich das Volk abgewendet? Ab wann war der Hass des 3. Standes übermächtig geworden? Wo hätte sie die Königin besser warnen, mehr auf sie einreden können? War sie zu sorglos gewesen?

"Francoise?" Oscar schreckte aus der Vergangenheit hoch.

" Was ist mit dir? Befehlige deine Soldaten um uns zu helfen!"

"Unter meinen Befehl steht niemand mehr, Madam Merman."

"Verstehe!" Die Revolutionärin sah grimmig zu ihr auf, drehte sich um und prallte beinahe gegen Rosalie. Der Brustkorb der jungen Frau hob und senkte sich. Sie schien gerannt zu sein.

"Die kleine Madame Chatelet. Kommt, wir ziehen gegen Versailles! Jetzt zwingen wir die Königin in die Knie. Wir haben lange genug wegen ihrer Verschwendungssucht gehungert."

"Nein, Madam Merman, ich bleibe lieber hier." Rosalies Blick suchte hilflos Oscars Augen.

"Dann eben nicht." Wütend stieß sie die Alte beiseite und verschwand.

Oscar bewegte sich auf die Tür zu.

"NEIN!" Rosalie versuchte mit ihrem Körper die Öffnung zu versperren. "Nein, bitte Oscar, tut es nicht!"

"Geh aus dem Weg Rosalie!" Oscar sah streng auf sie nieder.

"Lady Oscar, Ihr könnt nicht zu der Königin, um sie zu warnen. Es ist zu spät!"

"Glaubst du wirklich, du könntest mich aufhalten, indem du die Tür versperrst?"

"Es ist zu spät," wiederholte Rosalie bittend. "Die Ereignisse lassen sich nicht mehr aufhalten. Bleibt hier! Ihr kämpft jetzt auf unserer Seite. Habt Ihr das vergessen?"

Oscar sah sie lange und schweigend an. Die aufgebrachten Frauen hatten schon längst den Platz geräumt und bewegten sich, wie ein riesiger Tausendfüßler in Richtung Schloss.

"Komm mit!" Oscars Kleid raschelte leise, als sie Rosalie mühelos beiseite schob.

"Aber Lady Oscar? Was habt Ihr vor?"

"Das Haus ist menschenleer. Alle haben es verlassen, um sich den Marktfrauen anzuschließen. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, um etwas über Andrés Verbleib herauszufinden."

"Wollt Ihr das Haus durchsuchen?" Rosalie beeilte sich, ihr zu folgen.

"Ja, irgendwo muss ich schließlich anfangen."
 

"Oh, nein. Wo wollt Ihr nun hin?" Rosalie trat verzagt von einem Bein auf das Andere.

"Wir habe in diesen Räumlichkeiten keine Dokumente gefunden, die uns weiterhelfen könnten." Oscar öffnete vorsichtig die Vordertür und sah sich um. Niemand war weit und breit zu sehen. Die Sonne wanderte nach Nordwesten und spiegelte sich in den bunten Glasfenstern der Kathedrale. Entschlossen trat sie auf die Straße und überquerte den Platz mit weit ausholenden Schritten.

"Bernard sagte, dass sich Robespierre oft in Notre Dame aufhält. Wir werden dort weitersuchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nirgendwo Aufzeichnungen existieren sollen. Robespierre hat das Studium zum Anwalt absolviert. Es würde gegen die Prinzipien eines Advokaten verstoßen, nichts schriftlich nieder zu halten."

"Nein, betretet nicht Notre Dame, Lady Oscar!" Hilflos lief Rosalie hinter ihr her.

"Was soll den schon passieren, Rosalie? Ich gehe in eine Kirche."

"Vielleicht dasselbe, was passiert ist, als Ihr damals das Palais Royale aufsuchtet, um den schwarzen Ritter zu suchen. Wollt Ihr wieder gefangen genommen werden?"

"Du gehst zu weit, Rosalie ...," Oscar stemmte sich gegen das schwere Holztor der alten Kathedrale. Langsam bewegten sich eins der mächtigen Torflügel und beide Frauen konnten in das dunkle Innere der Kathedrale schlüpfen. Hohe Kerzen erhellten das Altarbild am Ende des Kreuzganges. Ihre Schritte hallten hohl auf den blanken Fliesen, als sie die Betstühle entlang zum hinteren Teil des Kirchenschiffes eilten. Sie umrundeten den Altar und bogen zur rechten Seite ab, bis sie zu einer Tür kamen. Zu ihrem Unglück war sie verschlossen. Auch auf der anderen Seite, waren alle Durchgänge verriegelt. Oscar erwog, ob sie die Tür einfach mit Gewalt öffnen sollte, aber das dicke Eichenholz mit den großen Eisenbeschlägen wirkte einfach zu mächtig, um unter ihren Tritt nachzugeben. Verbittert lehnte sie sich gegen das kühle Holz.

"Ach André, wo bist du?" Ihre Stimme warf ein trauriges Echo zurück, voll Bitterkeit und Schmerz. Wütend schlug sie mit der geballten Faust auf das Holzblatt ein. Tränen rannen ihre Wangen hinunter.

"Wir hätten so glücklich werden können, Rosalie. Es ist meine Schuld. Ich hätte seine Liebe früher erkennen müssen." Rosalie umfasste sanft ihren Arm.

"Kommt nach Hause, Lady Oscar! Bernard wartet schon. Gebt Eure Hoffnung nicht auf!" Mit einem Seufzer ließ sie sich von Rosalie nach draußen führen.

Sie verließen die Île de la cité über die Pont Neuf. Unter ihnen floss das dunkel die Seine. Das goldene Licht der Sonnenstrahlen tanzte über dem Wasser. Schon hörten sie das ferne Geschrei von vielen Menschen. Am Place de l'Ecole kamen Rosalie und Oscar zum Stehen. Über die Quai de la Mégisserie sahen sie die Massen kommen. Menschen über Menschen umringten eine Kutsche. Eine erschreckend kleine Zahl von Gardeoffizieren versuchte ohne Erfolg die Bevölkerung von der prächtigen Karosse fern zu halten. Die Menschen jodelten und pfiffen. Männer schwenkten ihre Hüte mit der Trikolore. Vorwitzige Jungen tauchten unter den riesigen Pferdeleibern hindurch und klopften voll Übermut an die Kutschentür. Der Pöbel schien zu tanzen.

"Was haben sie vor?" fragte Oscar.

"Sie wollen, dass der König und die Königin wieder in Paris residieren," antwortete Rosalie, und gab die öffentliche Meinung des 3. Standes wieder. Oscar schüttelte fassungslos den Kopf. "Versailles konnte dem Königspaar vor diesen Menschenmassen keinen Schutz bieten. Es ist nicht befestigt, wie die Bastille." Laut, wild und stürmisch eskortierte die Pariser Bevölkerung ihren König in SEIN Paris. Ab jetzt würde die königliche Familie die Tuilerien bewohnen.
 

Die hohen Räder der königlichen Kutsche ratterte gleichmäßig über das Pflaster der breiten Allee. Unebenheiten wurden von der Federung und der dicken Polsterung der Sitzbänke gedämpft. Neben ihnen floss die Seine entlang. Während die Menge draußen mitlief und laut "Nach Paris, nach Paris" sangen, drückte sich Marie Antoinette tiefer ins Polster. Sie hatte sich vor dem Ansturm des Volkes gebeugt. Ihr Herz brannte vor Schmach. Nie würde sie ihnen dies verzeihen, nie das Ende der Herrschaft der Bourbonen akzeptieren. Ihre Kinder kuschelten sich in die warme Umarmung ihrer königlichen Mutter. Der König versuchte angespannt zu lächeln. Seit Stunden hatte sich sein Gesichtsausdruck nicht mehr geändert. Ab und zu gewährte er dem Pöbel einen hoheitsvollen Handwink. Die Königin unternahm keinen Versuch, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Die Menge wollte ihr Lächeln nicht sehen. Die Eröffnung der 3 Ständekammer, als sie die Abgeordneten mit kalter Verachtung begrüßten, das Eindringen in Versailles um sie, die Königin anzugreifen, zeigten ihr, wie tief sie in der Gunst ihres Völkes gesunken war. Marie Antoinette litt mit Würde und Anmut, aber ein Lächeln bekamen sie nicht. Sie hatten die Tuilerien, ihr zukünftiges Heim fast erreicht. Die Königin sah aus dem Fenster, ohne die Menge zu beachten. Ihr Blick glitt zu den unzähligen Dächern und Kirchturmspitzen von Paris. Entlang der Seine zogen sich Bäume mit rotgoldenen Kronen und dem letzten Grün des vergangen Sommers. Der Horizont nahm langsam die Farbe der frühen Abenddämmerung an. Die Kutsche kam zum Place de l'Ecole. Die Sonne warf ihre letzte Strahlen auf die Gestalt, welche am Fuße der Pont Neuf stand. Der gelbe Schein vermischte sich mit dem blonden Haar, der hochgewachsenen Frau.

"Oscar?" Marie Antoinette sah ein letztes Mal in die unverkennbaren blauen Augen, dann verschluckte die Menge ihre einstige Freundin. Sekunden später schon zerrte die Ungewissheit an ihr, wer die Gestalt wirklich war.
 

***



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