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Teach me how to love again

von

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Was zum Teufel tat er da? Er saß wirklich auf der Toilette des Flugzeuges und zögerte, sich diese verdammte Spritze zu verabreichen, welche diese unzähligen Stimmen aus seinem Kopf verhalten würde und es ihm erlaubte zu laufen. Und warum das Ganze? Nur weil Erik wieder hier war, weil er in die Gedanken des anderen eindringen wollte, sich wieder geborgen fühlen wollte? Charles schüttelte den Kopf. Er zog das Gummiband um seinen Oberarm fester, fast schon zu fest und stach sich die Nadel in seiner Armbeuge. Im ersten Moment spürte er einen brennenden Schmerz, als das Serum durch seine Adern schoss, doch als dieser verschwunden war, ging es ihm um etliches besser. Blieb nur noch die Tatsache, dass seine Wut immer noch in seinen Adern kochte.

Nach zehn Jahren, war nicht ein Wort der Entschuldigung über Eriks Lippen gekommen. Nicht ein es tut mir leid oder ich wollte das nicht. Nicht einmal ein Sorry, geschweige denn ein kannst du mir verzeihen. Gut, zugegeben Letzteres erwartete Charles auch nicht von ihm zu hören. Aber wenigstens eine Entschuldigung konnte er doch erwarten, oder? Erneut schüttelte er den Kopf.

„Du redest hier über Erik, denk daran. Diese Entschuldigung wirst du nie hören, genauso wenig wie die Worte, welche er auf Kuba gedacht hat, nachdem er dich angeschossen hat“, dachte Charles und die Worte kamen ihm wieder in den Sinn.

Erik hatte sie nicht laut ausgesprochen und doch waren sie für Charles, dank seiner Gabe, zu hören gewesen. In dem Moment, in dem Erik die Kugel aus seinem Rücken geholt und ihn auf seinen Knien gebettet hatte, blitzte der Gedanken in seinem Geist auf, obwohl dieser Shaws Helm getragen hatte.

„Ich will ihn nicht verlieren, er ist alles für mich. Bitte, er darf nicht sterben. ICH LIEBE IHN!“

Charles war geschockt gewesen, denn auch er empfand diese Gefühle für Erik. Aber er hatte keine Zeit mehr es ihm zu sagen. Im Nachhinein wäre vielleicht einiges anders gekommen, wenn er es getan hätte. Vielleicht hätte Erik dann anders reagiert, andere Entscheidungen getroffen.

„Hör auf die Schuld bei dir zu suchen. Du bist nicht für ihn verantwortlich!“, rief er sich in Erinnerung.

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken ließ er die Spritze fallen, welche klappernd auf dem Boden landete. Bevor er etwas sagte hob er sie auf und warf sie in den Mülleimer.

„Was ist?“, fragte Charles gereizt.

„Brauchst du noch länger da drin? Andre müssten auch mal“, drang Logans Stimme durch die Tür.

Charles stand auf, öffnete die Tür und schob sich an Logan vorbei, ohne etwas zu sagen. Dieser sah ihm kurz nach und verschwand dann auf die Toilette.

Der Telepath sah sich etwas unsicher im Raum um. Er wollte sich nicht wieder zu Erik setzten, aber sehr viel andere Möglichkeiten hatte er nicht. Dann würde er sich eben ins Cockpit zu Hank setzten. Es waren nur noch zwei Schritte bis zum Cockpit, als Logan an ihm vorbei lief und darin verschwand. Die Tür schloss er hinter sich und nachdem Charles zwei Mal versucht hatte, sie wieder zu öffnen, ohne dass es ihm gelang, ließ er sich auf einen der bequemen Sitze fallen, natürlich so weit wie möglich weg von Erik. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah aus dem Fenster.

„Jetzt wäre deine Gabe nützlich, oder? Dann könntest du Logan zwingen die Tür zu öffnen und dich noch weiter von mir zurückziehen, wie du es jetzt schon getan hast“, meinte Erik, ohne ihn anzusehen.

War da so etwas wie Vorwurf in seiner Stimme zu hören? Warf Erik ihm wirklich gerade vor, sich von ihm distanziert zu haben? Charles holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Mit einem Ruck wandte er sich Erik zu, der auf den Tisch vor sich starrte.

„Ich habe mich also von dir zurückgezogen? Glaubst du das, ja?!“, brüllte Charles. „Du warst es doch, der diesen scheiß Helm aufgezogen hat und verschwunden ist, als ich dich am dringendsten gebraucht habe! Du bist einfach verschwunden und hast dich nicht mehr gemeldet! Weißt du wie es ist, nachts wach zu liegen und auf die Stimme einer Person zu warten, die dir alles bedeutet?“

„Ich habe darauf gewartet, dich zu hören.“

„Am anderen Ende der Welt? Meine telepathischen Kräfte mögen vielleicht weit gereicht haben. Aber so weit auch wieder nicht. Noch nicht einmal mit Cerebro habe ich dich gefunden und wenn, dann hast du diesen Helm aufgezogen, damit ich keinen Kontakt zu dir aufnehmen konnte.“

Charles war nicht blöd. Er ließ sich nicht gerne verarschen, vor allem nicht von Erik…nicht mehr. Er hatte oft versucht Erik zu finden, schon aus Verzweiflung, weil er nicht wusste wie er mit seinen Schmerzen umgehen sollte. Aber er hatte immer nur die Leere gespürt, die von dem Punkt ausging, an dem sein Freund sich gerade aufgehalten hatte. Denn anders, als Hank oder die anderen geglaubt haben, konnte er Erik ausfindig machen, wenn dieser den Helm trug. Er spürte nur nicht dessen Geist, sondern eine fast schon unheimliche Stille.

„Verdammt ich habe geglaubt, dass dieser eine Gedanken von dir, am Strand, echt war. Aber ich hab eingesehen, dass das nicht so ist. Du brauchst dir also keine Mühe zu geben, mich umstimmen zu wollen. Ich will ehrlich gesagt nichts mehr von dir wissen.“

Erik sah ihn verwirrt an. Er wusste nicht, welchen Gedanken Charles meinte. Er konnte sich nicht erinnern, was er gedacht hatte. Immerhin war es schon zehn Jahre her. Außerdem, wie hätte Charles wissen sollen, was er gedacht hatte, er hatte schließlich Shaws Helm getragen. Oder war der Gedanke vielleicht so stark gewesen, dass der Helm ihn nicht abschirmen konnte? Da viel es Erik wie Schuppen von den Augen. Er erinnerte sich an einen Gedanken, den er voller Verzweiflung gedacht hatte.

„Ich will ihn nicht verlieren, er ist alles für mich. Bitte, er darf nicht sterben. ICH LIEBE IHN!“

Erik starrte Charles an. Das hatte er wirklich gehört. Aber warum hatte er ihm das nicht gesagt? Er hatte die ganze Zeit über gedacht Charles wüsste nicht, was er für ihn empfand und jetzt, in dieser beschiessenen Situation, sagte er ihm, dass er es doch wusste. Jetzt kochte die Wut auch in Erik hoch, die bis eben nur von Charles ausgegangen war. Er erinnerte sich genau an die Situation auf Kuba. Er hatte Charles auf seinen Knien gebettet und ihn voller Verzweiflung angesehen. Er konnte ihm nicht gesagt, was er für ihn empfand, nicht in dieser Situation, nicht so offen. Anstatt ihm also zu sagen, dass er ihn liebte, sagte er:

„Ich möchte dich an meiner Seite wissen. Wir sind Brüder du und ich. Wir wollen das Selbe.“

Seine Antwort darauf war gewesen:

„Oh, mein Freund, tut mir leid. Aber das wollen wir nicht.“

Damit war die Sache für ihn erledigt gewesen. Er hatte sich nicht weiter eingebildet, dass Charles an seiner Seite bleiben wollte und mit dieser Erkenntnis war er dann auch gegangen.

Jetzt stand Erik auf und sah Charles finster an. Er verstand, warum er wütend war. Er hatte sich nicht gemeldet, war nicht zurückgekommen und das, obwohl Charles ihn gebraucht hätte. Aber dieser hatte ihm auch keinen Anlass gegeben wieder zu ihm zurückzugehen. Er hatte ihn abgewiesen und genau das schien Charles jetzt umzudrehen und ihm vorzuwerfen.

„Warum hast du nichts gesagt? Ich wäre geblieben, wenn du mir nur gesagt hättest, dass du es weißt“, meinte er, in bemüht ruhigem Ton.

„Du hast doch auch nichts gesagt!“

„Weil du meintest das wir nicht das gleiche wollen! Du hast mich doch abgewiesen.“

Charles sah zu ihm hoch und schüttelte entschieden den Kopf.

„Wir wollen auch nicht dasselbe. Ich will die Menschheit nicht vernichten!“

„Diese Worte waren nicht darauf bezogen“, meinte Erik und leichte Enttäuschung machte sich in ihm breit, weil Charles das nicht begriffen hatte. „Ich dachte du wüsstest das.“

Charles schnaubte.

„Du hast ja nie etwas gesagt und ich hatte dir versprochen nicht in deinen Kopf einzudringen. Also woher verdammt noch mal hätte ich es wissen sollen?!“

Erik setzte zu einer Erwiderung an, doch Charles ließ ihm keine Zeit dazu. Er wollte seine Ausreden nicht mehr hören, wollte ihn nicht mehr sehen. Aber am allerwenigsten wollte er, dass seine Gefühle wieder hochkamen und ihn in Eriks Arme trieben. Er wusste jetzt ja immerhin, wozu das führte. Noch einmal alleine gelassen zu werden ertrug er nicht, also blieb er lieber gleich alleine. Bevor Erik also etwas sagen konnte, war Charles schon aufgesprungen und wieder auf die Toilette gestürmt, wo er sich für den Rest des Fluges einschloss. Er wusste, dass das kindisch war, aber es war ihm egal. Lieber war er kindisch, als noch einmal so verletzt zu werden.

Charles war wirklich den gesamten Flug über nicht von der Toilette gekommen. Erik nahm ihm das schon etwas übel. Er hätte sich gerne mit seinem alten Freund ausgesprochen. Wann hatte Charles angefangen Problemen aus dem Weg zu gehen, anstatt sie zu lösen? War das alles nur seine Schuld? Wäre es anders gekommen, wenn er ihm, damals am Strand, gesagt hätte, was er empfand? Aber er war sich ja jetzt noch nicht sicher, ob Charles das Gleiche für ihn empfand, vor allem nachdem was er im Jet gesagt hatte. Was wenn Erik sich mit seinem Verschwinden jede Chance auf ein gemeinsames Leben verbaut hatte? Das konnte er nicht hinnehmen. Er brauchte Charles, dringend. Denn wer sollte ihn sonst aufhalten, wenn er mal wieder über die Stränge schlug? In seinem Gefängnis unter dem Pentagon hatte sich viel Wut in ihm angesammelt und wenn er dieser freien Lauf ließ, würde es kein gutes Ende nehmen…nicht für die Menschen. Charles war der Einzige, der ihn aufzuhalten vermochte. Aber um ihm das zu sagen, musste er ihn erst einmal finden.

Erik lief schon seit knapp einer halben Stunde durch Charles Villa und suchte ihn. Er war nirgends zu finden. Dafür fand Erik sich selbst in Erinnerungen wieder. Als er das letzte Mal in diesem Gebäude gewesen war, hatten sie trainiert und sich auf Kuba vorbereitet. An Plätzen, wo sie gemeinsam trainiert hatten, blieb er stehen und ließ die Erinnerung daran seine Gedanken durchfluten. Es tat gut, an diese wenigen Tage im Licht zu denken.

Ein Lachen kam über seine Lippen, als er sich aus einem Fenster im ersten Stock lehnte und nach links sah. Hier hatten sie Banshees Fluganzug zum ersten Mal getestet und er war kläglich abgestürzt, mit dem lustigsten Schrei aller Zeiten auf den Lippen. Erik sah die ganze Szene vor sich, als würde sie gerade passieren. Er hörte die anderen lachen und Banshee fluchen, als er sich aus dem Gestrüpp unterhalb des Fensters kämpfte.

Dann führte ihn sein Weg nach draußen und obwohl er versuchte, diesen Platz zu meiden, gingen seine Füße schon fast von alleine dort hin. Es war die große Terrasse, der gegenüber eine riesige Satelitenschüssel stand. Eine weitere Erinnerung durchflutete ihn und trieb ihm die Tränen in die Augen. Ob Charles wusste, was er an diesem Tag für ihn getan hatte? Bevor er nämlich in seinen Geist eingedrungen und ihm die Erinnerung an seine Mutter gezeigt hatte, war Erik der festen Überzeugung gewesen das Klaus Schmidt ihm alle diese Erinnerungen genommen hatte. Er war Charles so unendlich dankbar gewesen, weil er ihm gezeigt hatte, dass er sich doch noch an seine Mutter erinnern konnte.

Wenn Erik sich richtig erinnerte, war es auch dieser Moment gewesen, der ihm gezeigt hatte, wie viel Charles ihm bedeutete, der ihm gezeigt hatte, dass er diesen Telepath über alles liebte. Warum hatte er ihm nie seine Gefühle gestanden? Wahrscheinlich wäre dann alles anders gekommen und Charles würde ihn jetzt nicht als Feind ansehen. Mit einem sichtlichen Ruck wandte Erik sich wieder zum Haus um. Es gab einen Raum, in dem er noch nicht gesucht hatte.

Schnell lief er die Flure der Villa entlang und rannte schon fast die Treppen hinunter. Er wusste, wo Hank Cerebro untergebracht hatte. Keine zehn Minuten später stand er vor der verschlossenen Tür Cerebros und holte tief Luft. Irgendetwas sagte ihm, dass er Charles darin finden würde. Aber um reinzukommen musste er erste einmal die Tür aufbekommen. Zum Glück hatte Hank einen Notfallknopf eingebaut, mit dem man die Tür auch ohne Gesichts- oder Augenscan öffnen konnte. Erik betätigte ihn und betrat die Metallkugel. Enttäuschung machte sich in ihm breit, als er Charles nicht entdeckte. Doch als der den Steg betrat, welcher in Cerebros Mitte ragte, sah er eine Gestalt an dessen Ende auf dem Boden sitzen.

Charles hatte sich mit dem Rücken gegen den Kontrolltisch gelehnt, die Augen geschlossen und die Arme auf die angewinkelten Knie gestützt. Neben ihm lagen zwei leere Spritzen und ein seliges Lächeln lag auf seinen Lippen. Obwohl Erik sich keine Mühe gab, leise zu sein, schien Charles ihn nicht zu hören. Als er näher kam, erkannte er, dass es nicht nur zwei Spritzen waren, sondern vier.

„Charles?“, fragte Erik und Sorge schwang in seiner Stimme mit.

Er erhielt keine Antwort. Den Kopf leicht schräg gelegt ging er vor dem Angesprochenen in die Hocke und berührte ihn vorsichtig am Arm. Wieder keine Reaktion.

„Charles, alles in Ordnung?“

Erik wusste nicht, wie oder auf was genau dieses Serum wirkte und was eine Überdosis davon bewirkte. Aber Charles Verhalten war nicht gerade normal. Egal ob er wütend auf ihn war oder nicht, Charles hätte auf ihn reagiert und wenn er nur die Augen aufgemacht und ihn angefunkelt hätte. Erik streckte ein weiteres Mal die Hand nach ihm aus und rüttelte jetzt an seiner Schulter.

„Charles, verdammt! Hör auf mit den Spielchen!“

Als er ihn wieder los ließ, sackte dieser einfach zur Seite weg. Die leeren Spritzen rollten klirrend über den Boden. Erik sprang auf und zog Charles vorsichtig wieder in eine sitzende Position, bevor er ihn auf seine Arme nahm und ihn, so schnell er konnte, auf sein Zimmer brachte. Dort legte er ihn in sein Bett. Nachdem er ihn zugedeckt hatte, ging Erik zur Treppe im Flur und rief nach Hank.

„Hank! Verflucht, antworte!“

Ein genervtes „Was ist?“ drang aus dem unteren Stockwerk zu Erik herauf und alleine dafür hätte er ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst.

„Dein scheiß Serum ist! Charles hat sich eine Überdosis gespritzt!“

Schon war ein Poltern zu hören und als Erik sich über das Geländer beugte, sah er Hank wie ein Blitz die Treppen heraufrennen, gefolgt von Logan, der um einiges langsamer war. In weniger als zehn Sekunden stand Hank neben Erik und sah ihn panisch an.

„Wo ist er?“, wollte er wissen und seine Stimme überschlug sich schon fast.

„In seinem Zimmer...“

Hank lief an ihm vorbei und verschwand in Charles Zimmer. Erik folgte ihm schnell, blieb aber mit einigem Abstand zum Bett stehen. Einen Augenblick später betrat auch Logan den Raum, lehnte sich allerdings gegen den Türrahmen und sah zu Hank hinüber.

Dieser hatte sich über Charles gebeugt und tastete nach seinem Puls. Dann riss er die Schublade seines Nachttisches auf, holte ein Gummiband heraus und wickelte es ihm um den Arm. Als nächstes zog er eine Spritze aus seiner Hosentasche und gab sie Charles. Dessen ohnehin schon flacher Atem stockte kurz und Panik stieg in Erik auf. Doch dann atmete Charles ruhig und gleichmäßig weiter. Hank wie auch Erik atmete erleichtert auf.

„Was hast du ihm da gegeben?“, wollte Erik wissen und trat näher an das Bett heran.

„Ein Mittel, welches das Serum neutralisiert“, erklärte Hank und betrachtete die Spritze in seiner Hand.

Dann kramte er kurz in Charles Schublade und holte eine weitere Spritze heraus, um sie auf den Nachttisch zu legen. Es war noch eine weitere Minute still, bis Logan das Schweigen brach.

„Und für was ist das da?“, fragte er und deutete auf die Spritze.

„Das ist das Serum, das seine Kräfte unterdrückt. Er wird es brauchen, wenn er wach wird. Falls einer von euch dann hier ist, gebt es ihm so schnell wie möglich. Wenn nicht, wird er es sich auch selbst spritzen, aber das würde unnötige Schmerzen für ihn bedeuten.“

Mit diesen Worten stand er auf und verließ das Zimmer. Erik folgte ihm und hielt ihn auf dem Treppenabsatz auf, indem er Hank am Arm packte und fest hielt.

„Du hast dieses Mittel doch nicht gerade erst zusammengebraut. Das war nicht das erste Mal, dass Charles sich eine Überdosis spritz. Hab ich recht und lüg mich ja nicht an“, meinte er mit ernster Stimme.

Hank nickte, konnte Erik aber nicht ansehen.

„Er hat das schon öfter gemacht. Das erste Mal, kurz nachdem ich ihm das Serum gegeben habe. Er…scheint das zu brauchen…ab und zu.“

„Wie meinst du das?“

„Obwohl er die Stimmen der anderen nicht mehr hören kann und seine Beine spürt, hat er trotzdem Schmerzen. Keine körperlichen, aber seelische. Wenn es ihm zu viel wird, spritz er sich eine Überdosis und kann so dem Ganzen für ein paar Stunden entfliehen“, erklärte Hank, machte sich von Eriks Griff los und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Erik sah ihm geschockt hinterher. Stimmte das etwa? Ja, warum hätte Hank ihn anlügen sollen? Das war schlimmer als er gedacht hatte. So wie sich das anhörte, war Charles schon süchtig nach dem Serum, oder zumindest nach der, mit der Überdosis verbundenen Ohnmacht. Das musste er unterbinden, das alles. Charles konnte sich nicht weiter mit Medikamenten vollpumpen, wie es ihm gerade passte.

Mit entschlossenen Schritten, ging Erik die Treppe wieder hoch und in Charles Zimmer. Logan saß an dessen Bett und sah auf ihn hinab. Ein seltsamer, zweifelnder und fast schon ratloser Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

„Sie haben sich wirklich ganz schön verändert, Professor“, murmelte er und wandte sich dann an Erik. „Ich habe keine Ahnung, warum er das tut. Aber ich habe da so eine Vermutung. Ich an deiner Stelle, würde ihm schleunigst helfen von dem Zeug runterzukommen. Sonst haben wir alle ein großes Problem.“

Mit diesen Worten lief er an Erik vorbei und verschwand Richtung Küche. Vermutlich holte er sich wieder etwas zu trinken. Erik fragte sich, warum der Kerl nicht betrunken wurde, so viel Alkohol, wie er in sich hinein schüttete. Aber darüber konnte er sich später auch noch Gedanken machen. Jetzt hatte er wichtigeres zu tun. Erik nahm die Spritze vom Nachttisch und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Wenn Charles sie haben wollte, sollte er sie sich doch holen. Freiwillig würde er sie ihm jedenfalls nicht geben. Er konnte nicht zulassen, dass Charles sich weiter von diesem Zeug abhängig machte. Erik wusste, dass der Kleinere seine Gabe auch ohne das Serum kontrollieren konnte, ihm fehlte nur der Wille dazu. Erik zog sich einen Stuhl herum und setzte sich neben das Bett.

Sobald Charles wach wurde, würde er ihm Mal gehörig ins Gewissen reden. Das konnte so nicht weiter gehen. Er konnte nicht vor jedem und allem die Augen und Ohren verschließen. Wer sollte den Mutanten denn helfen und ihnen in einer Schule beibringen, wie sie mit ihren Kräften umgehen mussten, wenn nicht er? Charles brauchte seine Gabe, um wieder glücklich zu sein. Ein Mutant konnte das nämlich nicht, wenn er seine Kräfte nicht gebrauchen konnte. Aber er musste sie auch wieder kontrollieren lernen, damit er nicht nur negative Gefühle und Gedanken wahrnahm. Das würde Erik ihm alles sagen. Allerdings hieß es jetzt erst einmal warten, bis Charles wieder wach wurde.

Es war schön, so beruhigend, weder etwas zu hören, noch zu sehen oder zu spüren. Um Charles herum war es einfach schwarz, schwarz und leer und das tat ihm gut. Er ließ sich in ihr treiben und genoss sie. Es war wie ein Rausch, nur ohne diese ganzen Begleiterscheinungen, wie zum Beispiel Halluzinationen. Doch diese Leere hielt nicht so lange, wie er es gehofft hatte.

Es waren bestimmt einige Stunden gewesen, aber genau konnte er es nicht sagen, da er jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Egal wie, es war zu kurz gewesen. Als die Leere dann verschwand tat sie das nicht langsam und schleichend, sondern mit einem Schlag, der Charles ohne Vorwarnung aus der Ohnmacht riss.

Hör auf! Was tust du da?!

Warum hat er mich verlassen?

Nein! Ich will nicht…!

Du tust mir weh…hör auf damit…

Charles riss die Hände hoch und presste sie gegen seine Schläfen. Unzählige Stimmen stürzten auf ihn ein und mit ihnen Gefühle wie Schmerz, Pein und unerträgliche Qualen. Er spürte die Angst einer Frau und wusste, dass sie im nächsten Moment sterben würde. Er wollte sich von ihr lösen, ihre Gefühle und Gedanken abschotten, schaffte es aber nicht.

Nein…“, flüsterte Charles und Tränen stiegen ihm in die Augen.

Er wollte nicht schon wieder spüren, wie ein Mensch starb. Das hatte er in den zurückliegenden Monaten oft genug erlebt.

Bitte…John…tu das nicht…

Charles kniff die Augen zusammen und wartete auf den Schmerz. Im nächsten Moment war es so, als würde ihm jemand eine glühende Metallstange durch die Brust treiben, die sein Herz zerfetzte. Charles schrie auf. Eine Hand weiterhin an den Kopf, die andere auf die Brust gepresst, lag er da und wand sich unter Scherzen. Panisch rang er nach Luft, welche seine Lungen aber nicht zu füllen schien.

Schnell griff er nach der Schublade seines Nachttisches und zog sie auf. Mit zitternder Hand durchsuchte er sie und stieß ein schmerzvolles und gleichzeitig verzweifeltes Keuchen aus, als der die Spritze nicht fand.

Er sah sich im Zimmer um. Vielleicht war Hank hier, Hank war immer da, wenn er sich eine Überdosis verabreicht hatte. Doch die Person, welche er verschwommen erkannte, war nicht Hank. Es war Erik und der sah ihm einfach nur schweigend zu.

„Und…amüsierst du…dich?“, brachte Charles heraus und sah ihn wütend an.

„Unterdrück es doch. Du hast das doch schon als kleines Kind gelernt“, erwiderte dieser.

Charles presste die Hände fester gegen den Kopf und war zu keiner Antwort fähig, da die Stimmen wieder überhandnahmen.

Du hast mich belogen und benutzt!

Ich hasse dich!

Verschwinde!

Die Gedanken und Gefühle der Menschen ließen ihn vor Schmerz stöhnen. Charles versuchte seinen Atem zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Wieder warf er einen Blick zu Erik und fing, in diesem Moment, einen Gedanken von ihm auf, oder besser gesagt eine Erinnerung. Er sah, wie Erik die Spritze von seinem Nachttisch nahm und einsteckte.

„Gib…sie her“, presste Charles hervor.

„Du brauchst sie nicht“, erwiderte Erik.

„Was weißt du schon?!“, schrie Charles.

Die Schmerzen verliehen ihm wieder mehr Kraft in der Stimme. Doch Erik schien beschlossen zu haben, ihn zu ignorieren. Wut kochte in Charles hoch, darüber, dass er von dem Serum abhängig war, aber vor allem darüber, dass Erik diese Abhängigkeit benutzte um ihn zu quälen. Verstand er nicht, dass Charles diese Schmerzen und Gedanken nicht mehr ertrug. Er wollte sie nicht mehr hören.

Nicht…ich werde es auch nie wieder tun.

Dieser Gedanke wurde von dem Schmerz eines Schlages begleitet und entlockte Charles einen Schrei. Sein Körper zog sich automatisch zusammen und ein weiteres Keuchen kam über seine Lippen. Er sammelte einen Moment Kraft, ignorierte die Tatsache, dass er seine Beine nicht spüren konnte und warf sich auf Erik. Das Manöver wäre kläglich gescheitert, wenn dieser nicht so nahe am Bett gesessen hätte. So riss Charles ihn vom Stuhl und hörte mit tiefer Zufriedenheit, wie diesmal Erik vor Schmerz keuchte. Er war mit dem Kopf auf den Boden geschlagen und verdrehte jetzt die Augen. Einen Moment lag er reglos da und das nutzte Charles aus.

Er griff in Eriks Hosentasche und holte die Spritze heraus. Dann rollte er sich von dem anderen herunter und zog sich am Bett hoch, bis er aufrecht saß. Bevor Erik nach ihm greifen konnte oder auch nur etwas sagen konnte, hatte Charles den Ärmel seines Hemdes hochgeschoben und sich die Spritze regelrecht in den Arm gerammt, aus Angst Erik könnte sie ihm doch noch weg nehmen.

Den brennenden Schmerz spürte er noch nicht einmal. Dafür atmete er erleichtert auf, als die Stimmen in seinem Kopf langsam verstummten und er seine Beine spürte. Sein wütender und gleichzeitig erleichterter Blick ruhte auf Erik, der sich gerade wieder aufrichtete. Er hatte eine Hand an den Hinterkopf gelegt und biss die Zähne zusammen. Er hatte wohl noch Schmerzen und das löste in Charles eine tiefe Befriedigung aus. Er bewegte kurz die Füße, um zu testen, ob er sie belasten konnte. Dann stand er schwankend auf und lief zur Tür.

„Wenn ich zurückkomme und du bist noch da, nehm ich die Trophäe da und schlag dir den Schädel ein“, knurrte er, deutete auf eine schwere Bronzetrophäe, die in auf einem Regal stand und flüchtete dann schon fast aus dem Zimmer.

Erik sah ihm hinterher. Das war nicht so gelaufen, wie er gehofft hatte. Die Fassungslosigkeit und Unbeholfenheit, welche sich in ihm breit gemacht hatte, als er sah, wie Charles litt, wollte nicht aus seinen Gliedern weichen. Er wollte aufstehen und gehen, aber er schaffte es nicht. Das Bild, wie Charles wankend aus dem Zimmer taumelte, hatte sich in seinen Geist gebrannt und nichts als wilde Entschlossenheit zurückgelassen.

Er hatte Charles die Spritze absichtlich nicht gegeben oder ihm geholfen, weil er prüfen wollte, wie abhängig dieser von dem Serum war. Dass er sogar die Kraft aufbrachte, ohne seine Beine zu spüren, aus dem Bett zu springen, zeigte Erik wie schlimm es um seine Abhängigkeit stand. Er musste schnellstens etwas unternehmen. Mit dem Serum war es wie mit allen Drogen, es schadete der Gesundheit und dass Charles dieses Risiko einging, wollte einfach nicht in Eriks Kopf.

So kannte er seinen Freund nicht. Was war nur mit dem Charles passiert, der sich von nichts aufregen ließ, der in jedem etwas Gutes gesehen hat und der sich auch für jeden und alles eingesetzt und bereitwillig geopfert hatte?

„Du bist passiert. Du und dieser scheiß Vorfall am Strand“, schoss es Erik durch den Kopf, als er es endlich schaffte sich auf die Füße zu ziehen.

Er sah noch einmal zu der Bronzetrophäe und schien abzuschätzen, welchen Schaden sie an ihm verursachen könnte. Nach wenigen Augenblicken verließ er Charles Zimmer Richtung Küche. Er brauchte etwas kaltes, um es auf seinen Hinterkopf zu drücken. Das er genau dort blutete, fiel ihm erst auf, als er die Hand vom Kopf nahm und sie betrachtete. Fluchend lief er in die Küche und holte sich einen Kühlbeutel. Die kleine Wunde ignorierte er einfach.

Stattdessen zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er Charles von dem Serum wegbringen konnte. Nach einigen Stunden des Überlegens kam Erik zu dem Entschluss, dass nur eines helfen konnte und das war fast unmöglich durchzuführen. Er hatte beschlossen endlich das zu tun, was er schon vor zehn Jahren hätte tun sollen, er wollte Charles seine Gefühle gestehen, denn diese hatten sich seither noch nicht verändert. Vielleicht konnte er ihn so überreden, seine Gabe wieder zu akzeptieren, denn wenn er Glück hatte, erwiderte dieser seine Liebe. Aber das würde schwer werden. Er hatte nicht wirklich etwas getan, das ihm Charles Liebe zugestanden hätte. Vor allem mit der Aktion von vorhin hatte er wohl eher das Gegenteil bewirkt. Aber nur indem er ihm nicht geholfen hatte, hatte er erfahren können, wie Charles unter seiner Gabe litt und welche Kräfte er mobilisierte, um diese zu unterdrücken.

Jetzt würde Erik alles tun, um Charles von seiner Liebe zu überzeugen.

Charles hatte sein Zimmer fluchtartig verlassen und war auf den Flur getaumelt. Dort musste er sich erst einmal auf das Treppengeländer stützen, um nicht zu fallen. Seine Beine trugen ihn doch noch nicht so, wie er es gerne gehabt hätte. Als er einen weiteren Schritt tat, gaben sie einfach unter ihm nach und er stürzte auf die Knie. Scharf sog er die Luft zwischen den Zähnen ein, als erneut Schmerz durch seinen Körper fuhr, mit dem einzigen Unterschied dass es diesmal wirklich sein eigener war. Alleine die Tatsache, dass Erik jeden Moment aus seinem Zimmer kommen und ihn so sehen konnte, ließ Charles sich wieder auf die Füße ziehen. Sobald er stand, kehrte auch die mittlerweile wieder gewohnte Stärke in seine Beine zurück und er rannte die Treppen hinunter. Unten angekommen stieß er die Eingangstür auf und wollte hindurch, prallte aber gegen jemanden und fiel hin. Als er hoch sah, erkannte er Logan, der seinen Blick fragend erwiderte und ihn, mit einer gemurmelten Entschuldigung, auf die Beine zog. Charles sagte nichts, sah ihn nicht mehr an und lief einfach an ihm vorbei, ins Freie.

Draußen wandte er sich nach links und rannte die Treppe hinab und dann in Richtung einer Baumgruppe. Er achtete nicht auf seine Umgebung. Wahrscheinlich hätte in diesem Moment ein UFO neben ihm landen können und er hätte es nicht bemerkt. Dafür war er viel zu tief in seine Gedanken verstrickt.

Charles hatte sich schon vor Jahren damit abgefunden, dass er mit seinen Gefühlen alleine dastand. Erik liebte ihn nicht und das war sein gutes Recht, immerhin hatte jeder die Freiheit so etwas selbst zu entscheiden. Doch dieser eine Gedanke am Strand hatte in Charles einen Funken Hoffnung geweckt, der aber ebenso schnell wieder erloschen war. Er hatte fast fünf Jahre gebraucht und dieses verdammte Serum, um zu realisieren, dass Erik als Freund für immer aus seinem Leben verschwunden war. Er hatte sich wieder damit abgefunden, dass dieser ihn niemals lieben würde. Doch Charles hätte nicht gedacht, dass er ihm so egal war.

Diese Szene von eben wollte einfach nicht aus seinen Gedanken verschwinden. Hätte Erik solche Schmerzen erlitten, wie er gerade…Charles hätte alles getan, um diese zu lindern, egal wie lange sie sich schon nicht mehr gesehen hatten, egal wie sehr sie sich auch voneinander entfernt hatten. Er hätte Erik geholfen und nicht einfach zugesehen, wie dieser sich unter Schmerzen wand.

Mittlerweile war Charles bei der Baumgruppe angekommen, welche einen kleinen See umschloss. Hier war er in den zurückliegenden Jahren immer wieder hergekommen, um nachzudenken. Er ließ sich an dessen Ufer ins Gras sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

War er Erik wirklich so egal, nach allem was sie zusammen durchgemacht hatten? Hatte er sich wirklich so in ihm getäuscht? Charles war der festen Überzeugung gewesen, dass Erik irgendwo in seinem Inneren noch so etwas wie eine gute Seite hatte, etwas menschliches, dass ihm Einhalt gebot wenn er zu weit ging. Doch nach den zurückliegenden Stunden hatte er diese Überzeugung verloren.

Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken und sich umsehen. Erst nach einigen Augenblicken und nachdem er etwas Nasses spürte, dass über seine Wangen lief, wurde ihm klar, dass er laut geschluchzt hatte.

„Hör auf“, flüsterte Charles und unterdrückte ein weiteres Schluchzen. „Du wirst nicht wegen ihm heulen, verstanden!“

Doch diese Worte bewirkten das vollkommene Gegenteil von dem, was sie hätten bewirken sollen. Immer mehr Tränen rannen ihm über die Wangen und er konnte und wollte schließlich auch nichts mehr dagegen tun.

Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass er Erik immer noch, mit jeder Faser seines Körpers liebte und auch niemals damit aufhören würde. Diese Tatsache machte das Geschehene noch einmal schlimmer, da er jetzt auch wusste, dass er diesen nicht für sich gewinnen konnte. Erik hätte ihn nie so leiden lassen, wenn er auch nur ein winziges bisschen Zuneigung für ihn übrig gehabt hätte.

„Verdammt, Charles! Es reicht! Hör auf zu heulen wie ein kleines Mädchen und vergiss diese scheiß Gefühle für ihn!“

Diesmal schrie Charles und um sich zu beruhigen, zog er sich mit einem Ruck auf die Knie hoch und tauchten den Kopf in das kalte Wasser des Sees. Er blieb so lange unter Wasser, bis seine Lungen brannten und förmlich nach Luft schrien. Erst als er es wirklich nicht mehr aushielt, zog er den Kopf zurück und schnappte nach Luft. Das Brennen in seiner Brust wollte nicht nachlassen, dafür waren seine Tränen versiegt und seine Gedanken nicht mehr bei Erik. Das einzige Wort, das er denken konnte war:

ATME!

Und es hatte solange die alleinige Herrschaft, bis seine Atemzüge wieder gleichmäßig gingen und er nicht mehr das Gefühl hatte flüssiges Feuer zu atmen. Mit zitternden Händen strich er sich die Haare aus dem Gesicht und schloss kurz die Augen.

Jahre lang hatte Charles geübt, wie er Gedanken aus seinem Kopf aussperren konnte. Jetzt gelang ihm das nur noch mit Hilfe des Serums, solange es um die von anderen ging. Aber er hatte festgestellt, dass er dafür seine eigenen unerwünschten Gedanken und Gefühle, quasi wie auf Knopfdruck, wegsperren konnte und genau das tat er jetzt auch. Er versteckte seine Gefühle für Erik hinter einer Art mentalen Mauer. Dasselbe hatte er auch mit den Schuldgefühlen gegenüber seinen Schülern getan, nachdem fast alle in die Armee eingezogen worden waren. Denn nur so hatte er deren Verlust ertragen können, nur so hatte er weiterleben können…und nur so würde er Erik vergessen können.

Charles blieb am Ufer des Sees sitzen, bis es dunkel wurde und wäre wahrscheinlich auch noch länger dort geblieben, wenn nicht plötzlich jemand seinen Namen gerufen hätte. Er erkannte Hanks und Logans Stimme und die von Erik. Letztere ignorierte er und stand auf, um zu ihnen zu gehen. Allem Anschein nach, war er lange verschwunden gewesen, denn als er sich der Villa näherte, kamen ihm drei Lichter entgegen. Das erste was er sah war das besorgte Gesicht von Hank, dann das wütende von Logan. Erik sah er nicht einmal an, obwohl dieser ihn zuerst erreichte.

„Wo warst du?“, wollte Hank wissen.

„Das würde mich auch interessieren“, knurrte Logan.

„Nachdenken“, kam die knappe Antwort.

Um nicht noch weitere Fragen beantworten zu müssen, vor allem keine von Erik, ging er an den dreien vorbei Richtung Villa. Dort angekommen holte er sich etwas zu Essen aus der Küche und verschwand in seinem Zimmer. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah er sich um. Der Stuhl, auf dem Erik gesessen hatte, lag immer noch auf dem Boden, genauso wie die Spritze. Er stellte den Stuhl an seinen Schreibtisch und ließ sich dann auf sein Bett sinken.

Einen Moment betrachtete er die Spritze zu seinen Füßen, dann hob er sie auf und hielt sie ins Licht. An ihrer Spitze glänzte immer noch etwas von dem Serum. Charles zog eine Grimasse. So sehr er dieses Serum auch brauchte und wollte, so sehr hasste und verabscheute er es auch. Aber es war die einzige Lösung die Stimmen zu unterdrücken und deshalb ging er nun zu seinem Schreibtisch und nahm aus dessen Schublade eine neue Spritze heraus. Dann ging er zu seinem Bett zurück und nahm das Gummiband zur Hand, welches auf seinem Nachttisch lag. Mit routinierten Bewegungen wickelte er sich dieses um den linken Oberarm und ballte die Hand ein paar Mal zur Faust, damit seine Vene besser zu sehen war. Dann setzte er die Spritze an und stach zu, noch bevor sein Gehirn die Zeit hatte seiner Hand etwas anderes zu befehlen. Nachdem der leise, brennende Schmerz in seinem Arm abgeklungen war, entfernte er das Gummiband und legte es, zusammen mit der Spritze, auf seinen Nachttisch. Dann ließ er sich vollends auf sein Bett fallen und schloss die Augen.

Auch wenn seine Gedanken jetzt noch um Erik kreisten und den irritierten Blick, welcher er ihm zugeworfen hatte, als Charles ihn ignoriert hatte, wusste dieser, dass seine Gefühle am Morgen verschwunden sein würden. Sein Gehirn errichtete die mentale Mauer über Nacht von selbst und dafür war Charles sehr dankbar.

Mit einem zufriedenen Lächeln, zum einen ob der Tatsache das er die Bettdecke auf seinen Beinen spüren konnte, zum anderen weil er sich ab Morgen seinen Kopf nicht mehr darüber zerbrechen musste, ob Erik seine Gefühle erwiderte oder nicht, schlief Charles ein.

„…rles, Charles? Wach auf.“

Mit einem Ruck fuhr Charles im Bett hoch. Ohne es wirklich zu realisieren rutschte er so weit nach hinten, bis er die Wand im Rücken spürte und starrte Erik an. Dieser saß auf der Bettkannte und erwiderte seinen Blick besorgt. Dann streckte er vorsichtig eine Hand nach ihm aus. Schlagartig kam in Charles die Erinnerung an seinen Traum zurück und er rutschte noch etwas weiter von Erik weg.

„Lass deine Hände von mir!“, sagte er entschieden und schlug Eriks Hand zur Seite. „Raus hier!“

„Ich wollte doch nur…“

„Ich sagte: RAUS HIER!“

Charles Stimme zitterte, aber nicht vor Wut, sondern vor unterdrückter Tränen. Er wollte Erik nicht sehen, wollte ihn nicht so nahe bei sich haben. Nicht nach dieser Nacht, nicht nach diesem Traum.

„Du hast geschrien, ich wollte nur…“

„Verschwinde endlich, Erik!“

Es war wohl Charles verzweifelter, fast schon weinerlicher Tonfall, der Erik dazu veranlasste endlich sein Zimmer zu verlassen. Als die Tür ins Schloss fiel, drückte Charles seine Handballen gegen die Augen und ballte die Finger, in seinen Haaren, zu Fäusten. Zitternd holte er Luft und konnte nicht verhindern zu schluchzen. Die Bilder seines Traumes vermischten sich mit der Realität und er konnte nicht sagen, was wirklich passiert war und was nicht.

Immer wieder sah er Erik vor seinem geistigen Auge, der ihm zuerst behutsam mit dem Daumen über die Lippen strich und die Hand dann an seinem Hals hinabwandern ließ. Im nächsten Moment schloss sie sich um seinen Hals und drückte ihm die Luft ab. Er sah Erik flehend an, versuchte sich zu befreien, doch das nützte nichts. Er war stärker als Charles und ließ ihn einfach nicht los. Der Kleinere schnappte nach Luft, aber diese wollte seine Lungen nicht füllen und dann wurde er ohnmächtig. Wieder und immer wieder hatte er diese Szene geträumt und als Erik ihn dann geweckt hatte, war sie mit dem hier und jetzt verschmolzen.

Es dauerte einige Minuten, bis Charles Hirn wieder rational denken konnte und ihm wieder einfiel, dass die Albträume eine Nebenwirkung des Serums waren. Sein Gehirn bedankte sich mit ihnen, für die Tatsache, dass es nicht so funktionieren durfte, wie es eigentlich konnte. Als das geschah, begriff er auch, dass Erik ihm eben nur geholfen hatte. Er hatte ihn geweckt und so aus seinem Albtraum gerissen. Und was hatte er getan? Er hatte ihn angebrüllt und aus dem Zimmer geworfen. Er bereute sein Verhalten sofort und hätte Erik am liebsten wieder zurückgeholt, doch sein Stolz verbot es ihm.

„Verdammt, Charles…kannst du dich dann Mal entscheiden?“, murmelte er und fuhr sich über das Gesicht und durch die Haare. „Erst willst du nichts mehr mit ihm zu tun haben, dann doch wieder…“

Er sah auf und blickte zum Fenster hinüber. Seine mentale Mauer war wohl doch nicht stark genug, um seine Gefühle für Erik zu unterdrücken.

„Ich weiß nicht, was ich will… Seit er hier ist, kann ich nicht mehr klar denken...“, schoss es ihm durch den Kopf.

Charles vergrub ein weiteres Mal das Gesicht in den Händen. Wie sollte es nun weiter gehen? Was sollte er jetzt noch gegen seine Gefühlte tun? Er wollte nicht noch einmal verletzt werden, das würde seine Seele, sein Geist nicht aushalten.
 

Erik hatte Charles Zimmer zwar verlassen, blieb aber vor der Tür stehen und lauschte. Charles hatte sich so mitgenommen angehört und auch so ausgesehen. Er wollte sicher sein, dass es ihm gut ging. Dies schien allerdings nicht der Fall zu sein, denn kaum war er draußen, hörte er ein Schluchzen. Ein Stich durchzog Eriks Brust. Er wusste nicht wieso, aber er hatte Charles schon wieder zum Weinen gebracht. Entschlossen griff er nach dem Türgriff, um wieder in das Zimmer zu gehen. Doch als hätte Charles es erwartet, erklang in diesem Moment ein leises Klicken, welches Erik sagte, dass die Tür verschlossen worden war. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, die Tür zu öffnen. Immerhin war der Schlüssel aus Metall. Aber er hatte Charles Vertrauen schon verloren und wollte den Rest ihrer Beziehung nicht zerstören, indem er in sein Zimmer einbrach. Wenn sie überhaupt noch irgendeine Art von Beziehung zueinander hatten. Aber Erik hatte auch nicht vor einfach zu gehen. Irgendwann musste Charles aus seinem Zimmer kommen und dann würde er mit ihm reden.

Doch das gestaltete sich schwieriger, als er gedacht hatte. Er stand nun schon seit geschlagenen drei Stunden vor Charles Zimmer und wartete. Einmal hatte er das Gefühl beobachtet zu werden und hätte schwören können, dass Charles durch das Schlüsselloch gesehen hatte. Aber raus war er nicht gekommen.

„Das ist doch Kinderkram“, knurrte Erik und stieß sich von dem Treppengeländer ab.

Er ging zur Tür hinüber und klopfte dagegen.

„Charles, mach bitte auf. Ich will mit dir reden“, sagte er, bekam aber keine Antwort. „Bitte, ich bleib auch an der Tür stehen. Ich will nur nicht durch den Flur schreien müssen.“

Er klopfte ein weiteres Mal und legte schließlich die Hand auf den Türgriff. Auch auf sein erneutes und diesmal drängenderes Klopfen kam keine Reaktion und Sorge ergriff von ihm Besitz. Was wenn Charles sich schon wieder eine Überdosis gespritzt hatte? Wenn er das Gegenmittel nicht bekommen würde, konnte das Ganze tödlich enden.

„Wenn du nicht aufmachst, komme ich alleine rein. Ich will einfach nur mit dir reden.“

Wieder keine Antwort. Seufzend brachte Erik den Schlüssel dazu sich zu drehen und öffnete langsam die Tür. Verwundert sah er sich in dem Zimmer um. Es war leer. Erst auf den zweiten Blick sah er das Laken, welches an dem schweren Schreibtisch befestigt worden war und aus dem Fenster hing. Ein Grinsen legte sich auf seine Züge, aber gleichzeitig schüttelte er fassungslos den Kopf.

„Das ist mehr als kindisch, Charles“, sagte er in das leere Zimmer hinein und hockte sich auf einen Stuhl.

Er hatte am Vorabend schon gemerkt, dass Charles ihm aus dem Weg ging und das von heute Morgen hatte ihn in seiner Annahme nur bestärkt. Dass er allerdings noch nicht einmal an ihm vorbeilaufen wollte und stattdessen lieber aus dem Fenster kletterte, hätte Erik nicht gedacht. Aber er würde schon noch mit ihm reden, ob Charles wollte oder nicht.

Erik nahm den Stuhl, auf dem er saß und stellte ihn in eine Ecke, leicht versteckt hinter einem Bücherregal. Er kannte dieses Zimmer fast wie seine Westentasche und folglich auch seine toten Winkel. Hinzu kam noch sein Wissen, dass Charles sich nicht die Mühe machte sein Zimmer genauer zu betrachten, wenn er es betrat. Er würde ihn erste bemerken, wenn Erik es wollte.

Damit Charles nicht auffiel, dass er in sein Zimmer eingedrungen war, schloss Erik die Tür wieder ab und setzte sich dann wieder auf den Stuhl. Er wartete schon den ganzen Tag, da kam es auf ein paar Stunden mehr oder weniger auch nicht mehr an.

Es war tatsächlich schon kurz vor dreiundzwanzig Uhr, als endlich das Klicken des Schlosses zu hören war und Charles das Zimmer betrat.

Charles hatte lange überlegt, ob er nicht einfach an Erik vorbeistürmen sollte, verwarf diese Idee aber schnell wieder. In seinem momentanen Zustand hätte er sich zugetraut, sofort wieder zu heulen, sobald er den anderen sah. Stattdessen knotete er seine Bettdecke und das Laken zusammen und kletterte das Fenster hinaus.

Erst jetzt, drei Stunden später, kam ihm in den Sinn wie kindisch das gewesen war. Aber er hatte sein Ziel immerhin erreicht. Er war Erik aus dem Weg gegangen und sah auch den Rest des Tages keine Spur von ihm. So konnte er endlich mal wieder klar denken.

Den ganzen Mittag über war er draußen gewesen und hatte die Ruhe und Abgeschiedenheit des weitläufigen Grundstückes genossen. In dieser Zeit hatte er beschlossen sich, in Punkto Erik, nicht mehr so stark von seinen Gefühlen beeinflussen zu lassen. Er hatte es satt diesen Emotionscocktail mit sein herumzutragen, der ihn einfach nur belastete.

So hatte er das Thema Erik am späten Nachmittag abgehakt und war wieder zur Villa zurückgelaufen. Als er dort ankam, war es bereits dunkel. Sein Weg führte ihn in die Küche. Er hatte am Mittag vergessen sich seine Dosis von dem Serum zu spritzen. Jetzt hörte er schon ein leises Flüstern in seinem Hinterkopf. Charles wusste, dass dieses Flüstern schnell und mit unaufhaltsamer Brutalität zu einem brüllenden Sturm werden konnte, weshalb er sich beeilte, sich das Serum zu spritzen.

Als er die Spritze entsorgt hatte und sich wieder umwandte, stand plötzlich Logan vor ihm. Gerade noch so konnte Charles einen erschrockenen Aufschrei unterdrücken und wich einen Schritt zurück.

„Und Sie glauben ewig mit dem Zeug zurecht zu kommen?“, fragte Logan, mit vor der Brust verschränkten Armen.

Charles würde es nie zugeben, aber dieser Mann sah ziemlich furchteinflößend aus, vor allem, wenn er in dieser drohenden Haltung dastand.

„Solange ich die Stimmen nicht hören muss, warum nicht?“, sagte er dennoch und schob sich an ihm vorbei.

„Der Professor, den ich kenne, hätte sich nicht hinter dem Serum versteckt.“

„Der Professor, den du kennst, existiert noch nicht. Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen.“

Logan zog eine Augenbraue hoch und kämpfte sichtlich um Fassung. Charles wusste, dass er nicht der geduldigste war, aber das war ihm egal. Sollte Logan doch versuchen ihn umzustimmen, wenn er wollte auch mit Gewalt, aber Charles würde die Stimmen nie wieder in seinen Kopf lassen.

„Na schön“, knurrte Logan und verstellte Charles erneut den Weg. „Dann reden wir über ein anderes Thema. Was ist mit Erik?“

Sofort schlug Charles Laune um und er war jetzt nicht mehr angriffslustig, sondern seltsam gefasst und das schien Logan etwas zu verunsichern.

„Was soll mit ihm sein?“

Ein Knurren drang aus Logans Kehle.

„Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind.“

„Ich bin also dumm?“

Ein schlechter Versuch vom Thema abzulenken, aber immerhin ein Versuch.

„Ja, weil Sie nicht zu sich selbst stehen. Aber jetzt nicht ablenken. Warum gehen Sie ihm aus dem Weg?“

Charles holte tief Luft. Gerade hatte er es geschafft, sich nicht mehr den Kopf über Erik zu zerbrechen, da kam Logan an und stellte Fragen über ihn. Am liebsten wäre er aus der Küche gestürmt und versuchte es auch, aber Logan ließ es nicht zu.

„Warum werde ich ihm wohl aus dem Weg gehen?!“, fragte Charles aufgebracht. „Ist ja nicht so, dass ich wegen ihm das Gefühl in meinen Beinen verloren habe und nur deswegen dieses Serum brauche…Aber das wäre egal, wenn er geblieben wäre, verdammt nochmal!“

Ein Grinsen lag auf Logans Gesicht und Charles wusste, dass er genau das hatte hören wollen. Aber was bezweckte er damit? Charles wusste, dass er Erik liebte, dafür brauchte er Logan nicht. Er wusste jedoch auch, dass er dieses Gefühl nicht zulassen durfte.

„Wie wäre es, wenn Sie ihm das sagen? Dann hätten wir in der Zukunft einige Probleme weniger und ich würde nicht andauernd den Drang verspüren, ihm das Genick brechen zu wollen.“

Mit diesen Worten verließ Logan die Küche, aber nicht ohne sich vorher noch einen Drink zu holen. Die Flasche mit dem Whisky ließ er auf dem Tisch stehen. Seufzend hockte Charles sich hin, legte die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf. Er starrte die Flasche an. Er wusste, dass es ein Fehler war und dennoch griff er danach. Seit Logan hier aufgetaucht war, hatte er nicht mehr getrunken. Jetzt aber war die Versuchung zu groß.

Einige Gläser später ging Charles die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Die Flasche Whisky hatte er in der einen, den Ersatzschlüssel in der anderen Hand. Er schloss auf und ging hinein. Ein Seufzend kam über seine Lippen, als er zum Fenster ging und sein improvisiertes Seil herein zog, es auseinander knotete und auf sein Bett warf. Dann ließ er sich darauf fallen und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Wenige Augenblicke später knallte er die Flasche auf den Tisch, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und ballte sie zur Faust. Mit vor Alkohol glasigen Augen sah er sich im Zimmer um und seufzte ein weiteres Mal, diesmal fast schon enttäuscht.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es schon halb zwölf war. Er nahm wieder einen Schluck aus der Flasche und begann damit Kleider, welche er achtlos auf den Boden geworfen hatte. Ebenso achtlos faltete er sie zusammen und knüllte sie in seinen Kleiderschrank.

Wieder ein Schluck Whisky und endlich setzte auch die erhoffte Wirkung ein. Ein angenehmes warmes Gefühl machte sich in Charles breit, aber er war noch nicht betrunken. Man traute es ihm vielleicht nicht zu, aber er konnte erstaunlich viel trinken, bevor dies seine geistige Leistung beeinflusste.

Etwas vorsichtiger stellte Charles die Flasche wieder auf den Tisch zurück und knöpfte sein Hemd auf. Seine Hände zitterten schon etwas, aber er kam noch mit den kleinen Knöpfen zurecht. Sein Hemd hängte er über die Lehen eines Stuhles und öffnete gerade seinen Gürtel, als ein Geräusch hinter ihm erklang.

Charles fuhr herum und starrte, zum zweiten Mal an einem Tag, erschrocken in Eriks Gesicht und wich vor ihm zurück.

„Was willst du hier?“, fragte Charles und versuchte sein Schrecken zu überspielen.

Erik roch seine Alkoholfahne bis zum Bücherregal und schüttelte den Kopf. Er wusste einen guten Schluck auch zu schätzen. Aber er achtete darauf zu jeder Zeit klar denken zu können. Charles schien das gerade ziemlich egal zu sein und es schmerzte Erik, dass das so war. Früher hätte sich der Kleinere nie so gehen lassen. Er hätte sich auch nie so provozierend hingestellt, die Hände in die Hüften gestemmt und den Kopf leicht schräg gelegt, nicht wenn er halb nackt war. Erik musste sich zwingen nicht zu genau hinzusehen. Diese Tatsache hatte ihn auch aus seinem Versteck gelockt. Wenn er Charles noch weiter zugesehen hätte, hätte er für nichts garantieren können.

„Ich will mit dir reden“, antwortete er, mit einiger Verspätung.

„Mit mir reden? Dafür kommst du ungefähr zehn Jahre zu spät.“

Charles wandte sich von ihm ab und Erik konnte nicht anders, als den Blick über dessen nackten Rücken wandern zu lassen. Bei einer Stelle, knapp über den Po blieb er hängen. Dort war eine Narbe zu sehen. Sie hob sich heller von der restlichen Haut ab und schien ihm seine ganze Schuld entgegenzuschreien. Noch bevor Erik wusste, was er tat, streckte er eine Hand aus und berührte die Narbe.

Charles zuckte zusammen, als würde ihm die Berührung körperliche Schmerzen zufügen. Er wirbelte herum, starrte Erik an und stolperte schnell zwei Schritte von ihm weg. Dies führte dazu, dass er gegen die Bettkannte stieß und auf die Matratze fiel. Das war zu viel für Erik. So wie Charles dalag, mit leicht geröteten Wangen, sein Atem ging etwas schneller und Oberkörper frei…Er hätte am liebsten…

„Nein! Nein, das wirst du nicht tun“, rief Erik sich selbst wieder zur Ordnung.

Er zog sich einen Stuhl heran und nahm darauf Platz. Charles hatte sich derzeit auch richtig hingesetzt und griff nun schon wieder nach der Whiskyflasche. Erik ließ es zu, doch es gefiel ihm nicht. Am liebsten hätte er ihm die Flasche aus der Hand geschlagen.

„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, meinte Erik und sah Charles aufrichtig an.

„Dann hau doch einfach ab. Damit kennst du dich ja sehr gut aus“, schlug dieser vor, bevor er trank.

Erik beschloss diesen Kommentar zu ignorieren und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Findest du es nicht auch ziemlich kindisch, aus dem Fenster zu klettern, als erwachsener Mann?“, fragte er stattdessen.

Charles kaute einen Moment auf seiner Unterlippe, dann straffte er den Rücken und erwiderte Eriks Blick gelassen.

„Es ist auch kindisch vor der Tür zu warten und dann in mein Zimmer einzubrechen, oder was meinst du?“

Einen Moment herrschte Stille und Charles nahm immer mal wieder einen Schluck Whisky. Erik konnte quasi zusehen, wie seine Aufmerksamkeit nachließ und der Alkohol seine Wirkung tat. Trotzdem, oder gerade deswegen, überlegte er sich seine nächsten Worte gut.

„Ich hätte niemals einfach so von Kuba verschwinden dürfen, es tut mir leid. Außerdem hätte ich nie zulassen dürfen, dass so viele Jahre zwischen uns stehen können. Ich hätte eher zu dir kommen sollen, entschuldige. Aber vor allem möchte ich mich dafür entschuldigen, dass du wegen mir deine Beine verloren hast und jetzt von diesem Serum abhängig bist. Das hätte niemals passieren dürfen.“

Stille.

Charles starrte ihn an, als würde er auf etwas warten, dass nicht mehr kam. Er sah ihm kalt in die Augen und Erik konnte den Glanz des Alkohols darin erkennen. Ob er überhaupt alles mitbekommen hatte? Vielleicht war er doch schon angetrunken und hatte seine Worte nicht ganz verstanden. Oder er wollte ihm einfach nur nicht antworten. Dann, von einer Sekunde auf die andere, brach Charles in schrilles fast schon hysterisches Lachen aus.

„Das ganze kommt ungefähr zehn Jahre zu spät, findest du nicht auch?“, fragte er, mit ernster Stimme, die das komplette Gegenteil des Lachens gewesen war und in der eine Spur Wut mitschwang.

„Doch, aber besser spät als nie.“

Charles schnaubte und wandte den Blick von Erik ab. Stattdessen starrte er zu Boden.

„Und was genau erwartest du jetzt von mir? Dass ich dir, einfach so mir nichts, dir nichts, vergebe? Das wird nicht passieren…“

„Nein, dass erwarte ich nicht. Ich will einfach nur, dass du wieder glücklich bist und zu dem Charles wirst, den ich achte, respektiere und den ich geliebt habe!“

Charles starrte ihn an. Hatte er da gerade richtig gehört? Erik hatte gesagt, er liebe ihn. Naja, um genau zu sein, sagte er, er hatte ihn geliebt. Aber das hatte er auf Kuba auch gedacht und war verschwunden, ohne ein weiteres Wort. Wie sollte er ihm jetzt glauben?

„Ich glaube dir nicht…“, murmelte er und biss sich auf die Unterlippe.

„Sag mir, was ich tun kann, damit du mir glaubst. Ich mache alles.“

„Nichts, du kannst nichts tun. Ich hab keine Lust mehr verarscht zu werden und danach mit meinen Gefühlen wieder alleine dazustehen.“

Charles war aufgesprungen, einen Schritt zur Seite getaumelt und stützte sich jetzt mit einer Hand an der Wand ab. Erik stand ebenfalls auf und kam zu ihm herüber. Nur einen Schritt vor ihm blieb er stehen, nahe genug, um ihn zu stützen, wenn er fallen sollte.

„Wenn du mir schon nicht glauben willst, dann hör wenigstens auf deine Gabe mit diesem Serum zu unterdrücken. Du musst selbst zugeben, dass du damit nicht glücklich bist.“

„Glücklich…“, murmelte Charles. „Das letzte Mal Glücklich war ich, als ich dich, einen Tag vor der Reise nach Kuba, auf der Terrasse lachen sah…Ich bin weder mit, noch ohne Serum glücklich. Verdammt, Erik ich habe ganze fünf Jahre auf dich gewartet und du bist nicht gekommen und jetzt soll ich so tun, als wäre nichts gewesen?“

Charles wusste, dass der Alkohol aus ihm sprach, als er diese Worte sagte. Aber es stimmte. Er war glücklich gewesen, an diesem Tag und jedem davor, seit er Erik kennengelernt hatte. Aber dieses Gefühl schien aus seinen Emotionen verschwunden zu sein. Aber der Rest war geblieben, Trauer, Schmerz, Wut, Liebe. Das alles fühlte er und im Moment waren diese Gefühle in heller Aufruhr, der Alkohol hatte da sein Übriges getan. Das Schlimmste aber war, dass er jetzt nicht einmal vor Erik davonlaufen konnte. Er war einfach zu betrunken. Charles hatte schon Angst umzufallen, wenn er die Wand losließ.

„Ich werde nicht einfach gehen, Charles. Ich habe den ganzen Tag gewartet, um dir etwas zu sagen…“

„Warum tust du es dann nicht endlich?“

Charles hatte es satt. Erik redete sonst nie um den heißen Brei herum und jetzt, da er einmal keine Geduld aufbringen konnte, hatte der andere endlich gelernt seine Sätze auszuschmücken. Wenn er etwas zu sagen hatte, dann sollte er endlich mit der Sprache herausrücken. Er sah Erik erwartungsvoll und gleichzeitig verzweifelt an. Dieser erwiderte seinen Blick und antwortete, ohne Umschweife.

„Ich liebe dich, Charles und ich…ich will dir helfen.“

Wieder erklang ein hysterisches Lachen und dann ein Schluchzen. Charles starrte Erik an. Er hatte diese Worte hören wollen, unbedingt. Doch jetzt, da sie ausgesprochen waren schien etwas in ihm zerbrochen zu sein. Seine Wut auf Erik war wie weggewischt und das machte ihn wütend auf sich selbst. Warum musste er sich immer so leicht manipulieren lassen?

„Du…liebst mich…Warum hast du mir das nicht schon viel früher gesagt? Warum…hast du bis jetzt gewartet? Wie soll ich dir jetzt glauben?“

Da war sie wieder, die Wut auf den anderen. Aber es war keine Wut, weil er ihn verlassen hatte, keine wie er sie bisher gespürt hatte. Charles wollte einfach, dass er die letzten Jahre vergessen und sich nun in Eriks Arme werfen konnte. Aber er konnte es nicht, er konnte zehn Jahre nicht einfach aus seinem Gedächtnis löschen. Er hatte es, weiß Gott, oft genug versucht, ohne Erfolg und deswegen war er wütend. Und diese Wut entlud sich jetzt. Er hob die Hand und schlug nach Erik. Doch dieser fing sie mit einer Leichtigkeit ab, die Charles nicht im Mindesten erstaunte.

Erik sah ihm fest in die Augen, als er ihn gegen die Wand stieß. Es war wohl härter als er beabsichtigt hatte, was er daran bemerkte, dass Charles schmerzvoll die Luft zwischen den Zähnen einsog. Die Geste tat ihm augenblicklich leid, aber er hatte genug. Er wusste genau, dass Charles nur den unnahbaren spielte, ihn aber nicht war. Eine Hand stützte Erik neben Charles Kopf ab, mit der anderen hielt er dessen Hand, mit der er nach ihm geschlagen hatte, über seinem Kopf gegen die Wand gedrückt. Charles Atem ging schneller und er erwiderte Eriks Blick angriffslustig.

„Und jetzt?“, knurrte er.

Erik gab ihm keine Antwort, sah ihn nur noch einen Augenblick länger an. Dann küsste er ihn, zuerst vorsichtig, dann fordernder. Charles versuchte sich von ihm zu befreien, gab es aber schnell auf. Zu schön fühlten sich seine Lippen an und als sich dann Eriks Zunge zwischen seine Lippen schob und seinen Mund erkundeten, konnte er nicht anders, als den Kuss zu erwidern. Wie lange hatte er darauf gewartet und die Hoffnung aufgegeben, jemals diesen Moment zu erleben. Mit einem Mal war Charles Kopf wie leergefegt. Er konnte nur noch an Erik denken, der sich gerade gegen ihn presste und ihn so fest gegen die Wand gedrückt hielt.

Ein Klirren riss die beiden aus ihrem Trace ähnlichen Zustand. Sie sahen sich eine Sekunde lang an, dann senkten sie den Blick. Zu ihren Füßen lagen unzählige Scherben. Charles hatte die Whiskyflasche fallen lassen und diese war auf dem Boden zersprungen. Einige Splitter hatten sich in sein rechtes Schienbein gebohrt, wie er an dem Schmerz erkannte. Auch war ein Schnitt zu sehen, aus dem Blut sein Bein hinabrann.

„Setzt dich hin, ich hol Verbandszeug und pass auf, tritt nicht in die Scherben“, meinte Erik und ließ nun endlich seine Hand los.

Als er sich von Charles abwandte und aus dem Zimmer verschwand, um Heftpflaster zu holen, fehlte plötzlich das angenehme Gewicht, welches den Kleineren daran gehindert hatte zu fallen. Jetzt machte Charles einen schwankenden Schritt nach vorne, um nicht umzukippen. Das war ein sicheres Zeichen, dass er zu viel getrunken hatte. Aber das war ihm auch egal. In diesem Moment war alles egal, der Schmerz in seinem Bein, die Tatsache, dass er morgen einen mächtigen Kater haben würde…es war ihm egal. Erik hatte ihm seine Liebe gestanden und ihn geküsst. Fassungslos starrte Charles vor sich hin. Wahrscheinlich, oder mit ziemlicher Sicherheit, hätte er etwas anderes fühlen sollen. Doch der Alkohol machte das ziemlich schwer. Er war schlichtweg Fassungslos.

Mit einem Gefühl, als würde der Boden unter ihm schwanken, ging er zu seinem Bett hinüber und ließ sich darauf fallen. Dann glitt sein Blick zu seinem Bein und er zog es an, um die Wunden genau betrachten zu können. So seltsam das auch war, genoss er diesen stechenden Schmerz, alleine schon aus dem Grund, dass er ihn spüren konnte. Er war dankbar für jedes Gefühl, dass er in den Beinen hatte.

„So, zeig her.“

Charles zuckte zusammen. Er hatte nicht gehört, wie Erik das Zimmer betreten und sich einen Stuhl ans Bett gezogen hatte. Jetzt griff er nach seinem Bein und zog es zu sich heran. Mit einer Pinzette machte er sich daran die kleinen Glassplitter zu entfernen. Charles sah ihm dabei genau zu.

„Ich hätte das auch machen können“, meinte er schließlich, nur um die Stille zu durchbrechen.

„Ich weiß. Aber ich wollte es tun. Außerdem ist dir schon aufgefallen, wie zu Zitterst? Ich bezweifle, dass du die Splitter hättest entfernen können.“

Erik warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor er das Desinfektionsspray zur Hand nahm und auf die Wunden sprühte. Charles zucke noch nicht einmal mit der Wimper und das obwohl das Spray auf offenen Wunden höllisch brannte.

„Ich zittere nicht“, kam es nur von dem Kleineren.

„Ach nein?“

Erik zog eine Augenbraue hoch und griff hinter sich. Auf dem Tisch stand ein Glas mit Wasser. Er füllte noch etwas von dem Desinfektionsspray dazu, so dass es fast überlief und reichte es dann Charles. Sobald dieser es in der Hand hatte, liefen einige Tropfen am Gläserrand hinab und ihm fiel auch dieses einfach aus der Hand.

„Aber du zitterst ja nicht“, meinte Erik sarkastisch und sah ihn gleichzeitig besorgt an.

Der Alkohol beeinträchtigte Charles motorischen Fähigkeiten ziemlich stark. Erik seufzte und klebte Heftpflaster über die Schnittwunden, bevor er seinen Blick wieder auf Charles richtete. Dieser hatte sich nach hinten sinken lassen und stützte sich jetzt mit den Ellenbogen auf dem Bett ab und beobachtete ihn. Spätestens jetzt hatte sich Eriks Selbstbeherrschung in Luft aufgelöst. Erik, der sich schon etwas zu Charles Bein vorgebeugt hatte, näherte sich diesem noch etwas mehr und küsste dann seine Innenseite. Charles zuckte vor der Berührung zurück.

„Lass das“, knurrte er, klang allerdings noch lange nicht so sicher, wie er es gerne getan hätte.

Erik lachte und hielt sein Bein fest, welches der Kleinere gerade wegziehen wollte.

„Ich habe zehn Jahre gewartet, um das tun zu können. Versuch doch mich aufzuhalten.“

„Du nutzt nur meinen Zustand aus“, erwiderte Charles ohne lange nachzudenken.

„Deinen Zustand?“

„Ich bin betrunken, das hab sogar ich mittlerweile begriffen.“

Wieder kam ein Lachen von Erik und er ließ Charles Bein los. Stattdessen stand er auf und kniete sich über ihn. Ein Knie hatte er zwischen seine Beine gestützt, mit dem anderen Fuß stand er noch auf dem Boden. Die Hände links und rechts von Charles Kopf aufgestützt sah er ihm fest in die Augen. Das stumme Duell verlor Charles, als er den Blick senkte. Erik lächelte, senkte den Kopf und küsste ihn. Zuerst auf die Stirn, dann auf die Nase und schließlich auf den Mund. Nach kurzem Zögern erwiderte Charles den Kuss und ließ sogar zu, dass Erik ihn vertiefte.

„Ich liebe dich“, flüsterte dieser, zwischen zwei Küssen.

Jetzt, da er es gesagt hatte, wollte er es immer wieder sagen. Doch Charles ließ ihm keine Zeit dazu. Er schlang die Arme um Eriks Hals und zog ihn näher an sich. Vorsichtig schob Erik eine Hand in Charles Hose, während er anfing an dessen Halsbeuge zu saugen.

„N…nicht...Erik.“

Charles stemmte die Hände gegen Eriks Brust, allerdings nur halbherzig und versuchte ihn von sich zu drücken. So sehr er ihn auch liebte, dafür war er noch nicht bereit. Das ging ihm einfach zu schnell. Aber anstatt es Erik zu sagen, zog er die Beine an und drückte ihn damit von sich.

„Hör auf“, sagte er bestimmt und rollte sich unter ihm heraus.

Im Nachhinein nicht die beste Art, um sich von Erik zu entfernen, denn jetzt war Charles schwindlig und er konnte sich noch nicht einmal richtig hinsetzten. Bevor er etwas tun konnte, hatte Erik ihn in seine Arme gezogen.

„Tut mir leid. Ich wollte dich zu nichts zwingen“, meinte er und hielt ihn einfach nur fest.

Charles konnte sich nicht dagegen wehren, er wollte es nicht. Endlich legte sich auch ein Lächeln auf seine Lippen und er lehnte den Kopf gegen Eriks Brust.

Das erste was Charles spürte, als er wach wurde, waren zwei starke Arme, die ihn fest gegen einen warmen, muskulösen Oberkörper drückten. Ein Gefühl von Geborgenheit machte sich in ihm breit und er schmiegte sich einen Moment an diese Wärmequelle. Bis er schließlich die Augen öffnete und noch oben sah. Erik lag bei ihm! Warum lag dieser Mistkerl in seinem Bett? Und, was noch viel wichtiger war, warum waren sie beide halb nackt? Charles wollte sich aus den Armen der Größeren winden, beging aber den Fehler noch einmal in dessen Gesicht zu sehen. Erik sah so friedlich und glücklich aus, so wie er dalag und schlief, mit der Andeutung eines Lächelns im Gesicht, das Charles im ersten Moment nicht riskieren wollte ihn aufzuwecken. So entspannt hatte er ihn noch nie gesehen.

Charles seufzte. Er konnte sich nur vage an den gestrigen Abend erinnern, es waren nicht mehr als ein paar Bilder und Gesprächsfetzen. Aber aus ihnen konnte er nicht entnehmen was alles passiert war. Er wusste, dass er entschieden zu viel getrunken hatte, Mal wieder und dass Erik ihm etwas Wichtiges gesagt hatte. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern was es gewesen war. Mit einem weiteren Seufzen wandte er sich nun doch vorsichtig aus dessen Armen und stand auf, oder versuchte es zumindest.

Sobald seine Beine sein Gewicht tragen sollten, gaben diese nämlich unter ihm nach und er stürzte auf Hände und Knie. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Kopf und ließ ihn mit den Zähnen knirschen. Ja, er hatte eindeutig zu viel getrunken. Aber die Schwäche in seinen Beinen rührte nicht nur daher. Ein Blick auf die Uhr, welche neben der Tür hing, verriet ihm dass es schon nach Mittag war. Er hatte die letzte Spritze am Vorabend genommen und die Wirkung ließ langsam nach.

Die Lippen fest zusammengepresst, zog er sich wieder auf die Beine und machte einen zögernden Schritt auf seinen Schreibtisch zu. Zu seiner Freude schien der Schwächeanfall nur von kurzer Dauer gewesen zu sein, sodass er jetzt wieder laufen konnte. Schnell setzte er sich hinter den Schreibtisch und zog die oberste Schublade zu seiner linken auf. Darin lag eine Schachtel, in der er die Spritzen aufbewahrte und eines der Gummibänder, wie auch eins in seinem Nachttisch lag.

„Du nimmst das Zeug jetzt nicht wirklich, oder?“, erklang plötzlich Eriks Stimme.

Charles erstarrte mitten in der Bewegung und sah ihn an. Mit einem Mal war es ihm peinlich, sich diese Spritze zu geben, wenn Erik zusah. Es war ihm unangenehm dem anderen diese Schwäche zu zeigen. Verdammt, was hatte er gestern Abend zu ihm gesagt?

„Doch, das tue ich.“

Er versuchte seine Stimme feindselig klingen zu lassen, was allerdings fehlschlug und Erik nur ein Grinsen auf das Gesicht zauberte. Charles biss sich auf die Unterlippe, beschloss Erik für den Moment zu ignorieren und stach zu. Das leise Flüstern, bei dem ihm jetzt erst auffiel dass er es gehört hatte, verschwand und nun war es Charles, auf dessen Lippen ein Lächeln lag. Es verging noch einige Augenblicke, bis sein Blick sich wieder auf Erik richtete. Dieser schüttelte den Kopf und schwang die Beine aus dem Bett.

„Das muss aufhören, Charles. Ein Mutant kann nicht glücklich sein, wenn er seine Kräfte nicht gebrauchen kann und das weißt du. Wir sind einfach nicht dafür geschaffen normal zu sein.“

„Selbst wenn ich mir das Serum spritze, werde ich nie normal sein. Ich werde immer ein Mutant bleiben, einer der seine Kräfte unterdrückt, aber trotzdem ein Mutant.“

Erik kam zu ihm herüber und stützte die Hände links und rechts neben Charles Kopf auf die Lehne des bequemen Ledersessels, in dem er saß. Eine kleine Ewigkeit sahen sich die beiden einfach nur an und Charles wünschte sich, nun mehr denn je, zu wissen was gestern Abend vorgefallen war. Er hatte das Gefühl das es etwas sehr wichtiges war und es beunruhigte ihn, sich nicht daran zu erinnern. Vor allem, da Erik es wahrscheinlich ganz genau wusste.

„Ich verspreche dir jetzt etwas, Charles“, meinte Erik nach einer Weile.

Sein Atem strich über Charles Haut und hinterließ eine angenehme Wärme darauf. Er hätte den anderen am liebsten von sich geschoben, damit er nicht diese Wirkung auf ihn hatte. Aber sein Körper rebellierte dagegen, indem er sich keinen Zentimeter rührte. Charles hatte das Gefühl, dass Erik genau wusste, wie er auf ihn wirkte. Der Größere hielt ihn durch bloßen Augenkontakt ruhig, als er weitersprach.

„Ich werde alles tun, damit du dieses Serum nicht mehr brauchst. Ich werde dir helfen wo ich kann. Ich weiß nämlich genau, dass du es hasst. Du hasst das Serum und du hasst die Stille in deinem Kopf und versuch mich nicht anzulügen. Das hast du noch nie gekonnt.“

„Bist du sicher, dass du nicht von dir auf mich schließt?“, fragte Charles mit einem provozierenden Lächeln, doch Erik ging nicht darauf ein.

„Ich werde dir helfen.“

Mit diesen Worten, überbrückte Erik die wenige Distanz zwischen ihnen und küsste Charles sanft. Dieser schreckte erst zurück, doch Erik folgte seiner Bewegung und gab seine Lippen nicht frei. Im nächsten Moment hatte Charles die Arme um Eriks Hals geschlungen und erwiderte den Kuss.

„Verrätst du mir, wie du auf die Schnapsidee gekommen bist, Hanks Serum dafür zu benutzen deine Gabe zu unterdrücken?“, fragte Erik einige Zeit später.

Sie hatten beschloss zusammen zu Frühstücken, wenn man es noch so nennen konnte, immerhin war es schon fast zwei Uhr mittags. Dass Erik gerade das Thema anschnitt gefiel Charles nicht. Er redete nicht gerne darüber, hatte auch mit Hank nie über seine Beweggründe gesprochen. Auf der anderen Seite war es vielleicht einmal hilfreich, auszusprechen was er gefühlt und warum er Hank fast angefleht hatte, ihm das Serum zu geben.

„Das ist aber eine etwas längere Geschichte“, meinte Charles schließlich.

Erik lachte.

„Ist ja nicht so, dass wir den ganzen Tag Zeit haben. Du kannst dich nicht mehr herausreden, also fang an zu erzählen.“

Charles seufzte und ließ die Tasse sinken, welche er gerade zum Mund führen wollte. Stumm sah er auf die braune, fast schon schwarze Flüssigkeit darin. Erik hatte ihm einen starken Kaffee gegen seinen Kater gemacht, ohne Milch und Zucker und er musste mit jedem Schluck kämpfen…

Jetzt nicht ablenken lassen, Charles. Erzähl es ihm endlich!

„Na schön. Das Ganze war so…“

Zehn Jahre zuvor
 

Mit einem Schrei fuhr Charles aus dem Schlaf hoch und sah sich hektisch in seinem Zimmer um. Er lag, schwer atmend, auf dem Rücken und versuchte panisch die Beine zu bewegen. Es ging nicht, er spürte sie nicht. Genauso wie er sie schon seit fünf Wochen nicht mehr spürte. Er hatte sich mittlerweile fast daran gewöhnt. Die angehaltene Luft ausstoßend fuhr er sich mit zwei Händen über das Gesicht und zwang sich ruhig zu atmen.

„Schon wieder dieser Traum...“

Seit sie von Kuba zurückgekommen waren, hatte er immer wieder diesen Traum. Er war immer wieder am Strand und versuchte Erik aufzuhalten und immer wieder traf ihn diese eine Kugel. Er spürte diesen quälend stechenden Schmerz und konnte sich im nächsten Moment nicht mehr bewegen. Das schlimmste aber war nicht, dass sein Gefühl aus seinen Beinen gewichen war, das Schlimmste war, dass Erik ihm den Rücken gekehrt hatte und dann verschwand. Er lag am Strand, konnte sich nicht rühren und keiner war da, der ihm half. Dann kam die Flut und mit ihr ein sengender Schmerz, der seinen ganzen Körper ergriff. Und so ertrank er, Nacht für Nacht, in den Fluten seiner Schmerzen und mit der Gewissheit immer allein zu sein.

Wenn ihn nicht dieser Traum quälte, dann waren es Träume anderer, die ihn nicht in Ruhe ließen. Ununterbrochen hörte er Stimmen, konnte sie nicht mehr ausschließen oder auseinander halten. So viele Schüler waren gekommen oder von ihm in die Schule geholt worden. Mittlerweile waren es ungefähr sechzig. Weniger als er sich erhofft hatte, aber im Endeffekt mehr, als erwartet. Das Problem war nur, dass er die Gedanken dieser sechzig Schüler immer mitbekam. Nachdem er das Gefühl in seinen Beinen verloren hatte, war seine Gabe stärker geworden und er konnte sie noch nicht richtig kontrollieren. Deshalb konnte er auch die Gedanken anderer nicht mehr aus seinem Kopf vertreiben oder auch nur ignorieren. Er wusste so ziemlich alles über seine Schüler, was natürlich auch ein Vorteil sein konnte. Aber er hätte auch gerne einfach einmal seine Ruhe gehabt und keine einzige Stimme mehr gehört…

Zwei Wochen später wünschte er sich, das niemals gedacht zu haben. Nun fuhr er durch die Gänge des leeren Schulgebäudes und sah sich um. Noch vor zwei Wochen waren Schüler durch die Flure gerannt, die Schule hatte gelebt. Charles hätte schwören können, dass sie ein eigenständiges Wesen geworden war, das durch seine Bewohner lebte und es freute ihn, so vielen Mutanten helfen zu können. Die Flure und Räume waren immer erfüllt von Stimmengewirr gewesen. Jetzt schien es, als wäre dieses wundersame Wesen gestorben und er hörte nur das traurige Pfeifen des Windes, der sich durch jede Ritze drückte und zu seiner Niedergeschlagenheit und seiner Trauer betrug.

Der Großteil seiner Schüler war zum Wehrdienst eingezogen worden und einige haben sich auch freiwillig dafür gemeldet. Charles hatte sie nicht aufhalten oder ihnen helfen können. Alles reden hatte nichts genutzt, sie mussten zum Wehrdienst antreten. Einen Moment hatte er mit dem Gedanken gespielt, seine Gabe einzusetzen, um sie von dieser Pflicht zu befreien. Aber wenn er einen General manipulierte, würde der nächste kommen und der übernächste…es hatte also keinen Sinn.

Wenn er vor zwei Wochen nachts wach gelegen hatte, dann wegen den vielen Stimmen in seinem Kopf. Jetzt lag er wach, weil es zu ruhig war. Außer Hanks Stimme hörte er keine mehr. Alle, die nicht in die Armee eingezogen worden waren, waren nach Hause gegangen, weil sie Angst hatten die Schule würde zu viel Aufmerksamkeit auf sie lenken.

Das war der Zeitpunkt gewesen, in dem sich Charles Herz der Außenwelt verschlossen hatte. Er litt unter dem Verlust seiner Schüler. Aber vor allem litt er darunter sich jetzt wieder an jemand anderen zu erinnern. Sobald es still in der Villa geworden war, hatte Erik wieder Einzug in seine Gedanken gehalten und hielt diese gefesselt.

Charles ertappte sich oft dabei, nachts wach zu liegen und mit seinen Kräften die nahe Umgebung abzutasten, aber es war immer nur Hank, den er spürte. Er benutzte auch Cerebro, um nach Erik zu suchen und fand ihn sogar, aber nur als leises Flüstern irgendwo in seinem Hinterkopf und sobald Erik bemerkte, dass er da war, verschwand dessen Bewusstsein keine Sekunde später. Charles vermutete, dass er den Helm aufsetzte, um nicht mit ihm reden zu müssen und das warf ihn in ein Fass ohne Boden. Das war der Auslöser für all seine Leiden und Probleme die danach kamen. Doch der Schlimmste Schlag sollte noch kommen.

An einem Tag hatte er beschlossen noch einmal nach Erik zu suchen und fuhr den Steg in Cerebros Mitte entlang, zum Kontrollpult. Er zog den Helm auf und konzentrierte sich. Doch es war nicht Erik, den er aufspürte, sondern seine Schüler. Ein Keuchen kam über seine Lippen. Sie waren in einem Kampf und ihre Einheit hatte schon hohe Verluste zu melden. Im nächsten Moment musste Charles einen Aufschrei unterdrücken, als einer seiner Schüler getötet wurde. Obwohl er es wollte, schaffte er es nicht, sich von Cerebro zu lösen und musste mitansehen, wie seine Schüler reihenweise fielen. Ein Gefühl unendlicher Schuld baute sich in seinem Herzen auf. Er hatte sie gehen lassen und keinen aufgehalten. Er war schuld an ihrem Tod. Eine Stunde später fuhr er, mit roten und vom weinen geschwollenen Augen zu seinem Zimmer zurück. In dieser Nacht hatte es angefangen...

Nicht, bitte! Tun sie ihm nicht weh!

Du mieses Stück Deck, am liebsten würde ich dich…

Nein! Lass mich!

Charles schlug die Augen auf und presste die Hände gegen den Kopf. Gefühle und Empfindungen strömten in seine Gedanken und wuschen jede weg, die ihm selbst gehörte. Er hörte Schmerzens- und Wutschreie, ängstliches Wimmer und gequältes Stöhnen und Keuchen. Hunderte Stimmen tobten wie ein Orkan durch seinen Kopf und Charles hatte das Gefühl verrückt zu werden. Er wusste nicht, wie lange er schon darum rang seinen Verstand zu behalten, als eine weitere Stimme in seinen Kopf drang. Allerdings nahm er diese nicht mit seiner Gabe wahr, sondern mit seinen Ohren.

„Professor? Professor? Charles!“

Es war Hanks Stimme und er versuchte sich auf sie zu konzentrieren, aber es wollte ihm nicht gelingen. Es waren zu viele anderen Stimmen in seinem Kopf.

Was tust du da?

Nein, nicht sie!

Du darfst nicht sterben!

Nach einer Ewigkeit, wie es Charles schien, wurden die Stimmen endlich leiser, verschwanden aber nicht. Zitternd öffneten sich seine Lider und er versuchte seinen Blick auf Hank zu konzentrieren, war dazu jedoch zu erschöpft. In einem Moment sah er ihn, dann war alles schwarz und er glitt in eine befreiende Ohnmacht.
 

„Nein, das kann ich nicht machen, Professor. Ich weiß nicht, wie Sie auf das Serum reagieren. Es könnten Schädigungen auftreten, die nicht mehr zu beheben sind.“

„Schlimmer als die, die ich jetzt schon davongetragen habe?“

Charles drückte eine Hand gegen die Schläfe und kämpfte um seine Konzentration auf das Gespräch. Immer noch wüteten unzählige Stimmen in seinem Kopf und alle schienen nur an ihre Probleme zu denken oder hatten Schmerzen. Er wollte das alles einfach nicht mehr hören, seine eigenen Schmerzen reichten ihm vollkommen aus. Sollten die anderen zu zusehen, wie sie selbst klar kamen.

„Hank bitte, ich flehe dich an! Ich will einfach nur dass es aufhört…“

Hank stand vor ihm, mit verschränkten Armen und sah kopfschüttelnd zu ihm herab. In der einen Hand hielt er die Whiskyflasche, in der anderen eine Spritze mit seinem Serum. Beides hatte er Charles weggenommen. Diesem war nämlich, nachdem er schon einen Schluck über den Durst getrunken hatte, eine Idee gekommen. Wenn Hank seine Gabe, mit Hilfe des Serums unterdrücken konnte, welches er vor einer Woche entwickelt hatte, klappte das vielleicht auch bei ihm. Da Charles wusste, dass Hank dagegen sein würde, hatte er sich in dessen Zimmer geschlichen. Allerdings war der Größere überraschend hereingekommen, als Charles sich die Spritze gerade geben wollte und hatte sie ihm weggenommen. Der Whisky folgte der Spritze, gleich als Hank ihn sah.

„So leid es mir tut, aber dieses Serum ist für meine Mutation entwickelt worden. Ich kann es ihnen nicht einfach geben. Es könnte sie, im Schlimmsten Fall, sogar töten.“

„Dann hätte ich wenigstens meine Ruhe!“

Wütend fuhr Charles an Hank vorbei. Er wollte doch nur Stille in seinen Gedanken, war das so schwer zu verstehen? Von da an, führten sie dieses Gespräch immer häufiger und Hank fiel es immer schwerer Charles flehen nicht nachzugeben.

Diese eine Bewusstlosigkeit, nachdem Charles den ersten Anfall gehabt hatte, war so erholend gewesen, dass er sich schon fast schmerzlich danach sehnte. Wenn Hank ihm nicht helfen wollte, dann würde er anders Stille in seinen Kopf bekommen. Dieser Entschluss war gefährlich, da Charles danach wirklich alles tat, um das Bewusstsein zu verlieren.

Die zwei schlimmsten Methoden waren jedoch, dass er sich in seinem Zimmer einschloss und so viel Whisky trank, bis er ohnmächtig wurde, oder einfach mit seinem Rollstuhl die Treppen hinunter fuhr. Beides war sehr effektiv und er hatte einige Stunden seine Ruhe. Aber immer wenn er wieder wach wurde, kamen die Stimmen penetranter zurück. Immer öfter geschah es, dass er sich in ihnen verlor. Dann saß er da und starrte ins Leere, während ihm Tränen unaufhaltsam über die Wangen liefen.

Gerade als er mal wieder begann sich in dem Stimmengewirr zu verlieren, holte Hanks Stimme ihn wieder zurück. Dennoch fiel es Charles schwer, sich auf den anderen zu konzentrieren.

„Professor? Ich habe etwas für Sie.“

Er hielt ihm eine Spritze hin, die mit einer fast klaren Flüssigkeit gefüllt war. Charles sah ihn verständnislos an.

„Ich habe mein Serum etwas verändert und auf Ihre Mutation angepasst. Ich weiß zwar nicht, ob es hilft, aber wenn Sie es versuchen wollten…“

Er hielt ihm die Spritze hin und Charles griff ohne zu zögern danach. Ohne etwas zu sagen, ging Hank neben seinem Rollstuhl in die Hocke und schob den linken Ärmel von Charles Hemd hoch. Dann wickelte er ihm ein Gummiband um den Oberarm und nickte.

Jetzt zögerte Charles doch. Er hatte sich noch nie eine Spritze gegeben und er konnte hören, dass Hank sie ihm nicht verabreichen würde. Also holte er tief Luft, setzte die Nadelspitze auf die Haut an seiner Armbeuge und stach zu. Zuerst pikte es nur, dann, als der Serum in seine Vene floss, breitete sich ein brennender Schmerz in seinem Arm aus und er ließ vor Schreck die Spritze fallen.

Fast Augenblicklich wurden die Stimmen in Charles Kopf leiser und nach wenigen Sekunden waren sie vollkommen verschwunden. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen und glaubte zum ersten Mal seit Wochen wieder befreit atmen zu können. Dann riss er plötzlich die Augen auf und starrte auf seine Beine.

„Was ist? Stimmt etwas nicht? Ist Ihnen Schlecht? Haben Sie Schmerzen?“

Hanks Stimme überschlug sich fast und Sorge schwang in ihr mit. Umso verwirrter sah er Charles an, als dieser ihn anlächelte.

„Nein, es ist alles in Ordnung“, meinte er. „Ich höre keine Stimmen mehr und ich…kann meine Beine spüren, Hank. Ich spüre meine Beine wieder!“

Erik hatte die ganze Zeit über schweigend zugehört und sagte auch jetzt kein Wort. Er spürte, dass Charles noch nicht fertig war mit seiner Erzählung und tatsächlich fuhr dieser nach einer kurzen Pause fort.

„Es war ein berauschendes Gefühl, meine Beine wieder zu spüren. Meine ersten Schritte waren wie die eines Kleinkindes und ich fiel ziemlich schnell auf die Knie“, er lachte leise, bei dem Gedanken. „Der Absturz kam am Abend, als ich feststellte, dass ich das Serum wieder brauchte, da die Stimmen zurückkamen. Hank hatte versucht eines zu entwickeln, dass über längere Zeit wirkte. Aber es klappte nicht. Ich wurde also abhängig davon und zu wissen, dass ich von diesem Serum abhängig war, brachte mich dazu mit dem Trinken anzufangen. Denn wenn ich betrunken bin, denke ich nicht darüber nach, das Zeug abzusetzen und die vielen Stimmen in Kauf zu nehmen. Außerdem betäubt der Alkohol mein Gehirn, dass sich sonst…wie soll ich sagen? Es langweilt sich, da es nicht die Leistung bringen darf, die es könnte. Ich hatte angefangen mit mir selbst zu reden und mir Stimmen einzubilden. Nach vier, fünf Gläsern Whisky habe ich damit aufgehört.“

Charles starrte auf die Tischplatte. Ein leichter Rotschimmer lag auf seinen Wangen. Er wusste beim besten Willen nicht wieso, aber es war peinlich das alles zuzugeben. Vielleicht weil er sich jetzt endlich selbst eingestand, wie schwach er war und das er sich selbst aufgegeben hatte? Und warum zum Teufel, sagte Erik nichts? Irgendetwas musste er doch zu sagen haben und wenn er ihn nur auslachte! Die Stille, welche entstand war unerträglich für Charles, da er jetzt, da er alles erzählt hatte, anfing über sein Verhalten nachzudenken und eine Spur Selbstverachtung stieg in ihm auf. Warum sollte Erik sich nach diesem Geständnis noch zu ihm hingezogen fühlen? Er war erbärmlich, versteckte sich hinter einem Serum und Alkohol und hoffte, dass niemand mit seinen Problemen zu ihm kam. Hatte er sich wirklich so schnell selbst aufgegeben?

„Es tut mir leid, Charles.“

Eriks Stimme ließ ihn aufblicken. So aufrichtig hatte sie noch nie geklungen, soweit er sich erinnern konnte. Sein Gegenüber sah ihm mit einer Mischung aus Schuld und Reue in die Augen und legte eine Hand auf seine.

„Was tut dir leid?“

Er hatte sich immerhin aufgegeben und beschlossen sich von allen abzuschotten und nicht Erik. Dieser hatte vielleicht eine Teilschuld an der Entscheidung, aber letztendlich war es Charles freier Wille gewesen.

„Wenn ich damals geblieben wäre, oder zurückgekommen wäre...wenn ich…Gott, ich hätte niemals diesen verfluchten Helm aufsetzten dürfen. Es tut mir alles so leid!“

Endlich sah Erik es ein, endlich tat es ihm leid und endlich schien er deswegen zu leiden. Aber Charles konnte sich nicht darüber freuen. Er wollte Erik nicht so aufgelöst hier am Tisch sitzen sehen. Nicht nach dem Kuss, nicht nachdem er ihm versprochen hatte, ihm zu helfen…Nicht nachdem er ihm seine Liebe gestanden hatte…Hatte er das? Charles zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Hatte Erik ihm seine Liebe wirklich gestanden, oder war das wieder nur Wunschdenken von ihm? Doch ein Blick auf den Größeren und dessen stille Verzweiflung wegen seinen Schuldgefühlen, ließen Charles Herz schneller schlagen und ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus. Er liebte ihn…Erik liebte ihn und hatte es ihm gesagt! Wie hatte er das vergessen können?

Charles stand auf und lief um den Tisch herum. Eriks Blick folgte ihm und schrie förmlich um Verzeihung. Als der Kleiner vor ihm stand, wich Erik seinem Blick aus. Er konnte ihn nicht ansehen, nicht nachdem er eingesehen hatte, dass er an Charles Zustand schuld war. Jetzt endlich verstand er, warum Charles ihn hasste, warum er ihm aus dem Weg gegangen war. Gleichzeitig keimte aber auch ein Funken Hoffnung in ihm auf. Wenn der Kleinere ihn wirklich hasste, hätte er ihn nicht geküsst, nicht vergangene Nacht und nicht heute Morgen. Eine Hand an seiner Wange ließ Erik aufblicken. Charles stand vor ihm und sah mit einer Mischung aus Unsicherheit und Wärme auf ihn herab.

„Charles, ich…es tut mir so leid. Ich habe das nicht gewollt…Ich weiß nicht, was ich…“

Erik wurde unterbrochen, als Charles Lippen sich auf seine legten. Sofort durchfuhr ihn ein Kribbeln und er erwiderte den Kuss ohne zu zögern. Das der Kleinere ihn küsste, war wie eine Bestätigung für seine Hoffnung und ließ den Keim wachsen und größer werden. Hatte er ihm vergeben? Es konnte nur so sein. Mit dieser Erkenntnis und der Tatsache, dass Charles sich gerade auf seine Beine setzte, erwachte ein Verlangen in Erik, dass er verzweifelt zu kontrollieren versuchte. Charles war nicht bereit dazu, dass hatte er ihm in der Nacht deutlich gesagt und Erik wollte ihn zu nichts drängen. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass sich eine Hand in Charles Haaren vergrub und ihn näher an sich zog.

„Wirklich Leute? Echt jetzt, sucht euch ein Zimmer. Hier gibt es ausreichend“, erklang plötzlich eine Stimme. „Das muss man wirklich nicht in der Küche machen.“

Mit einem Satz war Charles Gewicht von Eriks Beinen verschwunden und er wandte sich von ihm ab. Mit zusammengepressten Lippen, sah dieser Logan an, der lässig am Türrahmen lehnte.

„Du tauchst immer dann auf, wenn man dich nicht gebrauchen kann, oder?“, knurrte Erik.

Logan grinste und stieß sich von der Tür ab. Bevor er antwortete, holte er sich ein Glas und schenkte sich einen Schluck Whisky ein. Ihm war bewusst, dass er Charles damit provozierte. Aber er wollte wissen, wie weit dieser sich im Griff hatte und wenigstens diese eine Sucht unterdrücken konnte.

„Stell dir mal vor, Hank wäre hier aufgetaucht. Dann würdest du jetzt wahrscheinlich mit etlichen gebrochenen Knochen auf dem Boden liegen und heulen. Er ist nicht wirklich gut auf dich zu sprechen, weiß du?“

Erik knirschte mit den Zähnen. Logan hatte vermutlich recht. Aber er war trotzdem wütend, dass er diesen Moment zerstört hatte. Vor allem, da er ihn wegen etwas so banalem unterbrochen hatte, wegen Whisky. Er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Logan auch schon wieder aus der Küche verschwand.

Charles sah ihm mit geröteten Wangen hinterher und das brachte Erik dazu, ihn am Arm zu packen und an sich zu drücken. Wenn er das nicht getan hätte, hätte er wahrscheinlich etwas gemacht, dass der Kleinere nicht wollte.

„Scheiße, das war blöd. Wir sollten wirklich aufpassen, wo wir so etwas machen“, meinte Charles und sah zu Erik hoch.

„Ja, wär vielleicht besser.“

„Ich soll was tun? Vergiss es, Erik.“

Hank sah kopfschüttelnd von seinem Schreibtisch hoch. Die Verachtung in seinem Blick traf Erik nicht im Geringsten. Er hatte sich von Anfang an damit abgefunden, dass Hank ihn nicht mochte. Aber seine Ablehnung und Verachtung waren tiefer geworden und das war jetzt ein Problem. Er brauchte ihn, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

„Ich will ihm doch nur helfen, Hank. Das kann doch auch nur in deinem Interesse sein, oder willst du das er so weiter macht wie bisher?“

Erik ging zu dem Schreibtisch und stützte die Hände darauf, wohl etwas fester als beabsichtigt, denn Hank sah ihn erschrocken an. Die Schreibtischlampe und jeder andere Gegenstand aus Metall schien zu erzittern, als Erik seinen Blick wütend erwiderte.

„Du kannst mich gerne in Grund und Boden starren. Aber ich werde das Serum nicht verändern.“

Als Erik nichts erwiderte, ihn nur weiter anstarrte, ließ Hank den Stift sinken, mit dem er gerade etwas aufgeschrieben hatte und erwiderte seinen Blick. Ein Seufzen kam über seine Lippen, als er weitersprach.

„Es ist nicht so, dass ich es nicht schon versucht hätte. Beim letzten Mal…er wäre fast gestorben, Erik“, murmelte Hank und rieb sich die Stirn. „Die Stimmen waren zu viel für ihn und er hat sich eine Überdosis gespritzt. Allerdings waren es nicht nur drei oder vier Spritzen, was schon schlimm ist, aber noch relativ ungefährlich, sondern acht. Das Risiko gehe ich nicht noch einmal ein und dass sollte auch nicht in deinem Interesse sein.“

Erik schnaubte und wandte sich mit einem Ruck von Hank ab. Er musste all seine Kontrolle aufbringen, um dem anderen nicht eine zu verpassen. Dieses Gespräch ging jetzt schon über eine Stunde und Hank wollte einfach nicht einsehen, dass man Charles nicht anders helfen konnte. Das er jetzt mit dieser Geschichte kam, machte Erik einfach nur wütend. Natürlich würde es hart für Charles werden, es war für jeden Süchtigen hart. Aber es war zu schaffen, vor allem wenn andere einem halfen über die Sucht hinwegzukommen.

„Wenn du mir nicht hilfst, dann suche ich mir jemand anderen“, meinte Erik schließlich und öffnete die Tür.

Er hatte genug davon, mit Hank zu streiten.

„Dir kann sonst niemand helfen. Keiner kennt die Zusammensetzung des Serums“, erklang dessen Stimme hinter ihm.

Täuschte er sich, oder war da so etwas wie Unsicherheit in seiner Stimme zu hören. Erik grinste schadenfroh. Jetzt hatte er ihn da, wo er ihn haben wollte. Bevor er sich wieder zu Hank umdrehte, zwang er sich jedoch einen gelassenen Gesichtsausdruck anzunehmen.

„Das ist kein Problem. Ich weiß wo Charles seine Spritzen aufbewahrt. Ich bin sicher in einem Labor kann man herausfinden, aus was das Serum zusammengesetzt ist und es entsprechend modifizieren. Ich habe keine Bedenken, dass das ein Professor nicht hinbekommen würde.“

„Du weißt nicht, was sie mit diesen Informationen machen könnten!“

Hank war aufgesprungen. Erik erkannte, dass es ihn eine menge Selbstbeherrschung kostete, sich nicht auf ihn zu stürzen.

„Dann zwing mich nicht dazu den Menschen in die Hände zu spielen. Laut Logan, haben wir das schon genug getan und werden dafür büßen müssen!“

Hank sagte nichts dazu, sah ihn einfach nur an, was Erik eine Augenbraue hochziehen ließ. Er wusste, dass er den anderen überredet hatte. Aber Hank wollte es nicht zugeben. Erik schüttelte enttäuscht den Kopf und wandte sie wieder der Tür zu.

„Wenn du dich in zwei Stunden nicht umentschieden hast, gehe ich zu einem anderen Professor.“

Damit verschwand er aus Hanks Arbeitszimmer und lief zur Treppe. Er wollte zu Charles, der sich am Nachmittag in seinem Schlafzimmer verkrochen hatte, nachdem sie sich schon wieder über das Serum gestritten hatten. Es war jetzt schon zwei Tage her, dass er Charles das Versprechen gegeben hatte, ihm zu helfen. Aber es war fast so, als wolle dieser gar keine Hilfe. Jedes Mal, wenn Erik das Thema anschnitt, wurde der Kleinere wütend und verschwand in seinem Zimmer. War das normal, wenn man süchtig war? Erik wusste es nicht, ging aber stark davon aus.

Jetzt stand er vor Charles Tür und wollte diese öffnen, aber sie war verschlossen, mal wieder. Erik verdrehte die Augen und klopfte.

„Charles? Bist du da?“

„Ja, einen…einen Moment.“

Erik zog die Augenbraue hoch, bis ihm die Erkenntnis kam, was an Charles Stimme anders war. Das kurze Klirren bestätigte seine Annahme und er kniff wütend die Lippen aufeinander. Einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet und Erik betrat das Zimmer, ohne Charles anzusehen. Sein Blick tastete durch den Raum und blieb an einer Flasche, auf einem Regal, im hintersten Winkel des Zimmers hängen.

„Wirklich, Charles?“, fragte Erik vorwurfsvoll, schnappte sich die Flasche und hielt sie anklagend hoch. „Ich dachte du meinst es ernst, dass du aufhören willst zu trinken.“

„Meinte ich auch, aber…Erik das ist verdammt schwer…“

Erik wandte sich zum Fenster, öffnete es und warf die Flasche hinunter auf die Terrasse. Das dünne Glas zerbarst augenblicklich in tausend Teile.

„Weiß du was ich tun werde?“, fragte Erik und sah sich suchend im Zimmer um.

Als er nicht fand, wonach er suchte, stürmte er an Charles vorbei auf den Flur und die Treppe hinunter. Der Kleinere lief ihm schnell hinterher, um womöglich eine Katerstrophe zu verhindern.

„Ich werde jede verfluchte Flasche Whisky die Toilette runter spülen! Das darf doch nicht wahr sein!“

Erik war wütend. Wütend auf Hank, der ihm nicht helfen wollte, wütend auf Charles, der sein Versprechen brach und wütend auf sich, dass er nicht schon viel früher auf diese Idee gekommen war. Sie hatten die Küche erreicht und fanden dort Logan, der, wie so oft, etwas trank. Erik knurrte etwas unverständliches, schnappte sich die Whiskyflasche vom Küchentisch und schüttete ihren Inhalt ins Spülbecken. Dann riss er Logan das Glas aus der Hand und verfuhr genauso damit. Dieser zog eine Augenbraue hoch und sah Charles an.

„Das hat er nicht wirklich getan, oder?“

Charles nickte nur und trat einen Schritt zurück. Logan konnte ziemlich ungemütlich werden, vor allem wenn es um seine Drinks ging.

„Wenn ich noch eine verdammte Flasche Whisky in diesem Haus sehen, dann werde ich den Käufer höchstpersönlich mit den Füßen an der Linde draußen aufhängen, bis ihm die Lust am Alkohol vergeht oder ihm der Kopf platzt.“

Er warf Logan einen Blick zu, der ihn sofort innehalten ließ. Da war er, der Erik, den er von früher…oder besser gesagt von später kannte. Er hatte keine Angst vor Erik, aber er respektierte ihn als Gegner.

„Wenn du unbedingt den Drang nach einem Drink verspürst, dann geh in eine Bar! Verdammt, kein Wunder das Charles nicht von dem Zeug wegkommt!“

Erik riss die Schränke auf und holte jede Flasche, die auch nur annähernd nach etwas alkoholischem aussah heraus, um ihren Inhalt ins Spülbecken zu kippen. Eine halbe Stunde später holte er tief Luft und lehnte sich gegen den Küchenschrank. Es war nur noch Charles da, Logan hatte sich verabschiedet um diese Verschwendung nicht mehr mit ansehen zu müssen.

„Geht es dir jetzt besser?“, wollte Charles wissen.

Seine Stimme klang angenehm beruhigend, als er sich Erik gegenüber gegen den Tisch lehnte.

„Ja, um einiges. Tut mir leid, aber das musste sein.“

„Ich…versteh das schon. Es ist wahrscheinlich besser so. Die Versuchung ist weg.“

Charles lächelte ihn an, wusste jedoch nicht ob er ihm dankbar sein sollte oder nicht. Er wollte zwar mit dem Trinken aufhören, aber nicht so. Die Entzugserscheinungen waren bei einem kalten Entzug schlimmer und er wollte sie nicht durchmachen. Aber Erik ließ ihm keine andere Wahl. Wenigstens lenkte ihn das von dem Serum ab.

„Erik?“

Hanks Stimme schien sie beide aus ihren Gedanken zu reißen. Er war in der Küche erschienen und sah Erik unverwandt an.

„Kann ich dich kurz sprechen?“, fragte er.

Erik nickte und verschwand mit ihm aus der Küche. Charles sah ihnen mit gerunzelter Stirn hinterher. Die beiden heckten etwas aus, dass konnte er spüren. Aber was? Er schlich ihnen nach, war jedoch zu langsam und konnte nicht sehen, wo sie hinliefen.

„Verflucht.“
 

„Hier.“

Hank warf Erik eine Spritze zu, der diese geschickt auffing und sie stirnrunzelnd betrachtete.

„Das ist das abgewandelte Serum?“

„Vertausch die Spritze mit der, die er sich morgenfrüh geben wird“, Hanks Stimme klang kalt. „Dir ist bewusst, dass er unerträgliche Schmerzen haben wird, oder?“

„Ja, aber es geht nicht anders.“

Erik steckte die Spritze in seine Hosentasche und nickte Hank, mit dankbarem Blick, zu. Dieser schenkte ihm nur ein kühles Lächeln und verschwand aus dem Zimmer, in dem sie sich versteckt hatten. Erik wartete einen Moment und verließ es dann auch. Er musste noch einmal in Charles Zimmer, um die Spritzen zu vertauschen. Ein leichtes Vorhaben, wenn Charles sich nicht entschieden hätte früh ins Bett zu gehen. Als Erik die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete und einfach hinein lief, blieb er augenblicklich wie angewurzelt stehen.

„Klar, komm rein. Anklopfen wird überbewertet“, erklang Charles Stimme, mit leicht sarkastischem Unterton.

Erik brauchte einen Moment um zu antworten.

„Tut…mir leid.“

Er sah Charles einfach nur unverwandt an. Der Kleinere stand, mit nichts als Boxershorts bekleidet, mitten im Zimmer und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Erst als Charles sich räusperte, bemerkte Erik, dass er ihn anstarrte. Schnell wandte er den Blick ab.

„Was willst du?“, fragte der Kleinere.

„Ich…wollte nur nachsehen, ob du schon schläfst“, meinte Erik schnell, damit es nicht so aussah, als müsse er sich eine Ausrede überlegen.

„Ich hatte es vor.“

Peinliches Schweigen und keiner der beiden, wusste wohin er sehen sollte. Schließlich wandte Erik sich ab. Er wollte das Zimmer solange verlassen, wie er es noch konnte, bevor seine Kontrolle endgültig den Bach runter ging.

„Warte!“

Charles verstummte augenblicklich wieder, fast schon als wäre er erschrocken über seine eigenen Worte. Erik sah über seine Schulter. Charles war einige Schritte auf ihn zugegangen und hatte eine Hand nach ihm ausgesteckt.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre, Charles. Du hast gesagt, du willst nicht weiter gehen und ich kann für nichts garantieren, wenn ich hier bleibe.“

„Deswegen hast du nichts weiter getan, als mich geküsst? Wann soll ich das gesagt haben?“

„Als du betrunken warst.“

Charles lachte und ließ die Arme sinken, bevor er sich mit einer Hand durch die Haare fuhr. Er ging auf Erik zu und schloss die Tür. Dann ging alles so schnell, dass Erik im ersten Moment nicht reagieren konnte. Charles hatte ihn gegen die Tür gestoßen und begann ihn leidenschaftlich zu küssen. In Sekunden war Eriks Selbstbeherrschung dem puren Verlangen nach Charles gewichen. Er erwiderte den Kuss und drängte den Kleineren währenddessen auf das Bett zu. Noch bevor sie es erreichten, lag Eriks Hemd auf dem Boden. Dieser schubste Charles auf das Bett und sah lächelnd auf ihn hinab. Der Kleinere erwiderte seinen Blick mit funkelnden, verlangenden, tiefblauen Augen. Sein Atem ging schneller und Erik hatte vor, ihn noch etwas mehr zu beschleunigen.

Er kniete sich über ihn, ergriff Charles Handgelenkte und drückte sie neben seinem Kopf auf die Matratze. Dann küsste Erik ihn ein weiteres Mal und teilte Charles` Lippen mit seiner Zunge, um die seine in einen leidenschaftlichen Kampf zu verwickeln. Charles kämpfte halbherzig gegen Eriks Griff. Er wollte sich ihm eigentlich nicht entziehen, ihm aber auch nicht das Gefühl geben, dass er ihn ohne weiteres Kontrollieren konnte. Allerdings spielte sein Körper da nicht mit. Er verriet ihn und gab seine Gegenwehr schnell wieder auf. Stattdessen hob sich Charles Körper immer wieder Erik entgegen und der Kleinere stellte lächelnd fest, dass es dem Größeren gefiel. Er spürte es genau, als er ein Becken gegen Eriks rieb und dieser ihm ein leises Keuchen schenkte. Dieses verstärkte wiederum das angenehme Kribbeln in Charles unteren Regionen und ließ ihn sich auf die Lippe beißen.

Erik knurrte etwas und verlagerte mehr Gewicht auf Charles Becken, sodass dieser wenigstens das nicht mehr so stark bewegen konnte. Er wollte alles etwas hinauszögern, Charles es genießen lassen und sich selbst natürlich auch. Erik hatte wohl wirklich gerne die Kontrolle und Charles übergab sie ihm gerne. Er fühlte sich sicher bei ihm. Allerdings schienen sie beide wie ausgehungert. Er wollte nicht länger warten und Charles Gesten und Bewegungen nach zu urteilen, dieser auch nicht. Gott, diese Bewegungen…Wie sehr Erik sich das gewünscht hatte, Charles so zu spüren. Ein Blick in Charles Augen verriet Erik jedoch, dass dieser mit seinen Gedanken wo anders war und dass wollte er nicht. Er wollte ihn voll und ganz haben, hier bei sich.

„Wo bist du mit deinen Gedanken, Charles?“, fragte Erik flüsternd, dicht neben seinem Ohr und biss in sein Ohrläppchen.

„Bei dir“, keuchte dieser und legte den Kopf etwas zur Seite

Erik nahm das als Einladung und ließ die Zähne an Charles Hals hinabwandern, was diesem ein weiteres Stöhnen entlockte. Jetzt kämpfte er doch gegen Eriks Griff an. Es war ungewohnt frustrierend den anderen nicht anfassen zu können. Aber der Größere dachte nicht im Traum daran, seine Hände einfach so freizugeben. Stattdessen wanderten seine Lippen über Charles Halsbeuge und an dessen Schlüsselbein entlang. Als er neckisch in Charles Brustwarze biss, bäumte dieser sich unter ihm auf und legte keuchend den Kopf in den Nacken. Unter Eriks Berührungen wurde Charles Verlangen immer größer und er hielt es kaum noch aus. Er wollte ihn berühren und nicht tatenlos daliegen und ihm den ganzen Spaß lassen.

„Erik…ich…“

Sofort huschten seine Lippen zu Charles Mund und verschlossen ihn. Er wusste was der Kleinere wollte, aber er würde es ihm nicht geben. Zu gut fühlte sich es an, die Kontrolle über ihn zu haben. Der Größere ließ lediglich zu, dass Charles seine Beine und sein Becken wieder mehr bewegen konnte, was diesem dennoch einen frustrierten Laut entlockte. Immerhin hatte Erik sich seine Hose mittlerweile ausgezogen, wie Charles mit einer gewissen Zufriedenheit feststellte. Er wollte mehr und zwar jetzt, er wollte Erik.

„Bitte, Erik…ich will…“

„Ich weiß“, hauchte dieser.

Endlich ließ er Charles Hände los, um die restliche Kleidung von ihnen zu entfernen. Charles schlang augenblicklich die Arme um seinen Hals und zog Erik zu sich, um ihn ein weiteres Mal zu küssen. Das plötzliche Gefühl von nackter Haut auf Haut brachte sie beide um ihre Selbstbeherrschung. Charles zog Erik näher an sich und Erik drücke Charles fester auf das Bett. Was folgte war nicht sanft und keiner der beiden wollte es anders. Erik hatte Charles schnell in einen leidenschaftlichen und lustgesteuerten Kuss verwickelt, was das laute Stöhnen und Keuchen der beiden etwas dämpfte, welches in den folgenden Minuten den Raum erfüllte.
 

Charles erwachte, als er das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Flatternd öffneten sich seine Augen und er hob eine Hand an den Kopf, oder versuchte es zumindest. Er konnte sich nicht bewegen und Panik ergriff ihn, bis er erkannte, warum dies so war. Dann stahl sich ein Lächeln auf seine Gesichtszüge. Erik lag halb auf ihm. Charles linker Arm war unter Eriks Körper begraben, sowie der Großteil seiner linken Körperhälfte. Das war auch der Grund warum der Kleinere nicht richtig atmen konnte, Erik war einfach zu schwer. Die rechte Hand des Größeren, war fest mit seiner Rechten verschränkt und er spürte deutlich das Bein, welches sich zwischen seine geschoben hatte. Es war ein schönes Gefühl, so gehalten zu werden. Es strahlte so eine Geborgenheit aus, eine Wärme, die Charles für immer verloren geglaubt hatte. Trotz des unangenehmen, drückenden Gefühls auf seiner Brust, schmiegte sich Charles enger an Erik und schloss noch einmal die Augen. Im war egal, wie spät es war, er wollte noch nicht aufstehen, nicht solange er die Gelegenheit hatte, diesen Moment auszukosten.

Die Abwesenheit von Wärme weckte ihn, es fehlte diese angenehme Wärmequelle eines anderen Körpers. Blinzelnd schlug Erik die Augen auf und sah sich nach Charles um. Der Kleinere hatte sich auf der breiten Fensterbank zusammengekauert und die Hände gegen den Kopf gepresst. Also hatte er sich schon das Serum verabreicht. Zum Glück hatte Erik in der Nacht noch Zeit gefunden, die beiden Spritzen auszutauschen. Das hieß, Charles hatte sich das schwächere Serum gespritzt.

„Charles?“

Er richtete sich auf und lief, die Decke um die Hüften geschlungen, zum Fenster. Vorsichtig legte er Charles eine Hand auf die Schulter, was den Kleineren zusammenzucken und zu ihm aufstarren ließ. Schmerz lag in seinem Blick und er zitterte am gesamten Körper. Seine Augen huschten unruhig über Eriks Gesicht, so als ob er ihn nicht erkannte.

„Alles okay?“

Charles antwortete ihm nicht, sondern wandte den Blick wieder ab. Im nächsten Moment unterdrückte er vergeblich ein schmerzhaftes Keuchen, bei dem sich Eriks Herz zusammenzog. Es war schon schlimm gewesen mitanzusehen wie Charles gelitten hatte, nachdem Erik ihm das Serum weggenommen hatte. Aber jetzt, da er wusste, dass der Kleinere seine Gefühle erwiderte und nach dieser Nacht, in der Charles ihm gezeigt hatte, das er ihm vertraute, war es noch einmal Schlimmer. Erik wollte nicht, dass Charles leidete, aber anders konnte er das Serum nun Mal nicht absetzen.

„Charles, ist alles in Ordnung?“, fragte er ein weiteres Mal, diesmal mit eindringlicherer Stimme.

Der Telepath schüttelte schwach den Kopf.

„Es hilft nicht, Erik…Sie verschwinden nicht…Ich kann nicht…“

Charles brach ab und stieß einen leisen Schrei aus, bevor er noch weiter in sich zusammensank und die Hände fester gegen die Schläfen presste. Erst als Erik ein leises Knacken hörte, griff er nach den Handgelenken des Kleineren und drückte sie vorsichtig, aber bestimmt herunter. Charles wollte sich seinem Griff entziehen, schaffte es aber nicht.

„Sieh mich an, Charles. Du kannst es kontrollieren, da bin ich mir zu Hundertprozent sicher. Du darfst nur keine Angst davor haben.“

Erik ließ seine Stimme bewusst ruhig und entspannend klingen, wie bei einer Hypnose. Aber das Ganze hatte auf Charles keine Wirkung. Dieser riss seine Hände aus seinem Griff und presste die geballten Fäuste gegen die Schläfen.

„Ich will das sie verschwinden…“, brachte er hervor. „Raus aus meinem…Kopf…“

Er schlug sich selbst mit der Faust gegen den Kopf und dass anscheinend so fest, dass ihm kurz die Augen zufielen. Erik griff erneut nach Charles Händen und hielt sie fest, diesmal so, dass er Kleinere sie ihm nicht entziehen konnte.

„Charles, bitte. Du musst dich nur darauf konzentrieren, mehr nicht. Bitte versuch es wenigsten!“

Erik wunderte sich, welch ein flehender Unterton in seiner Stimme lag. Er wollte Charles um jeden Preis helfen. Aber in seinem Unterbewusstsein, schien er wirklich alles für ihn tun zu wollen. Es schmerzte ihn, den anderen Leiden zu sehen und am liebsten hätte er Charles die Spritze mit dem richtigen Serum gegeben, welche in seiner Hose verstaut war. Aber damit wäre keinem geholfen. Charles musste sein Vertrauen zu seinen Fähigkeiten wiederfinden und das würde er nicht tun können, wenn er sie permanent unterdrückte.

„Ich will…nicht…mach das sie aufhören…bitte, Erik…sie sollen aufhören!“

Ein weiteres gequältes Aufschreien und in diesem Moment sanken Charles angezogene Beine, kraftlos auf die Fensterbank. Der Kleinere starrte sie fast schon entsetzt an. Erik konnte sehen, dass er nun nicht nur den Schmerz der Gedanken anderer spürte, sondern seinen eigenen Verlust nicht verkraftete. Er wollte ihn in die Arme schließen, doch als er sich vorbeugte und Charles an der Schulter zu sich ziehen wollte, zog dieser scharf die Luft ein. Dann traf ihn eine Hand direkt an der Brust, welche ihn nach hinten stieß. Charles kalte Augen trafen ihn.

„Du…hast…du hast mein Serum vertauscht…Und Hank…hat geholfen…“, presste Charles hervor und musste sich bemühen, nicht ein weiteres Mal zu schreien. „Verschwinde, Erik…“

Doch Erik schüttelte den Kopf und zwang den Kleineren in eine Umarmung. Er konnte spüren, wie sich dessen Körper versteifte und versuchte sich ihm zu entziehen. Aber er ließ es nicht zu. Es war die einzige Möglichkeit die ihm Einfiel, um Charles Halt zu schenken. Denn mit Worten kam er jetzt nicht mehr weiter, dass wusste er. Wenn ein verletztes Tier bedrängt wurde, dann wurde es aggressiv und gefährlich. Bei Charles war es momentan das gleiche, nur dass er sich nicht von körperlicher Nähe bedroht fühlte, sondern von Worten.

Er wand sich noch eine geraume Weile in Eriks Armen und stieß immer Mal wieder ein leises, schmerzvolles Keuchen oder Stöhnen aus. Dann saß er plötzlich still und ein ungutes Gefühl keimte in der Magengegend des Größeren heran.

Im nächsten Moment war es nicht mehr Charles, der seine Schreie unterdrücken musste, sondern Erik. Pure Agonie brach über ihm zusammen. Ein Strudel aus hunderten Gefühlen und jedes einzelne war nur eine andere Schattierung von Schmerz. Er presste die Hände an den Kopf und versuchte den Schmerz zu unterdrücken, wie er es sonst auch immer tat. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Es war nicht sein Schmerz, nicht er litt, sondern andere. Charles hatte die Empfindungen der Menschen, welche er wahrnahm, auf ihn projiziert und Erik spürte, wie er daran zu zerbrechen drohte. Die Leistung seines Gehirns war nicht auf sie viele Eindrücke ausgelegt, er würde verrückt werden, wenn Charles nicht aufhörte!

Dann war wieder alles still. Eriks Kopf war leer und er konnte nicht verhindern, dass ihm eine Träne über die Wange lief. Jetzt verstand er. Wenn es das war, was Charles fühlte, dann war es kein Wunder, dass er seine Kräfte unterdrückte. Mitleid, aber auch großer Respekt schlich sich in seine Augen, als er den Kleineren ansah. Dieser hatte es geschafft sich von Erik zu befreien und lehnte nun mit dem Rücken an der Wand. Aus schmerzverschleierten Augen sah er ihn an und presste die Lippen aufeinander.

„Charles, ich hatte ja keine Ahnung, wie…“, begann Erik, wurde allerdings von Charles unterbrochen.

„Nein hattest du nicht…aber jetzt…kann ich bitte…das Serum haben? Ich flehe dich an…Erik, ich will nur…das es aufhört…“

So schwer es Erik fiel, aber er schüttelte dennoch den Kopf. Es war schrecklich, diese ganzen Stimmen, diese Schmerzen, waren schrecklich. Aber Charles musste lernen sie wieder zu kontrollieren. Er musste seine Gabe wieder beherrschen und nicht sie ihn beherrschen lassen. Im Grunde war es das gleiche, was der Kleinere seinen Schüler erzählt hatte. Die gleichen Worte, mit denen er Hank aufgebaut hatte, bestärkt hatte zu seiner Mutation zu stehen. Also sollte er verdammt noch mal, auch selbst daran glauben!

„Ich werde dir das Serum nicht geben, Charles und auch kein anderer wird das tun. Wie du gesehen hast, hat Hank mir geholfen, er will auch dass du deine Gabe wieder kontrollieren lernst und Logan ist auch unserer Meinung. Um das zu verhindern, was die Mutanten in der Zukunft zerstört, brauchen wir dich und deine Gabe.“

Dreihundert…Dreihundert beschissene, nahezu identische Holzquadrate verkleideten die verfluchte Decke, seines bescheuerten Zimmers. Dreihundert Stück, die er in der letzten Stunde gefühlte fünfhundert Mal gezählt hatte. Seine Laune war auf einem Tiefpunkt angekommen, den er noch nie gespürt hatte und das machte ihn gleichzeitig wütend. Schnaubend wandte er den Kopf in Eriks Richtung.

„Lässt du mich jetzt endlich los?“, knurrte Charles.

Erik sah von seinem Buch auf.

„Sieh an, er kann ja doch noch reden“, kam es von ihm zurück und er schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde dich nicht losmachen. Du willst es ja nicht anders.“

„Verdammt, das ist Freiheitsberaubung!“

Ein leises Knarren erklang, als Charles versuchte sich anders hinzulegen. Verwundert stellte Erik fest, dass er seine Fesseln wohl unbewusst etwas gelockert hatte und zog sie wieder fester. Dafür erntete er einen weiteren bösen Blick des Kleineren.

„Das ist eine berechtigte Maßnahme um dir zu helfen, von deiner Sucht loszukommen. Wenn du glaubst, ich mach einen Fehler zwei Mal, dann hast du dich getäuscht.“

Charles verdrehte die Augen. Er hatte gestern den ganzen Tag versucht die Stimmen aus seinem Kopf zu verbannen. Weder Erik, noch Hank oder Logan hatten ihm sein Serum gegeben und er wäre wirklich wütend gewesen, wenn ihn seine Schmerzen nicht zu sehr beschäftigt hätten. Dann, gegen Abend, hatte Erik kurz das Zimmer verlassen. Charles nutzte es aus, dass er nicht mehr beobachtet wurde und hatte sich aus dem Bett gekämpft, um eine Schachtel darunter hervor zu holen. In dieser hatte er einige Spritzen versteckt, nur für alle Fälle. Nachdem er sich eine davon gegeben hatte, wurden die Stimmen zwar leiser, verschwanden jedoch nicht, also verpasste er sich noch eine. Dann endlich verschwanden die Stimmen und das Gefühl kam in seine Beine zurück.

Leider hatte er damit Erik wütend gemacht, der es sich in den Kopf gesetzt hatte ihn unbedingt von dem Serum loszubekommen. Nachdem dieser wieder in sein Zimmer gekommen war, hatte Charles versucht ihn abzulenken. Leider ohne Erfolg, obwohl es am Anfang gar nicht so schlecht ausgesehen hatte. Er hatte Erik schon an der Tür abgefangen und leidenschaftlich geküsst. Ehe dieser sich dagegen wehren konnte, fuhren Charles Hände unter sein Oberteil und strichen über seine Brust. Er spürte, wie sich die Muskeln des Größeren erst an- und dann entspannten. Erik erwiderte den Kuss, drängte sich an ihn und legte die Hände an Charles Taille. Im nächsten Moment hob er ihn hoch und die Beine des Kleineren schlangen sich um Eriks Hüften. Weiterhin leidenschaftliche Küsse austauschend, trug Erik Charles zu seinem Bett und warf ihn regelrecht darauf, nur um sich gleich über ihn zu knien und wieder zu küssen.

Charles hatte sich schon gefreut, dass sein Plan aufgegangen war, als sich plötzliches etwas Kühles um seine Handgelenke schlang und diese über seinen Kopf zog. Im nächsten Moment war Eriks Gewicht auf seinem Unterleib verschwunden. Charles legte den Kopf in den Nacken und erkannte, dass sich die dünnen Metallstangen vom Kopfende seines Bettes um seine Handgelenke wanden. Er versuchte sich aufzurichten, was jedoch von der Stellung seiner Arme verhindert wurde. Sein verwirrter Blick richtete sich auf Erik.

„Was…soll das? Ich steh nicht drauf gefesselt zu werden“, meinte Charles.

„Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, erwiderte Erik und sah ihn aus kalten Augen an. „Wenn du das nächste Mal versuchst mich zu verarschen, dann stell es wenigstens geschickter an.“

„Mach mich los!“

Doch Erik schüttelte den Kopf und setzte sich auf den großen Ledersessel. Wenn er eines nicht leiden konnte, dann wenn man versuchte ihn zum Narren zu halten. Mal davon abgesehen war seine Geduld langsam am absoluten Tiefpunkt angekommen. Wenn Charles sich weigerte das Serum abzusetzen, dann zwang er ihn eben dazu. Manche musste man eben zu ihrem Glück zwingen und wenn er Charles eine Woche lang hier gefesselt halten musste, dann würde er es tun.

„Erik, verdammt! Du sollst mich losmachen!“

„Den Teufel werd ich tun!“, fuhr Erik ihn an. „Du bleibst so lange hier liegen, bis du von dem Serum weg bist oder selbst gelernt hast Metall zu manipulieren!“
 

So hatte er seit gestern Abend nicht mehr vom Bett aufstehen können und würde es wahrscheinlich auch nicht mehr schaffen. Er spürte schon, wie das Gefühl aus seinen Beinen wich und auch das Flüstern kam zurück. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sein Kopf wieder mit Stimmen erfüllt war.

„Du hättest nur zwei Tage die Zähne zusammenbeißen müssen, Charles. Zwei Tage, in denen du das Serum absetzten und die Stimmen wieder kontrollieren könntest. Ich hab dir versprochen, dir zu helfen, aber du hast auch mir versprochen, dass du mithelfen würdest. Das du danach einfach das Serum genommen hast...ich hätte nicht erwartet, dass du so schnell schwach wirst“, sagte Erik und klang dabei ehrlich enttäuscht.

Charles konnte ihn nicht ansehen und starrte deshalb zur Decke. Erik beschloss noch schnell in die Küche zu gehen, bevor die Wirkung des Serums nachließ. Er wollte bei Charles sein, wenn die Schmerzen wieder anfingen und ihm helfen, sie zu kontrollieren.

In der Küche traf er auf Logan, der gerade etwas im Kühlschrank zu suchen schien. Obwohl Erik kein Geräusch verursachte, wandte ihm der andere augenblicklich den Kopf zu, als er einen Fuß in den Raum setzte.

„Hältst du es für eine gute Idee, Charles gegen seinen Willen festzuhalten?“, fragte er und sah Erik aus wachen Augen an.

„Wenn ich ihn so davon abhalten kann, sich weiter das Serum zu spritzen, ja“, kam es von diesem zurück.

„Aber du weißt schon, dass du sein Vertrauen zu dir dadurch nur schmälerst. Mich wundert es wirklich, dass du dieses Risiko eingehst, Magneto.“

Erik hielt inne als Logan ihn so nannte. Das letzte Mal hatte Raven ihn mit diesem Namen angesprochen, als sie versucht hatte ihn zum Handeln zu überreden. Damals, aus ihrem Mund, hatte sich dieser Name gut angehört, hatte zu ihm gepasst. Jetzt wünschte er sich, dass Logan ihn niemals ausgesprochen hatte. Magneto stand für alles böse in ihm, für alles, was er Charles angetan hatte und er wollte ihn nicht in diesem Haus haben. Hier und jetzt war er Erik, Erik Lehnsherr. Ein junger Mann, der auf der Suche nach seiner Rache und der Ursache seines Hasses, die Liebe gefunden hatte und diese um jeden Preis beschützen wollte.

„Ich schmälere lieber sein Vertrauen, als ihn weiter so unglücklich zu sehen. Er leidet vielleicht unter den Stimmen, aber wenn er das Serum nimmt leidet er darunter sie nicht zu hören. Dass ist das, was du und Hank nicht sehen wollen.“

Logan hatte sich wieder seinem Kühlschrank zugewandt. Erik beobachtete ihn einen Moment, dann holte er zwei Gläser und eine Flasche Wasser, die er mit auf Charles Zimmer nehmen wollte. Doch bevor er die Küche verließ, drehte er sich noch einmal um.

„Sag mal, was machst du eigentlich den ganzen Tag? Ich meine, Hank sitzt an seinen wissenschaftlichen Arbeiten und stellt Nachforschungen an und Charles und ich arbeiten an seinem kleinen Problem. Aber von dir sieht man nie etwas, außer man geht in die Küche.“

Logan sah grinsend zu ihm herüber.

„Tja, ich stelle auch Nachforschungen an. Ich finde heraus, wo Trask sich gerade aufhält. Außerdem habe ich nach ein paar Mutanten gesucht und ihnen von dieser Schule hier erzählt. Sie wollen sie sich Mal ansehen, wenn alles vorbei ist. Ach und ich habe deine kleine blaue Freundin gefunden, jedoch wieder verloren. Sieh also zu, dass du Charles von diesem Zeug runterbekommst, damit wir die Zukunft retten können.“

Erik zog eine Augenbraue hoch. Logan konnte wirklich nützlich sein. Bis zu diesem Moment hatte er gedacht, dass er nichts weiter als eine Kampfmaschine war, jetzt sah das anders aus. Unwillkürlich nickte er ihm zu, wandte sich dann ab und ging zu Charles Zimmer zurück. Schon auf dem Flur konnte er einen unterdrückten Schrei hören und rannte nun schon fast.
 

Charles bekam nicht mit, wie Erik in das Zimmer gestürmt kam. Um ehrlich zu sein, bekam er absolut gar nichts mehr mit. Gerade als seine Kräfte sich wieder freigesetzt hatten, spürte er den Tod eines Mutanten. Es war ein Kind, ein Junge von vielleicht neun Jahren. Er lag irgendwo auf dem Boden und wurde zusammengeschlagen. Er weinte und kämpfte gegen die Hiebe und Tritte an, aber die anderen waren größer als er und machten weiter. Nach zehn Minuten erstarb die Gegenwehr und der Junge sank in die Bewusstlosigkeit. Nachdem sich ihr Spielzeug nicht mehr wehrte, wurden die anderen Jungen wütend und einer verpasste ihm einen Tritt gegen das Kinn, welcher ihm das Genick brach.

Charles lag da und weinte. Er weinte, weil diese vier Jungen, dem Kleineren die Chance auf sein Leben genommen hatten und weil sie das noch nicht einmal begriffen. Wie auch? Sie waren selbst noch Kinder. Er weinte um den Jungen, der niemals lernen konnte, wie wundervoll er war, wie einzigartig und wie wundervoll und hilfreich seine Mutation gewesen war. Wenn er doch nur hätte eingreifen können! Aber in seinem Zustand, hatte er ihm nicht helfen können und als wollte sein Gehirn, dass er diesen Moment noch einmal durchlebt, war es schon auf der Suche nach dem Nächsten, dem so etwas widerfuhr. Noch vier Mal ließ ihn seine Gabe, eine solche Szene miterleben und mit jedem Mal wurde der Drang diesen Mutanten zu helfen größer. Wenn er seine Gabe doch nur unter Kontrolle gehabt hätte, dann hätte er jeden einzelnen dieser Tode verhindern können.

Ausschlag gebend für seine Meinungsänderung war jedoch Erik. Er saß auf der Bettkannte, hatte eine Hand an Charles Wange gelegt und schien mit ihm zu leiden, zumindest nach seinem Gesichtsausdruck.

„Du hast mich gestern gefragt, warum ich unbedingt möchte, dass du deine Kräfte wieder beherrschst“, begann er und sah Charles fest an. „Der Grund ist ganz einfach und warum ich selbst so lange dafür überlegen musste, weiß ich nicht. Ich will dich einfach wieder in meinem Kopf haben. Diese Stille, wenn wir zusammen sind, ist einfach unerträglich, fast schon erschreckend. Ich vermisse einfach das warme Gefühl deines Bewusstseins, welches voller Emotionen ist, in meinem eher abgestumpften und rational denkenden. Ich vermisse die Geborgenheit, die du mir damit vermittelst und das Gefühl, dass mich jemand doch so annehmen kann, wie ich bin.“

Es lag so viel Zuneigung und Liebe in seiner Stimme, dass es Charles glattweg den Atem verschlug. Er hatte noch nie so viel Gefühl und Emotionen in Eriks Stimme und seinem Blick gesehen. Durch den ganzen Schmerz und die Qualen, welche seine Gedanken immer noch erfüllten, schien plötzlich so etwas wie ein Lichtstrahl zu fallen. Ein einladendes Gefühl streckte sich in seine Richtung, ein Bewusstsein das er kannte und das ihn willkommen hieß, ihm Geborgenheit schenkte.

„Du hast gewonnen, Erik“, murmelte er müde. „Ich werde das Serum nicht mehr nehmen. Dir zu Liebe und um unseren Brüdern und Schwestern zu helfen.“

Und mit diesem einen Satz, begannen zwei sehr lange Tage.

Erik hatte Charles vom Bett losgemacht, aber aufstehen konnte der Kleinere nicht. Ohne das Serum waren seine Beine nutzlos und er erwischte sich immer wieder dabei, wie er sich selbst in den Oberschenkel zwickte, um zu sehen ob es wehtat. Das war allerdings nie der Fall. Erik, Hank und Logan waren immer abwechselnd bei ihm, falls er etwas brauchte und redeten mit ihm, wenn er drohte sich in den Stimmen zu verlieren. Charles konzentrierte sich dann nur noch auf ihre Stimmen, denn wenn er dasselbe bei ihren Gedanken versuchte, übertrug er ausversehen die aller anderen auf sie.

Es war die Hölle, aber nach und nach kam die Kontrolle zurück. Allerdings forderte das ganze seinen Tribut und Charles war am Ende des zweiten Tages so erschöpft, dass er noch nicht einmal mitbekam, dass Erik sich zu ihm gelegt und ihn in seine Arme gezogen hatte.

Irgendwann wurde er von Stimmen geweckt, die zuerst leise miteinander geredet hatten und jetzt immer lauter wurden. Ein paar Mal blinzend schlug er die Augen auf und ließ den müden Blick durch den Raum schweifen. Verwirrt blieb er an zwei Gestalten hängen, die im Halbdunkel des Zimmers nicht richtig zu erkennen waren. Aber Charles brauchte kein Licht, um zu wissen, wer da vor dem Schreibtisch stand. Er würde ihn überall erkennen und sei es nur, an der Art, wie er dastand. Verwirrend war allerdings, dass sein Gegenüber ebenfalls diese besondere Ausstrahlung hatte, wenn auch bedrohlicher wirkte.

„Erik?“, fragte Charles, nur um sicher zu sein.

Die beiden Gestalten wandten ihm den Kopf zu und dass steigerte Charles Verwirrung nur noch mehr. Er sah nicht einen, sondern gleich zwei Eriks. Allerdings sahen sie fast so unterschiedlich aus, wie Tag und Nacht. Der Erik auf der linken Seite, trug braune Cordhosen, einen grauen Rollkragenpullover und ein warmes Lächeln lag auf seinen Lippen. Der auf der rechten Seite, hatte Magnetos Kostüm an. Rote Schuhe, rote Hose, rotes Oberteil mit passendem Umhang und diesen Helm, den Charles so hasste. Magneto sah ihn auch an, aber in seinem Blick lag keine Wärme, keine Gefühlsregung.

„Was…hat das zu bedeuten?“, wollte Charles wissen, der ehrlich an seinem Verstand zweifelte.

Immerhin war Erik Magneto und umgekehrt, das ganze ergab keinen Sinn. Doch anstatt ihm zu antworten, wandten sich die beiden wieder einander zu und führten ihren Streit fort.

„Du kommst hier rein und meldest Besitzansprüche an, als wäre Charles irgendein Ding ohne freien Willen“, meinte Erik.

„Und du kannst mir so viel Moralpredigten halten, wie du möchtest. ER gehört mir“, knurrte Magneto und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Er gehört sich selbst, sonst keinem!“

„Gib doch zu, dass du ihn auch willst. Du bist nur zu feige, um es dir einzugestehen.“

Ging es hier wirklich gerade darum, wer ihn besitzen durfte? Charles sah die beiden wütend und ungläubig an. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Immerhin hatte er zu entscheiden, mit wem er zusammen sein wollte und sonst niemand. Empörung machte sich in ihm breit. Glaubten die beiden wirklich, er würde einfach so in ihre Entscheidung einwilligen?

Auf der anderen Seite fühlte er sich natürlich geschmeichelt von der Tatsache, dass die beiden sich um ihn stritten. Natürlich wollte er auch mit Erik zusammen sein, aber mit dem echten und nicht einem der beiden Kopien, die zweifelsohne seine gute und schlechte Seite repräsentierten.

„Fragen wir doch Charles“, erklang es plötzlich und die beiden wandten ihm den Kopf zu.

Dieser sah sie fragend an. Was wollten sie ihn fragen? Doch nicht etwa…

„Für wen entscheidest du dich?“

„Für mich oder Erik?“

Charles starrte die beiden an. Dass konnte doch nicht ihr Ernst sein. Sowohl Erik als auch Magneto gehörten zu dem Erik, den er liebte. Er wollte sich nicht entscheiden. Dann schlugen ihm plötzlich Fantasien entgegen. Von zwei Körpern, die sich aneinander rieben, nicht gerade zärtlich, aber trotzdem voller Begierde auf den anderen, dass ihm der Atem stockte und ein leises, angenehmes ziehen sich in seinem Unterleib ausbreitete. Magneto lachte. Er schien genau zu wissen, womit er Charles ködern konnte. Aber dieser kannte ihn genauso gut und wusste, dass er noch nicht einmal diese Art von Empfindung zuließ. Was der Größere versuchte ihm weis zu machen, würde in Wahrheit wohl eher so aussehen, dass Charles gefesselt auf einem Bett lag und Magneto ausgeliefert war.

„Vergiss es“, zischte er Kleinere und sah Magneto mit zusammengekniffenen Augen an.

„Er kann dich nicht lieben. Nur ich kann das“, meinte Erik und ging zu ihm hinüber.

Im nächsten Moment schüttelte er Charles Kissen auf, richtete seine Decke neu und reichte ihm ein Glas Wasser, ohne das er eines verlangt hätte. Ehe der Kleinere es sich versah, saß Erik hinter ihm und massierte ihm die Schultern. Auch von Erik gingen Gedanken aus, allerdings vollkommen andere, als von Magneto. Charles sah, dass Erik alles für ihn tun würde und zwar ohne es zu hinterfragen. Er wollte ihm jeden Wunsch von den Lippen ablesen, am besten noch bevor Charles diesen selbst kannte. Er würde sich Tag und Nacht um ihn kümmern und ihn behüten und lieben, wie es eine Mutter getan hätte.

Charles schreckte vor diesem Gedanken zurück und entzog sich Eriks Griff. Dieser akzeptierte seine Entscheidung sofort und stellte sich wieder neben Magneto. Einen kurzen Moment, stand er jedoch vor ihm und sah in Charles Richtung. In diesem Moment wusste Charles, dass er sich niemals in einen Erik verliebt hätte, der nur aus Freude und Liebe bestanden hätte. Er hatte immer versucht Erik zu ändern, wollte immer das Gute in ihm mehr zu Tage fördern. Jetzt, sah er ein dass, wenn ihm das gelingen würde, Erik nicht mehr der Mann sein würde, den er zu lieben gelernt hatte. Er wollte nicht nur eine Seite, nein, er brauchte beide zum glücklich sein und mit dieser Erkenntnis kam die Schwärze zurück.

Ich mach mir wirklich Sorgen um dich. Gib mir doch wenigstens ein Lebenszeichen…irgendetwas, damit ich weiß, dass es dir gut geht.

Erst bei genauerem Konzentrieren erkannte Charles Eriks Gedankenstimme und schlug langsam die Augen auf. Verwundert stellte er fest, dass auch Logan und Hank vor dem Bett standen und ihn besorgt musterten. Bei ihren Blicken, vergaß er sofort seinen Traum. Sie sahen aus, als sei etwas Schreckliches passiert. Doch aus ihren Gedanken konnte er entnehmen, dass sie sich einfach nur Sorgen um ihn machten.

„Ihr seht aus als würde ich im Sterben liegen“, murmelte Charles und gähnte ausgiebig.

Tatsächlich ging es ihm ausgezeichnet. Er fühlte sich endlich Mal wieder richtig ausgeschlafen und, zu seiner eigenen Verwunderung, waren die Stimmen in seinem Kopf nur ein feines, leises Flüstern, drohend zwar, aber leise. Sein Gehirn hatte die Kontrolle von selbst, während dem Schlaf, übernommen und alles, was nicht seine eigenen Gedanken waren, in den Hintergrund gedrängt.

„Du hast auch verdammt lange danach ausgesehen“, meinte Logan.

Charles sah ihn fragend an. Was meinte er damit? Er hatte doch nur geschlafen, was war daran so spektakulär? Als wäre Hank der Telepath und könne Gedanken lesen, antwortete er:

„Du hast zwei volle Tage durchgeschlafen und dich nicht wirklich bewegt oder sonst irgendwelche Lebenszeichen von dir gegeben. Wenn du nicht geatmet hättest, hätte man wirklich meinen können, du seist tot.“

Der Kleinere zog eine Augenbraue hoch und wandte den Blick an Erik. Dieser hatte noch gar nichts gesagt, sah ihn einfach nur erleichtert an und…

Er lebt…danke! Ich weiß nicht was ich ohne ihn getan hätte!

Charles lächelte verwundert. Erik hatte sich wirklich Sorgen um ihn gemacht. Hatte er so schlecht ausgesehen? Er erlaubte sich kurz in Eriks Gedanken zu verweilen und dort nach Bildern der letzten beiden Tage zu suchen. Er fand auch welche, aber nur Bilder die mit Schmerz und Fassungslosigkeit einhergingen. Charles sah, wie Erik versuchte mit ihm zu reden, von ihm aber keinerlei Reaktion kam. Der Größere schien fast daran zu verzweifeln. Er hatte wirklich einen Moment lang geglaubt er sei tot und das er daran schuld war. In diesem Moment schien es Erik innerlich zu zerreißen, doch dann hatte Charles leicht den Kopf gedreht und unendliche Erleichterung und Dankbarkeit machte sich in Erik breit.

„Charles?“

Logans Stimme holte ihn in das Zimmer zurück. Er sah immer noch Erik an, der jetzt, da er nicht mehr in seinen Gedanken war, ein paar Mal blinzelte, bevor sein Blick sich wieder auf ihn fixierte. Charles versuchte sich in eine sitzende Position zu drücken, hatte aber keine Kraft in den Armen und sank wieder in die Kissen zurück und musste sich ein Lachen verbeißen. Das Schauspiel eben war zu köstlich. Sobald den dreien klar geworden war, dass er sein Vorhaben nicht alleine schaffte, hatten sie ihm helfen wollen. Nun standen drei erwachsene Männer, wie eingefroren, vor seinem Bett, jeder hatte eine Hand nach ihm ausgestreckt und einen Gesichtsausdruck, den noch nicht einmal Charles deuten konnte. Bevor sie Szene oder das vorherrschende Schweigen noch peinlicher werden konnte, löste Erik sich aus seiner Starre und half Charles. Der Größere ließ es sich nicht nehmen, den Kleineren einmal fest in die Arme zu schließen und ihm einen Kuss auf die Schläfe zu hauchen.

„Können Sie es jetzt wieder kontrollieren?“, wollte Logan wissen und lehnte sich gegen den schweren Eichenschreibtisch, der vor dem Fenster stand.

„Ich denke schon…“

Irritierte Blicke trafen ihn und Charles holte tief Luft.

„Was erwartet ihr? Ich war fast zehn Jahre von diesem Serum abhängig und habe meine Fähigkeiten vernachlässigt. Es ist unmöglich diese Zeit in drei oder vier Tagen nachzuholen. Mein Gehirn arbeitet schnell, aber das übersteigt auch seine Fähigkeiten“, erklärte er. „Ich kann die Stimmen im Hintergrund halten. Sie sind noch da und wenn ich nicht aufpasse brechen sie über mir zusammen, aber ich kann sie kontrollieren. Das Problem ist, dass ich eure Gedanken nicht so leicht ausschließen kann, da ihr in meiner Nähe seid. Allerdings finde ich das auch nicht weiter schlimm. Ihr habt warme, helle Gedanken und das hilft mir, jene mit Schmerz vollkommen aus meinem Kopf zu verbannen.“

„Im Klartext heißt dass, Sie haben ihre Fähigkeiten im Griff, nur nicht wenn es um unsere Gedanken geht“, fasste Logan zusammen.

Charles nickte. Er begann diesen Mann zu mögen. Seine direkte Art und dass er sich von nichts unterkriegen oder beeinflussen ließ. Auch dass er impulsiv war, störte ihn nicht und das seine Gedanken meist in krassem Kontrast zu dem standen, was er tat und sagte, war einfach nur faszinierend. Jetzt gerade strahlten sie eine Erleichterung aus, die fast an Eriks heranreichte. Hank war einfach nur glücklich und Charles spürte, dass er froh war, Erik geholfen zu haben, trotz der anfänglichen Zweifel.

Und noch etwas wurde dem Telepathen in diesem Moment klar, nämlich wie sehr sein Verhalten andere gefährdet hatte. Jetzt, da sein Gehirn wieder arbeiten konnte, wie es wollte und musste, war er nur geschockt über sich selbst. Vor allem wenn er daran dachte, wie er versucht hatte sich selbst in eine Ohnmacht zu versetzten. In diesen Momenten war ihm egal gewesen, was passieren konnte. Jetzt allerdings wurde er sich der Risiken bewusst und konnte nur den Kopf schütteln. Er hätte dabei sterben können und es war ihm egal gewesen. Er hatte seine Gabe so sehr unterdrücken wollen, dass er dieses Risiko gerne in Kauf genommen hatte. Was das für Hank bedeutet hatte, wurde ihm auch erst jetzt klar. Er war sein Freund, sein treuester um genau zu sein und er hatte ihn gezwungen mitanzusehen, wie er sich selbst fast zugrunde richtete und keinen Respekt mehr vor dem Leben hatte, den er so lange versucht hatte, Erik beizubringen.

„Es tut mir leid“, hörte er sich selbst sagen und richtete den Blick auf Hank. „Es tut mir wirklich leid, Hank. Was ich dir zugemutet habe war...schrecklich. Ich hoffe du kannst mir irgendwann verzeihen.“

„Schon geschehen, Professor. Schön, dass es Ihnen jetzt wieder besser geht. Nur tun sie mir einen Gefallen?“, fragte Hank mit einem Lächeln. „Lassen sie sich bitte nie wieder so gehen.“

„Versprochen“, lachte Charles.

„Das alles ist sehr ergreifend und ich freu mich auch für Sie und alle anderen, denen Sie jetzt noch helfen werden“, unterbrach Logan das Gespräch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber meine Freunde schweben immer noch in Lebensgefahr und durch Ihre Eskapaden, haben die Chance, dass ich sie alle lebend wiedersehe erheblich geschmälert. Wir müssen Mystique finden und sie aufhalten, bevor sie Trask tötet und ich schätze dafür haben wir nicht mehr allzu viel Zeit. Also bitte, könnten Sie Cerebro benutzten und sie ausfindig machen?“

Charles sah zu Hank.

„Hank, könntest du…“

Dieser nickte, kam näher an das Bett heran und nahm den Kleineren auf die Arme, dann bedeutete er den anderen beiden ihnen zu folgen. Charles kaute auf seiner Unterlippe. Zum einen, weil ein Gefühl der Eifersucht von Erik ausging, dass ihn belustigte und er nicht laut loslachen wollte. Dass hatte dieser nun davon, was fiel ihm auch ein ihn, mit dem Bett, an das Bett zu fesseln? Zum anderen, weil er gleich in seinem alten Rollstuhl sitzen und diesen ab jetzt, für immer brauchen würde. Denn so viel stand fest: Nie wieder würde er sich so sehr von seinen Gefühlen beeinflussen lassen, dass er seine Gabe unterdrückte. Jetzt, da sie nämlich wieder da war, spürte er, dass er wieder komplett war und nicht mehr zerrissen, wie es einige Tage zuvor noch gewesen war.

Hank brachte ihn in sein Arbeitszimmer und öffnete dort einen Schrank. Zwischen alten Kleidern, die unordentlich an einer Stange hingen, kleinen Kartons und Büchern, stand der Rollstuhl. Charles würde es nie zugeben, aber er kam immer noch nicht damit klar, dass er nie wieder auf eigenen Füßen laufen konnte. Er wollte das einfach nicht wahrhaben. Aber er war sicher, dass er das irgendwann einsah und sich daran gewöhnen würde. Bis dahin würde er einfach weiter so tun, als mache ihm das Ganze nichts aus.

Immer noch auf seiner Unterlippe kauend machte er sich auf den Weg zu Cerebro. Logan, Hank und Erik begleiteten ihn und Charles war froh darüber. Er wusste nicht, wie er auf die Maschine reagieren würde, was sein Gehirn tun würde, nach der langen Zeit in der es unterdrückt worden war.

Du weiß schon, dass mich das Verrückt macht?

Eriks Gedanke erreichte ihn mit einer Woge von Verlangen, die nur langsam wieder verebbte. Charles hütete sich den Größeren anzusehen, solche Empfindungen konnte er nicht gebrauchen, wenn er gleich Cerebro benutzte.

Was

Wenn du auf deiner Lippe kaust. Wenn ich es sehe, möchte ich es auch tun.

Was? Auf deiner Lippe kauen? Mach doch, ich halte dich bestimmt nicht auf.

Leichter Unglaube und leise Verärgerung darüber, dass Charles sich dumm stellte, folgte dem Verlangen und ließ den Telepathen schmunzeln.

Auf deiner Lippe kauen kam es gereizt von Erik zurück.

Das würde ich unterlassen, wenn Hank dabei ist. Er vertraut dir immer noch nicht.

Erik schwieg und Charles richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Umgebung. Verwirrt blinzelte er, als er Cerebros Eingangstür vor sich sah. Er hatte nicht gemerkt, dass sie schon angekommen waren. Es hätte ihn nichtgewundert, wenn die Anlage nicht mehr funktionierte, immerhin war sie seit zehn Jahren außer Betrieb. Er fuhr näher an die Tür heran, bis der automatische Augenscann sich aktivierte. Das grelle Licht brannte etwas in den Augen, dann erklang die vertraute Stimme:

„Willkommen, Professor.“

Und die Tür ging auf. Sich die Augen reibend fuhr Charles auf dem Steg, bis zum Kontrollpullt. Mit leichter Verwunderung stellte er fest, dass er nervös war. Sein Atem war etwas beschleunigt und er sah unschlüssig zu dem Helm. Die Stimmen in seinem Kopf waren leiser, aber das waren nur die, welche er von sich aus hörte. Cerebro würde das Ganze verstärken und er würde alle Mutanten und Menschen auf der Welt wahrnehmen. Charles war sich nicht sicher, ob er das überstehen würde. Er schloss kurz die Augen und holte tief Luft. Dann griff er nach dem Helm, setzte ihn auf und aktivierte Cerebro.

Im ersten Moment passierte nichts. Er sah nur wie sich langsam alle Menschen und Mutanten vor seinem inneren Auge und somit auch innerhalb von Cerebro abbildeten. Noch waren sie Still, doch im nächsten Moment begann das Flüstern und schwoll schnell zu einem Orkan an, der Charles mitreisen wollte. Genau in diesem Moment legten sich zwei Arme um ihn und er spürte Eriks Wange an seiner.

„Ganz ruhig, du hast alle Zeit der Welt. Setzt dich nicht selbst unter Druck“, flüsterte dieser ihm ins Ohr, was Charles ungemein beruhigte.

Der Kleinere schloss kurz die Augen und konzentrierte sich auf Eriks klare, strukturierte Gedanken und übernahm quasi den gut durchdachten Strukturplan, der ihnen zugrunde lag, um seine eigenen Gedanken zu ordnen. Als ihm das gelungen war, machte er sich auf die Suche nach Raven.

„Ich hab sie“, erklang seine angestrengte Stimme einige Minuten später.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

„Wir müssen Trask finden, dann finden wir auch Raven und wir müssen uns beeilen“, meinte Charles, als sie das Gebäude betraten.

Sie hatten ihren Plan vorher gut durchgesprochen. Keiner sollte zu Schaden kommen. Sogar Erik hatte ihm versprochen sich zurück zu halten. Mit jeder Minute, die sie brauchten um die beiden zu finden, wurde Logan nervöser und Charles genauso. Immer hin stand ihre Zukunft auf dem Spiel.

Obwohl sie schon einige Zeit durch das Gebäude gelaufen waren, hatten sie nach kein Zeichen von Raven gesehen. Was ja auch ziemlich schwer war. Aber auch Charles hatte seine Schwierigkeit damit ihre Gedankenstimme aus allen anderen heraus zu filtern. Aber er war zuversichtlich sie rechtzeitig zu finden. Immerhin kannte er ihre Gedanken. Er wusste genau, worauf er achten musste, um sie zu finden. Nach einigen Minuten beschlossen sie sich zu trennen. Logan und Hank machten sich auf die Suche nach Trask und Erik würde mit Charles nach Raven suchen.

„Keine Sorge, wir finden sie schon rechtzeitig“, meinte Charles, als er Eriks Gedanken hörte.

Der Größere machte sich wirklich Sorgen um ihre gemeinsame Freundin. Außerdem war da noch etwas, das weder Hank noch Logan wissen konnten. Erik gab sich die Schuld daran, das Raven so geworden war. Er glaubte einen Teil seiner negativen Energie an sie weitergegeben zu haben. Charles ertappte sich bei dem Gedanken, dass er vor einigen Wochen noch das Gleiche gedacht hatte. Aber jetzt, zu diesem Zeitpunkt, mit seiner neuen und gleichzeitig alten Sichtweise gegenüber Erik, glaubte er nicht das dieser Schuld an Ravens Einstellung hatte, nicht alleine.

„…Ies? Charles, hörst du mir überhaupt zu?“, drang Eriks Stimme durch den Nebel seiner Gedanken.

„Entschuldige, ich war gerade in Gedanken“, erwiderte Charles und lächelte ihn an.

„In wessen denn?“

„Zur Abwechslung mal in meinen eigenen. Aber keine Angst ich suche noch nach Raven… und ich hab sie gefunden. Wir müssen in den ersten Stock!“

Letzteres sandte er auch Hank und Logan zu und bekam sofort die Bestätigung der beiden, dass auch Trask auf dem Weg in den ersten Stock war.
 

Nachdem Sie sich getrennt hatten, wurde Hank gesprächiger. Er erzählte Logan von seiner Unterhaltung mit Erik. Es sprudelte förmlich aus ihm heraus und Logan tat ihm den Gefallen zuzuhören, auch wenn er sich mehr darauf konzentrierte Trask aufzuspüren. Logan hatte diesen kleinen Teufel nur ein einziges Mal gesehen, aber sein Geruch hatte sich ihm in die Nase gebrannt, als wäre er mit Säure versetzt gewesen. Er konnte ihn überall riechen und so mussten sie nur in den Räumen nachsehen, in denen sein Geruch haftete. So kamen sie schon einmal schneller voran. Wenn dann Hank endlich mal aufhören würde über seine nicht vorhandenen Beziehungsprobleme zu reden…

„Na schön“, brummte Logan und sah Hank, über die Schulter hinweg an. „Auf den Punkt gebracht bist du in Raven verknallt und sie war es auch in dich. Aber sie ist mit Magneto mitgegangen, weil sie ihn mehr liebte. Nachdem sie dir erzählt hat, dass er diese Liebe nicht erwiderte, hast du jetzt wieder Hoffnung bei ihr landen zu können.“

Er schwieg eine Sekunde, um die Luft durch die Nase einzusaugen und wandte den Kopf ruckartig nach rechts. Trask war ganz in der Nähe.

„Ich sehe dein Problem nicht, Zottelbär. Rede mit ihr. Mehr kann ich dir nicht raten. Die Mystique, die ich kenne, willst du bestimmt nicht als Freundin haben. Vielleicht kannst du sie ja ändern.“

Er hörte, dass Hank etwas sagte, achtete aber nicht darauf. Sein Blick irrte durch den Flur, in dem sie gerade standen. Trask kam näher, aber er sah ihn noch nicht.

„Kein Wunder, bei seiner Größe“, dachte er und grinste.

Doch dann gefror ihm das Grinsen auf den Lippen. Ein Mann, von der Größe eines Kindes und in einen Anzug gekleidet, mit braunen Haaren, braunen Augen und Brille, kam den Flur entlang, geradewegs auf sie zu. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, dass jedem anderen zeigen sollte, dass er etwas Besseres war. Hinter ihm liefen zwei weitere Männer, die eine normale Größte hatten, ebenfalls in Anzüge gekleidet. Einer von ihnen trug einen Koffer bei sich.

„Trask“, knurrte Logan und starrte diesen an.

Er musste seine ganze Willenskraft aufbringen, um Mystique nicht zuvor zukommen und diesen Giftzwerg zu durchlöchern. Dieser Mann stand für all das Leid, welches ihm und seinen Freunden widerfahren war, für die größte Angst eines jeden Mutanten in der Zukunft. Doch vor allem hatte dieser Mann Schuld am Tod zahlreicher Freunde und Schüler. Logans Hass auf ihn wuchs mit jeder Sekunde, die er ihn ansah. Am liebsten wäre er hingegangen und hätte ihm die Krallen in das kalte Herz gerammt. Aber damit war niemandem geholfen. In der Zukunft gab es den Krieg nicht, weil Trask getötet wurde, sondern weil er von einem Mutanten getötet wurde. Ob das nun Mystique oder Logan war, würde an dem Ergebnis nichts ändern. Er musste sich und seine Wut beherrschen, sonst würde am Ende noch alles schlimmer werden.

„Wir müssen ihm folgen“, murmelte Logan und sah Hank an. „Sie wird ihn nicht in der Öffentlichkeit töten, sondern den passenden Zeitpunkt abwarten.“

Hank nickte und richtete seinen Blick auf Trask.

„Hoffentlich erkennen wir sie rechtzeitig“, meinte er.

Sein Blick haftete auf Trask, als sähe er dort seine Beute. Logan konnte das gut nachvollziehen. Aber wenn er diesen Zwerg weiter so anstarrte, dann würde er Sie noch verraten. Trask sah sich jetzt schon nervös um. Bevor sein Blick auf die beiden fallen konnte, zog Logan Hank in ein angrenzendes Zimmer. Er musste ihm wohl mal etwas über Instinkte erklären. Er grinste, bei dem Gedanken ausgerechnet Beast etwas darüber erklären zu müssen.

„Hör mal auch Menschen haben Instinkte. Sie spüren es, wenn man sie anstarrt. Manche spüren es sogar so stark, dass sie erkennen, aus welcher Richtung man sie ansieht. So wie ich Trask einschätze, kann er sogar sagen, wer genaue ihn angesehen hat“, meinte Logan.

Hank nickte und senkte den Blick. Das hätte er eigentlich wissen müssen. Immerhin hatte er selbst auch diese Instinkte, auch wenn er kein gewöhnlicher Mensch war, so hätte er das doch schlussfolgern können. Er sah, wie Logan sich wieder dem Flur zuwandte und tat es ihm gleich. Sie sahen gerade noch, wie Trask die Treppe hinauf ging. Hank wallte ihm schon nachlaufen, als Logan ihn am Arm zurückhielt.

„Nicht so schnell, Kleiner. Wenn wir ihm nach rennen bemerkt er oder einer seiner Gorillas uns. Dann ist er weg und wir finden deine Freundin nicht.“

Logan zählte in Gedanken auf zehn, bevor er Hank losließ und Trask folgte. Gerade als er einen Fuß auf die erste Stufe setzte erklang Charles Stimme in seinen Gedanken.

Wir müssen in den ersten Stock.

Ich weiß, Trank ist auch da. Ich würde dem Kerl am liebsten den Arsch aufreisen.

Nicht heute, wir müssen Raven aufhalten.

Jaja, ich weiß.

Logan rollte mit den Augen und ging weiter, dicht gefolgt von Hank. Er war überrascht Charles und Erik am oberen Treppenabsatz zu sehen.

„Wie kommt ihr jetzt hier hoch?“

„Fahrstuhl, oder bist du schon mal mit einem Rollstuhl die Treppen hochgefahren?“, antwortete Erik, mit einer Kopfbewegung zu besagtem Fahrstuhl.

„Wir müssen uns beeilen! Trask hat Raven enttarnt“, warf Charles plötzlich ein und fuhr den Flur hinunter, ohne auf die drei anderen zuwarten.

Er musste sich beeilen. Raven würde gleich den größten Fehler ihres Lebens machen, er musste sie aufhalten! Mit Hilfe seiner Gabe verfolgte er den Kampf zwischen Raven und den anwesenden Generälen. Trask stand einfach nur dabei und sah ihr fasziniert zu. Ein kurzer Blick in seine Gedanken verriet Charles, dass er gerade die Pläne schmiedete, welche ihr aller Untergang bedeuten würde. Er durfte Raven niemals in die Hände bekommen.

Im nächsten Moment stieß Charles die Tür zu dem Besprechungszimmer auf und betrat es, gefolgt von Erik, Hank und Logan. Raven stand auf dem Tisch, eine Pistole in der Hand und zielte auf Trask, der mit leicht erhobenen Händen dastand und Raven weiterhin fasziniert ansah.

„Nicht, Raven!“, rief Charles.

Diese verharrte werklich und warf einen ungläubigen Bleck in die Runde. Sie konnte es nicht fassen. Erik und Charles waren gemeinsam hier. Charles lächelte, als er diesen Gedanken hörte. Doch das Lächeln gefror auf seinem Gesicht, als Raven sich plötzlich versteifte und zuckend auf die Tischplatte fiel. Zwei Metallstäbchen eines Elektroschockers hafteten auf ihrem Oberkörper. Mit einem Knurren und einer schnellen Geste seiner rechten Hand befreite Erik sie von dem Elektroschocker und schleuderte die Stäbchen an den Hals des Mannes, der damit auf Raven geschossen hatte. Charles fuhr zu dem Tisch und half Raven beim Aufstehen. Trask hatte sich aus dem Staub gemacht, aber das war egal. Sie hatten seinen Mord verhindert und das war alles, was im Moment zählte.

Ich kann das nicht zulassen.

Was als nächstes passierte war für Charles unbegreiflich. Er hörte diesen Gedanken von Erik, griff nach Ravens Arm und zog sie hinter sich. Als er den Blick auf Erik richtete, sah er nicht, wie gewollt, in seine Augen, sondern in den Lauf einer Pistole. Angst erfasste ihn. Nicht vor der Waffe, es war nicht das erste Mal, dass er sich auf dieser Seite einer Pistole befand. Er hatte Angst, dass Erik wieder alles zu nicht machte, was sie sich aufgebaut hatten.

Erik, bitte tu das nicht. Wir haben doch geschafft was wir wollten. Trask lebt noch und hat Raven nicht bekommen. Bitte, du musst das nicht tun!

„Tut mir leid, aber nur so kann das Ganze verhindert werden“, meinte Erik laut.

Keiner der anderen kannte den wahren Grund, warum er das tat. Bevor Task verschwunden war, hatte er etwas gemurmelt, das nur Erik gehört hatte. Er sagte, dass er sie bald soweit hatte und sie ihn angreifen würde, wenn er Glück hatte sogar vor laufender Kamera oder zumindest im Beisein von einer Menschenmenge. Den Rest konnte Erik sich denken. Wenn Trask Mystique dazu gebracht hatte ihn anzugreifen, würde der Präsident das Sentinal-Programm unterstützen. Dann würde ihre Zukunft sich nicht bessern, sondern gleich bleiben oder schlimmer werden. Er hatte Charles in der Vergangenheit schon so viele Schmerzen zugefügt, jetzt würde er alles tun, damit seine Zukunft nicht auch davon geprägt war. Auch wenn das hieß, dass er wieder seinen Hass auf sich ziehen würde und sie nicht mehr zusammen sein konnten. Solange Mystique lebte, würde niemals der Friede im Land herrschen, den Charles sich so sehr wünschte und verdiente. Er musste sie beseitigen, um ihre Zukunft zu sichern. Doch die Zeit dazu blieb nicht. Gerade als er abdrücken wollte schob Charles sich vor Mystique und schützte sie so mit seinem eigenen Körper.

„Geh zu Seite, Charles“, knurrte Erik.

Konnte er denn nicht verstehen, dass er das nur für ihn tat? Er war bereit die Person zu töten, die ihm neben Charles am wichtigsten war und am meisten bedeutete.

„Erik, zwing mich bitte nicht dazu dich zu kontrollieren“, entgegnete Charles in flehendem Tonfall.

Er dachte nicht daran, Ravens Schutz aufzugeben. Lieber würde er sich selbst erschießen lassen. Im nächsten Moment fiel ihm ein, dass Erik nicht geradeaus schießen musste. Er konnte die Kugel um ihn herum fliegen lassen und würde Raven trotzdem treffen. Charles warf einen Blick zu Hank und dieser verstand sofort. Der Kleinere würde seine Kräfte nicht gegen Erik einsetzen, sie mussten ihn anders aufhalten.

Charles gab ihm und Raven gleichzeitig ein Stichwort. Hank sandte er ein Jetzt und Raven ein Lauf!

Beide reagierten augenblicklich. Hank warf sich auf Erik und Raven sprang aus dem Fenster. Doch der Schuss, den Charles hatte verhindern wollen, fiel trotzdem. Die Kugel zischte so nahe an seinem Kopf vorbei, dass er die Hitze auf seiner Wange spürte. Wie gelähmt starrte Charles auf Erik, der seinen Blick geschockt erwiderte. In seinem Blick lag Angst, fast schon Panik, weil er glaubte ihn getroffen zu haben. Allerdings überwand Erik den Schock schneller und kämpfte sich aus Hanks Griff. Er machte eine Handbewegung, die Charles nur zu gut kannte. Dann rannte er an ihm vorbei und sprang hinter Raven her.

„Ich kümmere mich um ihn“, kam es von Hank, der seine wahre Gestalt angenommen hatte.

Charles nickte, wollte ihm aber trotzdem helfen, als ihm plötzlich Logans Gedanken entgegen schlugen. Er schien eine Art Schock zu haben. Charles schlugen Erinnerungen entgegen, die noch gar nicht passiert waren und Logans Geist schien in eine Leere abzudriften, in der es nichts gab, außer diesen schrecklichen Erinnerungen. Er musste ihm irgendwie helfen. Hank würde mit Erik zwar nicht fertig werden, dass wusste Charles, aber er konnte Raven Zeit verschaffen und das würde ihr ausreichen, um in der Menge unterzutauchen. Um den Rest würde er sich später sorgen. Jetzt musste er Logan helfen, sonst würde dieser nicht mehr aus dem Wahnsinn herausfinden, in den er gerade gestürzt wurde. Er wandte sich ihm zu und verschaffte sich Zugang zu seinem Geist.

Logan? Du musst dich auf meine Stimme konzentrieren, hörst du? Das Ganze passiert nicht wirklich, das sind deine Erinnerungen. Bleib im hier und jetzt, sonst wirst du nie wieder zurückkommen können. Wenn du dich auf meine Stimme konzentrierst, helfe ich dir dabei. Konzentrier dich einfach nur auf mich.

Charles Stimme klang ruhig, fast so als würde er Logan hypnotisieren wollen und tatsächlich gelang es ihm den anderen aus seinen Erinnerungen zu reisen und wieder ins Hier und Jetzt zu bringen. Doch schien das eine kleine Ewigkeit zu dauern. Logan sah ihn dankbar an. Allerdings blieb ihm nicht viel Zeit um sich zu bedanken, da plötzlich ein Alarm durch das Haus schallte.

„Wir müssen hier raus, Professor“, meinte Logan.

So schnell sie konnten, verließen sie das Gebäude und fanden Hank, der schon nach ihnen zu suchen schien. Er sah mitgenommen aus und Charles erkannte blaue Flecken an seinen Armen und seinem Hals. Das war Eriks Verdienst, da war er sich sicher.

„Er ist weg, in der Menge untergetaucht, genau wie Raven“, erklärte Hank, als er bei ihnen ankam.

Das war so typisch Erik, Charles hätte es nicht wundern sollen und trotzdem war er enttäuscht und wütend. Er hatte wirklich gehofft, dass Erik sich geändert hatte. Aber diese Hoffnung hatte sich gerade in Luft aufgelöst.

„Wir müssen zurück. Ich habe Raven einmal gefunden, dann finde ich sie auch ein zweites Mal“, sagte er tonlos und wandte sich von der Menschenmenge ab.

„Was ist mit Magneto?“, wollte Logan wissen.

„Was soll mit ihm sein? Er hat seinen Standpunk mal wieder klar gemacht. Ich werde ihm nicht noch einmal nachtrauern.“

Doch nicht nur Charles wusste, dass das gelogen war.

Der Rückflug war die pure psychische Hölle für Charles. Er hatte gehofft, dass Erik endlich Vernunft angenommen hatte. Stattdessen sah es so aus, als würde er wirklich langsam den Verstand verlieren. Wie kam er auf die absolut bescheuerte Idee Raven zu erschießen? Warum hatte er das getan? Warum musste er das ausgerechnet jetzt tun, jetzt da er wieder Vertrauen in ihn gefasst hatte?

Sein Blick hing auf dem Sofa, dem er gegenübersaß. Seinem Gesicht war nicht anzumerken, was er dachte. Er sah vollkommen ausdrucklos dorthin. In seinen Kopf tobte ein Chaos, das er besiegt geglaubt hatte. Die Bilder der letzten Tage, aber vor allem die des Hinfluges, wirbelten in seinen Gedanken durcheinander. Hinzu kam alles, was Erik zu ihm gesagt, alles was er ihm versprochen und jetzt wieder gebrochen hatte. Mit einem Ruck wandte er den Blick von dem Sofa ab und kaute auf seiner Unterlippe. Dann griff er in seine Hosentasche und holte eine Spritze heraus.

„Glauben Sie wirklich, dass das weiterhilft?“, erklang plötzlich Logans Stimme, hinter Charles.

„Das ist nicht das Serum, welches meine Kräfte unterdrückt“, entgegnete dieser leicht gereizt.

„Noch nicht.“

„Halt dich da raus. Selbst wenn es das Serum wäre, ist das immer noch meine Sache!“

Warum musste sich jeder in seine Angelegenheiten einmischen? Wenn er sich jetzt dazu entschließen würde, das Serum wieder zu nehmen, konnte ihn keiner davon abbringen und was hielt ihn eigentlich auf, es zu tun? Alles würde wieder so viel leichter werden und doch wäre er nicht glücklich damit. Er konnte nicht mit dem Gewissen leben, nicht alles getan zu haben, um Raven zu beschützen. Er musste sie finden und zwar vor Erik. Und doch war die Versuchung einfach zu groß. Er musste das Serum loswerden. Mit einer entschlossenen Geste hielt er Logan die Spritze hin, ohne ihn anzusehen.

„Tu mir den Gefallen und spül es den Klo runter oder sonst was, aber vernichte es. Alles davon. In meinem Zimmer, unter dem Bett, steht eine Kiste in der noch mehr Spritzen sind und im zweiten Bücherregal, hinter den Büchern, liegen auch noch welche“, meinte Charles, mit einem Seufzen. „Und bitte sag Hank, er soll den Rest wegschütten. Ich will nie wieder etwas von diesem Serum sehen.“

Logan sah ihn verwundert an. Er hätte ihm nicht so viel Mut zugetraut, nicht in dieser Situation.

„Ich mir selbst auch nicht, glaub mir“, murmelte Charles, als Antwort auf Logans Gedanken und fuhr zu einem der kleinen Fenster auf der rechten Seite.

Er wollte nicht weiter reden, wollte sich einfach nur in seinem Geist verkriechen und an nichts und niemanden mehr denken. Wenigstens ein letztes Mal noch, wollte er selbstsüchtig sein und war es auch. Er war selbst verwundert darüber, wie schnell er seine Barriere errichten und sich von der kompletten Außenwelt abschirmen konnte. Es fühlte sich an, als säße er in einem dunklen Raum, in dem außer ihm nichts vorhanden war und es fühlte sich gut an. Es beruhigte ihn, an nichts zu denken, einfach einmal alles auszusperren, sogar seine eigenen Gedanken und doch…diese Stille war gefährlich. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich darin verlieren. Diese selbst auferlegte Isolation von allem konnte ihn gefangen nehmen. Aber das würde er nicht zulassen, nicht so lange er Raven nicht geholfen hatte.

Etwas riss Charles aus seiner Isolation und er stellte verwundert fest, dass er die Augen geschlossen hatte. Jetzt öffnete er sie langsam und seine Verwunderung wurde noch größer. Er lag in seinem Bett und sah jetzt zur Decke hoch. Mit gerunzelter Stirn schaute er sich in seinem Zimmer um. Wann waren sie gelandet? Wer hatte ihn in sein Zimmer gebracht und wie lange lag er schon hier? Sein Blick fiel auf den Rollstuhl, der neben dem Bett stand. Einen Moment zögerte Charles, da er die angenehme Wärme des Bettes eigentlich nicht verlassen wollte. Aber er musste wissen, wie lange er sich zurückgezogen hatte, immerhin war es schon dunkel draußen.

Charles kämpfte sich in eine sitzende Position und stützte sich mit einer Hand auf der Matratze ab, um nicht wieder zurückzufallen. Dann streckte er sich nach dem Rollstuhl, kam aber nicht daran. Schnaubend ließ er sich nun doch wieder auf die Matratze fallen und rollte sich auf den Bauch, um so näher an die Kante des Bettes zu rutschen. Als das geschafft war, streckte er ein weiteres Mal die Hand aus und bekam den Rollstuhl zu fassen. Er zog ihn näher an das Bett und drehte sich wieder um. Ein weiteres Mal stemmte er sich in eine sitzende Position und griff nach seinen Hosen. Er hielt sie über den Knien fest und hob so seine Beine aus dem Bett. Jetzt kam erst der schwierige Teil. Er streckte die Hände nach den Armlehnen des Rollstuhles aus und stützte sich darauf, um sich in diesen sinken zu lassen. Aber das funktionierte erst beim vierten Mal.

„Ich muss trainieren“, brummte Charles verstimmt.

Er war noch nie der kräftigste gewesen. Aber das gerade eben war wirklich ein Armutszeugnis seiner Kraft. Einen Moment gönnte er sich den Luxus, seine schmerzenden Arme zu reiben, dann setzte er den Rollstuhl in Bewegung und machte sich auf die Suche nach Hank oder Logan. Als er die beiden so nicht fand, benutzte er seine Gabe und entdeckte sie im Keller. Stirnrunzelnd fuhr er zum Fahrstuhl und in den Keller hinab. Was die beiden wohl taten?

Er konnte es schon von weitem hören. Aus einem der Trainingsräume kam ein lautes Krachen und unterdrückte Schmerzenslaute. Gerade als Charles an der Tür ankam, dröhnte Logans Stimme durch diese.

„Ist das alles, was du drauf hast, Beasty?!“

Als Antwort hörte man Hanks Knurren und spätestens, als etwas gegen die Wand schlug (Charles war sich sicher, dass dieses Etwas Logan gewesen war), beschloss er die beiden in Ruhe zu lassen. Stattdessen schlug er den Weg zu Cerebro ein. Wenn die beiden trainierten, konnte er in Ruhe nach Raven suchen.

Als er vor Cerebros Tür stand und die Computerstimme erklang, wurde ihm erst bewusst, wie sehr er diese vermisst hatte. Lächelnd wartete er darauf, dass die Tür sich ganz öffnete und fuhr zum Kontrollpult. Ohne Zögern setzte er den Helm auf und holte tief Luft, um seinen Geist zu beruhigen. Nach und nach hörte er immer mehr Stimmen und zu seiner Erleichterung war es eine gesunde Mischung aus positiven und negativen Gefühlen, die in seinen Geist flossen. Er tastete jeden fremden Geist ab, um herauszufinden, ob es Raven war. Je mehr Menschen er berührte, umso unverständlicher erschien ihm die Tatsache, dass er das alles aufgegeben hatte. Es war erfrischend mit anderen mitzufühlen, vor allem wenn sie gerade etwas Schönes erlebten.

Charles?

Charles stockte. Das war nicht Raven, sondern Erik. Sein Geist hatte unbewusst nach ihm gesucht, was den Kleineren etwas wütend machte. Er wollte und wollte auch wieder nicht mit ihm reden. Doch bevor er es verhindern konnte, übernahmen seine Gedanken die Entscheidung für ihn.

Erik, wo bist du? Geht es dir gut? Bitte sag mir, dass du Raven nicht getötet hast!

Es tut gut, deine Stimme zu hören.

Das war nicht meine Frage.

Warum konnte er nicht einfach einmal darauf antworten, was Charles ihn fragte?

In Sicherheit, ja und nein, ich habe sie noch nicht gefunden. Charles, es tut mir…

Nein!

Der Schrei war wohl etwas zu heftig. Charles spürte, dass er Erik Schmerzen zugefügt hatte, aber er würde sich nicht dafür entschuldigen.

Nein, ich will deine Entschuldigungen, deine Ausreden nicht. Du hast versucht meine Schwester zu töten. Du wolltest Raven töten! Sie hat dich geliebt!

Ich liebe sie auch. Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie unser Untergang ist!

Nein…Erik, du… Charles gab einen genervten Ton von sich …du verstehst das falsch. Nicht sie ist unser Untergang, sondern die Tatsache, dass sie Trask getötet hätte, hätten wir es nicht verhindert.

Und du glaubst, sie wird es nicht wieder versuchen? Du müsstest sie eindeutig besser kennen. Verschwände nicht meine Zeit damit, mich ein weiteres Mal belehren zu wollen.

Dann brach die Verbindung ab und an der Stelle, wo gerade noch Eriks Geist gewesen war, spürte Charles nur noch die schmerzhaft bekannte Leere. Aber bevor der Größere Shaws Helm aufgesetzte hatte, konnte Charles noch etwas sehen, etwas das Erik ihm niemals gezeigt hätte und das seinem Herzen einen noch größeren Stich versetzte.

Erik tat das, weil er ihn liebte, nicht weil er Raven unbedingt tot sehen wollte. Er wollte ihm Frieden schenken und glaubte solange Raven lebt, ginge das nicht. Aber da täuschte er sich. Wenn die Menschen einen Krieg anfangen wollten, würden sie seine Schwester nicht brauchen. Jeder Mutant konnte der Auslöser sein. Dass es in der Zukunft ausgerechnet Raven war, hatte Charles zu Beginn geschockt. Doch sie war schon immer eine starke junge Frau gewesen und hatte getan und meistens auch bekommen, was sie wollte.

Doch Charles Gedanken blieben nicht lange bei Raven, sondern wanderten zu Erik zurück und ein Lächeln huschte über seine Lippen. Der Größere liebte ihn noch und auch er selbst, fand keine Wut mehr auf ihn. Erik hatte zwar den falschen Weg, aber die richtige Absicht. Vielleicht konnte er ihn doch noch dazu bringen, seine Sichtweisen zu ändern?

Charles schüttelte den Kopf. Erik würde sich nicht ändern. Im Gegenteil, wahrscheinlich würde er wütend werden und nie wieder mit ihm reden, so wie es vor zehn Jahren schon einmal fast passiert wäre. Nein, er wollte ihn nicht noch einmal verlieren, deshalb wollte er ihn auch nicht mehr verändern. Wenn es bedeutete, dass sie immer wieder gegeneinander kämpfen mussten, dann würde Charles es akzeptieren. Lieber war er mit Erik durch diese Art von Hass-Liebe verbunden, als gar keinen Kontakt zu ihm zu haben.

„Du bist so ein hoffnungsloser Masochist“, murmelte Charles zu sich selbst und fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. „Wer weiß, vielleicht passen wir deshalb so gut zusammen.“

„Wer?“, erklang plötzlich Hanks Stimme hinter Charles.

„Nichts, ich hab nur laut gedacht“, wich dieser aus.

Er wollte weder Hank, noch Logan sagen, dass er gerade mit Erik geredet hatte, vor allem nicht Hank. Also beschloss er endlich richtig nach Raven zu suchen. Er konzentrierte sich ausschließlich auf sie und trotzdem dauerte es fast eine halbe Stunde, bis er sie fand.

„Sie ist in einem Flughafen“, berichtete Charles den beiden anderen.

Raven! Du darfst Trask nicht töten!

Charles?

Sie klang beunruhigt, gleichzeitig aber auch fast schon hoffnungsvoll.

Hast du verstanden, was ich gesagt habe? Du darfst Trask auf keinen Fall töten!

Ihre Gefühle schlugen in Unglaube und Wut um und Charles spürte all den aufgestauten Hass auf Trask, welcher in ihr tobte.

Du hast nicht gesehen, was er unseren Brüdern und Schwestern angetan hat! Du siehst so etwas nie! Bei dir ist jeder Mensch gut. Trask hat es verdient zu sterben…

Du darfst das nicht tun, unser aller…

Diesmal unterbrach Raven ihn.

Hör auf! Du kannst mich nicht mehr manipulieren. Ich lebe mein eigenes Leben, treffe meine eigenen Entscheidungen. Wenn es in meiner Macht stünde, würde ich Trask für jeden den er von uns getötet hat, dreimal sterben lassen.

Raven, unsere Zukunft hängt davon ab, ob Trask lebt oder stirbt. Wenn du ihn tötest, besiegelst du unser Schicksal.

Charles hatte ihr den Gedanken so schnell wie möglich geschickt, doch sie hatte ihn schon aus ihren verbannt und eine mentale Mauer um sie errichtet.

„Verdammt! Sie lässt mich nicht rein“, fluchte Charles laut.

„Können Sie ihre Barrieren nicht durchbrechen?“, wollte Logan wissen.

Charles seufzte.

„Ich könnte es, wenn ich nicht so aus der Übung wäre.“

Dann konzentrierte er sich auf die Personen in Ravens Umgebung und sprach durch diese mit ihr. Aber er konnte sagen, was er wollte. Sie hörte ihm nicht zu. Sie wollte seine Worte und die Wahrheit dahinter nicht wahr haben. Charles versuchte es mit einem letzten Trick. Er projizierte ein Bild von sich in die Menschenmenge vor Raven.

„Bitte, Raven, wenn du das tust, werden in der Zukunft schreckliche Dinge passieren. Du musst das nicht tun. Komm nach Hause“, sagte er, in fast flehendem Tonfall.

Einen Moment sah es so aus, als hätte er sie überzeugt, denn sie sah zögernd zur Seite. Doch dann straffte sie die Schultern und sah ihn mit kühlem Blick an.

„Erik war ein guter Lehrer, was das angeht“, schoss es Charles durch den Kopf.

„Ich muss es tun und mein Zuhause ist nicht mehr in Westchester, es ist nicht mehr bei dir und Erik. Jetzt lass mich in Ruhe.“

Mit diesen Worten lief sie durch ihn hindurch und zerstörte so seine Illusion.

„Scheiße…“

Charles setzte den Helm ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte ein weiteres Mal versagt. Wie oft konnte er sich das noch leisten?

„Wo will sie hin?“, fragte Logan.

Charles überlegte kurz und ging noch einmal die Bilder durch, welche er durch die Augen der anderen Menschen gesehen hatte. Vielleicht fand er einen Hinweis auf Ravens Ziel. Tatsächlich entdeckte er ihre Flugkarte.

„Sie will nach Washington.“

„Das ist sehr schlecht“, meinte Hank und sah von Charles zu Logan und wieder zurück.

„Warum?“, wollte Logan wissen.

„Ich haben die Nachrichten verfolgt. Sie haben Ravens Blut, dank Eriks fehlgeschlagenem Mordanschlag. Und…unser kleiner Auftritt hat ausgereicht, um den Präsidenten von Trasks Sentinal-Programm zu überzeugen. Sie wollen es morgen bekannt geben.“

Ungläubige Stille legte sich über den Raum. Charles und Logan starrten Hank an, der die Fäuste geballt hatte und zu Boden sah. Sie alle dachten dasselbe:

Wir müssen das verhindern!

„Hank mach den Jet startklar. Wir fliegen nach Washington. Vielleicht können wir das Schlimmste noch verhindern.“

Es hatte keine Stunde gedauert, bis sie in der Luft waren. Charles mied den Blick zur Couch, obwohl es ihm schwer viel. Er hockte in einem der bequemen Sessel und starrte auf den Tisch vor sich. Geistesabwesend fuhr er sich über das rechte Bein und drückte es kurz.

„Alles okay?“, wollte Logan wissen, der ihm schräg gegenüber saß.

„Es geht schon. Ich muss mich nur erst wieder daran gewöhnen“, erwiderte Charles mit einem gezwungenen Lächeln.

Eine ganze Weile herrschte Stille. Charles wollte sich gerade wieder in seine Gedanken vertiefen, als Logan ein weiteres Mal das Wort ergriffen.

„Tun Sie mir einen Gefallen? In der Zukunft haben sie einigen Mutanten geholfen, die nun wieder Ihre Hilfe brauchen. Strom, Scott, Jean…merken sie sich diese Namen und finden Sie sie, bitte.“

„Ich versuch mein bestes“, erwiderte Charles.

„Das reicht vollkommen.“

Charles lächelte, diesmal ein echtes Lächeln. Logan wusste vielleicht nicht, wie sehr ihm diese Worte halfen, aber gerade deswegen war er dankbar dafür. Charles war schon immer jemand gewesen, der fünfzig Prozent mehr geben wollte, als möglich war. Er wollte immer nur das Beste für seine Freunde und empfand das als gerade gut genug. Deshalb tat es gut von Logan zu hören, dass das Beste doch ausreichte.

„Professor?“

Erst jetzt wurde Charles bewusst, dass er Logan gedankenversunken angesehen hatte

„Tut mir leid, ich war mit meinen Gedanken wo anders“, meinte er und lächelte entschuldigend.

„Bei Erik?“

Diese Frage überraschte Charles dann doch.

„Nein, eigentlich nicht.“

„Und wenn es so wäre, würden Sie es mir nicht sagen, hab ich recht?“, erwiderte Logan. „Sie können genauso wenig mit anderen über ihre Gefühle reden, wie ihr Freund.“

Zur Antwort lächelte Charles ein weiteres Mal, sagte jedoch nichts. Logan hatte recht. Er konnte nicht über seine Gefühle für Erik reden, außer mit diesem selbst. Denn das ging niemanden etwas an. Außerdem befürchtete er, dass Missverständnisse aufkommen konnten, wenn ihre Beziehung ans Licht kam. Erik hatte bei den Menschen keinen guten Stand. Wenn diese erfuhren, dass Erik und er ein Paar waren, oder gewesen waren, würde er eine Menge an Überredungskunst benötigen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass er nicht gegen sie kämpfen wollte.

Im nächsten Moment wurde Charles klar, was er da dachte. Würde er wirklich Erik verleugnen, um bei den Menschen gut dazustehen? Das war eine Einstellung, die er sich noch nicht einmal selbst verzeihen könnte. Wie also würde Erik darauf reagieren? Diese Einstellung musste er so schnell wie möglich ändern, sonst würde er Erik ganz verlieren.

Dann machten seine Gedanken einen Sprung und waren plötzlich bei Raven. Was sie jetzt wohl gerade tat? Wahrscheinlich bereitete sie alles für den Anschlag auf Trask vor. Charles vermutete, dass sie sich unter die Männer des Wachschutzes mischen würde, um nahe genug an ihr Opfer heran zukommen. Er hoffte sie rechtzeitig aufzuspüren, sonst wäre alles Zeitverschwendung gewesen und Logan hätte die ganzen Strapazen der Zeitreise um sonst auf sich genommen.

„Wir landen gleich, also bitte anschnallen“, riss Hank Stimme ihn aus seinen Gedanken.

Charles und Logan legten die Sicherheitsgurte an und schon spürten sie das vertraute Ziehen im Unterleib, als Hank in den Sinkflug überging.

Von Logan schlug Charles eine ganze Welle Beunruhigung und Furcht entgegen. Letzteres wunderte ihn wirklich. Er hätte nicht gedacht, dass dieser vor so etwas banalem, wie fliegen, Furcht empfinden würde. Auf der anderen Seite, jeder brauchte etwas, das er fürchten konnte. Vorsichtig, sodass Logan nicht merkte, dass er seine Finger im Spiel hatte, schickte Charles ihm beruhigende Gefühle. Er empfand es als seltsam, diesen Mann ängstlich zu sehen und wollte es so schnell wie möglich ändern, was ihm auch gelang. Nur wenige Sekunden später beruhigte sich Logans Geist und er krallte sich auch nicht mehr in die Armlehne des Sessels, in dem er saß.

Weitere zehn Minuten vergingen, bis der Jet endlich am Boden aufsetzte und zum Stillstand kam.

„Vielen Dank, dass sie mit MutantAir geflogen sind. Etwaige Beschwerden über den Piloten oder das Personal sind stillschweigend der Toilettenschüsseln vorzutragen“, drang es aus dem Lautsprecher, als Charles gerade den Sicherheitsgurt löste.

Er lachte leise und auch von Logan kam ein belustigtes Schnauben. Hank hatte manchmal die seltene Gabe, Situationen in denen eine angespannte Stimmung herrschte, mit Sprüchen zu lockern, die man ihm so nicht zutraute.

„MutantAir? Wirklich?“, wollte Logan wissen, als ihr Pilot zu ihnen kam und Charles in seinen Rollstuhl half.

„Ich fand`s passend“, grinste Hank.

„Ja“, meinte Logan und schnaubte ein weiteres Mal belustigt.

„Es ist schon spät“, unterbrach Charles die beiden. „Kommt ihn noch mit, oder bleibt ihr hier und ruht euch aus?“

Logan und Hank sahen ihn fragend an.

„Ich will noch in die Stadt. Vielleicht habe ich Glück und finde Raven jetzt schon. So würde uns morgen bestimmt einiges erspart bleiben“, erklärte Charles, als er ihre Blicke spürte.

„Ich komme auf jeden Fall mit“, meinte Logan. „Wie wollen Sie sich bitte alleine Mystique stellen?“

„Ich werde mich ihr nicht stellen, Logan, sondern mit ihr reden. Das ist ein Unterschied.“

„Ich komme auch mit. Sechs Augen sind besser als vier, auch wenn das bei Raven nichts bringen mag“, warf Hank ein.

Also machten sich die drei auf den Weg in Washingtons Innenstadt. Schon auf dem Weg dorthin weitete Charles seinen Geist aus und strich flüchtig über den der Menschen um ihn herum. Auch wenn er sich darauf konzentrieren musste, Raven zu finden, genoss er es doch die kleinen, alltäglichen Hoffnungen, Wünsche, aber auch Probleme aller zu sehen. Menschen waren einfach erstaunlich normal und einfach gestrickt. Diese Tatsache machte auch ein Teil seines Interesses an ihnen aus. Doch jetzt musste er sich wieder konzentrieren. Am Rande bekam er mit, dass Hank und Logan sich unterhielten, achtete aber nicht darauf.

Nach zwei Stunden vergeblicher Suche, spürte er plötzlich einen vertrauten Geist. Charles Herz begann zu rasen, als er Erik spürte und zeitgleich, ungefähr zwanzig Meter weiter, in der Menschenmenge entdeckte. Genau in diesem Moment drehte der Größere sich um und erstarrte mitten in der Bewegung.

Hallo Erik

Also hast du sie auch gefunden

Ein Lächeln glitt über Charles Gesicht, welches von dem Größeren auch gleich erwidert wurde.

Hast du etwa daran gezweifelt? Du müsstest mich besser kennen

Nein, ich habe nicht daran gezweifelt. Aber ich hab gehofft, du würdest sie erst später ausfindig machen. Ich will nicht gegen dich kämpfen

Dann lass es und komm mit nach Hause

Charles legte so viel Gefühl in diese Worte, wie er konnte. Er wollte Erik bei sich haben, er wollte dass, was dieser am Strand auf Kuba von ihm verlangt hatte. Zwar hatte er beschlossen lieber durch Hass-Liebe als gar nicht mit Erik verbunden zu sein. Aber einfach nur Liebe wäre ihm um Welten lieber. Doch er sah Erik nur den Kopf schütteln.

Ich kann erst nach Hause, wenn diese Sache vorüber ist und die Menschen eingesehen haben, dass sie uns nicht besiegen können.

Damit wandte Erik sich von ihm ab und verschwand in der Menschenmenge.

Tu bitte nichts unüberlegtes, Erik!

Doch Charles war sich nicht sicher, dass Erik diese Warnung gehört hatte, oder hören wollte.

„Alles okay?“

Hanks Hand legte sich auf Charles Schulter und er sah ihn etwas besorgt an.

„Ja, alles in Ordnung“, entgegnete er lächelnd.

„Sicher?“

Charles nickte und setzte seinen Weg durch die Menge fort. Irgendwie wollte er gerade so schnell wie möglich, soweit wie möglich von Erik weg. Sonst tat er am Ende noch etwas, dass er später bereuen würde.

Den Rest des Abends war Charles ruhig und in sich gekehrt. Er suchte nach Raven, was allerdings fehlschlug. Charles konnte sich anstrengen so viel er wollte, er fand ihren Geist nicht. Nach nunmehr vier Stunden kehrten sie zum Jet zurück. Charles sank frustriert auf der Couch zusammen, auf die Logan ihn gelegt hatte, damit er besser schlafen konnte. Warum hatte er Erik auf Anhieb gefunden, aber Raven nicht?

Weil Sie Erik um jeden Preis finden wollten und das bei Raven nicht der Fall ist , flüsterte eine müde Stimme in seinem Kopf.

Verdammt warum musste er immer recht haben? Nein die Frage war: Warum wollte er Erik dringender finden, als Raven? Schließlich stand ihr Leben auf dem Spiel und nicht seines.

Aber Erik lieben Sie , erklärte die Stimme.

Und Raven etwa nicht? Sie ist meine Schwester.

Eben, sie ist nur Ihre Schwester, sonst nichts. Erik bedeutet Ihnen alles, dass müssten Sie doch mittlerweile begriffen haben.

Verdammt, konnte die Stimme nicht endlich ihre Klappe halten? Er wollte nicht hören, wie viel Erik ihm bedeutete, dass wusste er ohne sie.

Warum fragen Sie mich dann? kam es genervt und knurrend zurück.

Kannst du nicht endlich still sein? Du bist ja noch nicht mal echt!

Tatsächlich war es einige Sekunden lang still, doch dann erklang ein Lachen. Nur das er dieses nicht in seinem Kopf hörte, sondern mit seinen Ohren. Verwirrt schlug Charles die Augen auf und sah sich im Jet um. Hank schlief tief und fest auf der Couch ihm gegenüber. Sein Blick wurde weich, als er seinen Freund streifte und wieder einmal fragte er sich, warum Hank bei ihm geblieben war. Er hätte gehen können, wie alle anderen auch. Aber er war bei ihm, dem versoffenen, süchtigen und immer miesgelaunten Professor geblieben und hatte sich nicht einmal beschwert. Charles nahm sich vor, ihm seine Dankbarkeit zu zeigen, wenn sich die passende Gelegenheit dazu ergab. Aber zuerst mussten sie das Problem mit Raven und Erik aus der Welt schaffen.

„Autsch, das tat echt weh, Professor. Sie sind doch in meine Gedanken eingedrungen und nicht ich in ihre“, erklang plötzlich Logans Stimme.

Charles wandte den Kopf und sah ihn verwirrt an. Dann machte sich Erkenntnis auf seinem Gesicht breit. Er hatte mit Logan geredet, die ganze Zeit über. Erst da fiel ihm auch auf, dass ihn die Gedankenstimme gesiezt hatte.

„Tut mir leid, Logan. Ich wollte dich nicht mit meinen Problemen belästigen“, meinte er und lächelte entschuldigend.

„Sie sollten andere viel öfter mit solchen Problemen belästigen. Sie können ihnen nämlich vielleicht helfen und glauben sie mir, ich bin es gewohnt, dass sie mich in ihre Probleme miteinbeziehen. Aber es macht mir nichts aus. Ich helfe ihnen gerne, schließlich haben sie mir auch geholfen“, entgegnete Logan und erwiderte das Lächeln mit einem schiefen Grinsen.

Charles seufzte. Er war müde, so unendlich müde. Am liebsten hätte er sich schlafen gelegt und wäre nicht mehr aufgewacht. Alle Probleme hinter sich lassen und einfach schlafen, dass hörte sich im Moment sehr verlockend an.

„Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn jemand Magneto davon abhalten kann, Raven etwas anzutun und diese davon abbringen kann, Trask zu töten, dann sind Sie das. Denn die beiden lieben Sie, genauso wie Sie die beiden lieben. Keiner, weder Magneto, noch Raven, könnte ihnen etwas antun“, gemurmelt fügte Logan hinzu: „Zumindest jetzt noch nicht.“

Aber das schien Charles nicht gehört zu haben, denn er hatte schon wieder die Augen geschlossen und ein dankbarer Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

„Dürfte ich bitte Ihre Einladung sehen?“, fragte der Mann am Eingang zum Gelände des Weißen Hauses.

„Natürlich dürfen Sie“, erwiderte Charles und legte zwei Finger an die rechte Schläfe. „Die beiden gehören zu mir.“

Im nächsten Moment wurde die angespannte Mine des Mannes entspannter und er winkte Charles durch das Tor. Hank beeilte sich, Charles zu der Ansammlung von Stühlen zu schieben, Logan folgte ihnen und sah etwas verwirrt aus, als er durch den Metalldetektor ging.

Charles hatte schon bei ihrer Ankunft vor dem Weißen Haus angefangen Raven zu suchen, konnte sie jedoch nicht finden. Sobald er seinen Geist nach dem der anderen ausstreckte, stürzten alle Gedankenstimmen auf ihn ein. Er musste sie erst einmal zur Seite schieben und jede einzelne anhören. Schneller konnte er die Stimmen noch nicht auseinander halten. Vielleicht hätte er es gekonnt, wenn er die zehn Jahre zum Üben genutzt hätte, anstatt sich den Kopf wegzutrinken. Aber darüber konnte er sich zu einem anderen Zeitpunkt Gedanken machen.

„Haben Sie sie schon gefunden?“, wollte Logan wissen, der sich immer wieder auf dem Platz umsah.

„Nein, noch nicht.“

Charles ließ den Blick von einer Person zur nächsten wandern, immer so, wie er ihre Gedankenstimme überprüfte. Doch das verwirrte ihn nur noch mehr, also schloss er die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Die meisten fragten sich, was die große Bekanntgebung war. Andere wussten es und waren nur auf das Statement zu den Mutanten gespannt. Außerdem gab es hier sogar einige Mutanten, was Charles sehr interessant fand. Aber das war eine weitere Information, über die er später nachdenken würde.

Entfernt, soweit, dass er es fast nicht spürte, hatte sich eine Leere breit gemacht, die er nur zugut kannte.

„Erik“, flüsterte er und versuchte seine Suche noch schneller voran zu bringen.

Diese Leere konnte nur von ihm stammen. Denn nur sein Helm verursachte eine solche Stille und Inhaltslosigkeit, wie diese. Noch war er weit weg, aber das würde sich ändern. Charles musste Raven finden, bevor Erik hier eintraf.

„Verdammt, wo bist du?“, murmelte Charles und ließ nun doch wieder den Blicke über die Anwesenden schweifen.

Mittlerweile hatte jeder einen Sitzplatz gefunden und der Präsident war auf der Bühne erschienen, gefolgt von Trask. Hinter ihnen stand der Untergang der Mutanten, die Sentinals. Nur mit halbem Ohr hörte Charles zu, was gesprochen wurde. Wenn Raven angriff, dann jetzt, wenn es alle sehen konnten und Trask zum einen ungeschützt, zum anderen unaufmerksam war.

Was soll das alles, wir haben auch das Recht frei zu leben!

Die Mutanten sind eine Bedrohung für uns alle!

Das ist Entwürdigend, genauso gut könnten die Mutanten Maschinen bauen, die uns erkennen und jagen…

Louis benimmt sich heute wirklich seltsam. Ich glaub die Arbeit beim Secret Service bekommt ihm nicht so gut

Charles stoppte bei dem letzten Gedanken. Ein Mann vom Secret Service? Das wäre die perfekte Tarnung für Raven. Warum war er da nicht gleich drauf gekommen? Schnell drang er etwas weiter in die Gedanken des Agent ein, um herauszufinden, wie dieser Louis aussah. Dann suchte er ihn unter den Anwesenden und tatsächlich waren es Ravens Gedanken, die in seinem Kopf leise flüsternd auf Rache aus waren.

„Ich hab sie! Da vorne, der Mann vom Secret Service!“, meinte Charles an Logan und Hank gewandt. „Beeilt euch!“

Er sah wie Raven auf die Bühne zulief und eine Pistole zog. Irgendetwas musste er doch tun! Zum Teufel mit seinen Versprechen, er musste sie aufhalten, er musste in ihren Kopf. Aber ihre Barrieren waren stark und sie hielt sie aufrecht, auch in einem solchen Moment. Erik war ihr ein wirklich guter Lehrer, was diese Dinge betraf. Charles brauchte zwei Versuche um ihre Blockade zu durchdingen und sie, mitten im Schritt, einzufrieren.

Lass mich los, Charles!

Das kann ich nicht zulassen, tut mir leid!

Er hat hunderte von uns getötet und gefoltert! Er hat es verdient zu sterben!

Begreifst du es denn nicht?! Wenn du Trask hier tötest, hier wo die ganze Welt zusehen kann, dann werden wir niemals in Frieden leben können. Sie werden Jagd auf uns machen und ihr Sentinal Programm noch schneller vorantreiben! Raven, du darfst das nicht tun!

Sie schwieg, kämpfte nur stumm gegen seinen eisernen Gedankengriff an. Es war beeindruckend, wie stark sie geworden war und Stolz machte sich in Charles breit. Raven war noch nie schwach gewesen, aber jetzt hatte sie ihre Gabe und ihren Körper endlich unter Kontrolle. Sie wusste, wo ihre Grenzen waren, war aber auch bereit diese zu überschreiten, um sie zu erweitern. Charles wünschte nur, sie hätte das unter seiner Anleitung getan, damit es aus Frieden hätte entstehen können, nicht unter Eriks, die nur von Rache und Wut geprägt gewesen war. Aber daran konnte er nun nichts mehr ändern. Es hatte nun mal nicht so kommen sollen.

Die Schreie der Umstehenden rissen ihn aus diesen Gedanken, wobei er aufpassen musste, dass er Raven nicht ausversehen frei ließ. Zwei Finger an die linke Schläfe gepresst, sah er sich auf dem Platz um. Wo waren Hank und Logan? Gerade als er sie fand, sie waren von einem anderen Mann vom Secret Service aufgehalten worden, verdunkelte sich der Himmel und das pure Chaos brach um ihn herum aus. Die Sentinals starteten und folgen über sie hinweg, bevor der erst anfing auf die Menschen zu feuern. Charles wandte den Kopf und glaubte seinen Augen nicht zu trauen.

Ein Stadion, ein Footballstadion flog auf das Weiße Haus zu und in mitten dieses schwebte eine Gestalt. Verdammt, er war da und er hatte etwas mitgebracht, das den Einsatzkräften von außen jeden Weg zum Weißen Haus versperren würde.

„ERIK!“, brüllte Charles wütend und schon krachte das Stadion herunter.

Die Menschen waren schon lange aufgesprungen und in alle Richtungen davon gerannt. Jetzt, da es keinen Ausweg mehr gab, stürzte ihre ganze Angst und Panik auf Charles herein und drohte ihn mit sich zu reisen, ihn zu ertränken. Er musste mit all seiner Kraft gegen sie ankämpfen und verlor dadurch die Kontrolle über Raven. Als wenn das noch nicht genug wäre, sah er plötzlich einen riesigen Schatten über sich. Nun stieg in ihm Panik auf. Eine der riesigen Flutlichtanlagen des Stadions fiel auf ihn herab. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich aus dem Rollstuhl werfen, um nicht von dem Betonklotz getroffen zu werden, an dem die Anlage befestigt war. Allerdings wurde er von dem Stahlgestell getroffen. Die Wucht drückte ihm die gesamte Luft aus den Lungen und ein reisender Schmerz durchzog seinen Körper. Ein ekelerregendes Knacken war zu hören, gefolgt von Charles gequältem Aufschrei. Seine Hand zuckte hoch, konnte sich allerdings nicht auf seine schmerzende linke Seite pressen, da sie unter dem Stahlgestell eingeklemmt war. Er spürte wie Blut aus der Wunde sickerte, zwang sich allerdings dazu dies zu ignorieren und sich wieder auf Raven zu konzentrieren. Sie durfte Trask nicht töten…aber sie war verschwunden. Er konnte sie nicht mehr spüren.

„Oh Gott, sie wird doch nicht…“

Doch noch bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, spürte er Ravens Geist, schwach zwar, aber sie war am Leben. Sie war…Verdammte Schweiße! Sie war im Schutzraum des Weißen Hauses, nur drei Schritte vom Präsidenten und fünf von Trask entfernt. Aber der Abstand war egal, sie hatte immer noch die Pistole. Leider lenkten die Schmerzen Charles so sehr ab, dass er sie nicht wieder einfrieren konnte. Er musste darauf hoffen, dass sie das Richtige tat. Allerdings starb seine Hoffnung, als er spürte, wie sie die Pistole hob.

Dann wurde seine Konzentration von einer Welle stechenden und sengenden Schmerzes unterbrochen. Es war Logen der so gequält wurde. Charles wollte ihn schon ausschließen, als er spürte, wer Logan das antat. Geschockt starrte er in den Himmel. Erik quälte Logan. Er wollte ihn loswerden, hatte erkannt, dass dieser ihm gefährlich werden würde. Deshalb trieb er Stahlstangen durch Logans Körper, der mittlerweile zu nichts mehr, außer Schmerz empfinden, fähig war. Charles hörte Logans Schreie, spürte seine Qualen und wünschte sich, etwas für ihn tun zu können. Aber da war es auch schon zu spät. Die Stahlstangen hatten sich durch Logans Arme, Beine und seinen Oberkörper gebohrt und hielten ihn, durch Eriks Kontrolle, am Boden. Dann zwangen sie ihn in die Höhe und ehe er etwas tun konnte, flog er auch schon aus dem Stadion hinaus. Charles konnte nicht sagen, wo er aufkam. Aber er schwor sich, ihn zu finden. Denn eines war sicher, Logan würde das überleben.

Charles fand die Verbindung zu Raven wieder, welche gerade gegen die Leute vom Secret Service kämpfte. Doch keine Sekunde später versank der Schutzraum im Chaos. Das Licht flackerte, die Menschen stürzten übereinander und Raven nutzte das aus, um ihre Gestalt zu ändern und so in der Menge unterzutauchen. Dann hörte Charles ein lautes Krachen und sah durch Ravens Augen, dass Erik den Schutzraum ins Frei gezogen hatte und nun die vordere Wand abriss. Mit einer Handbewegung entriss er den Wachleuten die Waffen und richtete sie auf ihre ehemaligen Besitzer.

„Hier und jetzt werde ich ein Exempel statuieren. Ihr Homosapiens werdet uns nicht vernichten. Wir sind die überlegene Spezies. Wir sind die nächste Stufe der Evolution und ihr, nicht wir, werdet untergehen!“, sagte er, mit lauter dominanter Stimme, die keinen Widerspruch zuließ.

„Dann töten Sie mich und lassen meine Leute in Ruhe“, meldete sich der Präsident zu Wort und trat aus dem zerstörten Schutzraum heraus.

Etwas stimmte daran nicht. Charles sah immer noch durch Ravens Augen, aber er konnte den Präsidenten nicht sehen, obwohl er direkt vor ihr stehen müsste. Dafür sah er Erik umso deutlicher. Auf seinen Zügen zeichnete sich eine so abgrundtiefe Verachtung ab, dass Charles Brust sich schmerzhaft zusammen zog. Und dann wusste er plötzlich, warum er den Präsidenten nicht sehen konnte. Weil dieser noch zwischen den Leuten vom Secret Service saß und sich versteckte.

Im nächsten Moment flogen Charles Hanks Gedanken entgegen, der gegen einen der Sentinals kämpfte und lenkten ihn ab. Er wusste nicht, was er tun sollte. Wurde im nächsten Moment in einen Wagen geschleudert und eine Welle aus Schmerz durchzuckte seinen Kopf, als er gegen etwas Hartes stieß. Panik flammte gleichzeitig in Hank und Charles auf, als Hank den Blick hob und in das Laufrohr des Sentinals sah.

Hank! Das Serum! Schnell!

Hank begriff sofort, zog drei der Spritzen aus seiner Tasche und rammte sie sich in die Schulter. Augenblicklich wandte sich der Sentinal von ihm ab und stand einen Moment still. Bis seine Sensoren Erik und Raven erfassten. Der Roboter wandte sich den beiden zu und stufte sie als Gefahr ein. Er würde sie angreifen, setzte sich schon in Bewegung, als ein Stahldurchsetzter Betonbrocken auf in krachte und ihn zerstörte.

In der nächsten Sekunde hallte ein Knall über den Platz und Charles musste all seine Beherrschung zusammennehmen, um nicht aufzuschreien. Raven hatte Erik angeschossen und bevor Charles hatte sehen können, ob er lebensgefährlich verletzt worden war, war dieser schon hintenüber gekippt. Jetzt lag er reglos am Boden. Raven, die wieder ihre wahre Gestalt angenommen hatte, wandte sich dem Schutzraum zu und richtete die Pistole auf Trask. Verzweifelt startete Charles einen letzten Versuch sie aufzuhalten und projizierte ein Abbild von sich zwischen Raven und Trask.

Du musst das nicht tun!

„Doch muss ich und das weißt du. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.“

Doch gibt es. Denn im Moment beschützt du diese Menschen nur! Aber das liegt bei dir.

Damit ließ er sein Abbild verblassen und zog sich aus Ravens Geist zurück. Was nun geschah lag ganz in ihren Händen. Er konnte sie so oder so nicht aufhalten. Egal, was sie tat, er musste es akzeptieren, wie es kam. Die wenigen Augenblicke, die verstrichen kamen Charles wie eine Ewigkeit vor und in dieser Ewigkeit ging ihm nur eines durch den Kopf.

Eriks Abscheu, sein Verhalten…Charles wusste, dass er die Menschheit vernichten wollte und folglich auch Menschen tötete. Aber er hätte nie gedacht, dass er so weit ging und auch Mutanten umbrachte und dann noch dazu auf so brutale Weise wie bei Logan. Und dann diese Verachtung und der Hass in seinen Augen, als er die Menschen ansah. Wie hatte Charles das übersehen können? Wie hatte er das vergessen können? Wie konnte er diesen Mann, nach all dem, immer noch lieben? Dann wurde ihm klar, dass er genau das brauchte. Jemand der normal war, der mit ihm und seiner Meinung übereinstimmte, würde anfangen ihn zu langweilen. Er brauchte jemanden, mit dem er diskutieren konnte, jemanden dem er Einhalt gebieten, den er ausbremsen musste und genau so jemand war Erik. Aber momentan war er zu wütend auf ihn, als das er ihm das sagen würde.

„Er gehört dir Charles!“, erklang Ravens Stimme plötzlich und riss ihn aus seinen Gedanken.

Erst da fiel ihm auf, dass er Eriks Geist spüren konnte. Er drang in ihn ein, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob er ihm Schmerzen zufügte und zwang ihn nach seiner Gabe zu greifen. Diese benutzte er, um das Stahlgestell von sich herunter zu heben. Dann zog er sich sofort wieder zurück. Er hatte gespürt, wie geschockt Erik war, als er bemerkte, dass er Charles unter einem Flutlicht eingeklemmt hatte und wollte sich sofort entschuldigen. Doch der Telepath wollte das nicht hören. Er wollte nicht schon wieder eine Entschuldigung hören, nicht nachdem er in Eriks Gedanken gesehen hatte, dass dieser wieder verschwinden würde. Er würde ihn wieder alleine lassen.

Hank kam zu ihm gerannt und zog ihn auf die Beine. Erst in diesem Moment bemerkte Charles, dass er nur stockend Luft bekam und seine linke Seite brannte wie die Hölle. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er begriff, dass eine Rippe seinem linken Lungenflügel einklemmte und er deswegen nicht richtig atmen konnte. Er musste schnellstens zu einem Arzt.

„Du weißt sie werden mich töten, wenn du mich hier fest hältst“, hörte er Erik sagen.

Charles nickte nur. Natürlich wusste er das. Immerhin glaubten alle immer noch, dass Erik der Mörder von Kennedy war. Er musste ihn gehen lassen, sonst würde er ihn wirklich für immer verlieren. So bestand wenigstens die Chance, dass er irgendwann zu ihm zurückkam.

„Leb wohl, alter Freund.“

„Leb wohl, Erik.“

Zu mehr war er nicht im Stande. Er bekam keine Luft, wollte Erik aber seine Schwäche nicht zeigen. Wenn er vor ihm zusammen brach, würde der andere nicht fliehen. Dann würden sie ihn wirklich schnappen. Charles klang absichtlich abweisend, Erik sollte endlich abhauen. Er würde nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben. Erik sah ihn kurz besorgt an, dann hob er seinen Helm auf und flog davon.

Erst als er außer Sichtweite war, gestattete Charles sich dem unvermeidlichen nachzugeben und sank vollends gegen Hank. Er war zwar bei Bewusstsein, konnte sich aber nicht rühren. Das einzige, was er tun konnte, war verzweifelt nach Luft zu ringen, die seine Lungen nicht ganz füllte. Hank war geschwächt. Er konnte ihn nicht zu einem Arzt bringen, er schaffte es ja kaum ihn zu halten. Schließlich musste er ihn auf den Boden legen, da die Kraft aus seinen Armen wich.

Raven! Bitte komm zurück…du…musst uns helfen. Ich kann nicht…atmen. Hank kann nicht…

Er bekam keine Antwort und konnte sich auch nicht länger konzentrieren. Er hob den Blick und sah in Hanks verzweifelte Augen. Er sah dass sein Freund mit ihm redete, verstand ihn aber nicht. Genau genommen hörte er rein gar nichts mehr. Mit Ausnahme des langsamer werdenden Schlagen seines Herzens. Hanks Gesicht verschwamm zu einer schemenhaften Masse, ohne Konturen, bis es von einer endgültigen Dunkelheit verschlungen wurde.

„Es ist jetzt eine Woche her“, meinte Hank

Er hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und sah auf sie hinab. Eine blaue Hand legte sich auf seine und strich mit dem Daumen über seinen Handrücken.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es so früh und vor allem so schnell passieren würde“, entgegnete Raven, während sie sich auf den Tisch setzte.

„Ja, dass verändert unser ganzes Leben. Es ist so ungewohnt.“

„Ihr beide hört euch an, als hättet ihr nie an den Frieden geglaubt“, erklang eine fröhliche Stimme von der Tür herüber.

„So ist es nicht. Aber nach allem, was Logan erzählt hat, dachte ich es würde schwieriger werden“, antwortete Hank schnell.

Charles Lachen wehte durch den Raum, wurde aber fast augenblicklich von einem Keuchen unterbrochen. Der Telepath presste eine Hand auf seine linke Seite, was den Schmerz allerdings nicht wirklich linderte. In der Klinik hatte man seine Rippe wieder gerichtet und er konnte auch wieder richtig atmen, aber lachen tat noch höllisch weh. Da war es ein Problem, dass Hank und Raven den ganzen Tag Scherze machten und Charles so zwangsläufig lachen musste. Aber er freue sich für die beiden. Wenigstens sie hatten zueinander gefunden und ihr Happy End bekommen. Auch wenn ihn das jede Sekunde des Tages daran erinnerte, dass seines ausblieb.

„Ich hatte doch gesagt: Habt Vertrauen in die Menschen“, sagte Charles, als er wieder reden konnte.

„Ist ja gut“, kam es von Raven, die ihn angrinste. „Irren ist menschlich, oder nicht?“

„Und das aus deinem Mund…Jetzt bin ich fast sprachlos“, entgegnete Charles und fuhr zum Tisch hinüber.

Dass er hier war hatte er nur Raven und Hank zu verdanken. Sie hatten ihn gemeinsam in die nächste Klinik gebracht, wo man sich sofort um ihn kümmerte. Raven hätte einfach gehen können und da weiter machen, wo sie aufgehört hatte. Aber sie war zurückgekommen und Charles war ihr unendlich dankbar dafür. Zwar hatte er sich, in seiner Ohnmacht, schon irgendwie damit abgefunden, nicht mehr zu erwachen, aber es doch wieder zu tun hatte ihn mehr als Glücklich gemacht. Er hatte einfach noch nicht mit dem Leben abgeschlossen. Es gab noch so viel zu tun, so viele Mutanten brauchten noch seine Hilfe. Denn auch wenn sie jetzt von der Regierung akzeptiert wurden, gab es immer noch Anfeindungen ihnen gegenüber und diese würden auch niemals verschwinden. Charles hatte beschlossen seine Schule, wie bisher, nach außen hin als eine Einrichtung für begabte Jugendliche darzustellen. Denn seine Schüler benötigten einfach ihre Ruhe und Privatsphäre, welche sie nicht bekommen würden, wenn bekannt wurde dass es sich um eine Mutantenschule handelte.

„Wie geht es eigentlich deiner Rippe?“, wollte Raven plötzlich sehr ernst wissen.

„Ganz gut soweit. Sie tut noch weh, wenn ich zu viel rede, aber ansonsten kann ich mich nicht beklagen.“

„Solltest du heute nicht zum Arzt gehen und noch einmal nachsehen lassen?“, warf Hank ein.

Charles zog eine Grimasse. Er ging eben einfach nicht gerne zum Arzt, war das so schwer zu verstehen? Abtasten, um zu sehen ob die Rippe wieder richtig zusammenwuchs konnte er sich selbst. Immerhin wusste er alles über den menschlichen Körper. Er brauchte also nicht zu einem Arzt zu gehen. Allerdings akzeptierte Hank das nicht und schleppte ihn zu jedem Kontrolltermin, ob Charles nun wollte oder nicht.

„Fährst du mich hin?“, fragte Charles, mit einem ergebenen Seufzer.

Es hatte keinen Sinn sich deswegen schon wieder mit Hank zu streiten. Dieser nickte, griff nach dem Autoschlüssel hinter sich auf dem Küchenschrank und stand auf. Auf dem Weg zur Eingangstür kamen ihnen einige Schüler entgegen, die Hank anlächelten und Charles zum Teil schon besorgt musterten.

„Alles in Ordnung, Professor?“, wollte ein Mädchen, von vielleicht zehn Jahren wissen.

Sie kam gerade aus einem der Unterrichtsräume und lehnte sich jetzt, mit besorgtem Gesichtsausdruck, auf die Armlehne von Charles Rollstuhl. Dieser lächelte sie aufmunternd an. Er kannte ihre Gabe genau. Sie konnte die Schmerzen anderer und somit auch seine spüren. Ihr konnte er also auch nichts vor machen.

Es tut nur im Moment so weh, weil ich gelacht habe. Hank fährt mich jetzt auch zum Arzt, also mach dir keine Gedanken.

Und das glauben Sie selbst? Ich habe nicht von ihren körperlichen Schmerzen geredet.

Sie warfen ihm einen vielsagenden Blick zu, denn sie wusste genau, dass diese Schmerzen nichts mit seiner Rippe zu tun hatten. Charles bewunderte dieses kleine Mädchen und bedauerte es gleichzeitig. Sie war schon so erwachsen, traf Entscheidungen wie eine vernünftige Frau und genau deshalb tat sie Charles leid. Sie hatte nur einen kleinen Teil ihrer Kindheit genießen können, bevor ihr der Rest von ihrer Mutation geklaut worden war.

„Es ist alles in Ordnung, wirklich. Geh, sonst kommst du zu spät zu Ravens Unterricht“, meinte Charles laut, bevor Hank mitbekam, das sie sich in Gedanken unterhalten hatten.

Die Kleine nickte und lief schnell den Flur entlang, um im nächsten Zimmer zu verschwinden. Charles beeilte sich zu Hank auf die Terrasse hinaus zu fahren und ließ sich dann von ihm die Stufen hinunter und ins Auto helfen. Schweigend fuhren sie in die Stadt und Hank ließ ihn beim Arzt aussteigen. Charles wollte nicht, dass Hank mit ihm ging. Er wusste genau, dass dieser ihn nur mitleidig angesehen hätte, wenn er die Worte des Arztes hören würde. Darauf hatte Charles keine Lust.

„Bin gleich wieder da“, meinte er mit einem Lächeln und fuhr zum Eingang der Praxis.

„Ja, wie immer“, erwiderte Hank. „Ich hol mir was zu essen, willst du auch was?“

Charles schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Hunger, wie schon seit Tagen nicht mehr. Er hatte sich eigentlich fest vorgenommen, sich von Eriks Abwesenheit nicht wieder so herunter ziehen zu lassen. Aber diese Gleichung war nicht wirklich so aufgegangen wie er sich das vorgestellt hatte. Er hatte keinen Hunger, keinen Durst, er schlief schlecht (wenn er denn einmal schlief) und saß Stunden lang da und starrte aus dem Fenster. Allerdings gab er sich dieses Mal Mühe, dass es Hank nicht so sehr mitbekam. Wenigstens das funktionierte, was aber nicht nur sein Verdienst war. Denn sobald Raven und Hank Zeit hatten, waren sie zusammen. Entweder sie liefen über das Gelände der Schule, gingen aus, saßen im Wohnzimmer oder, und das passierte am häufigsten, sie verschwanden in einem ihrer Zimmer. Sobald das geschah schirmte Charles seine Gedanken von denen der anderen ab. Er musste nicht mit anhören, wie die beiden sich liebten und nutzte diese Gelegenheiten, um wirklich vollkommen seinen eigenen Gedanken nachzugehen.

„Mr. Xavier, bitte!“, erklang die Stimme der Sprechstundenhilfe, um ihn zum zweiten Mal ins Behandlungszimmer zu rufen.

Charles lächelte ihr freundlich zu und fuhr in den Raum, links neben dem Wartezimmer. Dort wartete Dr. Matis schon ungeduldig auf ihn. An einer Leuchttafel vor ihm, klemmte ein Röntgenbild von Charles Rippe.

„Und wie sieht es aus?“, wollte der Telepath wissen.

„Soweit eigentlich ganz gut. Der Bruch heilt schnell. Es werden keine Schäden zurück bleiben. Sie müssen nur noch etwas langsam machen und dürfen sich nicht überanstrengen. Lassen sie sich von ihrem Freund helfen, wenn sie in oder aus ihrem Rollstuhl wollen“, erklärte der schwarzhaarige. „Mir macht etwas anderes jedoch größere Sorgen. Ich kenne Sie jetzt erst eine Woche, aber in dieser haben sie fast drei Kilogramm abgenommen und Sie sehen auch, gelinde gesagt, sehr müde aus. Wenn Sie Schmerzen haben, müssen Sie es nur sagen. Ich verschreibe ihnen Medikamente dagegen.“

„Glauben Sie mir, wenn ich Schmerzen hätte wären Sie der erste, der es erfahren würde“, entgegnete Charles. „Wenn weiter nichts ist, verabschiede ich mich auch schon wieder.“

Dr. Matis nickte ihm zu. Er hatte sich damit abgefunden, dass Charles sich nicht lange bei ihm aufhalten und noch weniger mit ihm reden wollte. So sah er ihm nur kopfschüttelnd hinterher.

Charles fuhr zu Hanks Wagen. Dieser stand an sein Auto gelehnt da und aß gerade den letzten bissen seines belegten Brötchens, als er ihn bemerkte.

„Und? Was hat der Doc gesagt?“, wollte Hank wissen, während er Charles aus dem Rollstuhl in den Wagen hob.

„Nichts neues…die Rippe heilt gut, ich soll mich nicht anstrengen und du musst mich noch eine weitere Woche in und aus meinen Rollstuhl heben“, meinte dieser und legte den Sicherheitsgurt an.

Nachdem Hank den Rollstuhl im Kofferraum verstaut hatte, fuhren sie auch schon los. Auf dem Weg zurück nach Westchester redeten sie viel über dies und jenes. Hank erzählte, wie glücklich er mit Raven war, dass sie eine tolle Freundin war und dass er sie über alles liebte. Charles machte gute Miene zu dieser Unterhaltung, auch wenn sie seine Stimmung nur noch weiter herunter drückte. Er wollte Hanks Glück nicht durch seine schlechte Laune überschatten.

Es dauerte fast zwei Stunden, bis sie bei der Schule ankamen, da sie in den Feierabendverkehr geraten waren. So war der Unterricht schon lange vorbei und der Großteil der Schüler hatte es sich draußen auf der Wiese gemütlich gemacht. Sobald Hank Charles in die Villa gebracht hatte, verabschiedete er sich von ihm und ging zu Raven. Charles sah ihm mit einem Seufzen hinter, holte dann tief Luft und fuhr in sein Zimmer.

Leise schloss er die Tür hinter sich und sah sich aufmerksam in dem Raum um. Es hatte sich nichts verändert, alles stand noch so da wie zuvor. Also war auch niemand hier gewesen und hatte etwas gesucht.

„Du wirst paranoid, Charles. Keiner weiß, dass du noch welche hast, also würde auch keiner auf die Idee kommen danach zu suchen“, rief er sich ins Gedächtnis.

Auf seiner Unterlippe kauend heftete sich sein Blick auf eine Bronzetrophäe, welche auf einem der unteren Bücherregale stand. Langsam fuhr er zu dem Regal und nahm sie herunter. Er drehte sie um und schon kam ihr Geheimnis zum Vorschein. Die Trophäe, welche aussah wie eine altertümliche Statue, war innen hohl. Über das Loch in ihrer Mitte, war ein Stück schwarze Pappe geklebt, welche Charles jetzt entfernte. Heraus fielen drei Glasampullen, die mit einer fast durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt waren.

„In einer dieser Ampullen ist so viel Serum, dass es für vier Spritzen ausreicht“, kamen Charles Hanks Worte in den Sinn.

Also hatte er hier umgerechnet zwölf Spritzen in der Hand. Die Versuchung war wirklich groß, aber er legte die drei Fläschchen auf den Schreibtisch und fuhr zum Fenster hinüber. Er wollte sich das Serum nicht verabreichen und doch…es war einfach zu verlockend. Er konnte wenigstens für ein paar Stunden dem Ganzen entfliehen, musste sich keine Gedanken über Erik oder Logans Aufenthaltsort machen. Er hätte einfach mal wieder seine Ruhe und danach würde er das Serum nie wieder nehmen. Charles schielte zum Schreibtisch hinüber. Ja, danach würde er kein Serum mehr besitzen, falls es ein danach geben würde. Mit acht Spritzen war er nur knapp der ewigen Ruhe entgangen. Wie würde es dann mit zwölf werden? Doch dann schüttelte er entschieden den Kopf. Er würde sich keine zwölf Spritzen setzten können. Spätestens nach der neunten würde er das Bewusstsein vollkommen verlieren. Also musste er sich darüber keine Sorgen machen. Außerdem war er sicher, dass irgendjemand ihn schon bald vermissen und schließlich auch finden würde. Dieser Jemand würde Hank rufen und der wusste genau was zu tun war. Schließlich war das nicht die erste Überdosis, die er sich spritze und selbst wenn Hank zu spät kommen würde…dann wäre es eben so. Dann hätte er einfach nicht überleben sollen. Fest entschlossen fuhr er zum Schreibtisch zurück und zog die unterste Schublade auf der rechten Seite auf. Dort, unter etlichen Berichten und leeren Briefumschlägen, hatte er noch ein paar Spritzen aufbewahrt. Diese zog er nun mit dem Serum auf und legte sie nebeneinander auf die Tischplatte. Mit schnellen, geübten Bewegungen schob er seinen Hemdärmel nach oben und zurrte das Gummiband fest um seinen Oberarm. Dann öffnete und schloss er ein paar Mal seine linke Hand, bevor er die erste Spritze nahm und sie sich verabreichte.

Er wollte es sich selbst nicht eingestehen. Aber das leichte brennen tat gut. Fast schon genießerisch schloss er die Augen und legte den Kopf in den Nacken, als die Stimmen in seinem Kopf begannen leiser zu werden.

Du bist wie ein Heroinsüchtiger!! Schoss es Charles plötzlich durch den Kopf.

Das war seine eigene Gedankenstimme, die er da hörte. Fing es jetzt wieder so an? Natürlich, es musste so kommen, wenn er das Serum nahm. Sein Gehirn wollte eine höhere Leistung bringen, konnte es nicht und beschloss ihn dann eben anders Stimmen hören zu lassen.

Lass mich in Ruhe! Du hast ja keine Ahnung warum ich das tue!

Doch, das weiß ich genau. Weil du schwach bist, schwach und feige!

Charles nahm die nächste Spritze und gab sie sich. Wenn er das Ganze schnell hinter sich brachte, würde die erlösende Ohnmacht auch seine innere Stimme ausschalten und er musste nicht mehr mit ihr diskutieren.

Ich will einfach nicht mehr alleine sein, ist das so schwer zu verstehen? Ist das etwa was Schlimmes? Egal zu wem ich mich hingezogen fühle, er verschwindet früher oder später immer. Dabei ist es auch egal, ob ich Liebe oder Freundschaft für denjenigen empfinde. Ich glaube langsam, mich kann einfach keiner lieben…

Seine innere Stimme stieß ein kehliges Lachen aus.

Wir haben uns heute aber sehr lieb, kann das sein? Wenn du mit diesen Argumenten kommst, dann hast du dich schon selbst aufgegeben. Ich hätte nie gedacht, dass ein Genie wie du, das nicht alleine einsieht. Sie lieben dich doch alle, als Freund, als Partner oder als Lehrer und Mentor. Du siehst es nur einfach nicht!

Raven ist gegangen und das sie zurückkam, habe ich wahrscheinlich nur Hank zu verdanken. Dieser ist der einzige, der bei mir geblieben ist, all die Jahre über. Wegen ihm tut es mir aufrichtig leid. Logan…gut, er kann nichts dafür, dass Erik ihn versenkt hat. Aber er hätte auch einfach besser aufpassen können. Jetzt muss Raven ihn suchen und das kann noch eine ganze Weile dauern. Außerdem ist er nur gekommen, um seine Freunde aus der Zukunft zu retten…

Hörst du dich da gerade selbst reden?

Charles ignorierte diesen Einwurf. Er wusste genau was er sagte und es war ihm egal, ob er unfair war oder nicht. Er wollte das alles einfach mal loswerden und immerhin redete er hier mit sich selbst. Mittlerweile hatte er sich auch schon die vierte Spritze verabreicht und hatte Mühe die Augen offen zu halten.

Und Erik! Erik hat mich angeschossen am Strand von Kuba liegen lassen! Ich hätte sterben können und es war ihm egal. Er ist einfach gegangen. Dann, zehn Jahre später, tue ich alles, um ihn aus dem Gefängnis zu hohlen. Er verspricht mir zu helfen, dass wir die Zukunft zu unserem Vorteil verändern können…gesteht mir seine Liebe! Ich habe ihm vertraut! Ein letztes Mal noch habe ich ihm vertraut, weil ich glaubte, er meinte es ernst mit dem was er sagte! Jetzt weiß ich ja, was ich davon habe…Er hat mich wieder verlassen. Wieder in einer Situation, in der ich hätte sterben können, ohne ein Wort darüber zu verlieren, ob er je wieder zu mir zurück kommt…

Charles Sicht verschwamm, als er sich die fünfte Spritze in den Arm jagte. Er spürte, wie Blut aus den kleinen Stichwunden lief, aber es interessierte ihn herzlich wenig. Viel zu angenehm war das Gefühl dieser absoluten Leere in seinem Kopf. Er konnte nicht eine Stimme mehr hören, außer seiner eigenen. Aber diese war noch tausend Mal lästiger als jede andere, da sie, trotz des Serums und dessen Nebenwirkungen, immer noch rational denken konnte und einfach nicht die Klappe hielt!

Du hast ihm nicht gezeigt, dass du verletzt bist, aus Angst er würde bleiben und festgenommen werden. Natürlich hat er auch nicht gesagt, ob oder wann er zu dir kommt. Was glaubst du hätte die anwesende Polizei gemacht, wenn sie gehört hätten, dass Magneto und du gute Freunde oder mehr seid? Glaubst du, du wärst noch einmal nach Westchester gekommen? Ich bin mir da nicht so sicher!

Charles Augen fielen immer wieder zu, nachdem er sich auch die achte Spritze gegeben hatte. Ein Klopfen brachte ihn aber dazu aufzusehen. Jemand war an der Tür und nachdem er sich anstrengte, um die Stimme zu verstehen, wusste er dass es Hank war. Sein Freund hatte schon immer die Fähigkeit besessen, zum falschen Zeitpunkt aufzutauchen. Aber jetzt würde er sich davon nicht beirren lassen. Er hatte sich neun Spritzen fest vorgenommen. Allerdings sahen die anderen auch sehr verlockend aus. Wie lange die Ohnmacht wohl anhalten würde? Vielleicht würde die Überdosis an Serum ja ein Teil seines Gedächtnisses löschen. Vielleicht genau den Teil mit Erik? Ein Versuch war es wert. Mit zitternder Hand griff Charles nach den restlichen vier Spritzen und stach sie sich gleichzeitig in die Armbeuge. Ein leiser Aufschrei entfuhr ihm, als sein kompletter linker Arm anfing zu brennen wie die Hölle.

Das hast du nicht getan!

Seine innere Stimme hörte sich so geschockt an, wie Hank aussah, der gerade in das Zimmer gestürzt kam.

„Charles! Scheiße! Wie viele Spritzen waren das?! Red schon!“

Hank schlug ihm auf die Wange und versuchte so, ihn wach zu halten. Aber Charles brachte nur noch ein unverständliches Gebrabbel heraus, bevor sein Kopf kraftlos auf seine Brust sank und ihm die Augen zu fielen.

Eine Zeit lang war es wirklich still und dunkel um Charles herum. Er genoss diese vollkommene Leere, wie noch nie zuvor. Seine Gedanken wollten sich nicht zu sinnvollen Worten zusammenfinden und Charles war das nur recht. Doch dann wurde diese wohltuende Stille von einem höllischen Schmerz unterbrochen. Er wollte Schreien, konnte es aber nicht, wollte sich gegen diesen Schmerz wehren und versagte. Es war, als würde sein Körper auseinanderreißen. Außerdem fühlte es sich an, als drücke eine tonnenschwere Last auf seinen Schädel. Charles wusste nicht, wie lange diese Tortur schon ging. Das Ganze war schlimmer als jeder Schmerz, den er bis jetzt ertragen musste. Teilweise fühlte es sich an, als würde er bei lebendigem Leib verbrennen. Was war das? Eine Nebenwirkung des Serums? Aber warum trat sie erst jetzt in Erscheinung? Eine weitere Schmerzwelle rollte über ihn hinweg und machte jegliche Form des Denkens unmöglich. Er konnte nur den grellen Lichtern hinterher sehen, die vor seinem inneren Auge explodierten.

Durch das schlechte Licht im Raum waren die Menschen kaum zu erkennen. Aber das war Erik egal. Er wollte ja nicht mit ihnen reden, sondern seine Ruhe. Vor allem da sich hier wohl nur Kleinkriminelle und Möchtegerngangster her verirrten. Diese Feststellung brachte ihn unweigerlich wieder zu der Frage, warum er hier war. Doch diese war leicht zu beantworten.

Nachdem er den Platz vorm weißen Haus verlassen hatte, suchte er einen Ort um unterzutauchen. Diese Bar, wenn man das so nennen konnte, war ihm als passend erschienen. Sie hatte einen schlechten Ruf in der Stadt, zumindest unter den braven Bürgern. Denn in zwielichtigen Kreisen genoss sie den Ruf von der Polizei gemieden zu werden, egal was in der Stadt los war. Hier kam nie ein Cop hin, um nach jemandem zu suchen. Warum das so war, wüsste Erik gerne. In erster Linie weil sie den ansprechenden Namen Devil`s Nest trug und diesem auch alle Ehre machte. Wenn er Polizist wäre, würde er genau hier als erstes nach einem Straftäter suchen. Aber auch das war ihm egal.

Erik hob die Hand, um dem Barkeeper zu zeigen, dass er noch einen Whisky wollte und sah sich in der Bar um. Es waren mittlerweile viele bekannte Gesichter dabei. Nicht dass er sich mit einem dieser mickrigen Menschen unterhalten hätte, er wohnte aber nun schon seit knapp zwei Wochen hier, da blieb es nicht aus, dass man sich die Gesichter anderer merkte. Der Barkeeper, Erik hatte seinen Namen schon wieder verdrängt, stellte ihm ein weiteres Glas hin und verzog sich wieder ans andere Ende der Theke. Erik nahm das Glas und betrachtete die Flüssigkeit darin.

Noch vor einigen Tagen hatte er diese Literweise in ein Spülbecken geschüttet und jetzt saß er hier und tat genau das, was er Charles vorgeworfen hatte. Er betrank sich oder hatte es zumindest vor. Gedankenversunken starrte er in das volle Glas. Was Charles jetzt wohl gerade tat? Er hatte nicht versucht ihn zu finden und das obwohl Erik extra den Helm nicht aufzog. Er wollte, dass sein kleiner Telepath nach ihm suchte und ihn finden konnte, ja hoffte jeden Tag inständig, dass ihn Charles Geist berühren würde. Doch diese Berührung blieb aus und Erik zweifelte langsam daran, dass der Kleinere ihn je wiedersehen wollte. Und wer konnte es ihm verübeln? Immerhin hatte er ihn schon wieder alleine gelassen. Aber es war doch nur zu seinem Schutz gewesen, er hatte geglaubt Charles würde das verstehen. Wenn er geblieben wäre, oder Andeutungen gemacht hätte, dass er nach Westchester zurückkommen würde, dann wäre Charles unter polizeiliche Überwachung gestellt worden und hätte niemals seinen Frieden bekommen.

„Hey! Mach mal lauter!“, rief plötzlich jemand und als Erik aufsah, erkannte er einen der Gäste, der auf den kleinen Fernseher in der Ecke deutete.

Der Barkeeper nickte, griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter. Ein eisiges Lächeln stahl sich auf Eriks Züge, als er den Worten der Nachrichtensprecherin folgte.

„…des Beschlusses, Mutanten so wie normale Menschen zu behandeln, kommt es immer noch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Rassen. Die Meinungen der Bürger gehen bei diesem Thema jedoch weit auseinander. Hier einige Statements zum Thema: Dürfen Mutanten frei und vor allem unerkannt unter uns leben?“

Eine Frau wurde eingeblendet, bei deren Anblick Erik eine Augenbraue hochzog. Aufgerüscht mit einem pinken Kleid, mit Schleifen drauf, stand sie vor einem Kaufhaus und versuchte sich unauffällig so zu drehen, dass die Kamera wohl ihre Schokoladenseite filmen konnte.

„Also ich finde es unheimlich zu wissen, dass mein Nachbar ein Mutant sein könnte. Diese Ungewissheit bringt mich noch um. Ich suche schon bei jedem, der an mir vorbeiläuft noch Anzeichen einer Mutation. Ich wäre dafür, dass unsere Forscher schnellstmöglich ein Gegenmittel, gegen diese Krankheit entwickeln, bevor sie sich noch schneller ausbreitet. Ist doch nicht zum Aushalten, die Vorstellung mir könnten plötzlich Schwimmhäute wachsen…Ekelerregend.“

Als nächstes kam ein älterer Mann, mit Bart und Brille, welcher er gerade wieder seine Nase hinaufschob.

„Ich bin der Meinung, jeder hat ein Recht zu leben. Da ist es egal ob man Mensch oder Mutant ist. Man muss sich doch nur mal die Anfeindungen gegenüber Mutanten ansehen, die sich öffentlich gezeigt haben. Kein Wunder, dass sie lieber unerkannt bleiben wollen.“

Die Dritte im Bunde, war eine Frau, die ein kleines Kind auf dem Arm trug.

„Meiner Meinung nach, sollten alle Mutanten erfasst werden. Am besten, man würde sie irgendwie Kennzeichnen, was weiß ich…vielleicht mit einem M, dass sie gut sichtbar irgendwo am Körper traten müssen. Also ich will schon wissen, ob mein Kind mit einem Menschen oder einem Mutanten spielt oder von wem es unterrichtet wird. Das sollte wirklich jeder Mensch für sich entscheiden können.“

Erik knurrte und stand auf. Kennzeichnen? Ein M gut sichtbar am Körper tragen? Warum nicht gleich wieder einen Stern und Nummern, die einem auf den Arm tattooviert werden? Diese Menschen waren einfach erbärmlich. Wenn sie etwas nicht kannten, dann musste es weg. Wenn ihnen etwas nicht in den Kram passte, wurde es beseitigt. Wütend stapfte er zu der Treppe im hintersten Teil des Raumes, um zu seinem Zimmer zu gehen. Gerade als er den Fuß auf die unterste Stufe setzten wollte, zog ein Gespräch seine Aufmerksamkeit auf sich.

„Hast du das von diesem Telepathen schon gehört? Der, der beim weißen Haus dabei war?“

„Nein, was ist mit ihm?“

Erik setzte sich unauffällig an den Tisch gegenüber der kleinen Gruppe und stütze den Kopf auf die verschränkten Finger. Nach außen war er die Ruhe selbst. Innerlich jedoch war er so unruhig wie noch nie zuvor. Es war nur ein Telepath beim weißen Haus gewesen. Was war mit Charles? War er doch verletzt?

„Er muss sich irgendeine Überdosis an Drogen oder Medikamenten gespritzt haben. Jetzt wurde er in die Klinik eingeliefert. Aber wie es aussieht geht es ihm ziemlich schlecht. Er scheint zwar wach zu sein, spricht aber mit niemandem“, erklärte der Mann, der als erstes gesprochen hatte.

„Soll er doch. Von mir aus kann er krepieren. Ein Mutant weniger!“, meinte ein anderer.

„He! Wie kannst du sowas sagen? Er hat immerhin mitgeholfen unseren Präsidenten zu retten“, fiel plötzlich eine Frau in das Gespräch ein.

„Na und? Von mir aus hätte er den Papst persönlich retten können. Diese…Dinger sollten einfach alle beseitigt werden.“

Erik warf einen Blick zu dem Mann, der gesprochen hatte und stand auf. Während er auf den Tisch zuging fing der Metallbecher vor ihm an zu schweben. Als er neben dem Tisch stehen blieb, knallte der Becher gegen die Kehle des Mannes. Der schlug die Hände gegen diese und schnappte panisch nach Luft. Die anderen am Tisch sahen ängstlich und angriffslustig aus, doch das beeindruckte Erik nicht. Er legte dem Mann neben sich eine Hand auf die Schulter und lächelte ihn fast schon freundlich an.

„Und genau diese Einstellung bringt mich dazu euch zu hassen und zu verabscheuen. Wir sind die nächste Stufe der Evolution. Wenn hier jemand beseitigt werden muss, dann seid das ihr Homosapiens“, sagte er, klopfte dem Mann noch einmal unsanft auf die Schulter und verließ die Bar dann.

Charles hatte sich eine Überdosis gespritzt und lag nun in der Klinik. Wie viele Spritzen mussten das gewesen sein? Bei vier war er schon einen Tag lang ohnmächtig gewesen. Hank hatte erzählt, dass er bei acht beinahe gestorben war. Ein Stich jagte durch Eriks Herz hinab in den Magen. Was wenn bleibende Schäden bei ihm auftauchen würden? Was wenn er…Nein! Nein, diesem Gedanken erlaubte er noch nicht einmal sich vollständig zu bilden. Er konzentrierte sich auf seinen Weg, damit ihn die Panik nicht ganz übermannte und beschleunigte seine Schritte. Er musste so schnell wie möglich zu der Klinik kommen.
 

Es dauerte einen Tag, bis Erik herausgefunden hatte, in welcher Klinik Charles lag. Nun stand er an der Anmeldung der Station 4 und wartete bis endlich eine Schwester auftauchte. Nachdem er zehn Minuten gewartet hatte, beugte er sich über die Theke und suchte nach einer Liste, in der Stand, wer in welchem Zimmer lag. Zwei Minuten später lief er den Flur entlang und suchte nach Zimmer 237. Gerade als er es gefunden hatte, wurde er gegen die Wand neben der Tür gestoßen und von einem Arm an seiner Kehle davon abgehalten sich wieder normal hinzustellen.

„Was willst du hier?!“

Hank stand mit wutverzerrtem Gesicht vor ihm und drückte ihm die Luft ab. Erik hätte dieser halben Portion nie so viel Kraft zugetraut, wenn er nicht von seiner Mutation gewusst hätte.

„Ich…will…u Char…“

„Das wirst du nicht tun!“, knurrte Hank und drückte fester zu. „Nur wegen dir liegt Charles hier. Nur wegen dir hat er…“

Hank brach ab, als sich plötzlich eine blaue Hand auf seine Schulter legte. Mystique war hinter ihm aufgetaucht und sah Erik ebenso wütend, wie froh an. Dieser wusste nicht, mit welchen Gefühlen er ihr begegnen sollte. Immerhin hatte er versucht sie zu töten, aber sie hatte ihn verschont und jetzt schien sie sich nicht sonderlich über sein Erscheinen zu wundern oder zu ärgern. Im Gegenteil, sie brachte Hank sogar dazu ihn loszulassen. Erik rieb sich einen Moment den Hals und sah die beiden dann mit hochgezogener Augenbraue an. Erst, als Mystique nach Hanks Hand griff, begriff Erik. Die beiden waren zusammen.

„Lass ihn zu ihm. Vielleicht redet Charles ja mit ihm“, meinte sie und sah Erik ausdrucklos an.

Dieser öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Geh, bevor ich es mir anders überlege und dich hochkant aus dem Fenster werfe.“

Ihre Stimme war ruhig, ein sicheres Zeichen, dass sie doch wütend war. Wer hätte es ihr verübeln können. Wahrscheinlich hätte Erik sie jetzt auch angegriffen, wenn es Charles nicht so schlecht gehen würde. Er konnte ja kaum einen klaren Gedanken fassen, vor Sorge, wie hätte er da kämpfen sollen. Er schluckte, nickte ihr dankbar zu und betrat das Zimmer. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, erlaubte er sich einen Blick auf das Bett zu werfen, welches am Fenster stand. Augenblicklich stockte ihm der Atem.

Charles lag in dem Bett, aber er war kaum widerzuerkennen. Er hatte abgenommen und das einige Kilo zu viel. Auf seinen Schläfen klebte jeweils ein weißes Plättchen, das, durch ein Kabel, mit einem Monitor in der Ecke verbunden war. Außerdem führten noch weitere Kabel unter der Bettdecke hervor, ebenfalls zu dem Monitor. Von diesem ging ein gleichmäßiges Piepsen aus, immer im Takt von Charles Puls. Direkt neben dem Bett hingen zwei Infusionen, die mit je einer Nadel in Charles Handrücken verbunden waren. Außerdem wurde er zusätzlich durch einen dünnen Schlauch, der zu seiner Nase führte beatmet. Seine langen Haare waren ihm ins Gesicht gefallen und verdeckten dieses, aber Erik konnte sehen, dass er die Augen geschlossen hatte. Beim näher kommen sah er, dass diese sich schnell unter seinen Lidern bewegten. Anscheinend träumte Charles gerade.

Erik ballte die Hände zu Fäusten und blieb mitten im Raum stehen. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Charles lag hier, angeschlossen an Maschinen und Infusionen, die ihm wahrscheinlich die Schmerzen nehmen sollten und doch hatte er das Gesicht in stummer Qual verzogen. Er konnte nichts für ihn tun, fühlte sich so nutzlos wie schon lange nicht mehr. Aber vor allem fühlte er sich schuldig. Wenn er bei ihm geblieben wäre, wenn er doch nur nicht gegangen wäre. Wie selbstsüchtig war er gewesen? Er hatte nur daran gedacht, dass ihn die Polizei nicht noch einmal zu fassen bekommen durfte. Er würde nicht noch einen weiteren Tag in diesem Gefängnis ohne Metall aushalten und das war ihm wichtiger gewesen als Charles. Außerdem hatte er sich schon wieder nicht bei ihm gemeldet. Er hatte eine Woche verstreichen lassen, dann eine zweite und selbst dann wäre er nicht auf die Idee gekommen sich bei Charles zu melden, wenn diese Gruppe in der Bar nicht gewesen wäre. Am liebsten hätte er die Zeit zurückgedreht. Wie sollte er das nur je wieder gut machen? Wie sollte Charles ihm jetzt noch einmal verzeihen können?

„Und?“

Hanks Stimme riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn zu diesem herumfahren. Er stand da, die Hände vor der Brust verschränkt und sah zwischen Erik und Charles hin und her. Er sah nicht überrascht aus, dass Charles immer noch schlief, aber auch nicht glücklich. Vielleicht hatte er wirklich gehofft, dass Erik ihn zum Reden bringen konnte.

„Nichts, ich wollte ihn nicht wecken. Er sieht aus, als würde er den Schlaf brauchen“, erwiderte Erik ungewohnt leise und sanft.

Hank sah ihn aufrichtig verwirrt an. Konnte es wirklich sein, dass er nicht bemerkt hatte, was zwischen ihm und Charles gelaufen war? So blind konnte Hank doch nicht sein, oder etwa doch? Wenn dem so war, dann sollte noch mal einer sagen Grips sei alles. Auf der anderen Seite, Hank war in solchen Dingen noch nie der Schnellste gewesen.

„Das bräuchte er nicht, wenn du dich gemeldet hättest“, knurrte Hank, der sich schnell wieder gefasst hatte.

„Wahrscheinlich“, kam die knappe Antwort.

Jetzt sah Hank noch verwirrter aus. Mit aller Wahrscheinlichkeit fragte er sich, warum Erik sich nicht wehrte. Doch dieser hatte keine Lust zu streiten, nicht hier, nicht vor Charles. Also wandte er sich wieder von Hank ab, doch dieser schien das nicht einzusehen.

„Warum musstest du das wieder tun? Warum hast du nicht einfach wieder nach Westchester kommen können?!“, wollte Hank wissen und man konnte die unterdrückte Wut in seiner Stimme hören.

„Ich konnte nicht…Charles…Er hörte sich an, als wollte er mich nicht mehr sehen“, antwortete Erik und wandte sich nun doch wieder zu dem anderen um. „Kannst du vielleicht etwas leiser reden? Charles schläft so schon unruhig genug, auch ohne das du hier herumbrüllst.“

„Jetzt ist dir seine Gesundheit auf einmal wichtig, wie?! Vorm weißen Haus, war es dir doch auch egal, genauso wie auf Kuba!“

Nun war es an Erik verwirrt drein zuschauen. Was meinte er damit? Charles hatte doch keine Verletzungen gehabt, als er den Platz vorm weißen Haus verlassen hatte. Er war zwar in Hanks Armen gehangen, wie ein Schluck Wasser, aber das war normal. Schließlich konnte er ja nicht stehen. Außer einer kleinen Platzwunde am Kopf, hatte er keine Verletzungen bei dem Telepathen gesehen.

„Wie…wie meinst du das?“, fragte Erik jetzt mehr als verwirrt.

„Ganz einfach! Er…“

„Hank…“

Charles Stimme war leise, aber genau das ließ sie durch den ganzen Raum hallen, so als ob er geschrien hätte. Hank starrte Charles verwundert an, während Eriks Blick tiefe Erleichterung ausdrückte.

„Lässt du uns bitte alleine?“, flüsterte Charles an Hank gewandt.

Dieser nickte, ließ es sich aber nicht nehmen Erik einen warnenden Blick zuzuwerfen. Dieser hielt ihm kurz stand, sah dann aber zu Boden. Hank wusste nicht, was er davon halten sollte. Erik hatte noch nie vor ihm den Blick abgewandt. Mit einem Stirnrunzeln verließ er das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Erik wandte sich Charles zu, der ihn aus glasigen und müden Augen ansah, die ihm immer wieder zufielen. Er überlegte sich, was er zu ihm sagen sollte. Sollte er sich entschuldigen? Aber wollte Charles das überhaupt hören? Er hatte sich schon so oft entschuldigt und der kleinere hatte ihm mehr als einmal deutlich gemacht, dass er diese Worte nicht hören wollte. Also entschied er sich für etwas anderes. Er zog sich einen Stuhl an das Bett und sah Charles vorsichtig lächelnd an.

„Was machst du nur immer für Sachen, wenn…“

„Erik, bitte, ich bin kein kleines Kind“, murmelte Charles.

Er sah ihn nicht an und das irritierte Erik. Charles sah ihm normalerweise immer in die Augen. Nur selten, wenn ihm etwas zum Beispiel peinlich war, hatte er den Blick gesenkt. Aber vielleicht war ihm das Ganze ja peinlich.

„Charles, ich weiß du willst das bestimmt nicht hören, aber…“, wieder wurde Erik von dem Kleineren unterbrochen.

„Tut mir leid, Erik. Ich wollte nicht…dass du hier her kommst. Wenn dich jemand erkennt…Ich könnte mir nicht verzeihen…wenn sie dich wegen mir schnappen würden. Du…musst gehen!“

„Das kannst du vergessen.“

Erik schüttelte den Kopf. Glaubte Charles wirklich, er würde ihn alleine lassen, jetzt da er gesehen hatte, wie schlecht es ihm ging? Eher würde er sich in dem Zimmer verbarrikadieren, als jetzt zu gehen. Charles Husten zog Eriks Aufmerksamkeit auf sich und er runzelte die Stirn, als der Telepath keuchend einen Arm um den Leib schlang. Vorsichtig, so als hätte er Angst ihm weh zu tun, legte Erik eine Hand auf seine Schulter, bis der Hustenanfall vorbei war.

Stumm schlug Charles die Decke zurück und zog sein Oberteil hoch. Er musste wohl Eriks Gedanken gelesen haben. Dieser sog scharf die Luft ein, als er den großen blauen Fleck sah, der die linke Hälfte von Charles Oberkörper bedeckte. Der Fleck hatte alle möglichen Schattierungen von Blau, Grün, Gelb und Lila angenommen, an manchen Stellen war er sogar schwarz unterlaufen.

„Der Stahlträger des Flutlichtes…hat mir eine Rippe gebrochen“, erklärte Charles mit zittriger Stimme, als Erik ihn erschrocken ansah.

„Warum hast du nichts gesagt? Verflucht, Charles, ich hätte dir helfen können. Ich wäre geblieben, wenn ich gewusst hätte, dass du verletzt bist!“

„Genau deswegen habe ich ja…auch geschwiegen“, Charles lächelte, sah ihn aber immer noch nicht an. „Ich wollte nicht, dass du wieder gefasst wirst…was zweifellos passiert wäre, wenn du…geblieben wärst. Es ist auch…nicht weiter schlimm. Die Rippe heilt gut und der blaue…Fleck ist schon besser geworden.“

Besser geworden? Wenn er schon am heilen war, wollte Erik sich gar nicht erst ausmalen, wie er vorher ausgesehen hatte. Verständnislos schüttelte er den Kopf. Wie hatte Charles das tun können? Mit gebrochenen Rippen ging man nicht so leichtfertig um. Er hätte dabei sterben können und das Ganze nur, damit Erik fliehen konnte? Charles war verrückt.

„Bist du dir denn selbst so unwichtig, dass du für meine Sicherheit sterben würdest? Wie kommst du darauf? Seit wann ist dir dein Leben weniger Wert als meines?“, wollte Erik wissen und legte eine Hand an Charles Wange.

Dieser schmiegte den Kopf in seine Hand und schloss einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatten sie ein bisschen von ihrem alten Glanz zurückbekommen, aber es lag auch noch etwas anderes in ihnen, ein leiser Hauch von Schmerz, der rein gar nichts Körperliches zur Ursache hatte.

„Vom ersten Moment an, sonst wäre…ich nicht ins Wasser gesprungen“, antwortete Charles leise, aber deutlich. „Erik, ich weiß, ich kann dich…nicht dazu zwingen zu bleiben oder mich zu lieben. Aber bitte, wenn du…es nicht tust, dann mach es mir nicht noch schwerer. Sag es mir, damit…ich nicht wieder aus Verzweiflung etwas tue…dass ich später bereue.“

Ein weiteres Mal konnte Erik nur verwirrt in Charles Gesicht schauen. Was meinte er damit? Ihn zwingen, ihn zu lieben? Er liebte seinen kleinen Telepathen doch, mehr als alles andere auf dieser Welt. Deswegen hatte er ja auch den Krieg verhindern wollen, damit Charles in Frieden leben konnte. Wie konnte er nur glauben, er würde ihn nicht lieben? Erik schüttelte den Kopf. Natürlich! Charles glaubte das, weil er sich nicht gemeldet hatte. Er hatte keinen Kontakt mehr zu ihm gesucht und der Kleinere hatte das falsch verstanden.

„Ich liebe dich doch, Charles“, lächelte Erik sanft. „Ich wollte nur nicht, dass du mit mir in Verbindung gebracht wirst und habe deshalb beschlossen, nicht nach Westchester zu kommen oder mich auf anderem Wege bei dir zu melden. Ich wollte einfach, dass du endlich in Frieden dein Leben leben kannst, mehr nicht. Das geht nicht, wenn herauskommt, dass du mit Magneto zusammen bist. Ich weiß doch, wie wichtig es dir ist bei den Menschen gut dar zustehen, auch wenn ich das immer noch nicht begreife. Ich wollte nur, dass du glücklich bist.“

Charles sah ihn mit Tränen in den Augen an. Er konnte es nicht fassen. Erik hatte das Gleiche für ihn getan, wie er für den Größeren. Er hatten ihn schützen wollen, in dem er jeden Kontakt zu ihm abbrach. Das Charles das nicht gleich begriffen hatte! Anstatt sich Vorwürfe zu machen, warum Erik sich nicht meldete oder sich einzureden, dass er diesem egal war, hätte er lieber sein Gehirn anstrengen und besser nachdenken sollen. Nur leider kam diese Einsicht ein bisschen zu spät. Charles wusste nicht, ob die Menge an Serum, welche er sich gespritzt hatte, zu bleibenden Schäden führte. Genau genommen, wussten das noch nicht mal die Ärzte, da sie das Serum nicht kannten. Hank musste es selbst herausfinden, aber trotzdem blieb Charles in der Klinik, bis es ihm besser ging und er nicht mehr Tag und Nacht überwacht werden musste. Momentan bestand immer noch die Gefahr, dass er einfach wieder in Ohnmacht fallen konnte.

„Wie viel Spritzen hast du dir eigentlich gesetzt?“, riss Erik ihn aus seinen Gedanken.

Charles, der endlich den Blick gehoben hatte, senkte diesen wieder auf seine Hände. Einige Minuten lang starrte er auf die Kanülen, durch die unaufhörlich Schmerzmedikamente und ein Gegenmittel von Hank liefen. Dann nuschelte er die Zahl. Erik konnte ihn unmöglich verstanden haben und deshalb folgte auch gleich ein fragendes „Was?“

„Zwölf“, wiederholte Charles leise.

Als sich die Stille in die Länge zog, wagte Charles doch zu Erik aufzusehen. Dieser starrte ihn mit offenem Mund an. Charles konnte sehen wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Konnte er nicht endlich reagieren? Warum starrte er ihn so lange an? Für Charles war das Ganze irgendwie unwirklich. Durch die Schmerzmittel waren seine Gedanken leicht benebelt und er war sich immer noch nicht sicher, ob das wirklich passierte. War Erik wirklich hier, oder bildete er es sich ein, wie die Tage zuvor? Aber in den letzten Tagen hatte er nur Wut empfunden, wenn er ihn sich eingebildet hatte. Jetzt empfand er…Erleichterung und Freude. Er war erleichtert, dass es Erik gut ging, dass er frei war und freute sich, weil er gesagt hatte er liebte ihn immer noch.

„Spinnst du, Charles?!“, platze es da aus Erik heraus. „Zwölf Spritzen? Du hättest sterben können! Nach acht Spritzen warst du schon kurz davor! Ich…weiß nicht, was ich getan hätte, wenn…wenn du…“

Er stockte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Wenn Charles noch einen Beweis gebraucht hätte, dass Erik wirklich hier war, dann bekam er ihn jetzt. Ihm schlug eine ganze Welle Verzweiflung entgegen, als der Größere sich vorstellte, dass Charles hätte sterben können und er dann plötzlich alleine gewesen wäre. In Eriks Gedanken kristallisierten sich immer wieder dieselben Worte heraus.

Ich brauche ihn! Nur er versteht mich und kann mich akzeptieren, wie ich bin!

„Wie hast du dir überhaupt so viele Spritzen geben können? Du warst das letzte Mal doch schon nach vieren ohnmächtig“, meinte Erik, der seine Stimme wieder unter Kontrolle hatte.

„Naja…mein Körper hat sich an das Serum gewöhnt und…ich kann mir locker acht bis neun Spritzen geben, bevor ich abdrifte. Die letzten habe ich mir auf einmal verabreicht…Ich wollte einfach nur…“

„Deine Ruhe haben?“

Erik konnte nicht verhindern, dass in seiner Stimme ein Hauch von Vorwurf mitschwang. Er hatte gedacht, Charles hätte das hinter sich. Er hatte ihm sogar versprochen nie wieder das Serum zu nehmen. Aber als er sich nicht gemeldet hatte, hielt es der Kleinere wahrscheinlich nicht mehr aus. Insofern konnte er ihm keine Vorwürfe machen, sondern nur sich selbst.

„Ja, ich wollte meine Ruhe haben. Ich wusste nicht, ob du wieder kommen würdest oder ob du mich überhaupt noch liebst. Ich hatte gehofft dich durch das Serum…zu vergessen. Ich bin froh, dass es nicht geklappt hat.“

Erik schüttelte den Kopf und schenkte Charles ein Lächeln, bevor er aufstand, sich zu ihm hinab beugte und ihm einen Kuss gab. Es war unglaublich, wie viel Macht dieser Telepath über ihn hatte. Sobald sich ihre Lippen trafen, fragte er sich nur noch, wie er ihn jemals hatte alleine lassen können. Begierig, fast so als wäre er ausgehungert nach dieser Berührung, vertiefte Charles den Kuss. Erik hatte das Gefühl, dass eine kleine Ewigkeit verstrich, ehe sich die warme, einladende und beruhigende Präsenz von Charles Gedanken über seine legte. Der Kleinere hatte gezögert, warum auch immer, es war ihm egal. Hauptsache jetzt war er da und erfüllte seinen grauen Geist mit Licht. Erik spürte, dass es Charles genauso ging. Sie brauchten sich gegenseitig, um glücklich zu sein. Brauchten sich, um komplett und ganz zu sein. Eine tiefe Beruhigung machte sich in ihm breit und er zog Charles zu sich heran, um ihn so fest zu umarmen, wie er sich traute.

Von fern drang ein gleichbleibendes, nervendes Piepsen zu ihnen durch, aber weder Erik, noch Charles achteten darauf. Zu sehr waren sie in ihren Kuss vertieft, zu sehr achteten sie nur auf sich selbst. Erst ein lautes Räuspern ließ sie erschrocken auf sehen. In der Tür stand ein blonder Mann, der einen Arztkittel trug und angewidert das Gesicht verzog. Hinter ihm tauchten Hank und Raven auf, die beide leichenblass waren. Als sie Charles jedoch sahen, machte sich Erleichterung auf ihren Gesichtern breit. Wobei Hank überrascht drein schaute, als er sah wie sich Charles und Erik schnell voneinander zurückzogen. Erik sah verstimmt zu den Neuankömmlingen, die sie beide gestört hatten, während Charles, mit hochrotem Gesicht, zur Seite schaute.

„Wie ich sehe, ist bei Ihnen alles in Ordnung. Es muss sich wohl ein Kabel gelöst haben“, meinte der Arzt und die Abscheu in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Er ging zu Charles, tastete seine Brust ab und klebte eines der weißen Plättchen wieder auf seine Haut, welches sich in seinem Hemd verfangen hatte. Danach ging das Piepsen wieder im Takt von Charles Pulsschlag weiter und der Arzt verließ das Zimmer wieder. Einen Moment herrschte Schweigen zwischen den vieren, dann musste zuerst Charles lachen und schließlich stimmten sie alle mit ein.

Nun kam Erik fast jeden Tag, um Charles zu besuchen und nach einer weiteren Woche durfte dieser sogar wieder nach Hause.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Logan streckte sich und schlug langsam die Augen auf. Im ersten Moment kam ihm die Situation vor wie ein Deja vu. Er erwachte in einem Zimmer, das ihn nicht bekannt vorkam, bis er sich aufsetzte und genauer umsah. Es war sein Zimmer, sein Zimmer in Xaviers Schule und es war nicht zerstört, wie er es in Erinnerung hatte.

Irritiert stand er auf und zog sich an. Dann verließ er sein Zimmer und lief durch die Flure. Ein Gefühl von tiefem Glück und Freude machte sich in ihm breit, als er die Stimmen der Schüler hörte. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, als plötzlich Rogue vor ihm auftauchte und ihn anlächelte. Doch sie war schnell wieder verschwunden. Wahrscheinlich zum nächsten Unterricht. Ein paar Schritte weiter blieb er stehen und ließ sich dazu hinreisen einige Minuten Storms Unterricht zu folgen.

Es hatte also wirklich funktioniert. Er wusste nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund hatte Charles es geschafft Erik aufzuhalten. Wie, das wollte Logan jetzt herausfinden. Also machte er sich auf den Weg zu Charles Büro. Er wollte unbedingt wissen, was alles passiert war, nachdem Erik ihn im Fluss versenkt hatte.

Gerade lief er die große Treppe herunter, als ihm aus den Augenwinkeln etwas auffiel. Er wandte sich in Richtung Charles Büro und blieb wie angewurzelt stehen. Das erste, was er sah, waren rote Haare, wunderschöne rote Haare. Sofort wusste er zu wem sie gehörten. Sein Herz machte einen Freudensprung. Konnte es wahr sein? Schnell rannte er die Treppe hinunter und verlangsamte sein Tempo erst, als er neben der Person stehen blieb.

„Jean“, murmelte er überglücklich.

Die Frau lachte ihn an.

„Hey Logan“, begrüßte sie ihn.

Der Angesprochene konnte nichts weiter tun, als zu lächeln. Er hob eine Hand und wollte sie gerade an Jeans Wange legen, als diese von einem festen Griff umfasst wurde. Logan wandte sich um und sah Scott, der seinen Blick finster erwiderte.

„He, was soll das?“, fragte dieser knurrend.

„Mache Dinge ändern sich nie, oder?“, brummte Logan und machte sich von der Hand los.

Scott schob sich an ihm vorbei und Jean folgte ihm auf den Flur. Schließlich waren Charles und er alleine.

„Was ist los, Logan?“, fragte der Glatzköpfige und Logan musste unweigerlich grinsen, als ihm ein Bild von Charles mit Haaren in den Sinn kam.

„Es hat also funktioniert?“

Charles sah ihn einen Moment lang schweigend und mit unergründlicher Miene an. Dann lachte er und winkte Logan zu, sich zu ihm zu setzten.

„Willkommen zurück“, sagte er.

„Was ist hier los?“

„Du bist an meiner Schule, übrigens als Geschichtslehrer…“

Logan zog eine Augenbraue hoch. Als Geschichtslehrer? Er hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

„Ich glaube, dass ist momentan so ziemlich das einzige Fach, in dem ich selbst Nachhilfe bräuchte“, meinte er schnaubend.

„An was erinnerst du dich als Letztes?“, erklang eine neue Stimme hinter ihm, die in Logan unangenehme Erinnerungen wach riefen.

Er wandte sich zur Tür und konnte es kaum glauben. An den Türrahmen gelehnt stand Erik da und grinste ihn an. Logan blinzelte überrascht. Er hätte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit. Obwohl…die beiden hatten sich wirklich sehr nahe gestanden, bevor Erik beschlossen hatte seinem Freund ein weiteres Mal den Rücken zuzukehren.

„Daran, dass du mich mit Metallstäben durchbohrt auf den Grund dieses Flusses geschickt hast“, knurrte Logan.

Erik lachte und lief zu Charles hinüber. Logan sah zu, wie er sich zu ihm hinunter beugte und einen Kuss auf seine Wange hauchte. Seine Lippen verzogen sich zu seinem Lächeln.

„Du hast zwei neue Schüler.“

„Du meinst wir haben zwei neue Schüler.“

„Also dass erklärt so einiges“ meinte Logan grinsend. „Aber nicht alles, was ist passiert?“

Fragend sah er die beiden an und verschränkte die Arme vor der Brust. Er würde hier erst raus gehen, wenn sie ihm einiges erklärt hatten. Es hatte sich vielleicht etwas im Verlauf der Geschichte geändert, aber nicht alles. Immerhin hatte Rogue ihre weiße Haarsträhne trotzdem. Also musste sich das Ereignis in New York zugetragen haben. Als sich die Stille in die Länge zog, zog Logan eine Augenbraue hoch und sah die beiden durchdringender an.

„Leute, ich hab euch als junge Erwachsene kennen gelernt. Charles konnte mich vorher vielleicht nieder starren, aber jetzt schafft ihr beide das nicht mehr. Also raus mit der Sprache. Was ist alles passiert? Ich soll Geschichtslehrer sein, dann müsste ich selbst erst einmal etwas über die Vergangenheit erfahren“, meinte er irgendwann.

Charles lachte, sah Erik kurz an, der sich einen Stuhl heran zog und sich hinsetzte. Dann wanderte sein Blick wieder zu Logan und er beugte sich etwas zu seinem Schreibtisch vor, um die Hände darauf zu verschränken.

„Nachdem wir dich wieder gefunden hatten, bist du mit hier her gekommen. Allerdings nicht lange. Ich kann dir nicht sagen wo du warst, ich hab dir versprochen nicht nach dir zu suchen. Ich habe Jean und die anderen gesucht und mit Hilfe von Erik auch gefunden. Allerdings gab es trotz allem immer noch Differenzen zwischen uns. Der Streit war vorprogrammiert und kam auch irgendwann. Erik versuchte alle Menschen in…“

„…Mutanten zu verwandelt und wollte dafür Rogue benutzen. Den Teil kenn ich. Auch den, in dem er mit Jean das Labor angreift, um das Mittel gegen die Mutationen zu zerstören“, unterbrach Logan ihn.

Verwundert stellte er fest, dass Charles und Erik ihn nun fragend ansahen.

„Dann weiß du mehr als wir. Das ist nie passiert“, meinte Erik.

„Hm…dann kann ich nur sagen: Zum Glück, sonst wäre Jean jetzt nicht hier. Warum erzähl ich euch später, jetzt seid erst einmal ihr dran“, fügte Logan hinzu, als er wieder in fragende Augen sah.

„Na schön“, nahm Charles den Faden wieder auf. „Also er wollte alle Menschen in Mutanten verwandeln. Wir konnten ihn zum Glück aufhalten, kurz bevor es passierte. Daher hat Rogue auch diese weiße Strähne. Danach verschwand Erik wieder eine ganze Weile, in der ich ihn nicht einmal mit meinen Kräften finden konnte. Was er in dieser Zeit gemacht hat, weiß nur er und dass soll auch so bleiben. Auf jeden Fall kam er irgendwann wieder zurück und hatte sich entschieden, hier zu bleiben. Er ist Lehrer in Sport und Kampftechniken, außerdem in verschiedenen Sprachen.

Aber ich schätze Mal, du willst mehr über die Sentinals und Trask erfahren, oder? Der Präsident hat das Programm, mit sofortiger Wirkung, auf Eis gelegt und einige Jahre später alle Unterlagen zerstören lassen. Trask wurde lebenslänglich eingesperrt, wegen schwerer Körperverletzung und Mord in mehreren Fällen. Er hat sich dann im Gefängnis mit seinem Bettlaken erhängt…“

„War ja auch nicht schwer bei seiner Größe“, warf Logan grinsend ein.

Charles fuhr unbeirrt fort, als hätte er nichts gesagt.

„Mutanten sind mittlerweile fester Bestandteil der Gesellschaft, auch wenn sie immer noch nicht von allen Menschen akzeptiert werden. Es gibt immer noch Anfeindungen, Aufstände und Proteste gegen uns, aber es sind weniger geworden. Wir müssen uns nicht in der Öffentlichkeit zu unserer Mutation bekennen und nur gewisse Mutanten, zum Beispiel Gestaltwandler, müssen sich registrieren lassen. Allerdings gibt es für uns auch spezielle Gesetzte. Mutationen dürfen nur in einem bestimmten Rahmen benutzt werden. Teleporter dürfen sich nur zu gekennzeichneten Orten teleportieren, Gestaltwandler dürfen keine Gestalt von hochrangigen Persönlichkeiten annehmen, wenn jemand durch Wände laufen kann, darf er das nur mit Erlaubnis des Hauseigentümers und vor allem nicht in wichtigen Gebäuden und so weiter. Alle Gesetzte kannst du dir genau in dem Buch da anschauen.“

Charles deutete auf ein Buch, neben sich im Regal. Es hatte einen dunkelblauen Einband und mit silbernen Buchstaben stand auf dem Rücken: Gesetzte für Mutanten. Logan schätze es auf ungefähr vier- oder fünfhundert Seiten. War ja klar, dass sie ein eigenes Gesetzbuch bekommen würden. Auf der anderen Seite mussten bei ihnen auch weit mehr Umstände berücksichtigt werden.

„Ein Verstoß gegen den Großteil der Gesetzte ist nicht immer nachzuweisen. Aber mittlerweile gibt es Technologien, die zum Beispiel die Spur eines Teleporters verfolgen können. Das ist, im Groben, alles was in den zurückliegenden Jahren passiert ist. Wenn du noch irgendwelche Fragen hast, werde ich sie dir beantworten. Aber ein anderes Mal, jetzt gibt es nämlich Mittagessen.“

Er fuhr hinter dem Schreibtisch hervor und zur Tür. Erik schloss sich ihm an und nach kurzem Zögern auch Logan. Verwundert folgte er den beiden auf einen weitläufigen Balkon, an den er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte und setzte sich zu ihnen an einen Tisch, an dessen Steingeländer. Angenehm überrascht von dem regen Treiben, welches dort herrschte, sah er die zwei Mutanten, welche auf sie zukamen, erst als sie sich neben ihn setzten.

"Na Logan, wie geht`s dir heute?", wollte Hank wissen und lächelte ihn an.

Doch Logan war nicht im Stande ihm zu antworten. Sein Blick war auf die Frau geheftet, die neben seinem Freund saß. Mystique sah ihn ebenfalls lächelnd an, blickte dann jedoch hinab zu ihren Armen, in denen ein kleiner Junge lag. Dieser sah Logan aus großen Augen an, welche immer wieder zwischen zwei Farben hin und her wechselten. Mal waren sie so blau, wie das Fell seines Vaters, mal so gelb, wie die Augen seiner Mutter. Sprachlos blieb Logan der Mund offen stehen.

"Logan? Alles klar, bei dir?", wollte Mystique wissen.

"Ja...äh...ja klar, My...nein ich schätze du willst Raven genannt werden, oder?", fragte er und erntete ein Lachen von ihr.

"Das hatten wir doch schon, oder? Du kannst mich nennen wie du willst. Mir gefallen beide Namen."

Er nickte und sah sie im nächsten Moment wieder fragend an, als sie ihm den Jungen entgegen hielt. Er war vielleicht ein Jahr, nicht älter und gab ein fröhliches Glucksen von sich, als er ihn auf den Arm nahm.

"Es ist doch immer wieder faszinierend, wie sehr du Michael gefällst", meinte Raven. "Oder was meinst du, Schatz?"

Hank nickte nur und widmete sich dann wieder dem Gespräch mit Erik.

Logan sah Charles fast schon Hilfe suchend an. Dieser Lächelte und nickte ihm zu.

Danke, Logan. Ohne dich, wäre das alles hier niemals passiert.

Nein, du und Erik habt mich zurück geschickt...

Aber du hast es geschafft, dass Erik und ich uns wieder vertragen. Wenn du damals nicht gewesen wärst, gäbe es diese Zukunft nicht.

Bevor Logan noch etwas sagen konnte, wandte Charles den Blick ab und ließ ihn über seine Schüler wandern.

Logans Blick hingegen wanderte über den Balkon und dann über die Wiese unter ihnen. So viele Schüler hatte er hier noch nie gesehen und alle lachten, unterhielten sich oder liefen über die Kieswege. Viele saßen einfach nur da und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Alle sahen glücklich und zufrieden aus.

Als Logan das sah, machte sich auch eine tiefe Zufriedenheit in ihm bemerkbar. Er hatte gesehen, wie seine besten Freunde gestorben sind, hatte mit angesehen, wie unzählige Mutanten von den Sentinals vernichtet oder von den Menschen in Gefängnissen eingesperrt worden waren.

Jetzt hatten sie alle eine neue Chance bekommen. Die Uhr war zurück gedreht worden und nichts von alle dem, war jemals passiert. Er hoffte, dass dies so blieb und sie auch in Zukunft friedlich leben konnten. Aber wenn er sich die vielen jungen Mutanten ansah, die sich untereinander und, nach Charles Lehren, auch den Menschen so viel Verständnis gegenüber brachten, machte er sich um ihre Zukunft keine Sorgen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von:  usa-kun
2014-07-21T19:57:02+00:00 21.07.2014 21:57
Boaaaa xD wie fieees. Ich wiederhole mich ich weiß. Aber wie fies x3 kann der zeit leider nicht schreiben bin grade in england für ne woche und dann in wacken x* *liebe da lass*
Antwort von:  Lelu
26.07.2014 00:35
Na dann viel Spaß^^
Von:  usa-kun
2014-07-09T19:10:13+00:00 09.07.2014 21:10
boaaa erik mieeese mieeeese aktion XD was erwartest du was passiert?! der wird richtig pissig sein XD
Von:  usa-kun
2014-07-03T20:11:32+00:00 03.07.2014 22:11
Ooooh charles erlich lass den scheiss! Er will dich!!!> o < was machst du denn? Er meint es nur gut!... auf seine art oO oooh bin sehr gespannt! Und danke für die zuglektüre! :3
Antwort von:  Lelu
03.07.2014 22:52
bitte immer wieder gerne^^ Danke für die Abenddienstlektüre :D
Von:  usa-kun
2014-07-03T20:11:32+00:00 03.07.2014 22:11
Ooooh charles erlich lass den scheiss! Er will dich!!!> o < was machst du denn? Er meint es nur gut!... auf seine art oO oooh bin sehr gespannt! Und danke für die zuglektüre! :3
Von:  usa-kun
2014-07-01T17:05:59+00:00 01.07.2014 19:05
ja XD überzeug ihn aber richtig! mit allem was du hast! BÄHM XDDD bin ich sadistisch wenn ich das toll finde wenn charles so leidet? aber ich will auch das erik ihn rettet! >< oh will wissen wie!
Antwort von:  Lelu
01.07.2014 19:38
nö du bist nicht sadistisch XD und mit deiner Meinung nicht alleine, ich les auch gerne wenn Charles leidet. Gott, ich leide einfach so gerne mit.
Antwort von:  usa-kun
01.07.2014 19:52
XD selbe meinung! ich muss ihn auch mal leiden lassen XD
Von:  usa-kun
2014-06-30T15:07:37+00:00 30.06.2014 17:07
oh du hast logan gut hinbekommen x3 sehr cool. dieser sypmatische böse kerl XD
bin sehr gespannt! in meiner story hab ich die drogenthematik bisher noch nicht ss aufgreifen können.
ich seh schon kommen das gibt herum gezicke aber glaube erik nimmt sich für eine zurecht weisung zuviel vor XD
Antwort von:  Lelu
30.06.2014 22:45
Du hast ja keine Ahnung, wie stur und zickig die beiden sein können, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht. Ich hatte regelmäßig Beratungsgespräche mit ihnen, bis die nächsten Kapitel zu Stande gekommen waren XD
Von:  usa-kun
2014-06-29T16:07:25+00:00 29.06.2014 18:07
Oooooh!!!!>< wo eine ruhige ansprache...fast! Wirkt recht ungewöhnlich bin gespannt wohin es führt!


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